Die Gartenlaube (1874)/Heft 23
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No. 23. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Der Vorhang sank unter dem Beifallssturme des ganzen Hauses. Logen, Parterre und Galerien verlangten einstimmig das Wiedererscheinen der Sängerin, die in dem Finale des soeben beendigten Actes Alles zur Begeisterung fortgerissen hatte. Das ganze Parquet gerieth in Aufruhr, und man ruhte nicht, bis die Gefeierte sich endlich zeigte, um, begrüßt von dem mit neuer Macht hervorbrechenden Beifall, von Blumen, Kränzen und Huldigungen aller Art, dem Publicum zu danken.
„Das ist ja heut’ ein echt italienischer Theaterabend,“ sagte ein älterer Herr, in eine der Logen des ersten Ranges tretend. „Signora Biancona scheint die Kunst zu verstehen, das sonst so ruhig und gesetzt fließende Patricierblut unserer edlen Hansastadt mit dem südlichen Feuer ihrer Heimath zu erfüllen. Die Begeisterung für sie fängt nachgerade an, epidemisch zu werden. Wenn das noch weiter um sich greift, so erleben wir, daß die Börse ihr einen Fackelzug votirt, und der Senat der freien Reichsstadt in corpore bei ihr erscheint, um ihr die Huldigung derselben zu Füßen zu legen. An Ihrer Stelle, Herr Consul, würde ich beiden hohen Körperschaften diesen Vorschlag unterbreiten. Ich bin überzeugt, daß er eine enthusiastische Aufnahme findet.“
Der Herr, an den diese Worte gerichtet waren, und der an der Seite einer Dame, augenscheinlich seiner Gattin, im Vordergrunde der Loge saß, schien sich der soeben verspotteten allgemeinen Begeisterung gleichfalls nicht entziehen zu können. Er hatte das Klatschen mit einer Ausdauer und Energie betrieben, die einer besseren Sache würdig war, und wandte sich jetzt halb lachend, halb ärgerlich um.
„Dachte ich es doch, daß die Kritik sich wieder in Opposition zu der allgemeinen Stimme setzen würde! Freilich, Doctor, Sie schonen in Ihrem entsetzlichen Morgenblatte ja weder Börse noch Senat; wie sollte da Signora Biancona Gnade finden?“
Der Doctor lächelte ein wenig malitiös und trat an den Sessel der Dame, als ein junger Mann, der hinter demselben seinen Sitz hatte, sich artig erhob, um ihm Platz zu machen.
„Herr Almbach,“ sagte die Dame vorstellend, „Herr Doctor Welding, der Redacteur unseres Morgenblattes, dessen Feder –“
„Um Gotteswillen, gnädige Frau,“ unterbrach sie Welding, „discreditiren Sie mich nicht gleich von vornherein in den Augen dieses Herrn. Man braucht einem jungen Künstler nur als Kritiker vorgestellt zu werden, um sofort seiner vollsten Antipathie sicher zu sein.“
„Möglich!“ lachte der Consul, „aber diesmal hat Sie Ihr Scharfblick doch getäuscht. Herr Almbach wird, Gott sei Dank! nie in den Fall kommen, vor Ihrem Richterstuhle zu erscheinen. Er ist Kaufmann“
„Kaufmann?“ Ein Blick der Verwunderung streifte die Gestalt des jungen Mannes. „Dann bitte ich allerdings um Verzeihung wegen meines Irrthums. Ich hätte Sie für einen Künstler gehalten.“
„Sehen Sie, lieber Almbach, da spielen Ihnen Ihre Stirn und Augen schon wieder den schlimmen Streich!“ scherzte der Consul. „Was würden die Ihrigen daheim zu dieser Verwechselung sagen? Ich fürchte beinahe, sie nähmen das als eine Art von Beleidigung.“
„Vielleicht! Ich nehme es als keine solche,“ sagte Almbach sich leicht gegen Welding verneigend. Die Worte sollten wohl den angeschlagenen Ton des Scherzes fortsetzen, aber es lag in ihnen eine halb verborgene Bitterkeit, die dem Doctor nicht entging. Sein Auge heftete sich forschend auf die Züge des jungen Fremden, aber gerade in diesem Augenblicke wandte sich die Dame zu ihm und nahm das vorhin berührte Thema wieder auf.
„Sie werden doch zugeben, Herr Doctor, daß die Biancona heute ganz hinreißend war. Dieses junge, eben erst auftauchende Talent ist in der That ein neuer Stern an unserem Theaterhimmel –“
„Der einst zur strahlenden Sonne werden wird, wenn er hält, was er uns heute verspricht – gewiß, gnädige Frau, das leugne ich auch keineswegs, wenn diese künftige Sonne auch gegenwärtig noch einige Flecken und Unvollkommenheiten zeigt, die einem so begeisterten Publicum natürlich entgehen.“
„Nun, dann rathe ich Ihnen, diese Unvollkommenheiten nicht gar zu stark zu betonen,“ sagte der Consul, in das Parquet zeigend. „Dort unten sitzt eine Schaar von begeisterten Rittern der Signora. Nehmen Sie sich in Acht, Doctor, sonst erhalten Sie mindestens sechs Herausforderungen.“
Das malitiöse Lächeln spielte wieder um Welding’s Lippen, während er mit einem ironischen Blicke den jungen Almbach streifte, der schweigend, aber mit finster gerunzelter Stirn dem Gespräche gefolgt war.
„Und vielleicht die siebente noch dazu! Herr Almbach zum Beispiel scheint meine eben geäußerte Ansicht als eine Art von Hochverrath zu betrachten.“
„Ich bedaure, Herr Doctor, im Punkte der Kritik noch sehr weit zurück zu sein“ entgegnete der Angeredete kühl. „Ich,“ [364] hier flammte es fast leidenschaftlich auf in seinem Auge, „ich pflege den Genius unbedingt zu bewundern.“
„Eine höchst poetische Art der Kritik,“ spottete Welding. „Wenn Sie das unserer schönen Signora persönlich und in diesem Tonfalle wiederholen, so kann ich Sie im Voraus ihrer vollsten Gnade versichern. Uebrigens bin auch ich diesmal in der angenehmen Lage, ihr in dem morgen erscheinenden Artikel sagen zu können, daß sie in der That ein Talent ersten Ranges ist, daß ihre Fehler und Mängel nur die der Anfängerin sind, und daß es allein in ihrer Hand liegt, dereinst eine musikalische Größe zu werden. Für den Augenblick ist sie es noch nicht.“
„Nun, das ist vorläufig genug des Lobes in Ihrem Munde,“ sagte der Consul. „Aber ich denke, wir brechen jetzt auf. Die Glanzpartie der Biancona ist zu Ende; der letzte Act bietet ihrer Rolle fast gar nichts, kaum daß sie noch einmal auf der Bühne erscheint, und uns ruft die Pflicht der Wirthe an unserem heutigen Empfangsabende. Darf ich Ihnen einen Platz in unserem Wagen anbieten, Doctor? Ihre kritische Pflicht ist ja wohl gleichfalls zu Ende, und Sie, lieber Almbach, begleiten Sie uns auch, oder wollen Sie den Schluß abwarten?“
Der junge Mann hatte sich ebenfalls erhoben. „Wenn Sie und die gnädige Frau es gestatten – die Oper ist mir noch fremd, ich würde gern –“
„Nun, dann bleiben Sie ohne Umstände!“ unterbrach ihn Jener freundlich. „Aber sein Sie pünktlich heute Abend! Wir rechnen bestimmt auf Ihr Kommen.“
Er reichte seiner Frau den Arm, um sie hinauszuführen. Doctor Welding begleitete die Beiden.
„Wie können Sie nur glauben,“ spottete er draußen auf dem Corridore, „Ihr junger Gast würde vom Platze weichen, so lange die Biancona noch einen Ton zu singen hat, oder er würde es sich nehmen lassen, mit unserer übrigen Herrenwelt an ihrem Wagen Spalier zu bilden! Die schönen Augen der Signora haben schon manches Unheil angerichtet – der hat Feuer gefangen, ärger als alle Uebrigen.“
„Das wollen wir doch nicht hoffen,“ sagte die Dame mit einem leisen Anfluge von Besorgniß in ihrer Stimme. „Was würden dazu die Schwiegereltern und vor Allem die junge Frau sagen?“
„Ist Herr Almbach bereits verheirathet?“ fragte Welding überrascht.
„Schon seit zwei Jahren,“ bestätigte der Consul. „Er ist der Neffe und Schwiegersohn meines Geschäftsfreundes. Die Firma ist Almbach und Compagnie, kein sehr bedeutendes Haus, aber höchst solid und respectabel. Uebrigens thun Sie dem jungen Manne doch wohl Unrecht mit Ihrem Verdachte. In solchen Jahren ist man leicht hingerissen, besonders wenn einem der Kunstgenuß so selten zu Theil wird, wie es gerade hier der Fall ist. Unter uns gesagt, Almbach hegt in solchen Dingen etwas spießbürgerliche Ansichten und hat seinen Schwiegersohn scharf im Zügel. Er wird schon dafür sorgen, daß das Unheil, das jene Augen etwa anrichten könnten, seinem Hause fern bleibt; darauf kenne ich ihn.“
„Um so besser für ihn!“ sagte der Doctor lakonisch, während er neben dem Ehepaare im Wagen Platz nahm, der die Richtung nach dem Hafen einschlug, wo die Paläste der reichen Handelsherren liegen.
Eine Stunde darauf war in den Salons des Kaufmannes eine zahlreiche Gesellschaft versammelt. Consul Erlau gehörte zu den reichsten und angesehensten Handelsherren der reichen Handelsstadt, und wenn schon dieser Umstand hinreichend war, ihm dort eine unbestrittene Bedeutung zu sichern, so setzte er andererseits eine Ehre darein, sein glänzendes und gastfreies Haus als das erste in H. genannt zu sehen. Seine Empfangsabende vereinigten gewöhnlich Alles, was die Stadt an Capacitäten überhaupt zu bieten hatte. Es gab nicht leicht eine Berühmtheit, die sich nicht wenigstens einige Male dort zeigte, und auch der Stern der gegenwärtigen Saison, die Primadonna der augenblicklich hier gastirenden italienischen Operngesellschaft, Signora Biancona, hatte der an sie ergangenen Einladung Folge geleistet, und war nach Beendigung der Oper erschienen.
Die junge Künstlerin bildete nach ihrem heutigen Triumphe im Theater natürlich den Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft. Von den Herren mit Huldigungen aller Art bestürmt, von den Damen mit Artigkeiten überhäuft, von dem Wirthe und seiner Gattin mit schmeichelhafter Aufmerksamkeit ausgezeichnet, vermochte sie sich kaum zu retten vor dem Strome der Bewunderung, der ihr von allen Seiten entgegenfluthete und der vielleicht in ebenso hohem Maße der Schönheit als der Kunst galt.
Hier fand sich freilich beides vereinigt. Auch ohne ihr so hoch gefeiertes Talent wäre Signora Biancona schwerlich in den Fall gekommen, irgendwo übersehen zu werden. Sie war eine von jenen Frauen, die überall, wo sie nur erscheinen, Auge und Sinn zu fesseln und in einer oft gefährlichen Weise festzuhalten wissen, deren bestrickender Reiz nicht allein in ihrer Schönheit liegt, sondern weit mehr noch in dem seltsamen, fast dämonischen Zauber, den gewisse Naturen ausüben, ohne daß man sich Rechenschaft zu geben vermag, woher er stammt. Es lag wie ein Hauch des glühenden farbenreichen Südens über dieser Erscheinung, die sich mit ihrem dunklen Haar und Teint, mit den großen tiefschwarzen Augen, aus denen ein so volles heißes Leben strahlte, fremdartig genug ausnahm in dieser nordischen Umgebung. Ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen, war vielleicht lebhafter und zwangloser, als es die strengen Formen der Convenienz verlangten, aber das Feuer eines südlichen Naturells, das bei jeder Regung unwillkürlich hervorbrach, war von hinreißender Grazie. Der leichte idealische Anzug schloß sich wenig der herrschenden Mode an, aber er schien wie eigens erfunden, um die Vorzüge dieser Gestalt in das hellste Licht zu setzen, und behauptete sich siegreich neben der ringsum entfalteten Toilettenpracht der übrigen Damen. Die junge Italienerin war eben ein Wesen, das über all den Schranken und Formen des Alltagslebens zu stehen schien, und es gab wohl Keinen in der Gesellschaft, der ihr diese Ausnahme nicht bereitwillig zugestand.
Auch Almbach hatte sich nach dem Schlusse des Theaters eingefunden, aber er war völlig fremd in diesem Kreise und schien es auch zu bleiben, trotz der wohlgemeinten Versuche des Consuls, ihn mit Diesem oder Jenem bekannt zu machen. Sie scheiterten, theils an der fast düsteren Schweigsamkeit des jungen Mannes, theils an dem Benehmen der Herren, denen er vorgestellt wurde, und die, fast durchweg den höheren Börsen- oder Finanzkreisen angehörig, es nicht der Mühe werth hielten, mit dem Vertreter eines kleinen Geschäftshauses viel Umstände zu machen. Augenblicklich stand er ganz isolirt am unteren Ende des Saales und blickte scheinbar gleichgültig auf das glänzende Gewühl, aber die Augen kehrten immer wieder zu dem einen Punkte zurück, der heute Abend der Magnet für die gesammte Herrenwelt zu sein schien.
„Nun, Herr Almbach, Sie machen ja gar keinen Versuch, sich dem eigentlichen Sonnenkreise des Salons zu nähern,“ sagte Doctor Welding, an ihn herantretend. „Soll ich Sie dort einführen?“
Eine leichte Röthe der Verlegenheit darüber, daß man seinen geheimen Wunsch errieth, färbte das Antlitz des jungen Mannes.
„Signora Biancona wird von allen Seiten so in Anspruch genommen, daß ich es nicht wagte, sie auch noch zu belästigen.“
Welding lachte. „Ja, die Herren scheinen sich sämmtlich Ihrer kritischen Methode anzuschließen und gleichfalls ‚den Genius unbedingt zu bewundern‘. Nun, die Kunst hat ja das Vorrecht, Jedem Begeisterung einzuflößen. Kommen Sie! Ich werde Sie der Signora vorstellen.“
Sie schritten nach der anderen Seite des Saales, wo sich die junge Italienerin befand, aber es kostete ihnen wirklich einige Mühe, den Kreis der Bewunderer zu durchbrechen, der den gefeierten Gast umgab, und sich diesem zu nähern. Der Doctor übernahm die Vorstellung; er nannte seinen Begleiter, der heute zum ersten Male das Glück gehabt habe, Signora auf der Bühne bewundern zu dürfen, und überließ es ihm dann, sich allein im „Sonnenkreise“ zurecht zu finden. Die Bezeichnung war nicht so übel gewählt; es lag wirklich etwas von der sengenden Gluth dieses Gestirns auf seiner Mittagshöhe in dem Blicke, der sich jetzt auf Almbach richtete.
„Also auch Sie waren heute Abend im Theater?“ fragte die Sängerin leicht.
„Ja, Signora.“
Die Antwort klang kurz und düster. Kein Wort weiter, keins von jenen Complimenten, deren die Künstlerin heute bereits [365] so viele gehört hatte – aber der Blick des jungen Mannes mußte die einsilbige Antwort wohl wieder gut machen. Zwar begegnete er nur einen Moment lang dem der Signora Biancona, aber das Aufleuchten darin war gesehen und verstanden worden; es sagte unendlich mehr als alle die Schmeicheleien.
Die übrigen Herren mochten keinen hohen Begriff von den gesellschaftlichen Talenten des neuen Ankömmlings erhalten, der es nicht einmal verstand, einer schönen Frau irgend eine Artigkeit zu sagen. Sie ignorirten ihn vollständig. Die Unterhaltung, an der sich jetzt auch der Consul betheiligte, wurde allgemeiner; man sprach von der Musik, von einem bekannten Componisten und einem gerade epochemachenden Werke desselben, über dessen Auffassung Signora Biancona und Doctor Welding in Meinungsdifferenz geriethen. Erstere begeisterte sich dafür, während der Letztere ihm gar keinen höhern Werth beimaß. Die Signora vertheidigte ihre Ansicht mit südlicher Lebhaftigkeit und wurde dabei von sämmtlichen Herren unterstützt, die von vornherein ihre Partei nahmen; der Doctor beharrte kühl auf der seinigen. Der Streit wurde hartnäckiger, bis sich endlich die Sängerin unmuthig und etwas gereizt von ihrem Widersacher abwandte.
„Ich bedaure sehr, daß unser Capellmeister verhindert war, die heutige Einladung anzunehmen. Er spielt gerade diese Composition meisterhaft, und ich fürchte, es bedarf eines Vortrages, um die Gesellschaft zum Richter darüber zu machen, wer von uns Beiden Recht hat.“
Die Gesellschaft war auch dieser Meinung und vermißte den Herrn Capellmeister sehr schmerzlich; zum Ersatz erbot sich Niemand. Die sehr zur Schau getragene Begeisterung für die Musik schien bei Keinem mit der Ausübung derselben gleichen Schritt zu halten, bis auf einmal Almbach vortrat und ruhig sagte:
„Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung, Signora.“
Diese wendete sich rasch und mit sichtlicher Genugthuung zu ihm. „Sie sind musikalisch, Signor?“
„Wenn Sie und die Gesellschaft mit dem Versuche eines Dilettanten vorlieb nehmen wollen –“ er machte eine fragende Bewegung nach dem Herrn des Hauses hin, und als dieser eifrig beistimmte, trat er an den Flügel.
Die in Rede stehende Composition, ein modernes Paradestück im vollsten Sinne des Wortes, verdankte ihre allgemeine Beliebtheit wohl weniger ihrem innern Gehalte – sie besaß in der That nicht allzu viel davon – als der enormen Schwierigkeit der Ausführung. Schon die bloße Möglichkeit, sie zu spielen, erforderte eine Meisterschaft in der Beherrschung des Flügels. Man war gewohnt, diesen Vortrag nur von Virtuosen ersten Ranges zu hören, und blickte daher halb überrascht, halb spöttisch auf den jungen Mann, der sich ohne Weiteres dazu erbot. Er hatte sich freilich mit seinem Dilettantismus entschuldigt, aber es war doch immerhin eine Keckheit, diesen im Salon des Consuls Erlau zu probiren, wo man schon das Spiel so mancher Berühmtheit gehört und bewundert hatte.
Um so erstaunter war daher die Gesellschaft, als Almbach sich all diesen Schwierigkeiten vollkommen gewachsen zeigte, als er, ohne auch nur eine Note vor sich zu haben, sie gleichsam spielend überwand, mit einer Leichtigkeit und Sicherheit, die einem Künstler von Fach Ehre gemacht hätte. Zugleich aber wußte er in seinen Vortrag ein Feuer zu legen, das selbst die älteren und anspruchsvolleren Zuhörer mit fortriß. Das Musikstück schien unter seinen Händen eine ganz andere Gestalt anzunehmen; er lieh ihm eine Bedeutung, die bisher noch Niemand, vielleicht der Componist selbst am wenigsten, hineingelegt hatte, und besonders der in etwas stürmischem Tempo vorgetragene Schluß trug ihm von allen Seiten den reichsten Beifall ein.
„Bravo, bravissimo, Herr Almbach!“ rief der Consul, der zuerst hervortrat und ihm herzlich die Hand schüttelte. „Wir müssen wirklich der Signora und dem Doctor dankbar sein, daß ihr musikalischer Streit uns zur Entdeckung eines solchen Talentes verhalf. Da kündigen Sie uns ganz bescheiden einen Versuch an und geben uns eine Leistung, deren sich der vollendetste Künstler nicht zu schämen hätte. Sie haben unserer Signora zu einem glänzenden Siege verholfen; sie hat Recht, unbedingt Recht, und der Doctor bleibt diesmal mit seinem Angriffe entschieden in der Minorität.“
Die Sängerin war gleichfalls vor den Flügel getreten. „Auch ich bin Ihnen dankbar, daß Sie meinem Wunsche so ritterlich nachkamen,“ sagte sie lächelnd; „aber“ – hier senkte sie die Stimme – „aber nehmen Sie sich in Acht! Ich fürchte, mein kritischer Gegner wird noch mit Ihnen rechten über die Art, wie Sie meiner Ansicht Geltung verschafften. War das Spiel und vor Allem der Schluß so ganz correct?“
Eine verrätherische Gluth flog über das Antlitz des jungen Mannes, aber er lächelte gleichfalls. „Er entsprach Ihrer Auffassung und fand Ihren Beifall, Signora – das ist für mich genug.“
„Wir sprechen noch darüber,“ flüsterte die Sängerin schnell, denn jetzt trat die Dame des Hauses heran, um ihrem jungen Gaste gleichfalls einige Artigkeiten zu sagen, und der größte Theil der Gesellschaft folgte ihrem Beispiele. Ein Strom von Redensarten und Complimenten rauschte auf Almbach ein; man war entzückt von seinem Spiele, seiner Auffassung; man wollte wissen, wo er seine musikalischen Studien gemacht; je weniger man ihn früher beachtet hatte, je unbekannter er den Meisten war, desto mehr überraschte sein plötzliches Hervortreten, und dazu die Bescheidenheit des jungen Mannes, die ihm kaum erlaubte, auf all die an ihn gerichteten Fragen zu antworten; ein Jeder aus der Gesellschaft fühlte augenblicklich etwas vom Kunstmäcen in sich und war bereit, diesem jungen Talente seine volle Protection angedeihen zu lassen.
Ob es wirklich nur Bescheidenheit war, was Almbach’s Lippen schloß? Es blitzte bisweilen wie eine Art von Spott in seinem Auge, wenn man immer und immer wieder seine geniale Auffassung hervorhob und behauptete, die Composition noch nie in dieser Vollendung gehört zu haben. Er benutzte die erste Gelegenheit, sich der auf ihn gerichteten Aufmerksamkeit zu entziehen, und ward bei diesem Versuche von Doctor Welding in Beschlag genommen.
„Kann man endlich auch einmal zu Ihnen gelangen? Man läuft ja förmlich Sturm auf Sie mit Complimenten. Nur ein Wort, Herr Almbach! Wollen wir hier eintreten?“
Er wies in ein Nebenzimmer, das Beide kaum betreten hatten, als der Doctor in ziemlich scharfem Tone fortfuhr:
„Signora Biancona hat Recht behalten, das heißt in Folge Ihres Vortrages. Mein Angriff richtete sich gegen die Composition, wie sie im Original existirt. Darf ich fragen, wo Sie diese sehr eigenthümliche Bearbeitung aufgefunden haben? Mir war sie bis zu dieser Stunde völlig unbekannt.“
„Wie meinen Sie, Herr Doctor?“ fragte der junge Mann kühl. „Ich kenne das Musikstück nur in dieser Gestalt.“
Welding sah ihn von oben bis unten an; in seinem Gesichte stritt ein ärgerlicher Ausdruck mit einem unverhohlenen Interesse, als er entgegnete:
„Sie scheinen die Musikkenntniß der Gesellschaft ganz richtig zu taxiren, da Sie ihr dergleichen zu bieten wagen. Man hört das bekannte Thema heraus und ist zufrieden; aber es giebt doch zuweilen Ausnahmen. Mich zum Beispiel würde es sehr interessiren, zu wissen, von wem gewisse Variationen stammen, die den Charakter des Ganzen total verändern, und was nun vollends den Schluß betrifft – war diese kühne Improvisation vielleicht auch der ‚Versuch eines Dilettanten‘?“
Almbach hob ein wenig trotzig den Kopf. „Und wenn sie es nun wäre, was würden Sie dazu sagen?“
„Daß es ein arger Mißgriff der Ihrigen war, Sie zum – Kaufmann zu machen.“
„Herr Doctor, wir sind im Hause eines Kaufmanns.“
„Gewiß,“ sagte Welding ruhig, „und ich bin der Letzte, diesen Stand gering zu schützen, zumal wenn er, wie bei unserm Wirthe, mit tüchtiger rastloser Arbeit beginnt und mit dem Ausruhen auf Millionen endigt; aber er paßt eben nicht für Jeden. Es gehört vor allen Dingen ein klarer kühler Kopf dazu, und der Ihrige scheint mir gerade nicht dazu geschaffen, sich einzig mit dem nüchternen Soll und Haben abzugeben. Verzeihen Sie, Herr Almbach! Das ist nur so meine unmaßgebliche Meinung; im Uebrigen tadele ich Sie gar nicht wegen Ihrer Keckheit. Was thut man nicht, um dem Eigensinne einer schönen Frau Recht zu geben! In diesem Falle war das Manöver sogar äußerst genial; ein Anderer hätte das mit dem besten Willen nicht fertig gebracht. Ich gratulire Ihnen dazu.“
Er machte eine halb ironische Verbeugung und verließ das [366] Gemach. Es lag zwar dicht neben dem Saale, aber die halb geschlossenen Portièren schieden es von demselben, und völlig einsam und matt erleuchtet, bot es wenigstens ein minutenlanges Alleinsein Dem, der danach verlangte. Der junge Mann hatte sich in einen Sessel geworfen und schaute träumend vor sich hin. Woran er dachte, das wagte er sich vielleicht selbst nicht zu gestehen, und doch verrieth es sein jähes Auffahren beim Klange einer Stimme, die im Tone leichter Ueberraschung sagte:
„Ah Signor Almbach, Sie hier?“
Es war Signora Biancona; ob sie beim Eintritte den bereits Anwesenden wirklich nicht bemerkt hatte, ließ sich nicht entscheiden, denn sie fuhr mit voller Unbefangenheit fort:
„Ich suchte auf einen Augenblick Erholung von der Hitze und dem Gewühle des Salons. Auch Sie haben sich der Gesellschaft so kurz nach Ihrem Triumphe entzogen?“
Almbach hatte sich schnell erhoben. „Wenn von Triumphen die Rede ist, so bleibt wohl kein Zweifel, wer sie heute feiert. Meine improvisirte Leistung vermag sich nicht entfernt mit dem zu messen, was Sie dem Publicum gaben“
Die Sängerin lächelte. „Ich gab ihm auch nur Töne, wie Sie, aber ich gestehe Ihnen offen, daß es mich überrascht hat, erst heute und hier von einem Künstler zu hören, der gewiß schon längst –“
„Verzeihung, Signora,“ unterbrach sie der junge Mann kalt. „Ich habe bereits im Salon erklärt, daß ich nur auf Dilettantismus Anspruch machen darf. Ich gehöre dem Kaufmannsstande an.“
Derselbe Blick der Verwunderung, den er bei Welding im Theater gesehen, streifte hier zum zweiten Male das Gesicht Almbach’s.
„Unmöglich! Sie scherzen!“
„Weshalb unmöglich, Signora? Weil ich ein schwieriges Bravourstück geläufig vorzutragen vermochte?“
„Weil Sie es so vorzutragen vermochten und weil –“ sie sah ihn eine Secunde lang fest an und setzte dann mit voller Bestimmtheit hinzu: „weil Ihr Antlitz den Stempel zeigt, den, wie man sich immer einbildet, das Genie an der Stirne tragen muß.“
„Sie sehen, wie sehr der Schein bisweilen trügt.“
Signora Biancona schien dieser Ansicht nicht beizustimmen; sie ließ sich auf den Divan nieder; das helle Gewand legte sich leicht und luftig wie eine Wolke auf den dunklen Sammet.
„Ich bewundere Sie,“ begann sie von Neuem, „daß Sie im Stande sind, mit solchen künstlerischen Anlagen sich einem Alltagsberufe zu widmen. Mir wäre das unmöglich. Ich bin in der Welt der Klänge und Töne aufgewachsen und vermag nicht zu begreifen, wie sich in ihr noch Raum finden kann für andere Pflichten.“
Es lag eine diesmal unverhohlene Bitterkeit in der Stimme des jungen Mannes, als er entgegnete: „Ihre Heimath ist auch Italien, die meine – eine norddeutsche Handelsstadt. In unserem Alltagsleben ist die Poesie nur ein seltener, flüchtiger Gast, dem oft genug die Stätte versagt wird. Die Arbeit, das Mühen um den Erwerb steht immer und ewig im Vordergrunde.“
„Auch bei Ihnen, Signor?“
„Es sollte wenigstens dort stehen; daß es nicht immer der Fall ist, hat Ihnen wohl mein musikalischer Versuch gezeigt.“
Die Sängerin schüttelte zweifelnd das Haupt. „Ihr Versuch? Ich möchte darauf hin Ihre Meisterschaft kennen lernen. Aber es kann doch unmöglich Ihre Absicht sein, dieses Talent der Oeffentlichkeit ganz zu entziehen und es nur im Kreise der Ihrigen zu üben?“
„Im Kreise der Meinigen?“ wiederholte Almbach mit eigenthümlicher Betonung. „Ich pflege dort keine Taste anzurühren, am wenigsten in Gegenwart meiner Frau.“
„Sie sind bereits vermählt?“ fragte die Italienerin rasch, während eine momentane Blässe ihr Antlitz überflog.
„Ja, Signora.“
Es klang schwer und kalt dieses Ja, und der halb spöttische Ausdruck, der einen Augenblick lang um die Lippen der Sängerin spielte, als sie den kaum vierundzwanzigjährigen Mann betrachtete, verschwand vor diesem Tone.
„Man vermählt sich, wie es scheint, sehr früh in Deutschland,“ bemerkte sie ruhig.
„Bisweilen.“
Die junge Italienerin schien die Pause, welche diesen Worten folgte, etwas peinlich zu finden; sie ging rasch zu einem anderen Thema über.
„Ich fürchte, Sie haben bereits das Examen bestehen müssen, vor dem ich Sie vorhin warnte. Die Gesellschaft war nichtsdestoweniger entzückt von Ihrem Vortrage.“
„Vielleicht!“ sagte der junge Mann halb verächtlich. „Und doch war er sicher nicht für die Gesellschaft bestimmt.“
„Nicht? Und wem galt er denn?“ fragte Signora Biancona den Blick fest auf ihn richtend.
Auch er sah sie an; es lag etwas Verwandtes in den beiden Augenpaaren, die jetzt einander begegneten, beide groß, dunkel und räthselhaft. Auch in dem Blicke Almbach’s leuchtete der gleiche Strahl, wie in dem der Künstlerin; auch dort flammte eine heiße leidenschaftliche Seele; auch dort schlummerte in der Tiefe der dämonische Funke, der so oft das Erbtheil genialer Naturen ist und ihnen zum Fluche wird, wenn keine schützende Hand ihn mehr behütet, wenn er zur Flamme angefacht wird, die dann nicht mehr Licht, sondern nur noch Verberben bringt.
Er trat einen Schritt näher und dämpfte die Stimme, aber die tiefe Erregung darin verrieth sich doch.
„Nur der Einen, die mir und uns Allen vor wenig Stunden die höchste Schönheit und die höchste Poesie verkörperte, getragen von den Tönen eines unsterblichen Meisterwerkes. Man hat Ihnen heute tausendfach gehuldigt, Signora! Was die Begeisterung nur zu erfinden vermochte, das legte man zu Ihren Füßen. Der Fremde, Unbekannte wollte Ihnen doch auch sagen, wie sehr er Sie bewundert, und da that er es denn in der Sprache, die Ihrer allein würdig ist. Ganz fremd ist sie auch mir nicht geblieben.“
In der Huldigung lag etwas, was sie über jede Schmeichelei erhob, der Ton echter, voller Begeisterung, und Signora Biancona war doch Künstlerin genug, um diesen Ton zu kennen, Weib genug, um zu ahnen, was sich dahinter barg; sie lächelte mit bezaubernder Anmuth.
„Nun, ich habe es ja gesehen, wie sehr diese Sprache Ihnen zu Gebote steht. Werde ich sie nicht öfter von Ihnen hören?“
„Schwerlich!“ sagte der junge Mann düster. „Sie kehren, wie ich höre, in Kurzem nach Italien zurück, ich – bleibe hier im Norden. Wer weiß, ob wir je wieder einander begegnen.“
„Unser Impressario beabsichtigt bis zum Mai hier zu bleiben,“ fiel die Sängerin rasch ein. „Da wird unsere heutige Begegnung doch wohl nicht die letzte sein? Gewiß nicht, ich rechne bestimmt darauf, Sie wiederzusehen.“
„Signora!“ Das leidenschaftliche Aufflammen Almbach’s dauerte nur eine Secunde. Es schien ihn plötzlich eine Erinnerung oder Warnung zu durchzucken; er trat zurück und verneigte sich tief und fremd.
„Ich fürchte, es muß die letzte sein – leben Sie wohl, Signora!“
Er war fort, noch ehe es der Sängerin möglich war, ein Wort der Befremdung über diesen seltsamen Abschied zu äußern, und es schien ihm Ernst damit zu sein, denn nicht ein einziges Mal während des ganzen Abends näherte er sich wieder dem verhängnißvollen „Sonnenkreise“.
Auf der Eisenbahnstrecke, welche Stuttgart und Bruchsal verbindet, vernimmt der Reisende zwischen Bretten und Mühlacker den Ausruf des Schaffners: „Station Maulbronn!“ Und wenn der Name, der so berühmten Klang hat, ihn an das Wagenfenster lockt, weil bei demselben ihm Klostermauern und Thürme im Geist emporsteigen, so wird er freilich rasch enttäuscht, denn er muß Glück haben, wenn im Vorbeifahren in dreiviertelstündiger Entfernung ihm die Häuser des Dorfes gleichen Namens
[368] sichtbar werden, das erst im Laufe dieses Jahrhunderts in der freieren Lage vor dem Kloster sich angesiedelt hat.
Die Aelteren unter unsern Lesern sind schon im Jahrgang 1864 der Gartenlaube von kundiger Hand in den Räumen und in der Menschen- und Gespenstergeschichte dieser ehemaligen Cisterzienser-Abtei, die in vier Jahren (am vierzehnten Mai 1878) ihre siebenhundertjährige Kirchenweihe feiern kann, herumgeführt worden. Indeß sind seitdem fast zehn Jahre verflossen und zu den damaligen Abnehmern unsres Blattes anderthalbhunderttausend hinzugekommen, so daß wir uns für verpflichtet halten, unserem heutigen Bilde wenigstens den nöthigsten erklärenden Text beizufügen.
Maulbronn zeigt nicht nur in Schwaben, sondern in ganz Deutschland die am besten erhaltenen Klostergebäude von so hohem Alter, denn nicht blos die Kirche und die eigentlichen Klosterräume, sondern auch die Nebengebäude, die ehedem zu dem reichen Klosterhaushalt gehörten, stehen größtentheils noch vor uns aus den Tagen ihrer ersten Erbauung. Vom Bahnhofe herkommend, gelangt man in dem freundlichen Thale zuerst zu einigen neueren Wohnhäusern, darunter das Gasthaus zum Kloster oder zur Post. Gleich dahinter erhebt sich das altehrwürdige malerische Klosterthor (Nr. 9 unserer Abbildung). Es steht an der Südwestseite der Umfassungsmauer, die, aus mächtigen Buckelsteinen errichtet, von da zur linken Seite hin sich hinter einem breiten Graben voll wild durcheinander verwachsenen Gestrüppes hinzieht und auf ihrem grauen Rücken eine Reihe alter Gebäude trägt. Dieses Klosterthor stammt noch aus der Zeit des Rundbogenstils und ist mit einem Rundbogenfries geschmückt. Durchschreiten wir es, so gelangen wir in den weiten Vorhof des Klosters, auf drei Seiten begrenzt von den steinernen Nebenbauten, dem Frühmeßhaus, der Wagnerei, Schmiede und Mühle, dem Speicher, der Küfermeisterei etc., deren steile, oft von Kreuzblumen oder Knöpfen bekrönte Giebel hoch anfragen, während im Grunde des Hofes uns hinter prächtigen Lindenbäumen die Schauseite der Kirche entgegentritt mit ihrer edel-schlanken Vorhalle und dem links daranstoßenden, jetzt vielfach verbauten Kloster.
Die Klosterkirche (Nr. 2), der heiligen Marie geweiht und ein Prachtwerk des Rundbogenstils, ist eine schlanke Pfeilerbasilika in der Form des lateinischen Kreuzes mit geradgeschlossenem Chor und sechs rechteckigen Capellen im Querschiff. Sie erhebt sich im Süden der Klostergebäude um drei Stufen höher als diese. Die dreihundert Fuß lange, aus den prächtigsten Sandsteinquadern aufgerichtete Schauseite muß einen imponirenden Anblick gewährt haben, ehe sie theilweise im Laufe der Zeit stark verändert und durch zwei Vorhallen und sogar durch moderne Zweckmäßigkeitsgebäude versteckt wurde. Als besonders bemerkenswerth wird von den Baukunstkennern der steinerne Lettner (Art Querempore zur Scheidung von Schiff und Chor der Kirche) aus dem zwölften Jahrhundert und dann der Vorzug gepriesen, daß die Ornamentik der Kirche und sämmtlicher Klostergebäude vollkommen frei seien von den so verbreiteten Fratzengebilden. Sehenswerth sind auch die Chorstühle mit ihrer kunstreichen Holzschnitzerei, von denen wir in Nr. 8 eine bildliche Andeutung geben. Eine sehr bemerkbare Erscheinung dabei sind die tief ausgetretenen Fußstapfen der Mönche im Fußboden dieser Chorstühle.
Der größte bedeckte Raum nach der Kirche ist das Laien- oder Winter-Refectorium (Nr. 11). Bei einer Länge von hundertsechsundzwanzig, einer Breite von siebenunddreißig und einer Höhe von neunzehn Fuß wird der stattliche Raum in der Mitte von sieben Doppelsäulen durchstellt, die auf ihren prächtigen Blättercapitälen rippenlose Kreuzgewölbe tragen, und gewährt einen großartigen Anblick. In unseren Tagen wurde die Halle unter bedeutenden Schwierigkeiten, weil jetzt auf ihren Gewölben das mehrstockige Oberamtsgebäude ruht, erneuert; es wurden die Säulen sammt Capitälen neu eingesetzt, die alten aber, als der jetzigen Vorbilder, in den Fensternischen aufgestellt.
Aehnlicher architektonischer Bevorzugung, wie dieses, erfreuen sich das ehedem nur durch die Klosterküche von jenem geschiedene sogenannte Sommer-Refectorium (Nr. 10) und der große Kreuzgang (Nr. 5), die sich besonders durch ihre Säulenpracht auszeichnen. Namentlich gehören, nach dem Urtheil der Baugelehrten, die Säulencapitäle zu dem Schönsten ihrer Art, und die Doppelung derselben im Winter-Refectorium wird als ewig mustergültig hingestellt.
Ein Bau des zwölften Jahrhunderts ist noch das Herrenhaus, hundertfünf Fuß lang und halb so breit. Es nimmt die Nordostecke der Klosteranlage ein; am besten ist an seiner Südseite der sich am großen, malerisch verwachsenen Klostergarten hinziehende Capitelsaal (Nr. 4) erhalten, an dessen Rückwand rundbogige Thüren und Fenster angebracht sind. Nr. 6 stellt eine höchst zierliche Brunnencapelle und Nr. 7 das alte Pfründnerhaus dar. Nr. 3 ist der bewohnliche Dachtheil eines alten, zum Theil verfallenen Eckthurmes, „der Faustthurm“ genannt, weil in ihm Doctor Faust, der Teufelsknecht, wegen seiner Kunst in der Goldmacherei vom damaligen Prälaten Schlotterbeck häufig beherbergt und schließlich vom Teufel geholt worden sein soll.
Von der Geschichte und den denkwürdigen Rechtsalterthümern des Klosters muß wenigstens Folgendes angemerkt werden. Gründer dieses ersten schwäbischen Cisterzienserklosters war der edle Ritter Walther von Lomersheim und erster und bedeutendster Beschützer desselben Bischof Günther (ein Graf von Henneberg) in Speier; beider Grabsteine werden bis heute dort bewahrt. Das Kloster wurde außerordentlich reich, hat aber für die Cultur des Geistes weit weniger geleistet, als für die des Bodens, namentlich in Acker- und Weinbau, Gemüse-, Obst- und Fischzucht. Der Umstand, daß Kurpfalz das Schirmrecht über Maulbronn erhielt, machte es häufig zum Zankapfel zwischen dieser, Württemberg und Baden. Pfalzgraf Philipp verwandelte das Kloster sogar in eine Festung mit weit hinausreichenden Basteien und Thürmen und trotzte darin selbst dem Kaiser, der vergebens im October 1492 gebot, die Befestigungen niederzureißen. Dagegen waren sie im Bauernkriege dem Kloster ein guter Schutz. Später kam Maulbronn an Württemberg. Herzog Ulrich setzte sich in den Besitz desselben und führte die Reformation ein. Indeß wechselte noch katholische und protestantische Herrschaft je nach den Launen des Kriegsglücks; im Jahre 1548 wurde ein Conventuale hier ausgewiesen, weil er bei Mondschein in der deutschen Bibel gelesen hatte. Für immer in protestantische Hände kam Maulbronn erst in Folge des Westphälischen Friedens, und darauf mag wohl die Jahrzahl 1649 (nicht 1669) hindeuten, die wir bei dem Wappen desselben (Nr. 1 der Illustration) finden, denn: „am 29. Januar 1649 erfolgte die Besitzergreifung und die Huldigung der (nach den Kriegsdrangsalen) noch übrigen dreihundertdreiundsiebenzig erwachsenen Amtsangehörigen unter großer Bewegung.“ Aus der ursprünglichen evangelischen Klosterschule, die bei den noch fortdauernden Nachwehen des dreißigjährigen Krieges erst 1656 wieder hergestellt werden konnte, ist ein berühmtes theologisches Seminar geworden, dessen Zöglinge landüblich auf der Universität Tübingen ihre letzte Vollendung erhalten. Auch Schelling war ein Zögling dieser Anstalt.
„Maulbronn verdiente ein eigenes Prachtwerk durch einen kunstgeschichtkundigen Architekten“ – dieser Wunsch, welchen Gustav Schwab in seinem schwäbischen Beitrag zum „Malerischen und romantischen Deutschland“ vor vierzig Jahren ausgesprochen, geht heute erst in Erfüllung. „Die Cisterzienserabtei Maulbronn, bearbeitet von Dr. E. Paulus. Herausgegeben vom Württembergischen Alterthumsverein“ etc., verspricht dieses Werk zu werden; wir haben es, so weit wie möglich, zu diesen Mittheilungen benutzt.
„Meinen Henkern,“ schreibt Madame Roland in einem Briefe an Buzot, „verdanke ich die himmlische Seligkeit, daß ich in Einem Athem meiner Pflicht genügen und meiner Liebe mich hingeben kann. O, beklage mich nicht, mein Theuerer!“ Und in einem andern Schreiben sagt sie: „Mein süßestes Glück würde es sein, wenn ich durch das Opfer meines Lebens für Roland das Recht erhielte, Dir allein meinen letzten Seufzer zu widmen.“
Welch ein Kampf zwischen Pflicht und Neigung im Herzen der merkwürdigen Frau! Als starre Heldin der Tugend, wie sie bis dahin erschien, würde sie uns unbedingt Achtung abnöthigen, aber daß ihr Herz auch empfänglich war für den Zauber der Leidenschaft, daß ihre unerbittliche Logik zu seltsamen Trugschlüssen verleitet wurde durch diese Gewalt einer unwiderstehlichen Liebe: das mag ihr mit Recht den Heiligenschein einer über alle Versuchungen erhabenen Frau nehmen, aber es läßt das Weibliche ihres Wesens aus all der Verpuppung in Gelehrsamkeit und politische Weisheit in den lebhaftesten Zügen hervortreten!
Und welch ein Licht wirft dieses briefliche Vermächtniß auf ihr ganzes Leben! Da sehen wir sie, eine Hohepriesterin der Pflicht, bald die Manifeste ihres Gatten ausarbeiten, bald seine Leibgerichte in der Küche besorgen; doch eifersüchtig ruht sein Auge auf ihr, wenn sie im Kreise der jüngeren Genossen sich bewegt, und auf ihr selber lastet’s wie ein bleierner Druck endloser Langeweile; denn ihr Herz sehnt sich nach einer Freiheit, welche der Sturz des Königthums, um den sie so eifrig sich bemüht, ihr nicht zu verschaffen vermag.
Als politische Rathgeberin ihres Gatten war sie unermüdlich. Zweifellos ist es, daß sie den berühmten Brief Roland’s an den König vom 10. Juni selbst dictirt hat. Ludwig der Sechszehnte wollte damals in der Priesterfrage nicht nachgeben, das Verbannungsdecret gegen volksfeindliche Priester nicht unterzeichnen, auch nicht zugeben, daß ein Lager der Föderirten bei Paris sich einfinde. In jenem Briefe wurde dem Könige mit großer Rücksichtslosigkeit gesagt, daß die Rückkehr zur alten Ordnung der Dinge, zu welcher er durch seine Erziehung stark neige, unmöglich sei. Die Nation werde sich eher unter den Trümmern der Verfassung begraben lassen, als irgend einer Gewalt gestatten, diese umzustürzen. Die Folge dieses Briefes war die Entlassung Roland’s und seiner girondistischen Collegen aus dem Ministerium. In der Versammlung wurde der Brief mit Jubel aufgenommen und der Druck und die Versendung in die Departements beschlossen. Manon Roland hatte ihren zögernden Freunden bewiesen, daß ihr Mißtrauen gegen den guten Willen des Königs wohlbegründet war. Der Brief wurde ein wichtiges Ferment der politischen Bewegung. Es folgte bald darauf der Sturm auf die Tuilerien am 10. August. An den Vorbereitungen zu diesem entscheidenden Tage hatte Manon Roland Antheil; denn der Führer der Marseiller, Barbaroux, gehörte ihrem Kreise an. Wiederum wurde ein girondistisches Ministerium gebildet, in welches Roland eintrat, zugleich aber mit ihm Danton, welcher „die Cirkel der Gironde störte“. Madame Roland, welche für den gewissenhaften und unbestechlichen Robespierre, wenn sie auch dessen neidische Gemüthsart nicht verkannte, Sympathien hegte, war eine durch nichts zu gewinnende Gegnerin Danton’s, dieses gewaltigen Volksmannes, der durch den Einsatz seiner imposanten Persönlichkeit und die genialen Eingebungen des Augenblicks eine machtvolle Wirkung übte, im Uebrigen aber ein Genie in der Liederlichkeit wie Mirabeau und überdies nicht abgeneigt war, sich auf Staatsunkosten zu bereichern. Gegen derartige Kraftmenschen hatte die Roland eine unüberwindliche Abneigung. Als die Schlächtereien des Septembers stattgefunden hatten, deren Hauptbegünstiger, wenn nicht Urheber, Danton war, empfand die Roland einen Schauder gegen diese Gluth gemeiner Leidenschaften, gegen diese maßlosen Metzeleien und spornte ihren Gatten an, in der Nationalversammlung die Förderer und Schützer derselben anzuklagen. Das wurde verhängnißvoll für sie wie für die Gironde. Der Haß der Jacobiner begann sich gegen sie zu richten; man nannte sie die Circe der Gironde; man verglich sie mit der Königin Coco; Danton sagte, als man Roland, obgleich er zum Abgeordneten der Versammlung gewählt war, ersuchen wollte, sein Portefeuille beizubehalten: „Wenn man Herrn Roland mit dieser Einladung beehrt, muß man sie auch an Madame richten. Ich kenne alle Tugenden des Ministers; aber wir haben Männer nöthig, die nicht blos mit den Augen ihrer Frauen sehen.“
Die Abstimmung über den Tod des Königs hatte die unklare Haltung der Gironde auf das Unzweideutigste dargelegt, die Bergpartei dagegen gekräftigt. Die Schwäche und Zersplitterung seiner Partei machte Roland das Verbleiben im Ministerium unmöglich; die Montagnards griffen ihn auf’s Aeußerste an; er legte sein Portefeuille nieder, im Einverständnisse mit seiner Frau und unter Ablegung eines höchst eingehenden Rechenschaftsberichts. Er war der Mann der Ziffer, aber die Parteien respectirten die Ziffern nicht. Man verlangte Glaubensbekenntnisse, keine Rechenexempel. Je mehr die Gironde den Boden verlor, desto herausfordernder wurden ihre Vertreter. Nur Ein Mann konnte und wollte sie retten: es war Danton; doch gerade gegen Diesen war die Abneigung gewachsen. Die Beredsamkeit der anmuthigen Manon hatte gewiß nicht wenig dazu beigetragen, den Groll gegen den genialen Wüstling in ihren Kreisen zu verbreiten und gerade damit den Untergang der Gironde zu beschleunigen.
In einem Augenblicke stolzer Selbstüberhebung hatte sie erklärt, sie sei berufen, die Vorsehung zu spielen. Sie hat dieselbe schlecht genug gespielt; sie hatte wohl die lebhafte Ahnung des hereinbrechenden Verderbens, aber ihre Rathschläge riefen es näher herbei, anstatt es aufzuhalten. Klägliche Vorsehung, der in einer Secunde das Fallbeil der Guillotine ein Ende machte!
Die Tage des 31. März und des 2. Juni, an denen eine große Volksbewegung zur Verhaftung der Gironde führte, bezeichnen den Wendepunkt im Leben der Madame Roland. Von jetzt ab ist dasselbe einem tragischen Schicksale verfallen. Und wenn man die freigeistige Republikanerin, die männlicher als die Männer sich an der Politik betheiligt, die in ihrem Salon eine geistige Oberherrschaft über eine ganze Partei ausübt, nicht weiblich genug findet, wenn man in diesem begabten und thätigen Unterstaatssecretär des Ministeriums Roland eine Verzeichnung des Frauenideals erblickt, so entwickelt sie dafür von dem Augenblicke ab, wo das Geschick sich gegen sie erklärt, einen Adel der Gesinnung und eine Seelengröße, welche auch den mißgünstigen Blick auf sie zurücklenken und selbst eine ungern gewährte Anerkennung erzwingen.
Sie hielt Frankreich und ihre eigene Sache für verloren und begünstigte die Flucht Roland’s, während sie selbst in Paris zurückblieb. Sie wollte der Ungerechtigkeit Trotz bieten und traute sich gewiß die Kraft zu, die Sache ihres Gatten mit glänzender Beredsamkeit zu vertheidigen. Sie gefiel sich in dem Gedanken, sich für Roland zu opfern; es erschien ihr dies als eine Sühne für die Untreue ihres Herzens. Buzot war auch geflüchtet und außer dem Bereich der Jacobinischen Gräuelthaten; sie wollte vor der Mit- und Nachwelt die Freunde vertheidigen, an denen sie mit Bewunderung hing.
Am 2. Juni wurde Madame Roland verhaftet und in die Abtei geführt, die sie kurze Zeit darauf mit Saint-Pélagie vertauschte. Die vor kurzem in dem Archive gefundenen Papiere verbreiten über diese Verhaftung ein neues Licht. Wir sind aus den Romanen der jüngsten Zeit gewöhnt, uns unter Gouvernanten meistens sehr edle Wesen zu denken, welche des Montyon’schen Tugendpreises[WS 1] würdig sind; doch es gab und giebt auch sehr bösartige Exemplare dieser weitverbreiteten Species. Durch das Gefühl ihrer untergeordneten Stellung, die in solchem Mißverhältnisse steht zu ihrer geistigen Bildung, mit Groll erfüllt, benutzen diese oft jede, auch die bedenklichste Gelegenheit, die ihnen erlaubt, sich ihrer Brodherrschaft überlegen zu zeigen. [370] Das war wohl auch das Motiv, welches Fräulein Mignot, die Gouvernante des Fräulein Roland, zur Denunciantin machte. Madame Roland hatte sie mit Wohlthaten überhäuft, ihr ein schrankenloses Vertrauen gezeigt, ja ihr sogar die Tochter übergeben wollen, wenn sie selbst der wechselnden Bewegung der Revolution zum Opfer fallen sollte. Dieses Fräulein Mignot hatte zum Theil die Unterhaltungen der Girondisten in dem Salon und bei den Diners der Madame Roland mit angehört und überbrachte einzelne Aeußerungen dem Revolutionscomité der Section des Pantheons. Gelobt wegen ihres Patriotismus, stolz auf den Triumph, den sie über ihre Gebieterin davon trug, steigerte sie sich in ihren Aussagen zu Uebertreibungen und Unwahrheiten. Man mag den Namen dieser Clavierlehrerin und Erzieherin der Nachwelt aufbewahren – die Demoiselle Mignot der Geschichte schlägt die Jane Eyre des Romans.
Unaufhörlich beschwerte sich die Roland über die Formwidrigkeit ihrer Verhaftung. Da trieb man ein böses Spiel mit ihr – man kündigte ihr die Freiheit an; sie verließ eilends die blumengeschmückte Kerkerzelle, welcher der Gefängnißwärter von jetzt ab den Namen des Pavillons der Flora zu geben versprach. Doch kaum hatte sie die Schwelle ihres Hauses wiederbetreten, als sie von neuem verhaftet wurde, diesmal nach allen Formen des Gesetzes. Ein junger Mann, der sich ihrer annahm, erbittert über dieses treulose Verfahren, büßte seinen Edelmuth mit dem Tode. Wieder in dem traurigen Gefängnisse von Saint-Pélagie verweilend, wies sie einen Befreiungsversuch von Seiten ihrer Freunde mit den Worten zurück: „Ich würde nur die Wuth der Feinde meines Gatten erregen; ich bleibe hier – mein Entschluß steht fest.“ Und in der That war es unmöglich, ihn zum Wanken zu bringen. Hier im Gefängnisse las sie den Tacitus, für den sie schwärmte; sie sah in seinen Annalen das Spiegelbild der eignen Zeit. Die damalige Regierung Frankreichs erschien ihr als ein Ungeheuer, dessen Formen und Auftreten gleich empörend seien, welches alles zerstöre, was es berühre, und sich selbst verzehre. Ihre ganze Seele weilte bei den Freunden, Buzot und Barbaroux, welche im Departement des Calvados den Aufstand gegen den Convent organisirten. Von ihnen erhielt sie auch Briefe durch Vermittlung eines Deputirten Duperret, der indeß später selbst verhaftet wurde; unter seinen Briefschaften fand sich Vieles, was Madame Roland compromittiren mußte. Am 31. October, am Tage der Hinrichtung der Girondisten, wurde sie in die Conciergerie gebracht.
Es war gewiß der trübste Tag ihres Lebens – so viele Freunde auf einmal dem Henkerbeile verfallen! Noch einem schönen begeisterten Todesmahle starben sie wie jugendliche Helden des Alterthums. Kaum eine halbe Stunde währte die Hinrichtung; es bedurfte nur so kurzer Zeit, um Talente in Masse aus der Welt zu schaffen. Die Rechnung des Todtengräbers lautete: „Für zweiundzwanzig Deputirte der Gironde an Särgen hundertsiebenundvierzig Francs; für Beerdigungskosten dreiundsechszig Francs, zusammen zweihundertzehn Francs.“ So wohlfeil kam der Tod dieser glänzenden Jugend Frankreichs zu stehn. Wenige beweinten sie damals; zu ihnen gehörte Manon Roland in ihrem Kerker. Zur Zeit, als die Männer der Gironde vor dem Revolutionstribunale standen, hatte sie gehofft, zur Zeugenschaft zugelassen zu werden. Als man sie nicht aufrief, aus Furcht vor ihrer Beredsamkeit und ihrer Unerschrockenheit, brachte sie ihr Zeugniß für die Nachwelt auf das Papier. Sie fügte den Anklageacten Amar’s „flüchtige Bemerkungen“ bei, zur Vertheidigung der Hauptvertreter ihrer Partei, und diese uns erhaltenen Bemerkungen sind der glänzendste Beweis für ihren scharfen Verstand, für ihre feine Menschenbeobachtung, für ihre edle Begeisterung für Freiheit und Freundschaft.
Wenn in früheren Aufzeichnungen uns Manon Roland als das vollkommene Abbild von Rousseau’s Julie geschildert und die hervorstechende Schönheit ihrer Augen, ihrer Haare, ihres Wuchses und ihres Teints gerühmt wird, so hat uns ein Mitgefangener in der Conciergerie, Riouffe, ein anziehendes Bild der ebenso anmuthigen wie seelenstarken Frau aus ihrer letzten Lebenszeit gegeben: „Ihr ganzer Gesichtsausdruck war vergeistigter Art. Das Unglück und ihre lange Haft hatten allerdings in ihrem Gesichte Spuren des Tiefsinns zurückgelassen, allein diese wurden durch ihre natürliche Lebhaftigkeit gemildert; sie besaß eine wahrhaft republikanische Seele in einem Körper, der bei aller Anmuth eine Haltung zeigte, wie man sie nur an einem Königshofe sich wünschen mag; in ihren großen, dunkeln Augen voll Sanftmuth und Feuer malte sich etwas mehr, als was sich gewöhnlich in den Augen der Frauen spiegelt. Mit der Freiheit und dem Muthe einer großen Seele sprach sie oft mit mir durch das Gitter ihres Gefängnisses. Diese freie und kühne Sprache in dem Munde einer anmuthigen französischen Frau, deren Schaffot schon errichtet war, erschien als ein Wunder der Revolution. Wir alle um sie her lauschten mit einer Art von Bewunderung und Erstaunen ihrer Unterhaltung, die hohen Ernst mit liebenswürdiger Wärme vereinigte. Sie wußte sich mit seltener Anmuth und mit solcher Schönheit der Sprache auszudrücken, daß, wenn man sie vernahm, man eine dem Ohre bisher fremde Musik zu hören glaubte.“
Sie erschien vor dem Revolutionstribunale in einem weißen Kleide; das gelöste schöne Haar wallte ihr bis zum Gürtel herab. Bei dem Verhöre hatte man die unwürdigsten Fragen an sie gerichtet, ohne sie aus der Fassung zu bringen. Ihr ganzes Streben war darauf gerichtet, Roland selbst zu vertheidigen. Sie sprach mit gewohnter Anmuth und Energie. „Ihr könnt mich auf das Blutgerüst schicken,“ rief sie aus, „aber mir nicht die freudige Genugthuung rauben, die ein gutes Gewissen und die Ueberzeugung giebt, daß die Nachwelt mich und Roland rächen wird, indem sie unsere Verfolger der ewigen Schande preisgiebt.“ Sie sprach stolz und muthig, bis man ihr das Wort entzog, aber die ihr angethane Schmach konnte sie nicht verwinden und mit Thränen in den Augen kehrte sie nach dem Verhöre in ihren Kerker zurück.
Als ihr Advocat, Chauveau-Lagarde, zu ihr kam, um sich mit ihr zu berathen, hörte Madame Roland mit ruhiger Miene zu, besprach kaltblütig die zu ihrer Vertheidigung vorgeschlagenen Mittel; dann aber zog sie gerührt einen Ring von ihrem Finger und reichte ihn ihrem Advocaten, indem sie sagte: „Kommt morgen nicht zum Tribunale! Das hieße Euch verderben ohne mich zu retten; empfangt das einzige Pfand, das meine Dankbarkeit Euch darzubieten vermag. … Morgen werde ich nicht mehr sein.“
Das Todesurtheil wurde über sie gesprochen. Sie rief ihren Richtern zu: „Ihr haltet mich für würdig, das Loos der großen Männer zu theilen, die Ihr gemordet habt; ich danke Euch, indem ich Euch zugleich die Versicherung gebe, daß ich mich bemühen werde, auf dem Wege zum Blutgerüste denselben Muth zu zeigen, wie sie.“
Als sie in die Conciergerie zurückkehrte, umdrängten sie die Gefangenen mit inniger Theilnahme und mit der Frage, wie es um sie stehe. Sie antwortete mit einer nicht mißzuverstehenden Pantomime, indem sie mit der rechten Hand an ihrem Halse die Bewegung eines Messers nachahmte, das einen Kopf abschneidet. Sie blieb ruhig; doch rings um sie klagte und weinte man.
Sie besaß Opium, doch sie machte nicht Gebrauch davon. Der Gedanke, daß ihre Hinrichtung noch ihrem Vaterlande nützlich sein könne, hielt sie von Selbstmord ab.
Ihre letzten Aufzeichnungen zeugen von seltener Seelengröße; der Adel des Ausdrucks giebt ihnen ein einfaches Gepräge. „Wenn die Unschuld,“ ruft sie aus, „zur Richtstätte schreitet, verurtheilt von dem Irrthume und der Nichtswürdigkeit, so findet sie dort unvergänglichen Ruhm. Möchte ich das letzte Opfer sein, das der Wuth des Parteihasses anheimfällt! Ich würde mit Freuden diese unglückliche Erde verlassen, welche die Guten verschlingt und mit dem Blute der Gerechten befleckt ist.“ Ihre letzten aufgezeichneten Worte waren eine Verherrlichung jener wahren Freiheit, welche nur für die großen Seelen ist, die den Tod verachten und für sie zu sterben wissen, nicht für die schwachen Menschen, welche mit dem Verbrechen unterhandeln, nicht für die Verdorbenen, die aus dem Bette der Schande und dem Schmutze des Elends emporsteigen, um sich in dem Blute zu baden, das von dem Schaffote fließt, nur für ein weises und gerechtes Volk. „So lange Ihr nicht ein solches Volk seid,“ ruft sie ihren Mitbürgern zu, „so lange wird für Euch die Freiheit nur ein leerer Schall sein. Ihr werdet nur die Freiheit haben, Einer dem Andern zum Opfer zu fallen, Ihr werdet Brod verlangen und man wird Euch Leichen geben; Ihr werdet unter dem Joche der Knechtschaft enden.“
Dies waren ihre letzten Zeilen. Noch auf dem Blutgerüste soll sie Schreibzeug verlangt haben, um die ganz besonderen [371] Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt. „Schade,“ sagt Goethe in seinen Prosasprüchen, „daß man es ihr versagte! Denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare, sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen.“
Mit großer Ruhe hatte Madame Roland alle Vorbereitungen zu ihrem Tode getroffen, Abschied von den Ihrigen genommen, ihre Tochter ermahnt, der Eltern würdig zu sein, die ihr große Beispiele hinterlassen, und dann ihr Testament gemacht. Sie schmückte sich zum letzten Gange in ähnlicher Weise, wie sie vor dem Tribunale erschienen war. Ein weißes Gewand, lang-herabwallende Haare – ihre Züge zeigten eine leichte Röthe, eine jugendliche Verklärung. Den wüthenden Furien, welche den Leichenkarren umtanzten mit dem Rufe „Zur Guillotine!“ rief sie zu: „Beruhigt Euch! Ihr seht ja, daß ich schon auf dem Wege dahin bin; doch Diejenigen, welche mich hinschicken, werden mir nachfolgen, und Ihr werdet ihren Tod beklatschen, wie heute den meinigen.“ Auf dem Leichenkarren saß mit ihr ein Greis, Lamarche, ein Director der Assignatenfabrik, dessen Muth dem ihrigen nicht gleich kam; sie wußte ihn auf dem Wege zum Schaffote zu erheitern, so daß sie ihm selbst ein Lächeln ablockte. Hinter dem Schaffote erhob sich die Statue der Freiheit; sie verneigte sich vor derselben mit den Worten: „O Freiheit, welche Verbrechen begeht man in deinem Namen!“ Sie bat den Scharfrichter, Lamarche vor ihr zu enthaupten, damit dem alten Manne erspart werde, ihr Blut zu sehen, und als dieser nach einigem Zögern sich dazu verstand, führte sie den Greis selbst an das Schaffot und drückte ihm die zitternde Hand mit den Worten: „Es ist bald gethan.“ Sie sah der Hinrichtung mit Fassung zu, stieg empor, ohne einen Wink abzuwarten, und hob oben ihr Kleid ein wenig in die Höhe, damit es nicht von dem entgegenströmenden Blute befleckt werde.
Der 10. November 1793 war der Tag ihrer Hinrichtung. So starb eine edle und begabte Frau, deren Charakter in seiner ganzen Größe erst ein tragisches Schicksal der Mit- und Nachwelt enthüllen sollte. Fünf Tage darauf fand man etwa vier Meilen von Rouen an der Landstraße einen todten Mann, der sich den Degen in die Brust gebohrt hatte – es war der Exminister Roland de la Platière. Im Jahre 1794 fand man im südlichen Frankreich, von den Wölfen angenagt, die Leichen zweier Männer; man erkannte Petion und Buzot, sie hatten sich durch Gift den Tod gegeben. So hatten die Genossen ihres Lebens und Herzens nicht lange die seltene Frau überlebt.
Ein Herbstnachmittag lag blau und sonnig über dem Walde, still und feierlich, als wäre Sonntag und Alles wäre versunken in ein inbrünstiges Gebet. Die Birken standen wie gelbe Standarten im grünen Haselgesträuch, und die Nüsse des letzteren fielen überreif nieder in’s Moos.
Felix und Ellen konnten nicht mehr mit einander gehen, um Nüsse und Küsse zu pflücken, denn der alte Waldraff hielt sie streng geschieden. Er hatte keine fernere Annäherung bemerkt und glaubte, Ellen ergebe sich in ihr Schicksal und der langbärtige Unterlehrer sei ungefährlich geworden. Noch war der Schuldienst in Ebensee unbesetzt, denn es hatten sich Competenzstreitigkeiten erhoben, die der alte Baron mit merkwürdiger Hartnäckigkeit zu einem für ihn günstigen Ende führte. Er verglich sich nach Beendigung der Streitsache mit großer Selbstgefälligkeit mit Kaiser Nero, der Alles durchgeführt habe, sogar den Brand der Stadt Rom. Es mußte sich jetzt bald für Felix entscheiden, und wenn ihm nicht Kaiser Nero zu Hülfe kam, war guter Rath theuer.
Er war heute wieder zur alten Waldkirche gegangen, aber nicht um Nüsse, sondern um Küsse. Das Rosenorakel hatte ihn auf heute berufen, und er erwartete Wichtiges vom heutigen Tage. Im Forsthause war nämlich, wie er wohl wußte, Besuch aus der Stadt, der vom Vater protegirte Nebenbuhler, den Felix in’s Pfefferland wünschte. Er war begierig, was Ellen sagen und thun werde.
Die alte Kirche war wundersam vergoldet von der Herbstsonne, und ein breiter Strahl ruhte auf den Altarstufen, auf denen Felix saß oder eigentlich lag. Er hatte sich nämlich weit vornübergebeugt und schnitzelte eifrig an einem kleinen Gegenstande herum. Es war die Haselnuß, die er von Ellen’s Lippen gepflückt und in die er sorgfältig etwas gravirte.
Bald traten die Buchstaben deutlich hervor, und er flüsterte leise den Namen vor sich hin, den er hineingeschnitten in die braune Nuß: „Ellen.“
„Ich bin ein ganzes Kind,“ murmelte er, „obwohl der Baron meint, ich sei nur ein halbes. Ich werde die Nuß an meiner Uhrkette tragen, dann ist Ellen gut angebunden.“ Er mußte lächeln über seine Phantasien. „Jetzt noch ein Herz darüber als Symbol meiner Liebe,“ fügte er hinzu und ging sofort an die Arbeit.
Auf einmal wich ihm die Nuß unter einem zu starken Drucke unter den Fingern, machte einen Satz und kollerte dann die Stufen hinunter, so daß er sie einen Augenblick aus den Augen verlor. Er begann sofort Jagd auf sie zu machen und entdeckte sie auch bald in einer Steinritze, wo sie sich eingezwängt hatte und unter dem Drucke seiner Finger sich noch weiter in die Spalte hinunterschob. Mit aller Anstrengung vermochte er nicht sie heraufzuzwängen.
„Was fangen wir jetzt an?“ fragte er sich und suchte nach einem Gegenstande, den er als Hebestange hätte benutzen können. Sein Auge fiel sofort auf den eisernen Fuß des ehemaligen Crucifixes, der noch in dem metallenen Sockel stand. Rasch drehte er ihn aus dem zerbröckelnden Steine und hatte den kräftigsten Hebel gewonnen.
„Was thut man doch um eine Nuß!“ schalt er sich selber lächelnd, als er das Eisenstück in die Steinfuge einsetzte. Ein Druck – die Platte wich, und eine Wolke von Staub quoll aus der Oeffnung herauf, in welche die Haselnuß mit einem klingenden „Tipp“ hinuntergefallen war. Als die Wolke verschwommen, stand Felix sprachlos vor der Oeffnung und rieb sich wiederholt die Augen, denn ihm war, als träume er. Die entsprungene Nuß lag wie eine braune Perle in einer mit Silberstücken gefüllten Urne obenauf, und der Name „Ellen“ blickte so harmlos aus dem Schatze herauf, als gehöre er zu demselben.
Der Schatzfinder hatte sich aber bald wieder gefaßt, hob die Last schnell zu Tage und stellte sie in den breiten Sonnenstrahl, der auf dem Altare schlief. Felix setzte sich nieder, denn seine Kniee zitterten. Er sah von Zeit zu Zeit schüchtern zur Seite, wie um sich zu überzeugen, daß es kein Spuk sei. Eine ganze Reihe von Combinationen drängte sich in seinem Kopfe, auf den er beide Hände preßte, so daß er den Eintritt Ellen’s gar nicht bemerkte.
Ellen wußte offenbar auch nicht, wie ihr geschah, denn sie starrte lange mit verwunderten Blicken auf den Silberschatz, der wie eine Krone leuchtete und eine Haselnuß als Gipfelperle trug.
„Ellen,“ fuhr Felix auf, „Ellen, ich bin reich. Dort“ – er wies auf die dunkle Oeffnung – „dort habe ich den Schatz gefunden, gefunden durch die Haselnuß, die ich von Deinen Lippen naschte und in die ich Deinen süßen Namen eingrub. Ellen, wir werden glücklich sein.“ Er zitterte vor Aufregung.
„Gott sei’s gedankt!“ flüsterte das erregte Mädchen. „Es ist hohe Zeit. Der mir bestimmte Bräutigam aus der Stadt ist angekommen, und der Vater hat mir schon bedeutet, daß er ein Ende machen werde mit mir. O, es wäre ein Ende mit Schrecken! Aber Alles wird nun gut werden. O Felix, Du hast einen bedeutungsvollen Namen, Felix – der Glückliche.“
Und er trank glücklich, der Glückliche, an den Lippen, die für ihn blühten.
[372] „Und wo sind sie?“ fragte er dann.
„Im Walde, sonst hätte ich nicht gehen können,“ war die Antwort.
Die beiden Glücklichen hatten das Anfahren eines Wagens überhört, denn die ganze Welt war für sie untergegangen, sie hätten die Posaunen des jüngsten Gerichtes nicht vernommen.
„Jetzt wollen wir aber auch nach unserm Schatze sehen,“ begann Felix, der ruhiger geworden war. „Er wird sich hoffentlich unter unseren Händen nicht in dürres Laub verwandeln.“
Nachdem er die schönste Perle, die Haselnuß, sorgfältig geborgen hatte, ging er an die Untersuchung des Schatzes. Er nahm Stück um Stück heraus und murmelte beim Lesen der Inschriften und der Jahreszahlen: „Maria Theresia, Kaiser Ferdinand, Hamburg, 1246, 1525 – das sind ja lauter alte Münzen, einige Jahreszahlen sind gar nicht mehr zu erkennen. Herr des Himmels!“ fuhr er auf einmal auf, „das ist nichts Anderes als die alte Münzsammlung, von der mir der Baron Bisam erzählte. O Gott, jetzt ist Alles verloren. Das Geld gehört Niemandem anders, als dem Barone.“ Er schlug die Hände vor’s Gesicht.
„Jawohl, dem Baron, Niemand anders als dem Baron,“ krächzte eine überschnappende Fistel aus dem Schiffe der Kirche herauf, und der alte Baron schlittete in höchster Eile in den Chor herauf, während er die Arme in die Luft warf und kreischend lachte.
Ihm nach trippelte die Dohle und schrie aus Leibeskräften: „Nero, Nero!“
An der Kirchthür aber stand der alte Diener in seiner fadenscheinigen Livrée, rieb die Hände und lächelte stumpf vor sich hin. Als wäre ein Geist erschienen, fuhren die beiden Liebenden auf und sahen mit neugierigem Entsetzen, wie der kindische Bavon die Arme um die Urne schlang, dann mit den Händen in den Silberstücken wühlte und wie wahnsinnig auflachte.
Auf einmal schien er einem neuen Gedanken zu folgen, denn er schüttete den ganzen Inhalt der Urne auf die Altarplatte, wühlte darin mit zitternden Händen umher und schrie dann mit seiner spitzen Stimme, wie wahnwitzig: „Ein Nero, mein Nero, mein Kaiser Nero!“
„Nero, Nero!“ kreischte auch die Dohle und flatterte auf den Altar, um dem alten Barone das gefundene Goldstück aus den Händen zu picken. Aber er ließ es nicht los, sondern murmelte immer nur entzückt vor sich hin:
„Jetzt kann sich der Graf Hinko von Hackenburg trollen mit seinem Nero. Der meinige ist zehnmal schöner, jawohl, zehnmal schöner.“
Und es war wirklich ein schönes Goldstück, mit deutlicher Inschrift und dem scharfausgeprägten Brustbilde des Kaisers Nero. Ellen und Felix mußten es wohl zwanzigmal von beiden Seiten betrachten, und der Alte wurde nicht müde, ihnen den hohen Werth des Goldstücks zu erklären. Er war ruhiger geworden, denn die schönste Hoffnung seiner alten Tage war erfüllt. Er schien die Anwesenheit der Beiden gar nicht auffallend zu finden, und erst nach einer langen Pause fragte er, welches Wunder ihn in den Besitz der alten Münzsammlung gesetzt habe.
Felix erklärte ihm Alles, und der Alte starrte mit Verwunderung auf die Haselnuß, der er eine eigenthümlich geheimnißvolle Kraft zuzuschreiben schien, denn er streichelte sie schüchtern mit seinen kleinen runzeligen Händen und flüsterte andächtig: „Ellen – Nüsse – Küsse! Es ist merkwürdig! – Sie brauchen nicht so traurig zu sein, junger Mann!“ sagte er dann zu Felix. „Der alte Baron Bisam weiß schon, was sich schickt.“ Er rieb die Hände. „Felix heißen Sie? Felix – der Glückliche. Hm, wir werden’s schon machen. Sie sollen Geld genug haben und – der Kaiser Nero wird’s recht machen.“ Er versank wieder in den Anblick des goldenen Wütherichs.
Zu der schweigenden Gruppe traten auf einmal der Förster Waldraff mit dem kleinen Felix und einem hübschen jungen Manne, der aufmerksam die alten Inschriften an den Wänden betrachtete.
„Was zum Henker ist denn da?“ fragte Waldraff mit einem Gemische von Zorn und Verwunderung.
Ellen war todtenbleich, Felix aber stand mit hochgehobenem Haupte. Er wollte ein Mann sein in der Gefahr.
„Ei, Papa, sieh doch das viele Geld!“ jauchzte der kleine Felix. „Und der Geist ist auch dabei. Man sagt ja, bei einem Schatze müsse jedesmal ein Geist sein.“
Der Baron lachte wie ein Kind bei dem unbeabsichtigten Witze des kleinen Knirpses und fragte dann: „Wie kommen wir denn hier eigentlich zusammen?“
„Entschuldigen Herr Baron!“ sagte Waldraff trocken, „wir haben den gnädigen Herrn schon auf eine große Strecke jubeln und declamiren hören, und wir gingen der Stimme nach.“
„Ebenso ist’s mir gegangen,“ kicherte der Alte, „ich habe den jungen Mann da schon von weiter Ferne jauchzen hören und fuhr dem Klange nach. Es war Felix – der Glückliche, bei meinem Nero! Hurrah!“
„Was thust Du hier, Ellen?“ fragte der Förster mit grollender Stimme, aber der Baron fiel ihm in die Rede und erzählte in seiner abgebrochenen Weise den seltsamen Vorgang von der Auffindung der Münzsammlung. Felix mußte auch die Haselnuß zeigen, und Waldraff faltete finster die Stirn, als er den Namen „Ellen“ und das eingravirte Herz erblickte.
Der Fremde hatte staunend zugehört und sagte dann lächelnd:
„Es liegt also auch eine merkwürdige Kraft in der Frucht des Haselnußstrauches; sie entdeckt Schätze wie der Zweig, der als Wünschelruthe dient. Wie mag aber diese werthvolle Sammlung da unter den Stein gekommen sein?“
Der Förster antwortete leise:
„Wenn der frühere Besitzer, der Großvater des Barons, so kindisch war wie sein Nachfolger, so war es eben eine Schrulle. Er machte es wie die Elstern und Dohlen, die alles Glänzende verstecken, so daß man es erst nach Jahren findet.“
Herr Eiler lächelte fein und sagte zum Baron:
„Es mögen vielleicht Kriegsereignisse den früheren Besitzer dieser Münzen zum Begraben derselben veranlaßt haben.“
Den Alten schien das wenig zu kümmern; er starrte nur mit einem blöden Lächeln auf den jungen Mann, den ihm der Förster dann mit den Worten vorstellte:
„Herr Leo Eiler aus der Hauptstadt, der Bräutigam meiner Tochter.“
Maßloses Erstaunen malte sich auf dem Gesichte des Vorgestellten, während Felix überrascht ausrief: „Bist Du’s wirklich, Leo? Ich hätte Dich kaum wiedererkannt.“
„Jawohl bin ich’s,“ rief der Angeredete, „und Du bist Felix – der Glückliche, wie wir Dich auf dem Gymnasium hießen. Komm an mein Herz, altes fideles Haus!“ Und die beiden Studiengenossen umarmten sich zum Erstaunen aller Anwesenden.
Dann wandte sich Herr Eiler an den Förster mit den Worten:
„Bitte, Herr Waldraff, erklären Sie mir doch, wie ich zu der Ehre komme, von Ihnen als der Bräutigam Ihres Fräulein Tochter vorgestellt zu werden!“
Ellen horchte in athemloser Spannung.
„Ja zum Henker,“ fuhr der Förster auf, „hat Ihnen denn Ihr Herr Vater nichts von unserer Verabredung gesagt?“
„Keine Silbe.“
„Ich kam doch mit ihm überein, daß Sie mit Ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahre unser Vorhaben erfahren sollten. Auch hat Ihnen meine Ellen bei Ihrem letzten Besuche bei uns sehr gefallen.“
„Das ist nicht zu leugnen,“ lächelte Herr Eiler, „ich finde sie auch heute noch höchst begehrenswerth. Leider kann ich aber auf Bräutigamsehren keinen Anspruch mehr machen, da ich schon zwei Jahre verheirathet bin.“
Es ließe sich schwer sagen, wer am meisten überrascht war. Wer aber förmlich aufathmete, das war Ellen, das war Felix.
„Und warum habe Sie mir das nicht gesagt?“ brauste der Förster auf.
Herr Eiler erwiderte ruhig:
„Sie haben mich nicht darnach gefragt, und ich schwieg auch, weil ich aus Ihrem seltsamen Gebahren seit meinem Hiersein nicht recht klug werden konnte.“
„Da werde der Teufel klug!“ polterte Waldraff. „Warum hat mir denn Ihr Herr Vater nicht geschrieben?“
[373] „Er ist schon fast drei Jahre todt,“ gab der Gefragte ernst zur Antwort.
Auch der Förster wurde ernst und murmelte für sich: „Also darum? Man sollte nie speculiren und besonders nicht mit Wesen, die einen eigenen Verstand und ein eigenes Herz haben.“ Er war höchst verdrießlich, Ellen aber und Felix drückten dem genialen jungen Manne innig die Hände.
Der beglückte Baron kicherte. Ihn amüsirte das Wortgeplänkel, von dem er genug verstand, um jetzt mit wichtiger Miene zu beginnen:
„Hm, hm, da schlage ich einen andern Bräutigam vor, nicht mich,“ fügte er grinsend hinzu, als er die erstaunten Blicke des Försters sah, „ich bin zu alt, fast hundert; aber den da. Er heißt Felix – der Glückliche; und kennt seine Ellen.“
„Und die Wünschelruthe hat er auch gekannt,“ meinte Herr Eiler lachend.
„Ja, Nüsse – Küsse,“ sagte der Alte und rieb sich die Hände.
„Bah –“ sagte mürrisch der Förster, „davon kann keine Rede sein.“
„Nero, Nero!“ kreischte die Dohle, die der Baron mit seinem großen Filzschuh getreten hatte.
„Hi, hi, hören Sie es, Waldraff?“ rief der Alte. „Nehmen Sie Sich eine Lehre daran! Nero – Wütherich, hi, hi. Uebrigens“ – setzte er hinzu, „soll der junge Mann da den Schuldienst in Ebensee haben, denn er hat mir meinen Nero verschafft, und an Geld gebe ich ihm soviel, wie all die Thaler da werth sind.“ Er wühlte mit seinen zitternden Händen in dem Silberhaufen und blinzelte schlau nach dem Förster hinüber.
„Vater!“ sagte Ellen und Felix zugleich.
„Papa,“ schmeichelte der kleine Felix, „sei nicht so bös! Sie haben sich schon so oft geküßt, und wenn Du nicht Ja sagst, so muß Ellen doch sterben.“
Diese Argumente leuchteten dem Förster wohl am besten ein, denn er sagte in seiner rauhen Weise: „Ich bin rein selber schuld. Nun denn in Henk–, in Gottes Namen!“
Er drehte sich auf dem Absatze um und ging. Aber die Glücklichen holten ihn schnell ein, und er machte bald gute Miene zum bösen Spiel.
Der ganze Zug ging nach dem Forsthause, voran die Kutsche des Barons mit der Urne, in die der Silberschatz wieder eingefüllt worden war und auf die der alte Diener ein zärtliches Auge hatte. Dann folgten der Förster und der junge Eiler, der einem Schwank nach dem andern erzählte. In der Mitte ging Ellen mit dem Baron, der ganz selig neben ihr herschlittete und ihr immer wieder die Schönheiten seines Nero anpries. Er hatte einen Kranz wilden Hopfens um Ellen’s weiße Stirn gelegt und rieb sich vergnügt die Hände über seinen guten Einfall. Dann kamen die beiden Felix. Der Kleine durfte die glückbringende Nuß tragen und sang laut in den schweigenden Wald hinein:
„Mein Schwager heißt Felix, wie ich, Vallera!“
Den Schluß bildete die Dohle, die emsig nachtrippelte und nicht müde wurde zu krächzen:
„Nero, Nero!“
Beim Weine noch und bei einer dampfenden Pfeife fertigte Baron Bisam die Nominationsurkunde für Felix aus und reichte sie dann dem Förster. Dieser mußte laut auflachen, als er sie gelesen, und erwiderte den erstaunten Blick des alten Patronatsherrn mit den Worten:
„Sie haben ja ‚Kaiser Nero‘ unterzeichnet.“ Wieder lachte er laut, und die Anwesenden mußten unwillkürlich einstimmen.
„Hm, hm,“ machte der Alte, „das ist fatal.“ Dann strich er den Namen aus und schrieb säuberlich: „Baron von Bisam,“ sagte aber dann mit seinem kindischen Lächeln:
„Und er muß doch noch auf die Urkunde.“
Er drückte seinen Nero in das Siegellack und sammelte ringsum die Münze des Beifalls ein für seinen guten Einfall.
Felix aber setzte sich an’s Clavier und spielte eine muntere Tanzweise, zu deren Tact Ellen mit ihrem ehemaligen Bräutigam sich im Kreise drehte, während der alte Baron mit seinem Nero am Weinglase klingelte. –
An ihrem Hochzeitstage trug Ellen ein herrliches Perlenhalsband, ein Geschenk des Barons von Bisam. Vorn in der Mitte saß eine Perle ohne Glanz und hatte doch all diesen Glanz gestiftet. Es war – die Haselnuß. –
„Juchhei! bald bin ich wieder im schönen Heimathlande, so reich an herrlichen Triften, Weinbergen, Wäldern und Matten. Bald rege ich mich wieder unter dem gemüthlichen Volke, das unter der Tünche der Neuzeit noch nicht seine ursprüngliche Frische in Sitten, Gebräuchen und Trachten verloren hat.“
So redete, jubelte und dachte ich wechselsweise, indem ich dabei immer rascher meine Schritte beflügelte.
Da stehe ich auf der Berghöhe vor Zabern, an dem Orte, wo man die Vorspannpferde beseitigt. Hier beginnt der sogenannte Zaberner Steg, welcher auf der Abendseite anfängt und unvermerkt in vielen Krümmungen über die Vogesen hinab in das herrliche Rheinthal führt. Ein üppiger Pflanzen- und Baumwuchs umsäumt diese schöne Kunststraße; rechts ruhen die Ruinen der romantischen Burg Hohbarr, weiter südwärts die des Schlosses Greifenstein, und in weiter Ferne begrüße ich das Münster von Straßburg, bei dessen Anblick das Herz eines jeden Elsässers lacht. Da liegt endlich das alterthümliche Zabern, bekannt als ehemalige Residenz der Bischöfe von Straßburg; da ragt noch das prächtige Schloß des Bischofcardinals von Rohan, das er gegen Ende des vorigen Jahrhunderts neu erbaute. Zabern ist bekannt durch die furchtbare Niedermetzelung von sechszehntausend Bauern im Bauernkriege im Jahre 1525 durch den Herzog Anton von Lothringen, der den arglosen Landleuten, die sich ihm gegen freien Abzug aus Zabern ergeben hatten, auf so fluchwürdige Weise ihr Zutrauen vergalt. In ausgedehntem Sinne des Wortes berühmt ist es jedoch erst durch das Gedicht Schiller’s „Der Gang nach dem Eisenhammer“ geworden, obschon eigentlich „ohn’ Verdienst und Würdigkeit“, d. h. ohne alle locale und geschichtliche Begründung.
Nach kurzer Rast eile ich weiter. Auf- und abwärts geht’s mit Sehnsuchtsschritten über die Hügel und Thäler der Vorberge der Vogesen und vorwärts selbst am Bastberge vorbei, dem Blocksberge des elsässischen Unterlandes. Es ist zwei Uhr Nachmittags. Dabei streut der liebliche Mai von den auf beiden Seiten des Weges stehenden Bäumen seine Blüthen auf den fröhlichen Wanderer, der weit aus dem Innern Frankreichs herkommt und der nach zweijähriger Abwesenheit von diesem freundlichen Gruße hoch überrascht ist. Nur das liebliche Buchsweiler, nordöstlich am Bastberg gelegen, die Residenz der einstigen Dynasten des Elsasses, der Grafen von Hanau-Lichtenberg, fesselte mich zu kurzer Rast seines Gymnasiums wegen, das meine erste Jugend gesehen hatte, und einem theuren Oheim zu Liebe, der zuerst Professor an dem Gymnasium und dann Inspector und Oberconsistorialrath wurde, bekannt weit und breit durch edel ausgeübte Gastfreundschaft.
Aber nicht lange – es reißt mich fort, denn immer ist die engere Heimath noch nicht erreicht. Weiter geht es über Berg und Thal, Thal und Berg. Da sehe ich meinen alten Kirchthurm ragen. Das Herz pocht. Unten im Thal höre ich den Klang jugendlicher Stimmen. Ich breite meine Arme betend und segnend über die liebe Heimath und steige, wie sonderbar! langsam und zögernd hinunter gegen das Dorf, das auf der andern Seite des Hügels sich längshin ausdehnt. Die fröhlichen Stimmen werden immer deutlicher. Es ist ja Sonntag Abend. Die Erinnerung aus der Jugendzeit erwacht. Da wird ja jetzt, wo es Abend ist, des Kreisspiels gepflogen, an dem ich einst in den Tagen der Kindheit so eifrig theilgenommen. Tiefer hinabschreitend, erblicke ich in einem dichtumhegten Obstgarten Buben und Mädchen versammelt zum ländlichen Spiele. Ich lehne mich an einen auf hohem Raine [374] stehenden Baum und sehe dem Treiben zu, dessen Bedeutung ich aus alter Zeit kenne. Die blendend weißen Fürtücher der Mädchen schimmern mir entgegen. Die mit grün- und rothseidenen Bändern umbordeten Röcke von allen Farben, die mit Iltis- oder Marderpelzen breit besetzten Kappen der Knaben, ihre mit blinkenden stählernen Knöpfen dicht besetzten Wämse, die scharlachenen Brusttücher verkünden mir die originelle bunte Sonntagspracht und den schimmernden Wohlstand des Heimathortes.
Doch indem ich auf dieses bunte Treiben schaue, muß ich, im Fluge gleichsam, des schönen Spieles gedenken, das hier vorgeht. Beim Beginne des Frühlings, wenn in den Matten und an den Rainen der Rebhügel und der Wege das Veilchen und die Himmelsschlüssel erst aufblühen, machen die Mädchen des Dorfes schon Sträuße, und wenn sie in ihrem wohlgepflegten Garten noch keinen Morgenstern und keine Hyacinthe finden, so gehen sie hinaus in das Feld oder in den Wald und suchen die gelbe Butterblume, die rothviolette Fleischnelke, die Kukuksblume, das weiße Schneeglöcklein und die duftende heimlichblaue Veiltodte, und stecken wohl auch einen immer frischen Rosmarin dazu. Diese Sträuße hegen sie sorgfältig im Wasserglase bis zum Sonntagabend. Ist der Nachmittagsgottesdienst vorüber, das häusliche Geschäft vollbracht und der Abendimbiß genossen, dann kommen die Mädchen von je neun bis fünfzehn Jahren zusammen. Wie sie geheimnißvoll thun! Sie kichern und flüstern so emsig miteinander. Gewöhnlich sind sie bei einer Gespielin im Küchengarten hinter der Scheune versammelt und schleichen sich durch die Hinterthür des Gartens, die meistens auf das Feld oder in die Obstgärten und Matten führt, hinaus. Was bedeutet dieses geheimnißvolle und scheue Wesen? Das ahnungsvolle, kaum bewußte Gefühl der reinen zarten Jugendliebe für einen der Knaben des Dorfes regt sich in den jungen Herzchen. Und sie wollen nicht belauscht und geneckt werden, wenn sie gehen und wieder nach Hause kommen. Ein jedes Mädchen trägt verschämt unter der reinen weißen, schön gefältelten Schürze seinen Strauß.
Draußen vor dem Dorfe in einem dicht umhegten Obstgarten oder in einer von hohen Haselnußstauden umgebenen Matte warten die Knaben schon lange, spielen unterdessen irgend ein Spiel, das sie aber vor Ungeduld bald aufgeben. Da kommt Einer eilig von einem Baume gesprungen und meldet hastig das Herannahen der Maide. Diese stehen beisammen in einem benachbarten Garten. Sie wollen schlechterdings nicht herüber. Da setzt die ungeduldige Schaar über den Zaun, den scheuen Gespielinnen entgegen. Die Mädchen, wie sie die Knaben erblicken, stieben wie flüchtige Rehe auseinander. Aber sie werden von den schnellen Knaben eingeholt und nach langem Zögern in den zum Spiele bestimmten Garten geführt. So kommen sie immer zusammen. Immer müssen die Maide, die scheuen, von den Knaben herbeigeholt werden.
Jetzt stellen sie sich in einen Kreis mit einwärts gekehrten Gesichtern, immer ein Knabe abwechselnd mit einem Mädchen. Dann tritt ein Knabe aus dem Reihen, umgeht ihn von außen langsam, wie wenn er sich auf Etwas besinnen wollte. Plötzlich geht er rascher und schlägt flüchtig mit der Hand einem Mädchen auf den Rücken. Es dreht sich um. Der Knabe führt es, indem er seinen Arm um dessen Achseln oder Hüften gelegt hat, eine Strecke weiter. Nun wird miteinander geredet; aber oft wird, besonders bei den erstmaligen Zusammenkünften, nicht gesprochen. Endlich zieht das Mädchen, wenn der Knabe der Erwählte ist, verschämt unter dem Fürtuche den bis jetzt verborgen gehaltenen Strauß hervor und giebt ihn, oft erröthend, dem nunmehrigen Schatze; der Knabe ergreift ihn fröhlich und jetzt kehrt das Pärchen wieder zum Kreise zurück.
Der Knabe stellt sich wieder in den Reihen und das Mädchen muß um den Kreis herum. Es bezeichnet mit einem Schlage der Hand gewöhnlich den Schatz seiner Camerädin, damit dieser an die Reihe komme, den Strauß von seinem Mädchen zu erhalten. So geht das Spiel fort, bis Alle ihre Sträuße haben, so führt ein Jedes dem Andern sein Schätzchen zu. Mit dem eigenen Schatze hat man nicht das Herz, viel zu reden. Aber mit den Andern wird gelacht und geschäkert. Wenn ein Knabe herzhaft ist, so wagt er wohl auch einen Kuß, aber es geschieht sehr selten. Die Mädchen haben beim Beginne der idyllischen Liebschaft auch nicht immer den Muth, den Buben ihre Sträuße zu geben. Oefters „klopfen“ sie einen Andern als Denjenigen, der den Strauß haben soll, so daß das Spiel manchmal lange dauert, bis sie Alle ihre Sträuße haben.
Hat Jeder seinen Strauß, so löst sich der Reihen auf und es wird wohl noch ein anderes Spiel gespielt, wie „Fangedissels“ oder „Blindmihsels“ (Blindekuh). Aber gewöhnlich ist es Abendglockezeit, und beim Nachtglockeläuten müssen die Jungen zum Gebete daheim sein. Nur die confirmirten Knaben dürfen nach der Nachtglocke auf der Gasse bleiben, wenn sie sich gegen ein paar Maß Wein, die sie den älteren Burschen als Einstand bezahlen, in ihr Recht als Bursche einkaufen. Dies geschieht gewöhnlich im sechszehnten Jahre.
In der größten Eile setzte die Schaar, die ich so ganz in der Nähe spielen sah, beim Tone der Nachtglocke auseinander. Ich eilte ihnen nach; dem heimischen schönen Brauche folgend, war ich froh, in diesem Augenblicke meine Lieben zu begrüßen. Als ich durch den hochgelegenen Hof in das liebe Haus eintrat, standen noch meine jüngeren Geschwister um die Eltern im Reihen und beteten. Ich blieb vor der geöffneten Thür stehen und faltete nach alter Gewohnheit die Hände mit den Anderen. Die Schatten des Abends verbargen mein Gesicht. Als das Gebet vorüber war, trat ich näher. Das war ein seliges Herzen und Umfangen! Ich kam aus der Fremde. Da empfand ich erst recht die Süßigkeit treuer Eltern- und Geschwisterliebe.
Der Anblick des Kreisspiels hatte alle meine Jugenderinnerungen wachgerufen. Hatte ich doch selbst in meiner Kindheit alle diese unschuldigen Jugendspiele mitgemacht. Jetzt, wo ich daheim war, nachdem ich mich draußen in der übertünchten uniformirten Welt herumgetummelt, fand ich die Gebräuche meiner Heimath erst recht reizend; und ich will fortfahren sie zu schildern, so gut und einfach ich es vermag. Man wird mir nicht verargen, wenn ich mich dabei auf das Büchlein eines meiner elsässischen Freunde, Länzebäwi, die „Liederstellerin“ genannt, berufe, Dieser Freund hat mir dazu unbedingte Erlaubniß gegeben.
So lange es Blumen im Jahre giebt, wird das Kreisspiel gespielt, oder wie die Kinder sagen, „Kreises gemacht“. Ist die Ostern da mit ihren Eierfreuden, so giebt das Mädchen seinem Kreisschatze zwei bis drei buntfarbige Ostereier. Hier zeigt sich die Kunstfertigkeit der Mädchen, denen wohl auch ältere Schwestern oder ein sonstiges Dorfgenie nachhelfen, in ihren ersten Anfängen. Auf den Eiern sind abgemalt Rosen, Tulpen und Vergißmeinnicht. Oder die lieblichen Abdrücke von Blättern und Blumen, welche die ländlichen Künstlerinnen rings um die Eier binden und diese dann, so zugerüstet, in Zwiebelschalen kochen, werden auf gebleichtem Grunde dargestellt.
Auf einigen Eiern stehen zwischen den Blumen und Blättern mit Scheidewasser eingeschrieben allerlei sinnige Sprüchlein, wie:
Aus lauter Lieb’ und Treu’
Geb’ ich Dir dies Ei;
Und wenn das Ei zerbricht,
Bricht doch die Liebe nicht.
oder:
Ich liebe Dich so fest,
Als wie der Baum die Aest’,
Als wie der Weinstock die Reben –
Wann wird uns Gott zusammengeben?
Auch die älteren Mädchen verehren ihrem Schatze, wenn sie einen solchen haben, ebenso gezierte und beschriebene Eier, wofür sie bei Gelegenheit des „Meßtis“ (Kirchweih) runde und herzförmige Lebkuchen erhalten, auf denen allerlei derbe oder zarte Sprüche stehen, die auf ihr Liebesverhältniß Bezug haben.
Aber was für einen Dank hat denn das Mädchen dafür, daß es vom Frühlinge bis Herbst, von dem Schneeglöcklein bis zur Zeitlose dem Liebsten Sträuße windet? Es erhält am zweiten Pfingsttage ein einfaches seidenes Band, roth, blau oder grün, wenige Ellen lang; denn Pfingsten ist für die fröhliche Jugend ein großes Fest.
Ein altes Recht erlaubt den Knaben, im benachbarten Walde sich den schönsten Maien von „Furlen“ (Föhren) oder Tannen zu holen, je nach der Altersstärke der Knaben, die ihn tragen müssen, zwei- oder dreistöckig. Am Vorabende des Festes erschallt durch das ganze Dorf der Peitschenknall der Jungen,
[375][376] die vor jedem Hause eine Salve loslassen und dadurch das am folgenden Tage zu fordernde „Pfingsterecht“ ankündigen. Vor den Thüren stehen die Väter und die älteren Burschen des Dorfes, schauen dem Treiben zu und beloben oder tadeln, je nach Geschicklichkeit ihres Klatschens, die Knaben.
Am Morgen des zweiten Feiertags, bei Tagesgrauen, wenn die Alten noch ruhen, kommen die Knaben zusammen, ihre Maien zu schmücken. Die Mädchen bringen ihren Strauß, die Knaben ihr Band. Jeder Knabe bindet sein Band an den Strauß seines Mädchens. Und so wird jeder Strauß an einen der Aeste befestigt und die also gezierte Maie wogt stattlich unter der bunten Last.
Ist der Morgengottesdienst vorüber, so ziehen die Knaben in Truppen von 10–15 mit ihren Maien im Dorfe herum, um von Haus zu Haus die Festgaben an Eiern, Dürrfleisch und Wein zu sammeln. Ihre frischen Gesichter verkünden hohen Jubel. Die bunten Bänder wehen in der Luft. Einer trägt den Maien, ein Paar den Korb mit Eiern und Dürrfleisch, noch ein Anderer das Logel, worein der Wein geschüttet wird. In manchen Dörfern wird ein Knabe ganz mit grünen Zweigen umgeben, und die grüne wandelnde Pyramide bedeutet den Frühling, den die Knaben heimführen mit dem Rufe der Meise: „Zitt ésch da! Zitt ésch da!“ Die Mädchen schauen in einer Ecke dem Zuge nach und blicken begehrlich nach den ihnen bestimmten Bändern. Die ältere Jugend steht in Gruppen vor den Häusern und sieht, die „Maienknechte“ freundlich neckend, dem Zuge zu, der bald von einem anderen ersetzt wird, während dem die Hausmutter das Hühnerhaus und die Rauchkammer besucht und den Maienknechten, worunter sie vielleicht einen Sohn hat, die übliche Gabe bereitet.
Welche malerische Tracht! Die Knaben tragen schwarzgraue, reich mit hellen blinkenden Metallknöpfen besetzte Mutzen (Wämser), die kaum bis zur Hüfte gehen, und gleichfarbige Hosen, die ebenfalls stark mit stählernen Knöpfen besetzt sind. Unter dem offenen Wamse blickt das scharlachrothe Brusttuch hervor, das auf dem Rücken von gleicher Farbe ist. Dabei tragen die Knaben die scheckigen, Wohlstand verkündenden Pelzkappen von Iltis, an welchen inwendig das Scharlachtuch hervorschimmert. Es ist die alte alemannische Tracht, wie sie noch theilweise in Schwaben, im Schwarzwald und den hanauischen Gegenden Badens von Stammverwandten getragen wird.
Die Maide sind noch bei weitem malerischer angethan. Kurze Röcke von allen Farben, grün, roth und blau, nicht so kurz wie diejenigen der Bäuerinnen des Berner Oberlandes, aber ungefähr nach dem nämlichen Schnitt, mit unten am Saume des Rockes besetzten breiten seidenen Bändern, die von anderer Farbe als die des Rockes sind. Desgleichen ist das vorne scharf ausgeschnittene Mieder mit Bändern ähnlicher Farbe besetzt. Das Mieder aber ist von andersfarbigem, seidendurchwirktem, blumigem Stoffe. Vorn steckt in dem Mieder der Brustlatz oder das Brusttuch, herzförmig mit den buntesten Bändern und Silber- und Goldflitter geziert. Auf den Köpfen haben die Mädchen kleine, niedrige Hauben, deren Rand mit breiten Seidenbändern besetzt ist, die vorn auf der Stirne in einen gewaltigen Schlupf auslaufen. Die Schuhe der Mädchen, alt oder jung, sind oben ganz ausgeschnitten, bis fast auf die Zehen und lassen von der an dem Ende des Leders angebrachten Schleife von Seidenband die schönen weißen Zwickelstrümpfe sehen, auf die sich die Mädchen viel zu gute thun.
Die älteren Personen sind meist in dunklere Farben gekleidet. Doch auch die Frauen tragen, wenn sie nicht im Leide sind um verstorbene Angehörige, blinkend weiße, leinene Schürzen.
Doch wir kehren zu unserm Maienfeste zurück. Auf ihrem Umzuge stimmen die immer herzhafter werdenden Knaben einen recitativartigen Gesang an, der also lautet:
Da komme die junge Majeknecht’
Und habe gerne Pfingsterecht!
Drei Eier, unn e Stück Speck
Von der Mohre Seit’ ewäck,
E halb Moos Wein
In de Küwwel ’nein,
Do wölle, do wölle
Die lustige Majeknecht’ zefredde sein.
Sie erhalten das Begehrte, Eier, und wenn die Hausmutter an ihre glücklich verlebte Jugendzeit zurückdenkt, so erweitert sich das Herz und sie holt aus der wohlgefüllten Rauchkammer ein Stück aus der Seite eines Schweines; der Vater steigt wohl auch in ähnlichen Gedanken hinab in den Keller, zapft vom weniger starken Weine, indem er den Knaben doch mit der Stärke desselben droht und sie vor dem Rausche warnt.
So wird das ganze Dorf durchzogen. Kein Haus wird übergegangen, es sei reich oder arm. Der Eierkorb, den zwei Knaben an einem durch die beiden Henkel durchgestoßenen Stabe tragen, füllt sich mit Eiern und Speck. Der große Weinlogel muß, wenn der Wein im Vorjahre gerathen ist, wohl ein oder zwei Mal geleert werden.
Ist der Umzug vollendet, so wird aus den Vorräthen in dem Hause eines Cameraden die Mahlzeit bereitet. Die Knaben eilen heim und holen sich Jeder ein tüchtiges Stück Mohzen (weißer Semmelkuchen), den man auf die Feiertage bäckt, wie es auf den Dörfern üblich ist.
Nun aber wollen auch die Sträußespenderinnen ihren Dank. Sie nähern sich allmählich dem Hause, wo der Maien prangt. Manche bleiben scheu in der Ferne stehen. Die Buben knüpfen jetzt ihre Bänder vom Maien los und bringen sie ihren Schätzchen. Wie eigen! Oft muß Einer dem Seinigen weit durch das Dorf nachlaufen und ihm das Band gleichsam aufdringen.
Auch die Mädchen haben sich Eier und sonstige Lebensmittel, auch etwas Wein zusammengetragen und freuen sich miteinander ihrer Bänder. Aber bald wird es draußen auf der Gasse immer lebendiger. Rauschende Musik aus der Ferne erschallt. Die Jauchzer der Bursche des Dorfes, die, mit den Musikanten an der Spitze, ihre Maide zum Tanze abholen wollen, kommen immer näher. Die Knaben lassen sich bei ihrem Essen nicht mehr länger halten. Der leichte Wein hat doch am Ende die jungen Herzen fröhlicher gestimmt. Sie eilen hinaus und schließen sich springend und singend dem Zuge der größeren Jugend an. Die Musikanten spielen die im Dorfe seit alter Zeit beliebtesten stattlichen Märsche. Mit Jauchzern vermischt ertönt der Gesang:
Jetzt kome–n ihr Maide
Zum Spiele, zum Tanz.
Der Pfingstequack springet
Im grüne Kranz.
Wir drehen euch lustig
Im Wirbel herum; –
Der Spielmann, er spielet
Mit der kleine Gikelgeia,
Mit der große Bumbum.
Den Jungen ist der Tanzplatz nicht verwehrt, und wie die älteren „Burscht“ kaufen sie ihren Mädchen einige scheibenförmige, in der Mitte mit einer Mandel gezierte Lebkuchen oder ein mit Rosen, Tulpen und Vergißmeinnicht bemaltes Lebkuchenherz, das diese verschämt und freudig hinter den Brustlatz stecken und so zum Tanze geführt werden.
Welche schöne harmlose Jugendzeit, wo noch jede rohere Regung schweigt! Es ist die Zeit der reinsten Liebe. Die Kinder, sie lieben, wie ihre Eltern es gethan; durch den losen Hag der Nachbarsgärten ihrer Eltern reichen sie sich die Händchen, kommen zusammen an der trautesten Stelle, spielen allerlei Spiele, „Hochzitles“, „Kindtäufels“, „Grablöchels“, wobei sie einen todten Vogel oder ein in dem Stalle von dem Großvieh todtgetretenes Kaninchen weinend und lachend begraben und auf den Grabhügel ein mit zwei Stäben verfertigtes Kreuz pflanzen. Bald treffen sie sich auf dem Kreisplatze, ersetzen die ihnen vorangehende ältere Jugend und werden wieder ersetzt. Die Liebe erwacht lebendiger, aber ach! auch die Leidenschaft und das Leiden. Doch vor Liebesweh stirbt nicht leicht an Auszehrung Einer oder Eine. Dafür ist das Landvolk noch zu kernhaft, die Luft zu gesund, der Wein zu gut, die Burscht und die Maide dabei allzu fröhlich, und der festeste Stab für jeden Lebenspfad ein unbegrenztes Gottvertrauen.
Wenn die Natur ideal nachzuahmen der eigentliche Beruf der Kunst ist, so leben wir jetzt in der That in einem künstlerischen Zeitalter. Wer kennt nicht die künstlichen Blumen und Blätter, die den Hut oder das bloße Haupt, die künstlichen Diamanten und Perlen, welche Brust, Hals und Arm so mancher Schönen schmücken, ohne daß wir im einzelnen Falle nachzuweisen vermöchten, ob Natur oder Kunst hier thätig gewesen? Man ahmt heute die Natur so treu nach, daß in manchen Dingen Niemand sie vermißt. So ist’s mit den in unserem ersten Aufsatze erwähnten „Aetherischen Oelen und Essenzen“, so ist’s mit der Papierwäsche, der wir heute einen kurze Artikel in der Ueberzeugung widmen, daß dieser von Vielen gewiß als Bagatelle betrachtete Gegenstand einer näheren Beachtung sehr wohl würdig ist.
Unter Papierwäsche versteht man Halskragen und Manschetten für Frauen, Männer und Kinder sowie Vorhemdchen aus Papier. Früher waren diese Gegenstände mit dem Hemde vereinigt und von ihm unzertrennbar, da man aber bald fand, daß diese Theile am leichtesten schmutzen, und es in Folge dessen oft nöthig war, täglich mehrmals die Leibwäsche zu wechseln, so fabricirte man sehr bald Kragen, Manschetten und Vorhemdchen aus Leinwand separat. Man ermöglichte auf diese Weise, ohne sich entkleiden zu müssen, die dem Auge Anderer sichtbaren Theile der Wäsche oft und ohne Zeitverlust zu wechseln. Vor dreißig Jahren kannte man nur rein leinene Wäsche, dieselbe hat jedoch immer den Nachtheil gehabt, sehr leicht zu erkälten, da Leinwand den Schweiß des Menschen nicht leicht absorbirt. Später kam von England das Gewebe „Shirting“. Es wurde aus Baumwollfaden fabricirt und hatte den Vortheil, billiger als Leinwand zu sein und sich angenehmer und für den Körper wohlthuender zu tragen. Trotzdem führte es sich schwer ein. Auch Kragen, Manschetten und Vorhemdchen wurden nun aus Shirting gefertigt; sie verloren aber beim Waschen sehr leicht ihre ursprüngliche Form, weil der Faden der Baumwolle, sobald er feucht wird, sich in jede beliebige Form ziehen läßt.
Neue Kragen, Manschetten und Vorhemdchen aus Leinwand oder Shirting haben immer eine schöne, ansprechende Façon, schönen Glanz oder Appret, und sitzen meistentheils tadellos und bequem. Sobald sie aber in die Wäsche kommen, um gereinigt zu werden, verlieren sie diese guten Eigenschaften leider zu schnell, und nur eine ganz tüchtige Plätterin ist im Stande, den gewaschenen Kragen und Manschetten annähernd wieder die alte Façon zu geben. Dabei werden diese Bekleidungsgegenstände aber hart und steif. Wir behaupten wohl nicht zu viel, wenn wir sagen, daß ein Halskragen, nachdem er acht- bis zehnmal gewaschen und geplättet worden ist, seine ursprüngliche Form vollständig verloren hat, und entweder seinem Besitzer zu eng oder zu weit geworden ist, daß er am Halse oft reibt oder kratzt, daß er den Hals unter Umständen geradezu zuschnürt, oder doch wenigstens beim Tragen ein sehr unangenehmes, unbehagliches Gefühl verursacht. Uns ist es selbst vorgekommen, daß wir von unseren Leinenkragen vier bis fünf Stück nacheinander haben versuchen müssen, ehe wir einen gut passenden gefunden haben.
Diese Uebelstände brachten denn intelligente Leute auf den Gedanken, diese täglich nothwendigen Bekleidungsgegenstände aus einer Substanz herzustellen, welche die oben gerügten Nachtheile beseitigen. Man wollte gleichzeitig die vielen Mühen und Ausgaben für das Waschen vermeiden oder ganz beseitigen. Man kam auf das Fabriciren von Papierkragen, Manschetten und Chemisettes.
Es ist einleuchtend, daß man zu dieser Fabrikation kein dünnes Papier, wie etwa Schreibpapier, nahm, sondern daß man dazu einen Carton wählte, der ungefähr die Stärke der zu verdrängenden Leinenkragen hatte. Man mußte auch ein ganz kerniges, solides Papier dazu nehmen, damit es nicht leicht zerreiße. Die ersten Versuche waren der Art, daß man nur langsam vorwärts kam. Man schnitt die Formen der Kragen mit dem Messer oder der Scheere und konnte nur Stehkragen erzeugen, da man einen glatten Bruch dem starken Papiere nicht beibringen konnte. Jedoch schon dieser erste Versuch fand Anklang, freilich nur in der Weise, daß jeder Consument sein eigener Fabrikant war; namentlich wurden in den vierziger Jahren auf unseren Hochschulen die sogenannten „Vatermörder“, lange spitze Stehkragen, gern und vielleicht aus Scherz von den Herren Studenten selbst fabricirt und getragen.
Bald aber suchte man mit Maschinen, die eigens dazu construirt wurden, Papierwäsche auf mechanischem Wege zu fabriciren. Man machte Versuche, den glatten Bruch des Papieres zu erlangen, um Umlegekragen herzustellen. Es gelang. Wenn auch die Formen der erzeugten Fabrikate noch nicht so geschmackvoll ausgeführt werden konnten, da man sich im Anfange an das Einfache halten mußte, so war man wirklich sehr bald im Stande, Papierwäsche auf mechanischem Wege herzustellen.
Die ersten Fabrikate waren verhältnißmäßig theuer und wurden wohl mehr der Curiosität halber gekauft. Niemand, der diese Kragen trug, sagte dem Andern davon, denn er schämte sich zu bekennen, daß er Papier am Halse oder Arme trüge. Man fand aber sehr bald, daß diese Papierwäsche länger weiß und reinlich blieb, als die leinene oder shirtingene. Das war schon ein Fortschritt. Man mußte nun daran denken, dieselbe auch billig herzustellen, und bald kam man auch dahin, den Wäscherinnen in den großen Städten Concurrenz zu machen, denn die Papierkragen, Manschetten und Chemisetten wurden fast für dasselbe Geld neu verkauft, das man als Waschlohn der leinenen Kragen zahlen mußte. Damit war der praktische Werth der Papierwäsche bewiesen.
Noch war das aber nicht Alles, um diesem neuen Industriezweige den Weg zu bahnen. Man hegte ja das große Vorurtheil, daß es nicht schicklich sei, Papierwäsche zu tragen. Es war ja viel richtiger, sich in seinem leinenen Kragen unbequem und unbehaglich zu fühlen, als die bequemeren und gut passenden Papierkragen zu tragen; man hätte ja glauben können, daß man nicht in der Lage sei, sich Leinwandkragen zu kaufen. Wie doch der Mensch ein Sclave der Gewohnheit und des Vorurtheils ist! Das Praktische wird nicht adoptirt, weil es nicht fashionable ist. Jedoch die Papierwäsche ist auch fashionable geworden, und heute braucht sich Niemand mehr zu schämen, offen zu bekennen, daß er Papierwäsche trage, weil dieselbe factisch die Leinenwäsche in jeder Beziehung übertroffen hat.
Namentlich unsere Leipziger Fabrik, welche wir später erwähnen werden, hat die Fabrikation von Papierwäsche dermaßen vervollkommnet, daß die vollständige Adoptirung derselben nur noch eine Frage der Zeit ist; nämlich sie modellirt ihre Papierwäsche, das heißt sie formt Kragen, Manschetten und Vorhemdchen genau nach dem Körpertheile, welcher mit denselben bekleidet werden soll. Keiner Leinenwäschefabrik ist es bis jetzt gelungen, diese Modellirung nachzuahmen, obgleich es vielfach versucht worden ist, und erreichte sie wirklich dieses Ziel, die Waschfrau würde die erlangte Form bei der ersten Wäsche wieder zerstören. Auch keine andere Papierwäschefabrik konnte bis jetzt die Modellirung nachahmen, und sicher ist dies die außerordentlichste Leistung, die in dieser Industrie gemacht worden ist. Denken Sie sich einen Umlegekragen; derselbe ist naturgemäß an dem Theile, welcher oben am Halse anliegt, am engsten. Die Modellirung erweitert nun diesen Theil um ein Beträchtliches, und der Hals ist nicht mehr eingeengt, bewegt sich frei und ungenirt im Kragen, und ein angenehmes freies Gefühl ist die Folge davon. Durch dieses Modelliren ist das mit Recht früher streng getadelte Reiben der Papierwäsche am Halse und Arme sofort beseitigt worden.
Jeder Papierkragen, jede Papiermanschette, jedes Vorhemdchen läßt sich mindestens drei Tage tragen, ohne unsauber zu werden, ein Vortheil, den man der Leinenwäsche nicht nachsagen kann. Bedenkt man, daß man diese Artikel selbst im Dutzend zum ungefähren Preis des Waschlohns kauft (die meisten Artikel unter diesem Preis), so liegt es auf der Hand, daß man bei Adoptirung der Papierwäsche mindestens jährlich die Ausgabe für neue Leinenkragen und Manschetten erspart. Das dürfte aber doch immerhin fünf Thaler pro Person sein, eine Summe, welche für Manchen schon eine Rolle spielt. Wenn man aber noch in [378] Betracht zieht, daß man eine Arbeit und viel Unannehmlichkeit dadurch erspart, indem man seine unreinen Kragen und Manschetten nur wegzuwerfen hat, anstatt dieselben zusammenzusuchen, zu zählen, zu notiren, um sie waschen zu lassen, daß man sehr oft über schlechtes Plätten dieser Stücke, über falsch erhaltene, anderen Personen gehörige Kragen oder Manschetten zu einem gelinden Aerger kommt, so wird man sich rasch entschließen, Papierwäsche wenigstens einmal zu versuchen.
Die Amerikaner als die praktischsten Menschen des Weltalls verbrauchten im Jahre 1872 nahe an vierhundertfünfzig Millionen Papierkragen, die Engländer ziemlich zweihundert Millionen, die Franzosen, und zwar die besser situirten Leute, nahe an hundert Millionen; nur in Deutschland war der Verbrauch höchstens dreißig Millionen. Da eine Person circa hundertzwanzig Papierkragen im Jahr braucht, so trugen also in Deutschland auf vierzig Millionen Einwohner höchstens zweihundertfünfzigtausend Papierkragen. Man kann dies jedoch nur dem Umstande zuschreiben, daß die meisten unserer Landsleute überhaupt noch nichts von dieser neuen Industrie wissen.
Man fabricirt jetzt alle Sorten Steh- und Umlegekragen für Herren und Kinder etwa im Preise von einem und einem Viertel bis zwei und einem halben Thaler das Groß von hundertvierundvierzig Stück, Frauenkragen schon im Preise von zwanzig Silbergroschen bis zwei Thaler das Groß. Die Manschetten kosten ungefähr zwei Thaler zwanzig Groschen bis fünf Thaler das Groß Paar, die Vorhemdchen je nach der Größe von einem Thaler zwanzig Groschen bis fünf Thaler. Der Preis richtet sich nur nach dem Verbrauch des Rohmaterials; die Qualität ist immer dieselbe; je größer also eine Façon ist, desto höher ist der Preis.
Wir fanden mit Vergnügen, daß in Leipzig verschiedene Institute die Papierkragen vollständig bei den ihnen anvertrauten Knaben eingeführt hatten, und können bestätigen, daß die Zöglinge, obgleich sie in ihrem jugendlichen Alter nicht gerade zartfühlend mit den Kragen umgingen, oft einen einzigen eine ganze Woche trugen. Ebenso ist es Thatsache, daß namentlich in Leipzig Herren, die ihren Verhältnisse nach nicht ängstlich den Thaler anzusehen brauchen, die papierne Wäsche der früheren leinenen vorziehen.
Die Papierwäschefabrication ist amerikanischen Ursprungs. Salomon Sally Gray in Boston eröffnete im Jahre 1857 die erste mechanische Papierwäschefabrik. Die Kragen, nach seinem Systeme verfertigt, haben bis auf den heutigen Tag den Namen „Gray’s Kragen“ behalten und sind anerkannt die besten. Eine von diesem Herrn im Jahre 1865 in Paris gegründete Fabrik ging 1867 in die Hände von zwei Deutschen, den Herren Mey und Edlich, über. Im Jahre 1870 errichteten diese Herren in Plagwitz-Leipzig eine Papierwäschefabrik, welche unter den Industrien Leipzigs eine nicht unbedeutende Stellung einnimmt.
Diese Mey und Edlich’sche Fabrik ist jedenfalls die bedeutendste in Deutschland. Sie ist so eingerichtet, daß sie täglich 400,000 Stück Kragen, 100,000 Stück Manschetten und 30,000 Stück Vorhemdchen liefern kann. Sie beschäftigt jetzt schon 150 weibliche und 50 männliche Arbeiter, hat nur Dampfbetrieb, eigene Cartonnagenfabrik, Tischlerei, mechanisches Atelier und verarbeitete im Jahre 1872 circa 700,000 Pfund Cartonpapier, aus welchen ungefähr 25 Millionen Kragen und fünf Millionen Manschetten und Vorhemdchen verfertigt wurden. Die sogenannten Papierabfälle, aus welchen dann in den Papierfabriken die feinsten Briefpapiere fabricirt werden, betrugen ungefähr 70,000 Pfund. Der Absatz dieses Etablissements geht hauptsächlich nach Deutschland, Oesterreich, der Schweiz, nach Japan, Indien und Süd-Amerika, nach Schweden, Norwegen und Rußland.
Aus dem Rechtsleben eines Kleinstaates. Jedem Touristen ist bekannt, daß das Fürstenthum Schwarzburg-Rudolstadt bewundernswerthe Reste des Mittelalters bewahrt. Kyffhäuser und Rothenburg, Schwarzburg, Greifenstein und Paulinzelle liegen innerhalb seiner sechszehn Quadratmeilen. Weniger bekannt dürfte aber ein Stück aus dem Rudolstädtischen Rechtsleben sein, das wenigstens aus dem Mittelalter zu stammen verdiente, sonst aber mehr auffällig als bewunderswerth ist.
Bekanntlich kosten Rechtsstreite, wie andere Kriege, Geld, Geld, Geld, und alle Rechtsstaaten lassen sich für die Rechtsprechung bezahlen. Unsere Socialdemokraten zwar fordern mit dem stereotypen „Zorn im Antlitze“ auch unentgeltliche Justiz; sie vergessen aber, daß unter den Gerichtskosten manche baare Auslagen begriffen sind und daß die Erfüllung ihrer Bitte die friedliebenden Bürger zu Gunsten der streitsüchtigen widerrechtlich belasten würde. Es ist deshalb nur zu billigen, wenn auch die freiesten Republiken Bedenken tragen, solche Forderungen zu erfüllen. In so schneidiger und harter Weise aber wie im Staate Rudolstadt dürfte jenes Recht sonst nirgends gehandhabt werden. Die Gerichte dieses kleinen deutschen Vaterlandes dürfen nämlich ihre Urtheile den Parteien gar nicht verkünden, wenn die Gerichtskosten nicht vorher bezahlt werden. „Kein Geld, kein Schweizer,“ hieß es früher bei unseren westlichen Nachbarn. „Kein Geld, kein Bescheid,“ sagt das Recht im Rudolstädtischen. Mögen für die Parteien viele Tausende, ja ganze Vermögen auf dem Spiele stehen, für den Staat aber nur fünf oder zehn Thaler Kosten in Frage kommen, einerlei, man erfährt eben den Rechtsspruch ohne vorgängige Zahlung nicht.
Nun verdient zwar die Gerechtigkeitsliebe und die Rechtskenntniß der Rudolstädter Richter gewiß alle mögliche Achtung; aber das Dogma der Unfehlbarkeit nehmen sie für ihre Urtheile ebenso gewiß nicht in Anspruch. Es kann also hier wie anderwärts den Parteien durch den Bescheid ein Unrecht widerfahren. Ist es daher billig und entspricht es dem Rechtssinne unserer Zeit, wenn zu Gunsten einer unbedeutenden Forderung der Sportelcasse das Recht der Berufung an die höheren Richter den Parteien nicht blos verkümmert, sondern geradezu entzogen wird? Gewiß ebensowenig, wie wenn ein Staat seine polizeiliche Hülfe dem Bedürftigen nur gegen baare Zahlung gewähren wollte. Eine solche drakonische Härte des Rechts liegt aber hier unzweifelhaft vor; denn man kann gegen ein nach Form und Inhalt unbekanntes Urtheil tatsächlich nicht appelliren. Das unveräußerliche Recht der Berufung gegen irrige Entscheidungen ist also im Rudolstädtischen zwar auf dem geduldigen Papiere durchweg gewährleistet, es wird aber dem zufällig am Tage der Publication Zahlungsunfähigen um ganz geringfügiger Forderungen der fürstlichen Sportelcassen willen auch wieder entzogen, mögen darüber die Parteien zu Grunde gehen oder nicht.
Da dem Staate zur Einziehung solcher Posten seine Executoren sofort dienstbereit zur Hand sind, so handelt es sich hier um eine kleinstaatliche Eigenthümlichkeit, die man sicher heutzutage nicht berechtigt schelten und deshalb bewahren darf, sondern die sobald wie möglich aus unserm deutschen Rechtsleben getilgt werden muß. Wir wollen uns also des Tages freuen, an welchem man auch diese Bestimmung zu den interessantesten Ruinen des Fürstenthums zählen kann.
Vorbei!
An dem kleinen Fenster stand sie,
Als ich schüchtern ging vorbei;
Bunte Blumen lächelnd wand sie
In dem Wonnemonat Mai,
Als ich schüchtern ging vorbei.
Und beseligt grüßt’ ich wieder
In dem Wonnemonat Mai.
Jahre kamen, Jahre gingen
Doch dem Glücklichen nur bringen
Sie den Wonnemonat Mai.
An dem kleinen Fenster sind nun
Gruß und Küsse längst vorbei,
Ueber meines Lebens Mai.
Alex. Duncker.
Charakterköpfe. Seit Rochlitz seine Aufsätze „Für Freunde der Tonkunst“ herausgegeben, sind selten so anziehend geschriebene Biographien von Tonsetzern erschienen, wie die in La Mara’s „Musikalische Studienköpfe“ enthaltenen. Für einen großen Leserkreis haben sie den Vorzug, die rechten Grenzen inne zu halten zwischen den kurzen, oft trockenen Notizen eines Lexikons und den weitläufigen, bändereichen Lebensbeschreibungen, welche hauptsächlich nur ernsten Musikern und gelehrten Forschern zum Studium dienen. Gern werden Viele, die sich an den Werken Karl Maria von Weber’s, Schubert’s, Schumann’s, Mendelssohn’s erfreuten, denen die Schöpfungen Cherubini’s, Spontini’s, Rossini’s, Boieldieu’s Genuß gewährten. die ihr Interesse Berlioz, Liszt, Wagner, Chopin zuwandten, nun auch Näheres und Zuverlässiges wissen wollen über die Lebensumstände der Genannten, gern auch den Eindruck von deren Persönlichkeit empfangen, soweit er sich schriftstellerisch wiedergeben läßt. Solche finden in La Mara’s bereits mehrfach aufgelegtem Werke (zwei Bände zu 359 und 256 Seiten) sorgfältige, auf Benutzung von alten und neuesten Originalquellen beruhende, warm und liebevoll ausgeführte, mit fesselndem Detail geschmückte Biographien, welche die Wißbegier der Leser angenehm befriedigen und ihre Liebe und Verehrung für die genannten Meister zu erhöhen wohl im Stande sind.
B. Wir bedauern, auf diesen Gegenstand nicht wieder zurückkommen zu können.
M. H. in Z. Bezeichnen Sie uns das Manuscript gefälligst genauer! Gedichte, wenn sie nicht zum Druck kommen, werden übrigens stets sofort vernichtet.
M. G. in L. Ungeeignet. Das Manuscript steht zu Ihrer Verfügung.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Prix Montyon de Vertu, Vorlage: Monthyon’schen Tugendpreises