Die Gartenlaube (1874)/Heft 27

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[427]

No. 27.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


„Du willst nach Italien? Warum denn gerade dorthin?“ fragte der Capitain.

„Wohin denn sonst?“ warf Reinhold ungeduldig ein. „Italien ist die Schule jeder Kunst und jedes Künstlers. Dort allein kann ich das beschränkte und lückenhafte Studium ergänzen, zu dem die Verhältnisse mich zwangen. Begreifst Du das nicht?“

„Nein,“ sagte der Capitain ziemlich kühl. „Ich sehe die Nothwendigkeit nicht ein, daß ein Anfänger sogleich auf die hohe Schule muß. Du findest hier zum Studium Gelegenheit genug, und die meisten unserer Talente haben jahrelang ringen und arbeiten müssen, ehe Italien ihren Werken die letzte Weihe gab. – Gesetzt aber, Du führtest Deinen Plan aus, was soll inzwischen aus Deiner Frau und dem Kinde werden? Denkst Du sie mitzunehmen?“

„Ella?“ rief der junge Mann ist einem fast wegwerfenden Tone. „Das wäre das sicherste Mittel, mir jeden Aufschwung unmöglich zu machen. Denkst Du, ich werde beim ersten Schritt, den ich in die Freiheit hinaus thue, die ganze Kette der Häuslichkeitsmisère mit mir schleppen?“

Zwischen Hugo’s Augen wurde eine leichte Falte sichtbar. „Das klingt sehr hart, Reinhold,“ erwiderte er.

„Ist es meine Schuld, daß mir die Wahrheit endlich einmal zum Bewußtsein kommt?“ grollte Reinhold. „Meine Frau kann sich nun einmal nicht über die Küchen- und Wirthschaftssphäre erheben. Es ist nicht ihre Schuld, ich weiß es, aber es ist deshalb nicht weniger das Unglück meines Lebens.“

„Ella’s Beschränktheit scheint allerdings als eine Art Dogma in der Familie festzustehen,“ bemerkte der Capitain ruhig. „Du glaubst blindlings daran, wie all die Anderen. Habt Ihr Euch denn schon jemals die Mühe genommen, zu untersuchen, ob diese Annahme wirklich so unfehlbar ist?“

Reinhold zuckte die Achseln. „Ich glaube, das wäre in diesem Falle wohl überflüssig. In keinem Falle aber kann die Rede davon sein, daß ich Ella mit mir nehme. Sie bleibt mit dem Kinde natürlich hier im Hause ihrer Eltern, bis ich zurückkomme.“

„Bis Du zurückkommst – und wenn es nun nicht geschieht?“

„Was soll das heißen? Was meinst Du damit?“ fuhr der junge Mann auf, während eine dunkle Röthe über sein Gesicht hinflammte.

Hugo kreuzte seine Arme und sah ihn fest an. „Es fällt mir auf, daß Du jetzt auf einmal mit fertigen Plänen hervortrittst, die jedenfalls längst entworfen und auch wohl besprochen sind. Leugne nicht, Reinhold! Du allein wärst nie so in’s Extrem gegangen, wie Du es jetzt im Kampfe mit dem Onkel thust, ohne auf einen Rath oder eine Vorstellung zu hören; es ist da fremder Einfluß thätig. – Ist es wirklich unbedingt nothwendig, daß Du Tag für Tag zu der Biancona gehst?“

Reinhold gab keine Antwort; er wandte sich ab und entzog sich so der Beobachtung des Bruders.

„Man spricht bereits ist der Stadt davon,“ fuhr dieser fort. „Es kann nicht lange dauern, so dringt das Gerücht auch hierher. Ist Dir das wirklich ganz gleichgültig?“

„Signora Biancona studirt meine neue Composition ein,“ sagte Reinhold kurz, „und ich sehe in ihr nun einmal das Ideal einer Künstlerin. Du hast sie auch bewundert.“

„Bewundert, ja! Im Anfange wenigstens, angezogen hat sie mich nie. Die schöne Signora hat so etwas – Vampyrisches in ihren Augen. Ich fürchte, auf wen sich diese Augen richten, in der Absicht, ihn festzuhalten, der bedarf einer starken Dosis Willenskraft, um Herr seiner selbst zu bleiben.“

Er war mit den letzten Worten an die Seite seines Bruders getreten, der sich jetzt langsam umwandte und ihn ansah.

„Hast Du das auch schon empfunden?“ fragte er düster.

„Ich? Nein!“ entgegnete Hugo mit einem Anfluge seiner alten spöttischen Laune. „Ich bin zum Glück wenig empfänglich für dergleichen romantische Gefahren und überdies hinreichend vertraut damit. Nenne es Leichtsinn, Unbeständigkeit – wie Du willst! Aber mich vermag nun einmal eine Frau nicht lange und tief zu fesseln; mir fehlt eben das Element zur Leidenschaft. Du aber trägst es nur zu sehr in Dir, und wo Dir ein Gleichartiges entgegenkommt, da liegt die Gefahr auch dicht dabei. Nimm Dich ist Acht, Reinhold!“

„Willst Du mich damit an die Fesseln erinnern, die ich trage?“ fragte Reinhold bitter. „Als ob ich sie nicht täglich und stündlich fühlte, und mit ihnen die Ohnmacht, sie zu zerreißen. Wäre ich frei, wie Du es damals warst, als Du Dich der Sclaverei hier entrissest, es könnte noch Alles gut werden; aber Du hast ganz Recht, mich haben sie bei Zeiten festgekettet, und ein Traualtar ist der sicherste Riegel, den man allen Freiheitsgelüsten vorschiebt – ich muß es jetzt erfahren.“

Sie wurden unterbrochen; der Hausdiener überbrachte eine [428] Anfrage des Buchhalters an den jungen Herrn Almbach. Dieser hieß den Mann gehen und wandte sich dann an seinen Bruder.

„Ich muß noch einen Augenblick in das Comptoir. Du siehst, ich gerathe nicht in Gefahr, in einer allzugroßen Romantik unterzugehen; dafür sorgen schon unsere Handlungsbücher, in denen vermuthlich wieder ein paar Thaler nicht vorschriftsmäßig eingetragen sind. Auf Wiedersehen, Hugo!“

Er ging, und der Capitain blieb allein zurück. Einige Minuten lang saß er noch wie in Gedanken versunken, während die Falte auf seiner Stirn immer tiefer wurde; dann auf einmal richtete er sich wie mit einem raschen Entschlusse empor und verließ gleichfalls das Gemach, aber nicht, um sich nach dem unteren Stocke zu dem Oheim und der Tante zu begeben; er ging geradewegs nach dem gegenüberliegenden Zimmer, das seine Schwägerin bewohnte.

Ella war in der That dort; sie saß am Fenster, den Kopf tief auf eine Handarbeit herabgeneigt, aber es hatte beinahe den Anschein, als sei diese in der Eile ergriffen worden, als die Thür sich so unvermuthet öffnete; das rasch bei Seite geworfene Taschentuch und die gerötheten Augenlider der jungen Frau verriethen eben erst getrocknete Thränen. Sie sah mit unverhehltem Erstaunen ihren Schwager eintreten. Es war allerdings das erste Mal, daß er sie in ihrem Zimmer aufsuchte; er kam auch nur bis in die Mitte desselben und blieb dort stehen, ohne sich ihrem Sitze zu nähern.

„Darf der ,Abenteurer‘ es noch einmal wagen, sich Ihnen zu nahen, Ella? Oder bannt ihn das über ihn ausgesprochene Verdammungsurtheil gänzlich von Ihrer Schwelle?“

Die junge Frau erröthete; sie drehte in peinlichster Verlegenheit die Arbeit zwischen den Händen.

„Herr –“

„Capitain!“ fiel Hugo ein. „Ganz richtig, so pflegen mich meine Matrosen stets zu nennen. Noch einmal diese Bezeichnung aus Ihrem Munde, und ich falle Ihnen sicher nicht wieder mit meiner Gegenwart lästig. Bitte, Ella, hören Sie mich heute an!“ fuhr er sehr entschieden fort, als die junge Frau Miene machte, aufzustehen. „Diesmal halte ich die Thür blokirt, durch die Sie bei meinem Nahen stets zu verschwinden pflegen; es ist auch zum Glück keine Magd in der Nähe, die Sie mit irgend einem Auftrage an Ihre Seite fesseln können. Wir sind allein, und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, ich gehe nicht eher von der Stelle, bis ich entweder begnadigt werde, oder – den unvermeidlichen ,Herrn Capitain’ anzuhören bekomme, der mich ein- für allemal vertreiben soll.“

Ella hob die Augen empor und jetzt sah man es deutlich, daß sie geweint hatte.

„Was liegt Ihnen denn an meiner Verzeihung?“ entgegnete sie ruhig. „Mich haben Sie am wenigsten gekränkt; ich sprach nur im Namen meiner Eltern und Hausgenossen.“

„An denen liegt mir gar nichts,“ fuhr Hugo mit der ungenirtesten Aufrichtigkeit heraus. „Aber daß ich Sie gekränkt habe, das thut mir leid, sehr leid, das hat mir wie ein Alp auf der Brust gelegen bis zu diesem Augenblicke. Ich kann doch nicht mehr thun, als ehrlich und herzlich um Verzeihung bitten. Sind Sie mir noch böse, Ella?“

Er streckte ihr die Hand hin. Es lag in der Bewegung und in den Worten eine so warme, offene Liebenswürdigkeit und Aufrichtigkeit, daß eine Verweigerung der Bitte fast unmöglich schien, und Ella legte wirklich, wenn auch etwas zögernd, ihre Hand in die seinige.

„Nein,“ sagte sie einfach.

„Gott sei Dank!“ rief Hugo aufathmend. „Also endlich bin ich doch in meine Rechte als Schwager eingesetzt. Ich ergreife hiermit feierlich Besitz davon!“

Er ließ dem Worte die That folgen, indem er einen Stuhl heranzog und an ihrer Seite Platz nahm. „Wissen Sie, Ella, daß Sie mich seit unserer neulichen Begegnung ganz außerordentlich interessiren?“ fuhr er fort.

„Es scheint, man muß unartig gegen Sie sein, um Sie zu interessiren,“ bemerkte Ella, fast im Tone des Vorwurfs.

„Ja, es scheint so,“ stimmte der Capitain mit voller Gemüthsruhe bei. „Wir ,Abenteurer‘ sind nun einmal ein eigenes Volk und wollen anders behandelt sein, als die Normalmenschen. Sie scheinen bei mir durchaus das Richtige getroffen zu haben. Seit Sie mir damals so schonungslos den Text lasen, habe ich das ganze Haus in Ruhe gelassen; ich habe einen ganzen Ehrfurchts- und Achtungs-Cursus dem Onkel und der Tante gegenüber durchgemacht und sogar meine Indianergeschichten sämmtlicher haarsträubender Effecte beraubt, einzig aus Furcht vor gewissen strafenden Augen. Das kann Ihnen doch unmöglich entgangen sein.“

Es flog etwas wie ein halbes Lächeln über das Antlitz der jungen Frau, als sie fragte:

„Es ist Ihnen wohl recht schwer geworden?“

„Sehr schwer, obgleich die Verhältnisse hier im Hause es mir eigentlich hätten erleichtern sollen. Sie waren in der letzten Zeit nicht danach, daß man seinen Uebermuth daran hätte üben können.“

Bei dieser Hindeutung erlosch der flüchtige Schimmer von Heiterkeit sofort in Ella’s Gesicht; es hatte einen angstvoll bittenden Ausdruck, als sie sich jetzt zu ihrem Schwager wandte.

„Ja, es ist traurig bei uns,“ sagte sie leise, „und es wird schlimmer von Tag zu Tag. Die Eltern sind so hart, und Reinhold so gereizt, so heftig bei jeder Gelegenheit. O mein Gott, vermögen Sie denn gar nichts über ihn?“

„Ich?“ fragte Hugo ernst. „Die Frage möchte ich Ihnen, der Gattin, zurückgeben.“

Ella schüttelte in trostloser Resignation das Haupt. „Auf mich hört ja doch Niemand, und Reinhold am wenigsten. Er ist der Meinung, ich verstehe nichts von all diesen Dingen – er würde mich nur herb zurückweisen.“

Hugo blickte mitleidig auf die junge Frau, die so offen eingestand, daß sie ihrem Manne gegenüber ganz macht- und einflußlos war, und auch nicht den geringsten Antheil an seinem Denken und Streben hatte.

„Und doch muß irgend etwas geschehen,“ sagte er entschieden. „Reinhold reibt sich in diesem Kampfe auf; er leidet grenzenlos darunter und macht Andere leiden. Sie hatten geweint, Ella, als ich eintrat, und es ist in diesen Wochen kein Tag gewesen, wo ich nicht diesen rothen Schein um Ihre Augen gesehen habe. Nein, rücken Sie nicht so ängstlich seitwärts! Dem Bruder wird doch wohl einmal ein freies Wort erlaubt sein, und Sie sollen sehen, daß er auch etwas Anderes kann, als Possen treiben. Ich wiederhole Ihnen: es muß etwas geschehen, durch Sie geschehen. Es gilt Reinhold’s Künstlerberuf, seine ganze Zukunft, und in dem Kampfe muß seine Frau an seiner Seite stehen, sonst könnten es – Andere statt ihrer thun, und das wäre gefährlich.“

Ella sah ihn mit einem Gemisch von Erstaunen und Schrecken an. Es geschah ihr wohl zum ersten Male in ihrem Leben, daß man sie zur offenen Parteinahme aufrief, und sich von ihrem Eingreifen irgend eine Wirkung versprach. Und was konnte denn mit den „Anderen“ gemeint sein, die ihren Platz einnehmen könnten? Ihr Gesicht verrieth deutlich, daß sie auch nicht die leiseste Ahnung davon hatte.

Hugo sah das und hatte doch nicht den Muth, weiter zu gehen; denn weiter gehen hieß hier, den ersten Verdacht in die Seele der noch ganz ahnungslosen Frau werfen, zum Angeber des eigenen Bruders werden und unausbleiblich eine Katastrophe heraufbeschwören, von deren Nothwendigkeit er gleichwohl überzeugt war. Aber das ganze Wesen des jungen Capitains sträubte sich gegen diese peinvolle Aufgabe; er saß unentschlossen da, als ihm der Zufall zu Hülfe kam. Es wurde draußen an die Thür geklopft und gleich darauf trat Jonas mit einem großen Blumenstrauße in der Hand ein.

Der Matrose mochte sonst wohl vorsichtiger sein, wenn er dergleichen Aufträge für seinen Herrn besorgte. Er wußte aus Erfahrung, daß dessen Blumenspenden, wenn auch von den betreffenden jungen Damen, so doch nicht immer von den respectiven Vätern und Beschützern mit besonderer Freundlichkeit aufgenommen wurden, und pflegte sich, wenn auch mit geheimem Ingrimm, stets an die richtige Adresse zu halten. Diesmal aber hatte Hugo mit der hingeworfenen Bemerkung, der Strauß sei für seine Schwägerin bestimmt, den Irrthum selbst verschuldet. Jonas zweifelte natürlich nicht daran, daß die Bemerkung seines Capitains, mit der dieser nur seinen Bruder decken wollte, ernst gemeint sei; er schritt deshalb direct auf die junge Frau Almbach zu und präsentirte ihr die Blumen mit den Worten:

[429] „Ich kann Herrn Reinhold im ganzen Hause nicht finden, und da will ich den Strauß doch lieber gleich hier abgeben.“

Ella sah erstaunt auf das prachtvolle Rosenbouquet nieder, das, mit ebenso viel Kunst wie Geschmack zusammengefügt, eine Auswahl der herrlichsten Blüthen zeigte.

„Von wem kommen die Blumen?“ fragte sie.

„Vom Blumenhändler,“ berichtete Jonas. „Herr Reinhold hat sie bestellt, und ich habe sie abgeholt; da ich ihn aber nirgends finde –“

„Es ist gut. Du kannst gehen,“ fiel ihm Hugo in’s Wort, während er rasch zu seiner Schwägerin trat und die Hand, wie beschwichtigend, auf ihren Arm legte. Ein befehlender Wink gab der Weisung noch mehr Nachdruck, und Jonas trollte ab, konnte aber doch nicht umhin, sich darüber zu wundern, daß die junge Frau Almbach die Artigkeit ihres Mannes in so seltsamer Weise aufnahm. Sie war ja auf einmal zusammengezuckt, als habe sie ein Stich in das Herz getroffen, und kreideweiß war sie dabei geworden. Aber der Herr Capitain hatte mit gerunzelter Stirn und einem Ausdruck im Gesicht dabei gestanden, als möchte er die theuren Blumen am liebsten zum Fenster hinauswerfen. Jonas besaß zum Glück allzu viel Phlegma, als daß er sich um die Verhältnisse im Almbach’schen Hause viel hätte kümmern sollen; bei seiner feindseligen Stellung zu dem Dienstpersonal erfuhr er auch wenig genug davon; so ließ er es denn bei einer mäßigen Verwunderung bewenden und kümmerte sich in der Ueberzeugung, seinen Auftrag gewissenhaft erfüllt zu haben, nicht weiter um den Auftraggeber.

Drinnen im Zimmer herrschte einige Secunden lang tiefes Schweigen. Ella hielt das Bouquet noch krampfhaft fest in der Hand; aber das sonst so stille, leblose Antlitz der jungen Frau mit dem leeren, beinahe stumpfen Ausdrucke war seltsam verändert. Jetzt war jeder Zug desselben gespannt, wie im peinigenden Schmerze, und die Augen hafteten starr und unverwandt auf der bunten Blüthenpracht, auch jetzt noch, als sie sich zu ihrem Schwager wandte.

„Reinhold gab den Auftrag?“ fragte sie, wie nach Athem ringend. „Dann kamen die Blumen wohl nur durch – Irrthum in meine Hände?“

„Nicht doch,“ sagte Hugo mit einem vergeblichen Versuch, sie zu beruhigen. „Reinhold hat den Strauß bestellt, nun ja! Jedenfalls doch für Sie?“

„Für mich?“ Es klang ein ergreifendes Weh aus dem Tone. „Ich habe noch niemals eine Blume von ihm erhalten. Für mich sind diese hier sicher nicht bestimmt.“

Hugo sah, daß er nicht auf halbem Wege stehen bleiben dürfe – der Zufall hatte entschieden; jetzt galt es, dem Winke des Schicksals zu gehorchen. „Sie haben Recht, Ella,“ versetzte er entschlossen, „und es wäre nutzlos und gefährlich, Sie noch länger darüber zu täuschen. Reinhold hat mir nicht gesagt, wem das Bouquet bestimmt ist; ich weiß aber, daß es noch heute Abend in den Händen der Signora Biancona sein wird.“

Ella zuckte zusammen, und der Blumenstrauß fiel zu Boden. „Signora Biancona?“ wiederholte sie tonlos.

„Die Sängerin, die sein erstes Lied vor dem Publicum sang,“ fuhr der Capitain mit Nachdruck fort, „der auch seine neue Composition gilt. Dieselbe, zu der er täglich geht, die bereits sein ganzes Denken und Empfinden einnimmt. Sie wußten bisher noch nichts davon – ich sehe es an Ihrem Gesichte; aber Sie müssen es jetzt erfahren, ehe es zu spät ist.“

Die junge Frau gab keine Antwort; ihr Antlitz war so farblos, wie die weißen Blüthen, die den Rand des Bouquets umgaben; stumm bückte sie sich danach, hob es vom Boden auf und legte es auf den Tisch nieder; aber kein Laut, keine Entgegnung kam von ihren Lippen. Hugo wartete vergeblich darauf.

„Glauben Sie, daß ich Freude habe an der Grausamkeit, Ihnen zu enthüllen, was man sonst jeder Frau verbirgt?“ fragte er mit unterdrückter Bewegung. „Glauben Sie, daß ich nicht mit irgend einer Erfindung die Ungeschicklichkeit des Burschen wieder gut machen und mich selbst für den Spender der unglückseligen Blumen ausgeben könnte? Wenn ich das nicht thue, wenn ich Ihnen die ganze Wahrheit schonungslos aufdecke, so geschieht es, weil die Gefahr auf’s Aeußerste gestiegen ist, weil nur Sie allein noch retten können – und dazu müssen Sie klar sehen. Signora Biancona steht im Begriffe nach ihrer Heimath abzureisen, und Reinhold erklärte mir vorhin, daß er seine Studien in Italien fortsetzen wolle und müsse. Begreifen Sie den Zusammenhang?“

Ella fuhr auf. Jetzt zum ersten Male brach eine verzweiflungsvolle Angst mitten durch die starre Ruhe ihres Wesens.

„Nein, nein!“ rief sie wie außer sich. „Das kann er nicht. Das darf er nicht. Wir sind ja vermählt.“

„Er darf nicht?“ wiederholte Hugo. „Sie kennen die Männer schlecht, Ella, und Ihren eigenen Mann am wenigsten. Trauen Sie nicht zu sehr auf das Recht, das die Kirche Ihnen gab; auch diese Macht hat ihre Grenze, und ich fürchte, Reinhold steht bereits jenseits derselben. Sie freilich haben keine Ahnung von jener glühenden, dämonischen Leidenschaft, die einen Mann willenlos in Fesseln legt, ihn so mit ihrem Banne umstrickt, daß er um ihretwillen Alles vergißt und Alles opfert. Signora Biancona ist eine von jenen dämonischen Naturen, die solche Leidenschaften einflößen können, und hier steht sie im Bunde mit Allem, was Reinhold’s eigentliches Leben ausmacht, mit der Musik, der Kunst, dem Ideale. Da schützt keine Kirche und kein Trauschein mehr, wenn sich die Frau nicht selbst zu schützen weiß. Sie sind sein Weib, die Mutter seines Kindes. Vielleicht hört er Ihre Stimme noch, wo er sonst nichts mehr hört.“

Die schweren Athemzüge der jungen Frau zeigten, wie schwer sie litt, und ein paar Thränen, die ersten, rollten langsam aus ihren Augen, als sie kaum hörbar erwiderte: „Ich werde es versuchen.“

Hugo trat dicht an ihre Seite. „Ich weiß, daß ich heute einen Zündstoff in die Familie geworfen habe, dem vielleicht der letzte Rest von Frieden zum Opfer fällt,“ sagte er ernst. „Hunderte von Frauen würden jetzt verzweiflungsvoll zu ihren Eltern stürzen, um mit ihnen, oder allein, den Gatten zur Rede zu stellen und eine Scene herbeiführen, die das letzte Band zerreißen und ihn unwiderruflich aus dem Hause treiben würde. Sie werden das nicht thun, Ella; ich weiß es, deshalb habe ich bei Ihnen gewagt, was ich so leicht bei keiner andern Frau gethan hätte. Was Sie Reinhold sagen, wie Sie ihn halten wollen, das steht ja bei Ihnen, aber lassen Sie ihn jetzt nicht von Ihrer Seite, lassen Sie ihn nicht nach Italien!“

Er schwieg und schien eine Antwort zu erwarten – vergebens! Ella saß da, das Gesicht ist beiden Händen verborgen, sie regte sich kaum, als er ihr Lebewohl sagte. Der junge Capitain sah, daß sie den Schlag allein verwinden mußte, und so ging er denn. –

Als Reinhold eine halbe Stunde später aus dem Comptoir zurückkam, lag das Rosenbouquet ist seinem eigenen Zimmer auf dem Schreibtische, und er nahm es an sich, in der festen Meinung, Jonas habe es dorthin gelegt. Inzwischen saß Ella im Schlafzimmer ihres Kindes und wartete, nicht auf ein Lebewohl ihres Mannes – an dergleichen Zärtlichkeiten war sie in ihrer Ehe nicht gewöhnt – aber sie wußte, daß er nie das Haus verließ, ohne erst noch nach seinem Knaben zu sehen. Die junge Frau fühlte nur zu gut, daß sie selbst ihrem Gatten nichts war, daß ihre ganze Bedeutung für ihn einzig in dem Kinde wurzelte; sie fühlte, daß die Liebe zu seinem Kinde der einzige Punkt war, auf dem sie seinem Herzen näher treten konnte, und deshalb erwartete sie ihn gerade hier zu der so unendlich schweren und qualvollen Unterredung; er mußte ja kommen. Aber sie sollte heute vergebens warten. Reinhold kam nicht. Zum ersten Male vergaß er auch den Abschiedskuß auf die Stirn seines Kindes, vergaß er das letzte und einzige Band, das ihn noch an die Heimath fesselte. In seiner Seele war jetzt nur noch Raum für einen Gedanken, und der hieß: Beatrice Biancona.




Die Oper war zu Ende. Aus dem Theatergebäude fluthete ein Menschenstrom hervor, der sich nach verschiedenen Richtungen hin vertheilte, und von allen Seiten rollten die Wagen herbei, um die ihnen bestimmten Insassen aufzunehmen. Das Haus war heute bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen; denn die italienische Operngesellschaft hatte ihre Abschiedsvorstellung gegeben, und ganz H. hatte sich bemüht, den Sängern und vor Allem der schönen Primadonna zu zeigen, wie sehr es von ihren Leistungen entzückt war und wie ungern es sie verlor, jetzt, wo die Zeit des Scheidens kam. Die Treppen und Corridore waren [430] noch dicht gefüllt; unten im Vestibül drängte sich Kopf an Kopf, und an den Ausgängen wuchs das Menschengewühl zu einer unbequemen und fast bedrohlichen Höhe an.

„Es ist ganz unmöglich, hier durchzukommen,“ sagte Doctor Welding, der in Begleitung eines andern Herrn soeben die Treppe herabkam. „Man geräth ja in Lebensgefahr bei dem Gedränge da unten. Lassen Sie uns lieber noch einige Minuten warten, bis die Menge sich etwas verlaufen hat!“

Der Begleiter stimmte bei, und die Beiden traten seitwärts in eine der tiefen und dunkeln Nischen des Corridors, wo bereits vor ihnen eine Dame Schutz gesucht hatte. Sie war einfach, aber doch nach Art der besseren Stände gekleidet, hatte den Schleier dicht über das Gesicht gezogen und schien das Menschengewühl sehr zu scheuen, auch wohl ganz unbekannt im Theatergebäude zu sein, denn sie drückte sich mit sichtbarer Aengstlichkeit fest an die Wand, als die beiden Herren herantraten, die, ohne sie weiter zu beachten, ihr vorhin unterbrochenes Gespräch wieder aufnahmen.

„Ich habe es gleich anfangs prophezeit, dieser Almbach nimmt einen großartigen Aufschwung,“ sagte Welding. „Seine zweite Composition übertrifft die erste in jeder Hinsicht, und schon die erste war bedeutend genug für einen Anfänger. Ich dächte, mit der Aufnahme könnte er auch diesmal zufrieden sein; sie war womöglich noch enthusiastischer. Freilich, es hat nicht Jeder das Glück, eine Biancona für seine Töne zu finden und sie so dafür zu begeistern, daß sie ihre höchste Kraft dafür einsetzt. Es war jedenfalls ihre Idee, diese neueste Composition Almbach’s als Einlage im letzten Act der Oper zu singen, noch dazu heute, bei ihrem Scheiden, wo der Beifallssturm selbstverständlich war; sie sicherte ihm damit von vornherein den Erfolg.“

„Nun, ich glaube, an Dankbarkeit läßt er es auch nicht fehlen,“ spöttelte der andere Herr. „Man spricht so allerlei. So viel steht fest, der ganze Verehrerkreis ist außer sich über diesen Eindringling, der, kaum aufgetaucht, schon auf dem besten Wege ist Alleinherrscher zu werden. Die Sache scheint übrigens ziemlich ernst und hochromantisch angelegt zu sein, und ich bin wirklich gespannt, was schließlich daraus wird, wenn die Biancona abreist.“

Der Doctor knöpfte ruhig seinen Paletot zu. „Das ist unschwer zu errathen. Eine Entführung in bester Form.“

„Sie glauben, daß er sie entführt?“ fragte der Andere ungläubig.

„Er sie? Das würde wohl keinen Zweck haben. Die Biancona ist ja vollkommen frei ist ihren Entschlüssen, wie in der Wahl ihres Aufenthaltsortes. Aber sie ihn. Das könnte eher der Fall sein; die Fessel ist auf seiner Seite.“

„Freilich, er ist ja verheirathet,“ stimmte der Begleiter bei. „Die arme Frau! Kennen Sie sie persönlich?“

„Nein,“ sagte Welding gleichgültig, „aber nach der Schilderung des Consuls Erlau kann ich mir ein ziemlich treffendes Bild von ihr entwerfen. Beschränkt, passiv, unbedeutend im höchsten Grade, dazu gänzlich untergegangen in Küche und Hauswirthschaft – ganz die Frau danach, einen genialen Feuerkopf wie diesen Almbach zu irgend einem Verzweiflungsschritte zu treiben, und da es eine Biancona ist, die ihr gegenübersteht, so wird dieser Schritt wohl nicht allzulange auf sich warten lassen. Für Almbach selbst wäre es vielleicht ein Glück, wenn er gewaltsam den beengenden Umgebungen entrissen und auf die Bahn des Lebens geworfen würde, aber freilich das bischen Familienfrieden würde dabei rettungslos zu Grunde gehen. Das gewöhnliche Schicksal solcher Künstlerehen, in denen sich die Frau auch nicht entfernt zu der Bedeutung des Mannes erheben kann!“

Er wandte sich bei den letzten Worten etwas verwundert um; die Dame hinter ihnen hatte unwillkürlich eine heftige Bewegung gemacht, aber gerade in dem Momente, wo der Doctor sie schärfer in’s Auge fassen wollte, öffnete sich eine Seitenthür, und Reinhold Almbach erschien, in Begleitung Hugo’s, des Capellmeisters und noch einiger Herren.

Hier freilich war Reinhold ein Anderer als zu Hause im Kreise der Seinigen. Die Düsterheit, welche dort immer und immer auf seinen Zügen ruhte, die Verschlossenheit, die ihn so oft ganz unzugänglich machte, waren wie mit einem Schlage abgeworfen; er strahlte von Aufregung, Glück und Triumph. Seine Stirn hob sich frei und stolz; aus seinen dunklen Augen blitzte das vollste Siegesbewußtsein, und sein ganzes Wesen athmete leidenschaftliche Genugtuung, als er sich zu seinen Begleitern wandte.

„Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie sind sehr freundlich, aber Sie werden mich entschuldigen, wenn ich mich heute Abend der schmeichelhaftesten Anerkennung entziehe. Signora wünscht meine Begleitung bei der Festlichkeit, die zum Abschiede noch einmal die Mitglieder der Oper vereinigt. Sie werden begreifen, daß ich diesem Befehle vor allem nachkommen muß.“

Die Herren schienen das durchaus zu begreifen und nebenbei sehr zu bedauern, daß sie sich nicht einem ähnlichen Befehle zu fügen hatten, als Doctor Welding in ihren Kreis trat.

„Ich gratulire,“ sagte er, dem jungen Componisten die Hand reichend. „Das war ein großer und mehr noch, es war ein verdienter Erfolg.“

Reinhold lächelte. Das Lob aus dem Munde des sonst so anspruchsvollen Kritikers ließ ihn keineswegs gleichgültig

„Sie sehen, Herr Doctor, ich habe doch schließlich noch vor Ihrem Richterstuhle zu erscheinen,“ entgegnete er verbindlich. „Consul Erlau war leider im Irrthume, als er mich vor der Gefahr ein für alle Mal gesichert wähnte.“

„Man soll Niemand vor seinem Ende glücklich preisen,“ bemerkte der Doctor lakonisch. „Warum stürzen Sie sich so kopfüber in die Gefahr und wenden dem edlen Kaufmannsstande den Rücken? Ist es wahr, daß wir mit Signora Biancona auch Sie verlieren werden? Sie wollen gleichfalls Ihren Flug nach dem Süden richten?“

„Nach Italien, ja!“ sagte Reinhold mit vollster Bestimmtheit. „Es war schon längst mein Plan. Der heutige Abend hat ihn zum Entschluß gereift, aber jetzt – verzeihen Sie, meine Herren, ich kann Signora unmöglich warten lassen.“

Er grüßte und ging, von seinem Bruder begleitet. Der sonst nicht gerade schweigsame Capitain hatte während des Gesprächs eine auffallende Zurückhaltung beobachtet. Er war leise aufgezuckt, als beim Herantreten Welding’s die Nische frei wurde, in der die dunkle Frauengestalt sich tief in den Schatten der Wand geschmiegt hatte, als wollte sie um keinen Preis gesehen werden; es sah sie auch Niemand weiter, wenigstens nahm Niemand Notiz von ihr; sie konnte ihren Zufluchtsort nicht verlassen, ohne den ganzen Kreis zu passiren, der auch nach der Entfernung der Brüder noch seinen Platz behauptete. Die Herren kannten sich sämmtlich, und sie benutzten dieses Zusammentreffen, um ihre Ansichten über den jungen Componisten, Signora Biancona und das muthmaßliche Verhältniß der Beiden zu einander auszutauschen. Das letztere besonders mußte sich eine ziemlich schonungslose Kritik gefallen lassen. Die spöttischen, witzigen und boshaften Bemerkungen fielen hageldicht, und es dauerte eine geraume Zeit, bis der Kreis sich endlich auflöste.

Jetzt, wo der Corridor völlig leer war, richtete sich auch die Dame in der Nische empor und schickte sich an, zu gehen, aber sie wankte schon nach den ersten Schritten und griff, wie zusammenbrechend, nach dem Geländer der Treppe, als ein kräftiger Arm sie stützte und aufrecht erhielt.




(Fortsetzung folgt.


Die Kaninchen-Zucht in Deutschland.


Von Prof. Dr. Friedrich Anton Zürn.


Von höchstem volkswirthschaftlichen Interesse ist für uns die an sehr vielen Orten unseres Vaterlandes gegenwärtig angeregte Frage über den Werth einer richtig und in großem Maßstabe betriebenen deutschen Kaninchenzucht.

Hier bringen unsere Zeitungen Aufforderungen, die Zucht von Kaninchen zu fördern, damit namentlich für die Armen ein billiges Fleisch gewonnen werde; dort findet man Anzeigen und Anpreisungen über den Verkauf von Zuchtkaninchen und das Lucrative der Kaninchenzucht; Broschüren sind geschrieben worden, welche vielversprechende und verlockende Titel, z. B. „Ein Californien

[431]

Kaninchen. Originalzeichnung von Lud. Voltz.

1. Angora-Kaninchen. – 2. Gehege-Kaninchen. – 3. Das gewöhnliche französische Kaninchen. – 4. Widder-Kaninchen (alter Rammler). – 5. und 6. Widder-Kaninchen (Häsinnen) und deren Junge.

[432] für Deutschland“, führen und nichts Anderes zum Zwecke haben, als Reclame für den Kaninchenverkauf zu machen; Kaninchenzüchtervereine sind gegründet worden; Kaninchenausstellungen haben bereits mehrfach stattgefunden, und mit dem Beginne dieses Jahres ist eine Zeitschrift „Blätter für Kaninchenzucht“ (Redaction C. Rasch; Verlag Gebrüder Gerstenberg in Hildesheim) erstanden.

Da es nun notorisch, daß in Frankreich, Belgien, Holland und England das Fleisch und die Haut der zahmen Kaninchen ein sehr begehrter Handelsartikel geworden ist und z. B. allein in Frankreich etwa siebenzig bis fünfundachtzig Millionen Kaninchen jährlich producirt werden, die einen Erlös von schlechtgerechnet mindestens hundertundneunzig bis zweihundert Millionen“ Franken[WS 1] Franken ergeben, so liegt es auf der Hand, daß jeder Deutsche, welcher es als Pflicht ansieht, Alles zu thun, was den Nationalwohlstand fördern kann, auch den Bemühungen derjenigen Männer entgegen kommt, welche sich entschlossen haben, mit allen Kräften dahin zu wirken, daß einer rationellen Kaninchenzucht in Deutschland Bahn gebrochen werde.

Zwei Gründe waren es, welche die Redaction der Gartenlaube veranlaßten, diesen Artikel über Kaninchenzucht in ihr weitverbreitetes Blatt aufzunehmen, nämlich erstens die unverkennbare Wichtigkeit, welche eine richtig betriebene Kaninchenzucht für Deutschland haben kann, und zweitens die Thatsache, daß von verschiedenen aus- und inländischen Kaninchenzüchtern schwindelhafte Reklamen über den pecuniären Erfolg der Kaninchenzucht gemacht wurden und es an der Zeit scheint, die betreffenden Verhältnisse vorurtheilsfrei zu prüfen.

Wir kennen bekanntlich wilde und zahme Kaninchen. Die ersteren, weißgrau von Farbe oder braungrau und dann mit rostgelbem Nacken versehen, sind ursprünglich heimisch am Mittelmeere, hauptsächlich im südlichen Europa, z. B. in Spanien, auf Mallorca, Minorca und den Pityusen, in Sicilien, Sardinien, ferner in Kleinasien, in der Berberei. Jetzt findet man sie auch häufig in Mitteleuropa, in Frankreich, England, Schottland, Irland, in Mitteldeutschland, in Oesterreich; die Schweiz und Süddeutschland sowie die nördlichen europäischen Länder besitzen keine oder doch nur selten wilde Kaninchen.

Die zahmen oder Hauskaninchen sind aus den wilden hervorgegangen. Noch heute lassen sich wilde Kaninchen zähmen, und zahme, freigelassen, verwildern leicht. Wenn letzteres der Fall, ist stets die Eigenthümlichkeit zu beobachten, daß die Nachkommen der buntgefärbtesten Exemplare nach und nach zur grauen Farbe des wilden Stammvaters zurückkehren. Die Hauskaninchen sind, wie bekannt, sehr verschieden gefärbt: schwarz, braun, gelbbraun, blau, grau, scheckig, weiß, dann mit rothen Augen (Albinos oder Kakerlaken) etc. und sehr verschieden an Größe und Gestalt. Zufall, Laune des Züchters und die Mode haben hierbei viel mitgesprochen. Während man jetzt mit Vorliebe recht große und schwere Kaninchen mit sehr langen Ohren zu erzüchten sich bemüht, hat es Leute gegeben, die Gefallen daran fanden, einohrige oder keine äußeren Ohren aufweisende Kaninchen zu besitzen, wie denn jetzt in England das halbhängeohrige Kaninchen (ein Ohr am Kopfe herabhängend, das andere aufrecht getragen) mit gewisser Vorliebe gezogen wird.

Außer den überall in Deutschland gehaltenen gewöhnlichen Stallhasen kennt man folgende mehr oder weniger geschätzte Racen zahmer Kaninchen.

1) Das patagonische Kaninchen. Es zeichnet sich dasselbe durch ziemliche Größe und großen runden Kopf, der mit sehr kurzen Ohren versehen ist, aus. In England und Frankreich wird es zuweilen gezüchtet.

2) Das Nicard oder holländische Kaninchen. Ein sehr kleines Thier, oft nur ein und ein viertel Pfund schwer. Die Nicardweibchen werden oft als Ammen für die Jungen anderer zarter Racen benutzt.

3) Das Himalaya-Kaninchen, auch wohl das polnische oder russische Kaninchen genannt. Dasselbe besitzt rothe Augen und ist weiß; nur die Ohren, die Nase, die vier Füße und die obere Schwanzseite sind schwarzbraun gefärbt. Die Neugeborenen sind meist ganz weiß; innerhalb zwei bis drei Monaten bekommen die Ohren, die Nase, die Füße und Schwänze derselben die dunkle Farbe. Ausnahmsweise werden junge Thiere dieser Race mit schwarzem oder blaßgrauem Pelze geboren, innerhalb zwei bis drei Monaten werden sie aber weiß. In Polen, Rußland, England kommen sie häufig vor.

4) Das Moskau-Kaninchen. Dieses rothäugige, schneeweiße Thierchen, welches selten größer als das wilde Kaninchen wird, zeichnet sich durch schwarzbraune Ohren, zwei dunkelbraune Flecken in der Nähe der Nase, ähnlich gefärbte Stellen an der oberen und unteren Fläche des Schwanzes und an den Enden der Hinterfüße aus. Die Haare seines Pelzes sind lang und weich.

5) Das englische silbergraue Kanin. Der Pelz desselben ist grau, mit langen schwarzen und weißen Haaren untermischt. Köpfe und Füße sind schwarz. Die Farbe wird fast constant vererbt. Die Jungen werden ausnahmsweise mit schwarzem Pelze versehen geboren, erhalten aber nach einiger Zeit ihre eigenthümliche graue Farbe. Als große Seltenheit treten zuweilen silbergrau geborene Individuen auf, welche später vollkommen schwarz werden. Die Thiere dieses Schlages sind sehr scheu, nicht viel größer als wilde Kaninchen, als deren „verbesserte Auflage“ sie angesehen werden müssen. Man hält sie in England in Gehegen, die oft einen großen Flächenraum Landes einnehmen. Nach Sonnini soll es dort in sehr großem Maßstabe angelegte Kaninchengärten geben, nämlich solche, in denen in einer einzigen Nacht zwölfhundert Kaninchen geboren werden; derselbe Autor theilt mit, wie der Bischof von Derby aus seinem Gehege über zwölftausend Kaninchenbälge jährlich absetzte. – Hierher gehört auch das französische Gehegekaninchen (Lapin de garenne). Es ist dasselbe nicht sehr groß, wird höchstens zwei und ein halbes Kilogramm schwer, ist grau, braungrau, silbergrau, blau oder schwarz gefärbt, jedoch nicht immer einfarbig, sondern oft weißfleckig. Auch in Frankreich hält man diese Thiere in Gehegen oder Kaninchenbergen. Auffrischung des Blutes dieser Lapins durch Paarung derselben mit eingefangenen und gezähmten wilden Kaninchen soll oft nothwendig werden. – Von dem englischen silbergrauen Kanin wurden Exemplare nach Australien exportirt: dort haben sich dieselben ungemein vermehrt; viele australische Kaninchenfelle kommen alljährlich in den Handel.

6) Das Chinchilla. Zum Unterschied von dem gewöhnlichen englischen Gehegekanin wird dasselbe auch als das „zahme graue Kanin“ bezeichnet. Es besitzt einen mausgrauen oder schieferfarbenen Pelz, der untermischt ist mit langen schwärzlichen und weißen Haaren; selten findet man hellsiberfarbige Exemplare. Die Jungen werden fast immer mit schwarzem Fell geboren, das später grau oder schieferfarben wird. In England sind sie häufig.

7) Das Angora-Kanin. Dasselbe ist verschieden gefärbt, wie der gewöhnliche Stallhase. Oft ist es weiß und hat rothe Augen. Es giebt aber auch weiße Angora-Kaninchen mit dunklen Augen. Dann ist das weiße Fell (besonders aber Ohren, Schnäuzchen, Pfoten) an einzelnen Stellen gelb, gelbbraun oder braun gefärbt. Es besitzt dichte, lange und feine sogenannte gewickelte Haare, die selbst auf den Fußsohlen sehr lang sind. Es ist sehr friedfertig, nicht so beißsüchtig wie andere Kaninchen, gesellig und zerstört die junge Nachkommenschaft nicht. Früher wurde es häufiger als jetzt wegen seines zu Gespinnsten verwendeten feinen Haares gezüchtet. Man kämmte es alle vierzehn Tage aus, und mehrmals im Jahre wurde es geschoren oder es wurden ihm die Haare ausgerupft. Das Fleisch dieses Thieres soll keinen guten Geschmack haben.

8) Das gewöhnliche französische Kanin oder Lapin ordinaire. Den Franzosen muß das Verdienst zugesprochen werden, die werthvollsten und brauchbarsten Kaninchenracen ausgebildet zu haben. Sie verstanden es, aus dem gewöhnlichen kleinen Stallkaninchen durch richtige Auslese, geeignete Ernährung und Pflege den Lapin ordinaire zu schaffen, ein Geschöpf, das im Mittel drei Kilogramm schwer wird, ein wohlschmeckendes Fleisch und einen guten Pelz besitzt. Es ist fast überall in Frankreich, Belgien und Holland, sowie in Lothringen und Elsaß verbreitet, ebenso in England, wo es als gewöhnliches langohriges Kaninchen bezeichnet wird. Die Farbe desselben ist sehr verschieden; man kennt graue, hasenfarbige, isabellenfarbige, silberfarbige (das Silberkanin ist wegen seines werthvollen Pelzes sehr geschätzt), aber auch blaue, schwarze, weißfleckige. Der Lapin ordinaire wird häufig mit dem Lapin bélier gekreuzt; dann werden Schläge erzeugt, die sehr verschiedene Namen tragen, [433] z. B. das in Paris häufige, durch fast viereckigen Kopf ausgezeichnete Rouennaiskanin, die Languedocrace, der Lapin de Normandie etc.

9) Das französische Widderkanin, auch afrikanisches Kanin genannt, der Lapin bélier. Ein großes und schweres Thier, mit mächtig langen Hängeohren (sechszehn bis zwanzig Centimeter Länge) versehen. Es soll aus Algier nach Frankreich importirt worden sein. Häufig findet es sich im südlichen Frankreich, in England, Belgien und Spanien. Ausgezeichnete Zuchtthiere dieser Race werden oft sehr theuer bezahlt. Sechszig bis achtzig Francs für das Pärchen soll keine Seltenheit sein. Man erzählte mir, daß von Liebhabern schon hundert bis zweihundert Francs für das Paar angelegt worden sind. In Deutschland stellt sich der Preis auf fünf bis zehn Thaler pro Stück. Meistens ist dieses Thier grau, mit weißen Flecken an den Innenseiten der Füße, an dem Bauche und der Kehle versehen; es giebt aber auch isabellen- und silberfarbige. Die in Belgien gezüchteten sogenannten Lapins forts, welche, gemästet, nicht selten ein Gewicht von acht Kilogramm erreichen, sind entweder diesem Schlage zugehörig oder aus Kreuzungen mit demselben hervorgegangen. Im Durchschnitt werden die Widderkaninchen fünf bis sechs Kilogramm schwer; jedoch sind sowohl in Frankreich wie in England neun Kilogramm schwere Thiere dieses Schlages zur Ausstellung gekommen. Widderkaninchen von bedeutender Größe mit großem Kopfe und runder Stirn bezeichnet man als andalusische Kaninchen; der starkköpfige Lapin bélier ist aber auch sehr oft als Bulldoggkanin oder als Lapin américain in den Handel gebracht worden.

10) Der Leporide. Unter Leporide versteht man den Bastard vom Feldhasen und Stallkaninchen. Bis vor Kurzem glaubte man an dem Satze der älteren Zoologen: „Die Nachkommen von zwei Thieren verschiedener Art oder verschiedener distincten Species sind nicht oder nur über sehr wenige Generationen hinaus fruchtbar“, festhalten zu müssen. Nachdem aber bekannt geworden war, daß Ziegenbock und Schaf Bastarde erzeugen können, die bedingungslos fruchtbar sind, und man sah, wie die hybriden Nachkommen vom Zeburind und deutschen Rind, vom Yak und deutschen Rind, vom wilden und zahmen Schwein, von wilder und zahmer Ente, vom Hund und Wolf (Caniden), von einer Menge verschiedener Fischarten u. s. f. fruchtbare Nachkommen hervorbringen, ohne daß zur Anpaarung (zur Paarung des Bastards mit einem Thiere, welches der einen oder der andern Art der Stammeltern zugehört) Zuflucht genommen worden war, nahm die Ansicht von der totalen Unfruchtbarkeit der sogenannten Blendlinge oder doch von der Unmöglichkeit, daß diese sich über mehr als drei Generationen fortpflanzen können, mehr und mehr ab. Die Thatsache aber, daß es echte Leporiden giebt, die sich über mehr als sechs Generationen fortpflanzen können, entzieht der Definition von Art allen Boden, wie sie die älteren, der strengsten Systematik huldigenden Zoologen aussprachen, nämlich: „daß diejenigen Thiere einer besonderen Art oder distincten Species angehören, welche einander wie Geschwister ähnlich sehen und im Stande sind, bedingungslos mehr als drei Generationen von Nachkommen produciren zu können“. So ist denn die Existenz der Leporiden nicht nur für den Kaninchenzüchter, sondern auch für den Zoologen und namentlich für den Anhänger der Darwin’schen Theorie vom größten Interesse.

Daß Bastarde vom Hasen und Kaninchen vorkommen, ist längst bewiesen. Insbesondere hat der berühmte Zoolog Owen den Schädel eines solchen Hasen-Kanin-Bastards genau beschrieben.

Ganz besonders aufmerksam auf die Leporiden wurde man, als 1851 mehrere Zeitschriften die Nachricht brachten, daß es Alfred Roux in Angoulème 1847 gelungen sei, Bastarde vom Feldhasen und Stallkaninchen zu erziehen, und daß durch Anpaarung dieser Blendlinge mit Hasen eine Thiergattung erzüchtet worden sei, welche zu fünf Achtel Hasenblut und zu drei Achtel Kaninchenblut in sich trage. Broca (Brown-Séquard, Journ. d. l. Physiol. Vol. II. p. 367) beschrieb die von Roux gezogenen Thiere. Dr. Pigeaux (Bullet. d. l. Soc. d’Acclim. 1866), der von der Existenz von Bastarden des Hasen und des Kaninchens überzeugt war, behauptet, daß die angeblichen von Roux gezogenen Leporiden nicht echt seien. Nun sind aber sogenannte Leporiden von Frankreich aus vertrieben worden und werden jetzt vielfach in Deutschland gezüchtet. Dieselben dürfen entschieden nicht als echte Hasen-Kanin-Bastarde betrachtet werden.

Zwei Generationen echter Leporiden zog in neuerer Zeit meines Wissens zuerst Professor Dr. Conrad (jetzt in Halle) zu Plochoczin. Ein Hasenrammler und ein weibliches Kaninchen, welche sehr jung miteinander aufgezogen worden waren, hatten sich gepaart und erhielten am 18. Februar 1867 Nachkommen. Im Juli desselben Jahres producirten zwei dieser Bastarde wiederum Junge, die sich als vollkommen fruchtbar erwiesen. Männchen und Weibchen der zweiten Generation dieser Zucht wurden auf der landwirthschaftlichen Versuchsstation zu Jena, ohne daß man jemals zur Anpaarung Zuflucht nehmen mußte, bis zur sechsten Generation weiter gezüchtet. Die Thiere waren hasenfarbig; der Grund ihres Pelzes war grau. Weiße Flecken an der Kehle, an der Brust und den Fußenden kamen oft vor. Die Löffel waren länger als der Kopf und wurden aufrecht getragen; die Löffelspitzen waren bei den meisten Exemplaren schwarz. Bei diesen Leporiden war auch das obere Ende der Blume schwarz gefärbt. Bezüglich der Größe standen die Bastarde zwischen Hasen und den gewöhnlichen Stallkaninchen. Die Jungen waren blind, als sie geboren wurden. Die Farbe der Iris stellte sich bei einigen Exemplaren als hell gelbbraun heraus, während sie bei anderen dunkler erschien. Die Hinterfüße dieser Thiere waren länger als bei dem gewöhnlichen Kaninchen, doch verhältnißmäßig nicht so lang, wie sie der Hase zur Schau trägt. Das Fleisch war weiß, hatte aber den süßlichen Geschmack des Kaninchenfleisches verloren. Der Verfasser dieses Artikels, welcher diese echten Leporiden bis zur sechsten Generation züchtete und dadurch nachwies, daß dieselben bedingungslos fruchtbar waren, hat in seinen zoopathologischen und zoophysiologischen Untersuchungen (Stuttgart bei Schickhardt und Ebner; 1872) über dieselben nähere Mittheilungen gemacht, namentlich auch zu beweisen versucht, daß die Bastarde nicht nur äußerlich Eigenthümlichkeiten an sich trugen, die theils dem Hasen, theils dem Kaninchen angehören, sondern daß sie auch an ihrem Skelete specifische osteologische Merkmale des Lepus timidus und des Lepus cuniculus vereint erkennen ließen.

Es sei hier nur noch bemerkt, daß es freilich sehr schwer ist, Hasen mit Kaninchen zum Paaren zu bringen; daß man am zweckmäßigsten einen Hasenrammler, der drei bis vier Wochen alt ist, mit zwei bis drei ebenso alten weiblichen Kaninchen zusammenbringen, und diese in besonderem, isolirtem Stalle groß ziehen muß, wenn das Experiment gelingen soll. Man meint in der Regel, daß der Hase eine ganz besondere Abneigung habe, sich mit dem Kaninchen geschlechtlich zu vermischen. Für ältere Thiere ist das entschieden wahr, für junge aber nicht oder doch nur in beschränktem Maße. Kaninchen verschiedener Racen zeigen sehr häufig dieselbe Abneigung gegen einander. So war es absolut nicht möglich, im zoologischen Garten zu London männliche Porto-Santo-Kaninchen (siehe weiter unten) mit weiblichen Kaninchen der verschiedensten Racen zur Paarung zu bringen.

Wenden wir uns jetzt zur Betrachtung des Nutzens, welchen die Kaninchen bringen. Zunächst würde anzuführen sein, daß dieselben zu den fruchtbarsten Säugethieren gehören, die wir kennen. Es paaren sich dieselben im Freien viermal, im warmen Stalle bis zu achtmal jährlich. Die Tragzeit dauert nur dreißig bis einunddreißig Tage; das Weibchen wirft jedesmal vier bis zwölf Junge. Das Männchen wird mit längstens vier Monaten, das Weibchen meist schon mit fünf Monaten zuchtfähig. Binnen vier Jahren kann, wenn alle Umstände günstig, ein einziges Kaninchenpaar über 1,270,000 Stück Nachkommen producirt haben. Wie sehr sich diese Thierchen vermehren können, läßt sich durch ein Beispiel am besten erläutern. Im Jahre 1419 setzte Gonzales Zarco ein älteres weibliches Kaninchen mit mehreren Jungen, welche dasselbe auf dem Schiffe geworfen hatte, auf Porto Santo bei Madeira aus; dieselben vermehrten sich so ungeheuer, daß factisch die Niederlassung wegen derselben aufgegeben werden mußte. – Oberförster Benda setzte auf den Inseln, welche dicht bei Berlin in der Havel sich befinden, Kaninchen aus. Die Fruchtbarkeit derselben soll eine ungeheure gewesen sein.

Das Kaninchenfleisch ist weiß, etwas süßlich von Geschmack, immer aber ganz gut schmeckend (vorausgesetzt, daß die Thiere nicht zu viel mit Kraut- oder Kohlblättern genährt sind) und [434] sehr nahrhaft. Nur anerzogener dummer Ekel kann vom Genusse dieses vortrefflichen Fleisches abhalten, oder der Aberglaube; in letzterer Beziehung sei nur erwähnt, daß das an vielen Orten Geglaubte: „Kaninchen paarten sich gern mit Ratten“, in das Bereich der Fabel zu verweisen ist. Im Elsaß, in Lothringen, in Holland, Belgien und Frankreich, so wie in England wird das Kaninchen gern gegessen. Im südlichen Frankreich gehören Kaninchenbraten, Kaninchenragout u. dgl. zu den Festessen. In französischen Hôtels findet man oft auf den Speisekarten Lapin rôti, Lapin cuit, Lapin à la sauce hollandaise, aber auch Ragouts oder dgl. von „volaille“ verzeichnet, aber Fleisch von Geflügel ist nicht zu dieser Speise verwendet, sondern solches von Kaninchen.

Den etwaigen Leserinnen dieses Artikels sei besonders noch Folgendes mitgetheilt. Wenn Kaninchen gebraten werden sollen, so müssen ziemlich viele Zwiebeln zur Verwendung kommen; am zweckmäßigsten wird aber das in Frage stehende Fleisch in der Form unseres Gänseschwarzes oder des Hasenpfeffers zubereitet, oder mit recht pikanter Sauce als Ragout gegeben. Uebrigens ist noch darauf aufmerksam zu machen, daß Kaninchenfleisch eine treffliche Bouillon liefert. Das Fleisch, in einer Bratpfanne mit Wasser zum Braten angesetzt – natürlich ungespickt, nur mit dem nötigen Salze und Gewürze versehen –, wird recht leicht gebräunt, dann aus der Pfanne genommen und vollständig ausgekocht. Hierdurch kann man eine seine kräftige Bouillon, wie sie ähnlich nicht durch anderes Fleisch selbst mit Zusatz des theuren Fleischextractes zu erzielen ist, gewinnen. Freilich ist dann das ausgekochte Fleisch nicht viel oder nichts mehr werth; so lange die gewöhnlichen Kaninchen bei uns aber noch so billig sind, muß die Ausnutzung der an Osmazom reichen Muskeln derselben zur Bouillon empfohlen werden. Kaninchenfleischpasteten gehören auch für den wohlhabenden Franzosen zu den gesuchtesten Leckerbissen.


(Schluß folgt.)




Aus meinen Theatererinnerungen.


Von Wilhelm Koffka.


Meine Theatererinnerungen beginnen mit dem Herbste des Jahres 1843 und knüpfen an die Leipziger Bühne der damaligen Zeit an. Nicht etwa, als ob nicht auch aus früherer Zeit Bühnenreminiscenzen in mir wach wären, vielmehr weiß ich mich noch genau der ersten Theatervorstellung, welche ich als achtjähriger Knabe im Jahre 1830 in meiner Vaterstadt Breslau sah, zu erinnern; es war Raimund’s „Alpenkönig und Menschenfeind“, und der jugendliche Zuschauer oben auf der Galerie in dem Theater an der „kalten Asche“ – so hieß der alte Breslauer Kunsttempel, berühmt in der Kunstgeschichte durch Ludwig Devrient, der hier seine Blüthezeit erlebte, und durch Holtei’s unübertreffliche Schilderungen in seinen „Vierzig Jahren“ – der junge Knabe war da, als die Lampen eine nach der andern angezündet wurden und die Musiker allmählich an ihre Pulte traten und zu stimmen anfingen, und als endlich das dicke Haupt des Musikdirectors Luge am Pulte erschien und die Musik begann, da ergriff ihn jener heilige Schauer, den die Jugend zu empfinden pflegt, wenn sie zum ersten Male vor den Geheimnissen steht, welche der Theatervorhang verhüllt, und der Dinge harrt, die da kommen sollen. Der Leipziger Bühne trat ich zuerst mit gereifterer Anschauung und der Fähigkeit, Theater und Theaterkunst zu verstehen und zu würdigen, gegenüber.

Als ich nach Leipzig kam, führte Ringelhardt die Direction des dortigen Theaters. Schon stand das Ende seines Regiments bevor, da er eine Verlängerung seiner Pacht nicht erhalten hatte, dieselbe vielmehr einem neuen Bewerber, in der Person des Dr. Schmidt, übertragen worden war. Dies hatte jedoch auf die Leitung des Geschäfts nicht den mindesten Einfluß. Dasselbe ging in jeder Hinsicht mit musterhafter Ordnung; wer es nicht wußte, konnte nicht merken, daß ein Wechsel in der Directionsführung so nahe bevorstehend sei. Ich habe im Laufe der Jahre die verschiedensten Formen der Bühnenleitungen und die mannigfaltigsten Schattirungen in den Persönlichkeiten und Charakteren der Bühnenvorstände zu beobachten Gelegenheit gehabt: eine solche Sicherheit, Sachkenntniß und praktischer Blick im Allgemeinen, eine größere Geschicklichkeit in der Behandlung der Bühnenmitglieder im Besonderen, ist mir nirgends vorgekommen, wie bei Ringelhardt. Bevorzugungen irgend welcher Art kannte er nicht; mit gleicher Gemessenheit trat er Jedem entgegen; er zeigte überall, daß er mit fester Hand die Leitung führe, ohne in jene Tyrannenmanieren zu verfallen, wie sie in der damaligen Zeit manche Theatermonarchen, wie z. B. Cerf in Berlin, Carl in Wien, anzunehmen beliebt hatten. Von Rollenstreitigkeiten, Rollenzurückschickungen etc. habe ich damals nie etwas gehört; jedes Mitglied that nach Kräften seine Schuldigkeit, und plagte vielleicht Diesen oder Jenen einmal eine theatralische Grille, er wußte sie bald zu unterdrücken, weil ihm bekannt war, daß die Direction ihr nicht die geringste Lebensdauer verstatten würde. Ich habe auch niemals wieder eine solche Collegialität gefunden, wie sie unter den Angehörigen des Leipziger Theaters damals herrschte. Mag dies zum Theil an den betreffenden Persönlichkeiten der Mitglieder selbst gelegen haben, wesentlich, oder vielleicht sagt man richtiger, am wesentlichsten trug dazu die bestimmte, etwas vornehm abwehrende Art bei, in welcher Ringelhardt die Grenze zwischen Direction und Personal zu ziehen und gegen Jeden ohne Ausnahme festzuhalten verstand. Uebrigens war seine Leipziger Bühnenführung auch durchweg von Glück begünstigt gewesen. Die zunehmende Frequenz der Leipziger Messen in den zehn Jahren seiner Direction kam ihm natürlich in materieller Hinsicht sehr zu statten; die Production an Novitäten mit klingenden Cassenresultaten war überdies eine sehr reiche; die Meyerbeer’schen, Halevy’schen, Auber’schen, Marschner’schen Opern kamen eine nach der andern und machten volle Häuser; der Gagen-Etat war im Verhältniß zu den Anforderungen der heutigen Zeit verschwindend klein – kein Wunder, daß Ringelhardt am Ende seiner Leipziger Zeit ein wohlhabender, für die damaligen Begriffe sogar reicher Mann war, ein Glücks- und Vermögenswechsel, den ihm einzig und allein Leipzig geschaffen hatte.

Die Anzahl der Theatermitglieder war genau den Bühnenforderungen entsprechend, jedes Fach besetzt, und damit die Möglichkeit gegeben, in der Oper, wie im Schauspiel allen Bedürfnissen eines großen Repertoires zu genügen. Da mehrere und zwar hervorragende Kräfte in der Oper und im Schauspiel verwendet werden konnten, so ließ sich die numerische Dürftigkeit des Personals vollständig ausgleichen. Unter diesen beidlebigen Künstlern standen in erster Linie Albert Lortzing und Caroline Günther. Lortzing spielte im Schauspiel jugendlich komische, Bonvivants- und Liebhaberrollen, z. B. den „Erbprinz von Bayreuth“ in „Zopf und Schwert“, den „Baron“ im „Ball zu Ellerbrunn“, den „Pierrot“ in „Muttersegen“; in den Opern sang er die Tenorbuffopartien, den „Peter Iwanow“ ist seinem „Czar und Zimmermann“, den „Paul“ in der „Schweizerfamilie“ und ähnliche.

Zu der Zeit, da ich Lortzing auf der Bühne sah, hatte er bereits den Entschluß gefaßt, den Brettern als Darsteller zu entsagen und schon die Capellmeisterstelle von der neuen Direction in der Tasche; das Komödienspielen mochte ihm also wohl wenig Vergnügen mehr machen. Nichtsdestoweniger erschien der damals in voller Manneskraft stehende Künstler immer eifrig in seinem Berufe, für welchen er eine sehr angenehme Persönlichkeit mitbrachte; sein blühendes, hübsches Gesicht mit den schönen, blitzenden Augen und dem unverkennbaren Ausdrucke von Freundlichkeit und Herzensgüte empfahl ihn Jedem, der ihn sah, von Hause aus auf das Wärmste, und was vielleicht an Stärke des Talents ihm mangelte, das wußte er durch eine sehr große Bühnengewandtheit zu ersetzen. Im persönlichen Umgange war er von hinreißender Liebenswürdigkeit. Jeder verkehrte gern mit ihm, seine Collegen nicht minder, wie die hervorragendsten Persönlichkeiten aus den geselligen Kreisen, an denen Leipzig nie arm war, und die gerade in jener Zeit besonders gern die geachteten Mitglieder der dortigen Bühne unter sich sahen An [435] launigen Einfällen, an gesunder Munterkeit fehlte es ihm nie, im Leben wie auf der Bühne.

Ich erinnere mich einer Aufführung des bekannten Rührstückes „Muttersegen oder die neue Fanchon“, das sich, von den vorhandenen Kräften vortrefflich gegeben, großer Beliebtheit erfreute und sehr oft wiederholt wurde. Die Dessoir spielte die „Marie“, die Günther die „Chonchon“ unvergleichlich, Baudius den „Commandeur“, Reger den „Loustalot“, Lortzing den „Pierrot“. Eines Abends, da die Vorstellung des Stückes wieder stattfand, war irgendwo großer Ball, zu welchem Reger und Lortzing Einladungen erhalten hatten. Natürlich lag ihnen daran, so früh wie möglich aus dem Theater zu kommen, aber unglücklicher Weise dauert das Stück ziemlich lange, und gerade im letzten Acte haben Loustalot und Pierrot eine sehr lange, lange Scene, in welcher der junge Savoyarde dem alten Vater Mariens seine mannigfachen Erlebnisse in Paris zu erzählen hat. Jedoch Lortzing wußte Rath. Anstatt mit der Erzählung anzufangen, sagte er zu Reger: „Kommt, Vater Loustalot! Ich will Euch die Geschichte draußen erzählen,“ und damit gingen Beide ab, und das Stück war um mehr als zwanzig Minuten früher aus.

Als Componist hatte Lortzing damals schon seinen Ruf in der deutschen Bühnenwelt durch „Czar und Zimmermann“ und „Wildschütz“ gegründet, aber er war noch lange nicht in dem Besitze der Berühmtheit und Beliebtheit, welche ihm seine Werke leider erst nach seinem Tode eintrugen, und deren sie sich heute überall zu erfreuen haben. Die beiden bekanntesten Opern, welche Lortzing in Leipzig geschaffen hat, und bei deren Composition er offenbar die Eigenthümlichkeiten des dortigen Opernpersonals im Auge gehabt hat, wurden dort ganz ausgezeichnet gegeben. Die wichtigen Buffopartien des „Van Bett“ und „Baculus“ waren ganz für Berthold’s originelle Persönlichkeit und Künstlereigenthümlichkeit berechnet. Ein ausgezeichnetes Exemplar sogenannter trockener Komik, regte schon seine Erscheinung zur Heiterkeit an, die anhielt, so lange er sich auf den Brettern befand. Die Baritonpartien, welche ebenfalls in Lortzing’s Opern eine große Rolle spielen, der „Czar Peter“ in der einen, der „Graf“ in der andern, hatten eine glänzende Vertretung in Kindermann, einem Sänger, der heute noch mit beinahe ungeschwächter Kraft seine Stellung an der Münchener Oper behauptet, welche ihn nach seinem im Jahre 1846 erfolgten Abgang von Leipzig für sich zu fesseln wußte. Das große Glück – oder sollte man nicht lieber sagen Geschick? – welches Ringelhardt bei seinen Engagements gehabt hat, zeigte sich hier recht augenscheinlich. Aus dem Berliner Chor heraus war der junge Kindermann frischweg für erste Partien von Ringelhardt engagirt worden, und sehr bald stellte sich heraus, wie glücklich der Griff gewesen war. Die klangvolle, markige Stimme des Sängers fand schnell Gelegenheit sich hervorzuthun; die schlanke, große Figur des jungen Mannes, sein ausdrucksvolles Gesicht, der schön geformte Kopf, alles dies vereinte sich, ihn zu einer ungemein interessanten Erscheinung zu machen, welche den genannten Partien der Lortzing’schen Opern vortrefflich zu Statten kam. Als „Czar“ wurde er bald neben den besten Repräsentanten dieser Partie in der damaligen Zeit, Poeckh in Braunschweig, Biberhofer, Hauser bekannt; als „Graf“ im „Wildschütz“ hat er wohl alle Vertreter der Rolle übertroffen. Für seine Soubrettenpartien konnte der Componist, der zugleich sein eigener Librettist war, kein glücklicheres Original finden, als die damalige Leipziger Soubrette, die Günther. Ringelhardt hatte, wie schon bemerkt, einen ungemeinen Treffer bei seinen Engagements. Den glücklichsten hat er unzweifelhaft gemacht, da er Caroline Günther von Braunschweig nach Leipzig holte. So viel Talent mit so glücklicher Persönlichkeit gerade für das Fach der Soubrette in der Oper, wie im Schauspiele wird selten wieder in einer Künstlerin sich so glücklich vereint finden, wie in diesem langjährigen Lieblinge des Leipziger Publicums, das seiner Günther (seit ihrer in der ersten Zeit der Dr. Schmidt’schen Direction im Jahre 1844 erfolgten Vermählung – ein Eheband, welches der Tod des Gatten schon im nächstfolgenden Jahre löste – Günther-Bachmann) von Anfang bis zu Ende treu blieb und noch vor Kurzem Gelegenheit hatte, bei dem plötzlichen Hinscheiden der vortrefflichen Schauspielerin, ihr Kränze und Blumen in Fülle in das Grab mitzugeben, wie es ihr dieselben so oft im Leben zu spenden gewohnt war. Zu der Zeit, da ich nach Leipzig kam, war die Günther so recht in ihrer künstlerischen Blüthe. Die Natur hatte sie auf das Vortheilhafteste ausgestattet, ihr jede Eigenschaft verliehen, welche zu einer erfolgreichen Bühnenthätigkeit gehört. Ein ungemein anziehendes Aeußere, eine metallreiche Stimme, ein durchaus lebenswarmes und frisches Naturell gaben ihr das gefügige Material zu ihren Schöpfungen, denen aber erst die Eigenart ihres künstlerischen Wesens den unwiderstehlichen Reiz verlieh, welcher sie ganz besonders fesselnd erscheinen ließ.

Der Zauber, den sie ausübte, lag zunächst allerdings in ihrer persönlichen Begabung; er würde indeß sicher nicht von solcher Nachhaltigkeit gewesen sein, wie es der Fall war, wenn die Künstlerin nicht stets mit dem vollsten Ernste an die Lösung ihrer Aufgaben, der größten wie der kleinsten, gegangen wäre, wenn sie die reichen Mittel, die ihr zu Gebote standen, nicht statt als bloße Mittel zum Zweck vielmehr als Selbstzweck hätte brauchen wollen. Mit den erforderlichen Eigenschaften für die Oper, wie für das Schauspiel ausgerüstet, mit dem entschiedensten Talente für jede Gattung von Bühnengestaltungen begabt, war ihr die vielseitigste Leistungsfähigkeit vergönnt, deren geschickte Ausnutzung der Direction wie dem Publicum zu Statten kam, jener, indem sie mit einem Mitglied mehrere Fächer deckte, diesem, weil ihm die Künstlerin in jedem Gebiete, in welchem sie erschien, gleich hohe Genüsse gewährte. Wenn die Günther heute als Susanne in „Figaro’s Hochzeit“ entzückte, so riß sie morgen als „Vicomte von Letorières“ Alles zum stürmischsten Beifall hin; „Carlo Broschi“ in „Teufels Antheil“ und Franciska in „Minna von Barnhelm“, „die Regimentstochter“ und „Puck“ im „Sommernachtstraum“, der „Ludwig“ im „Weltumsegler wider Willen“ (eine Posse, welche gerade zu der Zeit in Leipzig florirte) oder irgend ein Dienstmädchen in einer kleinen Posse – das waren beispielsweise die Rollen, die sie im bunten Wechsel des Repertoires zu spielen hatte und welchen allen von ihrer Seite das glänzendste Genüge geschah.

An der Günther hatte Lortzing für seine Marie in „Czar und Zimmermann“ und für die Baronin im „Wildschütz“ ein Prototyp, wie es sich nicht glücklicher denken ließ. Sie war wohl geeignet, den Dichter und Tonsetzer bei der Schöpfung dieser anmuthigen, pikanten Gestalten entsprechend zu begeistern. Aber auch für kleinere Partien in seinen Opern fand Lortzing manch treffliches Original. So z. B. für seinen Haushofmeister im „Wildschütz“ den recht beliebten Komiker Ballmann, dessen stehende Redensart „wie närr’sch“ eine der Charakteristik der Rolle sehr gut zusagende Verwendung erhielt. Den Peter Iwanow in „Czar und Zimmermann“ gab Lortzing selbst, die Frau Brown des Componisten Mutter, die, obschon hochbetagt, doch immer noch eine große Beweglichkeit auf der Bühne zeigte. Die Tenorpartien des „Chateauneuf“ und des Baron im „Wildschütz“ sang der erste Tenor der Leipziger Oper, Schmidt, ein Sänger nicht von bestechenden Mitteln, aber gewandt und von musikalischer Sicherheit und Geschmack.

Von Ringelhardt’s Schauspielpersonal, wie ich es bei meiner Ankunft in Leipzig vorfand, traten in den Vordergrund: die erste Liebhaberin Frau Dessoir, der Darsteller der Väterrollen Reger, und der Charakterspieler Baudius. Die Dessoir genoß damals großer Beliebtheit bei dem Leipziger Publicum. Von dem Breslauer Theater, wo sie unter Haake’s Direction mit ihrem Gatten Ludwig Dessoir engagirt gewesen war und ebenfalls zu den Lieblingen gehört hatte – ich erinnere mich, als Gymnasiast sie dort mehrmals gesehen zu haben und des ihr gespendeten enthusiastischen Beifalls Zeuge gewesen zu sein – war die junge schöne Frau nach Leipzig gekommen und nach glänzend ausgefallenem Gastspiele von dem klugen Director sofort an seine Bühne gefesselt worden. Seitdem waren zehn Jahre vergangen, die den Credit der Künstlerin immer mehr gesteigert hatten. Noch immer galten ihre Thekla, Louise, Antigone für mustergültig, noch immer erfreute man sich an der für schwärmerische Gestalten wie für die realen Persönlichkeiten junger lebenslustiger Frauen gleich glücklich gearteten Erscheinung, an ihrer stets von großem Verständniß Zeugniß ablegenden, von jeder Manier freien Darstellungsweise.

Reger wurde als Schauspieler sehr geschätzt und genoß auch wie sein Freund Lortzing, für dessen „Czar und Zimmermann“ er bekanntlich die Strophen des Czarenliedes gedichtet [436] hat, die allgemeine Achtung und Zuneigung der gesellschaftlichen Kreise. In Leipzig fand ich in ihm einen sehr achtbaren Schauspieler, der seinen Mann überall stellte und sich als eine durchaus schätzenswerthe Kraft in einem guten Schauspielensemble bewährte. So weit reichte sein Talent, gesteigert durch große Bühnengewandtheit und Erfahrung; zum Fluge in höhere Regionen, in das Reich der Phantasie, der Ideale, waren ihm keine Schwingen gewachsen.

Das Fach der Intriguants und ernsten wie komischen Charakterrollen bekleidete Baudius. Ein durch und durch routinirter Schauspieler, suchte er seine Stärke nicht sowohl in dem innerlichen Erfassen der Charaktere wie vielmehr in ihrer äußerlichen Repräsentation. Die Maske war ihm die Hauptsache. Wenn er beschäftigt war, konnte man ihn sicher schon Nachmittags um drei Uhr in’s Theater gehen sehen. Stundenlang brachte er mit dem Schminken zu, auf das er eine Sorgfalt verwendete, wie vielleicht vor ihm und nach ihm keiner seiner Kunstgenossen. Sonderling, wie er hierin war, auch sonst in seinen Gewohnheiten, gab er in der Garderobe oft Veranlassung zu den komischsten Scenen. Bei der schon erwähnten Collegialität, die unter Ringelhardt eine der schätzenswerthesten Eigenthümlichkeiten seines Personals war, fehlte es nicht an den amüsantesten Scherzen, die namentlich Lortzing und Reger während des Ankleidens sich mit Baudius zu erlauben pflegten und deren Erzählung bald die Runde in den Theaterkreisen machte und immer die allgemeinste Heiterkeit erregte.

Von großer Vielseitigkeit und Verwendbarkeit waren fast sämmtliche Mitglieder des damaligen Leipziger Theaters, die Repräsentanten der ersten Fächer sowohl wie die, welche eine secundäre Stellung bekleideten. So vor Allen Stürmer, der ja noch heutzutage der Leipziger Bühne angehört. In der Oper wie im Schauspiele thätig, verging fast kein Abend, an welchem er nicht beschäftigt war. Immer mit dem vollsten Ernste bei der Sache, von getreuester Pflichterfüllung in seinem Berufe, hielt er auch die kleinste Rolle nicht für zu unbedeutend, um ihr, so viel nur irgend in seinen Kräften stand, gerecht zu werden. Seine Gewissenhaftigkeit in allen Dingen machte ihn dem Theater nützlich, bei den Collegen geachtet und Allen, die in nähere Beziehung zu ihm traten, werth.

Endlich muß ich in der Erinnerung an die Ringelhardt’sche Theaterzeit noch einer jugendlichen Kraft erwähnen, die damals auftauchte und, an passender Stelle mit Geschick verwendet, sich sehr bald recht nützlich und überaus günstig bemerkbar machte. Die Mittel, über welche das Leipziger Ballet zu jener Zeit verfügte, waren höchst bescheiden; sie reichten gerade nothdürftig hin, um in den großen Opern die Balletmusik nicht ohne entsprechende Begleitung auf der Bühne ausführen zu lassen. Die talentvollste unter den Balletangehörigen war ein junges, hübsches Mädchen von anmuthiger Gestalt und graziösen Formen, auch von ausdrucksvoller Mimik, so daß ihr Partien wie die „Helene“ in Meyerbeer’s „Robert“ anvertraut werden konnten und von ihr mit bestem Erfolge ausgeführt wurden. Aber in der jugendlichen Ballerina schlummerte ein anderes Talent, das nur geweckt und gepflegt zu werden brauchte, um sich in günstigster Weise zu verwerthen. Es war der Keim zu einer sehr tüchtigen Schauspielerin, der bald zu Knospen und Blüthen trieb. In kleinen Rollen zuerst, dann in bedeutenderen verwendet, schuf die angehende Künstlerin eine Anzahl reizender Gestalten, deren Schmuck eben die jugendliche Anmuth und die einfache, ungekünstelte Natürlichkeit der Darstellerin war. Ihre „Titania“ im „Sommernachtstraum“, „Hermine“ im „Vicomte von Letorières“, „Renate“ in „Christoph und Renate“ hatten ebenso das Gefällige der Erscheinung wie die herzige Naivetät des Ausdrucks für sich. Die junge Dame, von der hier die Rede, war Agnes Kretzschmar, welche später als Agnes Wallner in der Theaterwelt ein großes Renommée erlangte.

Das Repertoire der Leipziger Bühne unterschied sich unter Ringelhardt in keiner Weise von dem anderer Theater. So sehr er als praktischer Theaterdirector als Muster gelten konnte, in höherer, künstlerischer Beziehung ragte er nicht hervor. Von einem bestimmten, auf poetische und ästhetische Interessen gerichteten Plane war nicht die Rede. Davon wußte man überhaupt zu jener Zeit nicht viel. An den Hofbühnen galt es meist der Befriedigung egoistischer Neigungen und wechselnder Launen, an den Stadttheatern handelte es sich nur um möglichst gute Einnahmen. Um diese zu erzielen, wurde nun Alles durcheinander gegeben, ein Zustand, der wohl auch heute noch nicht verschwunden ist, insofern aber wenigstens eine wesentliche Besserung erfahren hat, als man von der Ueberschwemmung mit französischen Bühnenstücken, welche damals fast ohne jede Auswahl, frisch, wie sie aus den Uebersetzungsfabriken hervorgingen, gegeben wurden, zurückgekommen ist und fast allerwärts für eine reichere Aufnahme der classischen Werke Sorge getragen hat, ganz besonders aber die Pflege Shakespeare’scher Werke sich angelegen sein läßt. Jene Zeit, von welcher ich hier spreche, war noch so weit zurück darin, daß man in Leipzig statt der „Bezähmten Widerspenstigen“ z. B. die verwässerte Holbein’sche Komödie „Liebe kann Alles“ gab, daß man es ruhig hinnahm und es vielleicht gar als eine beifallswürdige Besonderheit ansah, wenn an Schiller’s Geburtstag, der damals in keiner Stadt in Deutschland so gefeiert wurde wie gerade in Leipzig, das Theater, statt eines der Schauspiele des großen Dichters zur Aufführung zu bringen, ein Quodlibet von Scenen aus allen Schiller’schen Stücken vor den Augen der Zuschauer erscheinen ließ, eine Geschmacksnaivetät oder Geschmacksverirrung, von der man heute wohl kaum mehr sich einen Begriff machen kann.

Der Cassenzweck, welcher als höchstes Ziel vorschwebte, wurde durch ein möglichst buntes Repertoire, sowie durch rasche Aufnahme von Novitäten und häufige Gastspiele zu fördern gesucht. Wählerisch war man bei den Neuigkeiten durchaus nicht; was neu war, suchte man eben zu nutzen. Es kam auch wohl vor, daß ein Stück, welches man am Abend der ersten Aufführung ausgepfiffen hatte, wiederholt wurde, in der Erwartung, der vorauszusehende abermalige Lärm würde ein recht volles Haus machen. Dies war beispielsweise bei den „Geheimnissen von Paris“ der Fall, einer jämmerlichen theatralischen Bearbeitung des damals von der Leserwelt gierig verschlungenen Sue’schen Romans. Das Machwerk fiel glänzend durch, erlebte aber gleichwohl eine Wiederholung, bei welcher es abermals unter Zischen und Pfeifen zu Grabe getragen wurde.

Von den Gastspielen, welche aus jener Zeit in meiner Erinnerung haften, nenne ich zuerst das der Schröder-Devrient. Die große Künstlerin war damals nicht mehr in dem Vollbesitze ihrer Mittel, die ihr früher überall die glänzendsten Triumphe gesichert hatten. Die Stimme hatte ihre Fülle verloren, und den Ansprüchen an Höhe und Kraft konnte sie nur noch mit Mühe genügen. So versicherten Alle, welche sie in den vergangenen Jahren gehört und bewundert hatten, und die ruhmvollste Vergangenheit konnte nicht verhindern, daß sich jetzt in den lauten Beifall auch vereinzelte Zischlaute einzelner rücksichtsloser, nur mit dem Moment beschäftigter Zuhörer mischten. Gleichwohl war die Sängerin immer noch bedeutend genug, um Denjenigen, welcher nicht durch Vergleiche mit einer frühern Zeit in seiner Auffassung beschwert war, zur Bewunderung hinzureißen. Die dramatische Kraft, welche sich in ihren Darbietungen aussprach, war ebenso mächtig und überwältigend wie der Zauber ihrer persönlichen Erscheinung unwiderstehlich. Ich hörte und sah sie als „Romeo“ in der Bellinischen Oper, als „Marie“ in Gretry’s „Blaubart“ und als „Valentine“ in den „Hugenotten“. Unverwischbar sind mir die Eindrücke geblieben, welche ich von diesen in dramatischer Hinsicht vollendeten Kunstgestaltungen empfing, und so oft ich diese Opern wieder hörte, immer drängte sich mir unvermeidlich in den betreffenden Partien das Bild der unvergleichlichen Schröder-Devrient wieder auf.

In der Ostermesse, der letzten unter Ringelhardt’s Direction, gastirte Rott von Berlin und dann seine Kunstgenossin Charlotte von Hagn. Rott machte als „Richard der Dritte“ einen besonders mächtigen Eindruck auf mich. Er war ein Schauspieler, der über große Mittel verfügte, seiner Persönlichkeit wie seinem Organe nach, stark genug, um der Träger großer Rollen und großer Stücke zu sein. Der Vorwurf komödiantischer Velleitäten, etwas äußerlicher Effectspielerei, einer gewissen Manierirtheit traf ihn häufig nicht ohne Grund; doch mußte man ihm ein bedeutendes schauspielerisches Talent und vollkommene Bühnengewalt zugestehen. Oft wird, was positiv nicht ganz zweifellos erscheint, durch die Negation zur vollen Klarheit gebracht. Von allen Nachfolgern, welche Rott an der Berliner Hofbühne seither gehabt hat, ist ihm in schauspielerischer Beziehung [437] vielleicht Dessoir, sonst Keiner, gleichgekommen und in der persönlichen Begabung am allerwenigsten.

Charlotte von Hagn fesselte durch ihre Schönheit nicht minder wie durch die ungemeine Feinheit ihrer Zeichnungen und die meisterhafte Sicherheit und Beherrschung des Stoffes, mit welcher sie in und über ihren Rollen stand. Den ganzen Nüancenreichthum ihrer Virtuosität brachte sie im Lustspiele zur Anschauung, in welcher Gattung sie namentlich als „Vicomte von Letorières“, als „Christoph“ in „Christoph und Renate“ bei ihrem Gastspiel brillirte. Auch die „Margarethe“ im „Faust“ spielte sie ebenfalls mit großem Beifall, aber nicht mit allseitiger, gleichmäßiger Zustimmung, weil man statt der Unmittelbarkeit der Empfindung, der ungekünstelten Natürlichkeit zu viel Berechnung in der Naivetät und in den tragischen Formen nicht genug Gewalt der Leidenschaft gefunden haben wollte. Wie die Schröder-Devrient, so gehörte übrigens auch die Hagn zu jenen Bühnenerscheinungen, welche sich, einmal gesehen, in dem mächtigen Eindrucke auf den Zuschauer für dessen Lebenszeit zu behaupten wußten. Die Natur hatte sie wunderbar ausgestattet und die Kunst ihr alle Attribute der Majestät verliehen.




Vom Meister Kaulbach.


München hat im Laufe der letzten Jahre von der großen Reihe glänzender Namen, die es mit Stolz als seine Bürger aufweisen konnte, die weithin leuchtendsten verloren. Rasch nach einander sind Pfeufer, Schwind, Liebig, Lindwurm und Kaulbach dahingegangen und mit ihnen ein Stück Münchener Glanzzeit, wie es so bald nicht wieder erstehen wird. Vor zehn Jahren noch gaben ihre allbekannten und einflußreichen Persönlichkeiten dem öffentlichen und geselligen Leben der Stadt das Gepräge, nun sind sie todt, aber nicht ersetzt und die Lücken bleiben für Jeden fühlbar, welcher die schöneren Zeiten noch gekannt hat. Die Erinnerung aber an die unvergeßlichen Gestalten knüpft sich an die Stätte ihrer Wirksamkeit und drängt plötzlich, auch wenn der gleichgültigste Geschäftsgang daran vorüberführt, die Tagesgedanken zurück. So ging es mir nach Kaulbach’s Tode beim erstmaligen Anblicke des altersgrauen Akademiegebäudes in der Neuhausergasse. Es zog mich in den öden Hof, dessen Westseite von einer hohen, fensterlosen gelben Wand begrenzt wird. In der Ecke rechts befindet sich eine sehr primitive Thür – Tausenden von Münchenreisenden wird sie erinnerlich sein – es steht darauf von Kaulbach’s Hand geschrieben: „Zu sprechen von neun bis zehn Uhr.“ Ich ließ mir die jetzt fest verschlossene Thür öffnen und betrat mit dem wehmüthigen Ernste, welcher Jeden vor der jüngst verlassenen Umgebung eines großen Todten überkommt, den hohen Raum, dessen Schwelle ich sonst so oft erwartungsvoll überschritten hatte.

Jetzt herrschte die tiefste Stille und Einsamkeit darin; im Gegensatze zu dem grellen Sonnenlichte der Straße wirkte der altersschwarze Saal um so mächtiger. Aus seinem Hintergrunde ragte die Kolossalfigur des Rossebändigers vom Monte Cavallo über alle davor gestellten Bilder und Cartons imposant auf. Alles stand und lag noch, wie an dem Abende, da Kaulbach guten Muthes und ahnungslos die Thür zum letzten Male hinter sich abschloß, nur eine leichte Staubschicht deckte den großen runden, höchst einfachen Tisch, auf dem ein buntes Durcheinander von großen und kleinen Firnißflaschen und Gläsern, Farbensäckchen, Pinseln und Paletten wie ehemals sich ausbreitete. Da lagen noch einige Geschichtswerke, mit deren Studium Kaulbach seine Erholungsstunden auszufüllen pflegte; da stand noch die angebrochene Flasche Rothwein neben dem Cigarrenkistchen. Ein Glas dieses Weines und ein Stückchen Brod dazu war Alles, was der äußerst mäßige Mann als zweites Frühstück zwischen neun Uhr Morgens und fünf Uhr Abends genoß; er bedurfte keiner äußeren Reizmittel für seine Phantasie, die stets bereit war, in verschwenderischer Fülle zu gestalten. Nun liegt er tief und still, aber der beste Theil seines Wesens redet laut aus all den lebensfreudigen Compositionen, die sich hier neben und über einander aufthürmen – eine Welt von Geist und Gedanken.

Da stehen dicht beisammen die Zeichnungen zu den großen Berliner Treppenhausgemälden, vor Allem das figurenreiche, prächtige Reformationsbild. Darüber, zu den Füßen des Kolosses, lehnt der große Nerocarton, überragt von zwei Portraits, die zu Kaulbach’s besten gehören: das der reizenden Prinzessin von Sayn-Wittgenstein, im blauen Atlasgewande und duftigen Schleier, welches später unverändert als Leonore von Este unter Goethe’s Frauengestalten Platz fand, und daneben, düster aus ungewisser Beleuchtung auftauchend, das blasse Profil Franz Liszt’s, geistreich, melancholisch und interessant, mit dem unzufrieden fragenden Blicke nach oben, den sich der nunmehrige römische Abbé vielleicht mittlerweile abgewöhnt hat. Wohin das Auge blickt, ein solcher Reichthum von Gemälden und Entwürfen, daß zum flüchtigen Ueberblicke Stunden erforderlich wären.

Sonst blieb wohl der zum ersten Male hier Eintretende unter dem Eindrucke dieses von allen Seiten auf ihn eindringenden Gestaltenreichthums einige Augenblicke stehen, um sich zu orientiren, und übersah vielleicht gänzlich, wie mittlerweile hinter einer der aufgespannten Leinwandflächen eine ziemlich unscheinbare Figur im einfachsten Röckchen, die schwarze Schirmmütze auf den schlichten langen Haaren, hervorgetreten war und einen scharfen Blick nach ihm herüberwarf. Aber sobald er diesen feingezeichneten, geistreichen Kopf mit den durchdringenden Augen näher ansah, wußte er, vor wem er stand, und auf seine eigene Bedeutung kam es an, wie der fernere Empfang ausfiel. Die gute Hälfte der von Lohndienern tagtäglich in dem Atelier präsentirten Kaulbachbesucher wird nur von einem höflich-ironischen „Morgen!“ nebst sehr kurzem Griffe an die obenerwähnte Schirmmütze zu berichten wissen. Dann wandte ihnen der Meister gemüthsruhig den Rücken und setzte die angefangene Arbeit oder Unterhaltung fort. Es konnte sogar noch schlimmer kommen, wenn allenfalls eine Schaar transatlantischer Reisender in bekannter Unverschämtheit mit schlechtem Französisch auf ihn eindrang. Der Ton, mit welchem er dann rief: „Wir sind hier in Deutschland und sprechen deutsch!“ war schneidend genug, um sofort verstanden zu werden und einen verdutzten Rückzug zu veranlassen.

Jeder berühmte Künstler leidet unter diesen immer wiederkehrenden Invasionen der ödesten Neugier, und Schwind z. B., dessen dicht an der großen Aufgangstreppe gelegene Thür so recht dem ersten Anprall ausgesetzt war, schloß meistens unerbittlich ab und blieb allen draußen erschallenden Rufen und Bitten taub. Oder er erfand einen sinnreichen Ausweg, sich die bereits Eingedrungenen vom Halse zu schaffen, wie einmal drei langen „schreckbar garstigen“ Engländerinnen gegenüber, die plötzlich vor ihm standen und einen Namen nannten, der wie Shorn (Schorn) klang. Der nahen Erlösung froh, sagte Schwind ganz freundlich: „Il est mort!“ Da deutete die Eine mit dem Finger in’s rothe Buch und er las: Schwind. „Il est mort depuis longtemps!“ schrie er nun entsetzt auf und die Drei wandten auf dem Flecke um, ohne auch nur einen Blick auf die gerade dastehenden „sieben Raben“ zu werfen.

Schwind indessen sowohl wie Kaulbach konnten einer sympathischen Menschenseele gegenüber rasch warm werden, und der Letztere besonders wußte dann so herzgewinnend einfach und liebenswürdig mit dem Besucher zu plaudern, daß diesem bald alle Befangenheit verflog, ja sogar Mancher der Versuchung unterlag, das vertrauliche „lieber Freund“ etwas allzu buchstäblich zu nehmen. Denn Kaulbach, der Zeichner des Reinecke Fuchs, der große Spötter der Pinakothek-Fresken, war allerdings nicht so harmlos, wie er sich zu Zeiten geben konnte, und sah mit scharfen Augen die kleinen und großen menschlichen Schwächen unter jeder Hülle durch. Je nachdem eine persönliche Erregung dazu kam, griff er auch wohl zum Stift und zeichnete in schonungsloser Satire die Opfer seiner Entrüstung auf das nächste fliegende Blatt, was dann nicht immer in der Mappe verwahrt blieb, sondern gelegentlich einmal dem davon Betroffenen als unerfreuliche Ueberraschung vor die Augen kam und manche Feindschaft verursachte. Begreiflicher Weise. Nur hätten die Betheiligten manchmal bedenken sollen, daß übrigens Kaulbach selbst ein gegen ihn gerichtetes Witzwort mit der größten [438] Seelenheiterkeit hinnahm. Man hat ihm oft vorgeworfen, daß seine aus schöpferischer Phantasie quellenden und größtentheils ohne Modell entworfenen Figuren und namentlich deren Köpfe eine stets wiederkehrende Familienähnlichkeit zeigen. Besonders gilt dies von den Frauengesichtern, die man, von wenigen portraitartigen Ausnahmen abgesehen, geradezu in die zwei stereotypen „runden“ und „langen“ Köpfe eintheilen kann. Kaulbach war darüber durchaus nicht im Unklaren und pflegte selbst lachend ein Urtheil seines Freundes Clemens Brentano anzuführen, der nach langer schweigender Betrachtung einer figurenreichen Composition endlich auf zwei im Vordergrunde befindliche Frauenköpfe deutete und lakonisch dazu sprach: „Ulmer Façon, Butzbacher Façon!“*[1]

Mit der rücksichtslosen Schroffheit gegen alles von ihm für verächtlich Erkannte paarte sich aber in Kaulbach’s Seele eine großartige Begeisterung für die hohen Ziele der Menschheit, für jede hervorragende Leistung in Wissenschaft und Kunst. Er dünkte sich nicht zu hoch, um fortwährend zu lernen und sich in lebendigster Berührung mit den nachrückenden Generationen zu erhalten. Ich erinnere mich lebhaft des Morgens, als er bei meinem Eintritt in’s Atelier mit ausgestreckter Hand auf ein von ihm angekauftes Makart’sches Erstlingswerk, die „modernen Amoretten“, hindeutete und dazu rief: „Dort sehen Sie hin! Da werden Sie merken, wem die Zukunft angehört. Das können wir nicht, davor müssen wir alten Herren einpacken. Kann der Mensch malen!“ Und so ging es in einem Strome von Ausrufen fort. Oder ein anderes Mal, als er einem Fremden, der in wortreicher Bewunderung kein Ende finden konnte, mit seinem feinen Lächeln auf die Achsel klopfte und sagte: „Wenn Sie wissen wollen, wie ein schönes Bild aussieht, so gehen Sie hinüber zu Schwind und sehen sich seine ‚Hochzeitsreise‘ an!“ Bedenkt man dabei, daß er mit Schwind persönlich durchaus nicht immer zum Besten stand, so wird man diese neidlose Bewunderung um so höher stellen müssen. Bekannt ist ja auch, daß er seinen alten Meister Cornelius, trotz scharfer persönlicher Differenzen und des endlich erfolgten Bruchs, dennoch unwandelbar als Künstler verehrte und hochhielt.

Solche Züge soll man sich vergegenwärtigen, ehe man von Kaulbach als dem kühlen Egoisten spricht, dem niemals, auch in seiner Kunst, etwas Ernst gewesen. Wer keine Augen für den hohen Enthusiasmus hat, aus welchem diese weltgeschichtlichen Bilder geboren sind, der braucht nur einen Blick nach der finstern Längenwand des Saales zu richten, um dort in großen Zügen eine That der uneigennützigsten Entrüstung, einen lodernden Protest gegen Aberglauben und Heuchelei vor sich zu sehen. Es ist der später so viel verbreitete „Peter von Arbues“, wie ihn Kaulbach im ersten Zorne über die neuerfolgte Canonisation auf die räucherige Mauer hinwarf. Das wutherfüllte Pfaffengesicht grinst noch viel dämonischer hier von dem rauhen geschwärzten Hintergrunde als in den weichen Tönen der Carton-Wiederholung.

„Ich weiß, daß ich mit diesem Bilde in ein Wespennest steche,“ sagte Kaulbach damals seinen Freunden, „aber ich kann nicht anders; eine solche Verhöhnung aller Vernunft darf man nicht stillschweigend hinnehmen.“

Er hatte wirklich hineingestochen, und es schwärmte gehörig von Schmähartikeln, persönlichen Verdächtigungen und Drohbriefen. Seine Antwort war die öffentliche Ausstellung des Bildes im Atelier. Nun kannte die ultramontane Wuth aber keine Grenzen mehr; die Verwünschungen und Drohungen fielen hageldicht, ohne ihn aus seiner kühlen Gelassenheit zu bringen. Erst als ihm wiederholt anonyme Briefe zukamen, man werde das Akademiegebäude anzünden, um auf diese Weise das verruchte Bild mit zu zerstören, schloß er seine Thür wieder ab und erklärte, die gegen seine Person gerichteten Drohungen habe er ignoriren können, nicht so die gegen das Staatseigenthum. Das Bild hat in der Welt seine Wirkung gethan, am unvergeßlichsten wird es aber Dem bleiben, der es hier in dem alten Saale gesehen hat, wo ferne Zeiten und kommende Generationen es noch als Denkmal unabhängiger Gesinnung sehen werden.

Nimmt man heutzutage den Reinecke Fuchs zur Hand und vergegenwärtigt sich, daß diese beißenden Satiren auf das absolute Königthum in der schlimmsten Reactionszeit gezeichnet und veröffentlicht worden sind, betrachtet man das Bild der Lola Montez, dem Kaulbach absichtlich den Stempel der niedrigsten Gemeinheit in Physiognomie und Haltung aufdrückte, unbekümmert um den Zorn des hohen Bestellers, der sich sammt dem des schwergereizten Originals in einer sehr drastischen Scene Luft machte, so wird man sich über die sämmtlichen schneidigen Eigenschaften eines so unbeugsamen Charakters nicht mehr verwundern. War er doch schon früh im Kampfe mit Noth und Schicksal hart gegen außen geworden und hatte sich im Anfange Schritt für Schritt seines Weges erkämpfen müssen, sogar noch in Zeiten, wo äußerlich die Bahn zu Ruhm und Ehre schon geebnet schien. Aller spätere Sonnenschein des Glücks, der ihm, wie Wenigen, zu Theil geworden, hat nicht mehr vermocht, jene erste seiner Seele eingegrabene Bitterkeit wieder auszutilgen; sie offenbarte sich gelegentlich als höhnische Ironie und richtete sich mit Vorliebe gegen eine gewisse schleichende Art von Frömmigkeit, die er von Herzen verabscheute.

Als sein Reformationsbild beinahe vollendet war, erschien unter anderen Beschauern auch ein bekannter Ultramontaner und fragte, nachdem er den Carton längere Zeit betrachtet, mit süßlicher Freundlichkeit, was denn das Bild eigentlich vorstelle?

„Lauter Ketzer,“ antwortete Kaulbach kurz und grob.

„Aber,“ fing der Andere wieder an, indem er auf die linke Vordergruppe deutete, „da steht ja Columbus – das war doch kein Ketzer.“

„Was, das war ja der Allerärgste,“ rief Kaulbach lachend, „der hat sich herausgenommen, einen Welttheil zu entdecken, von dem nichts in der Bibel steht. Denken Sie doch nur, es müßte dann ja von Rechtswegen vier heilige drei Könige gegeben haben. Nein, der Mann war ein Erzketzer.“

Kaulbach’s wirkliche Ueberzeugung von der Religion und ihrer Bestimmung kann man am besten aus der schönen Mittelgruppe jenes Bildes entnehmen, wo Melanchthon die Hände des katholischen Reichskanzlers Zasius und des protestantischen Reichsritters Eberhard von der Tann über die Urkunde des Augsburger Religionsfriedens zusammenfügt und mit der andern Hand auf die von Luther hocherhobene Bibel deutet mit dem Spruche: „Du sollst deinen Nächsten lieben, als Dich selbst.“ Kaulbach schließt sich mit diesem greifbaren Hauptgedanken seines Bildes der langen Reihe erleuchteter Geister an, die seit Lessing, wenn auch bis jetzt ohne allzu großen Erfolg, dem Menschengeschlechte Toleranz gepredigt haben.

Seine völlig gesicherte äußere Stellung erleichterte ihm allerdings die unumwundene Meinungsäußerung sehr, allein auch diese Stellung verdankte er nur sich selbst, seinem glänzenden Talente und einer Eigenschaft, die allen großen Männern gemeinsam ist, dem staunenswerthesten Fleiße. Wenn alle Anderen, auch die wirklich Thätigen, sich draußen an irgend einem schönen See wochenlang der Sommerruhe hingaben und nicht im Geringsten an’s Arbeiten dachten, so schritt Kaulbach Tag für Tag durch die heißen Straßen der Akademie zu. Nur auf diese Weise war es möglich, einen Reichthum an Schöpfungen zu entfalten, der selbst für ein langes Menschenleben, wie das seinige, fast unbegreiflich scheint. Ihm waren Arbeit und Erholung keine getrennten Begriffe; er hat seinen Reinecke an den Winterabenden, im Kreise der Familie, gezeichnet, während er den Tag über im Atelier angestrengt an der „Schlacht von Salamis“ arbeitete. So sind die verschiedenen Blätter des „Todtentanzes“ als eine Art von tragisch-satirischer Spielerei zwischen anderen, größeren Arbeiten entstanden.

Wie schön und rührend ist dies Nächste: Humboldt, gebeugt unter der Last des Kosmos, der als riesige Kugel auf seinen Schultern ruht, ist auf der langen Wanderung unvermerkt am Rande der Grube angelangt. Dort erwartet ihn der Tod und nimmt ihm mit freundlichen Geberden die Last ab. Gegenüber auf dem nächsten Bilde sitzt Marie Louise, den kleinen König von Rom auf den Knieen. Die deutschen Fürsten bilden in nichts weniger als schmeichelhafter Auffassung den Huldigungschor, während das Bübchen verlangend seine Hände nach einer aus Todtenbeinchen zierlich geflochtenen Krone ausstreckt, die der knöcherne Mann im Cardinalsornate ihm grinsend präsentirt. Auf einem andern Blatte klopft derselbe, als protestantischer Pastor angethan, in demselben Moment, wo ein aufgeblähter Papst seine Gottähnlichkeit proclamirt, sachte an die prachtvolle Palastthür, und so folgt Blatt um Blatt voll tiefsinniger Ironie.

[439]

Im Walde.
Nach dem Oelgemälde von Robert Beyschlag.


Das schöne Vermächtniß an „das große deutsche Volk“, der gewaltige „deutsche Michel“ ist bereits in unzähligen Photographien verbreitet; es war Kaulbach’s letztes vollendetes Werk. Aber seitwärts unter den Staffeleien steht eine große Mappe voll Einzelentwürfe zu einer neuen Composition, welche der fast Siebenzigjährige in seiner ungebrochenen Arbeitskraft begonnen hatte, eine „Sündfluth“ in großen Dimensionen. Hier auf dem ersten Blatt ein König, der sich inmitten seiner bereits getödteten Frauen und Kinder mit trotzigem Blicke den Dolch in’s Herz stößt, dort auf dem folgenden ein Gewühl amazonenhafter Reiterinnen, die rosenbekränzt in toller Lust angesichts der nahen Vernichtung noch die Freudenbecher schwingen. Dann wieder [440] phantastische Thiergestalten im Kampf mit den Wellen, ein Löwe, der sich gerade auf’s Trockene rettet und die Zähne nach einem Weibe zurückfletscht, das sich in der Todesangst in seiner Mähne festkrallte. Bewegte Gruppen schöner Weiber suchen sich vergebens mit ihren Gewändern gegen den strömenden Regen zu schützen; überall ist Flucht und Verzweiflung. Auch an räthselhaften Figuren fehlt es nicht. Tief verhüllte Priestergestalten tragen auf einer Bahre eine Schale mit heiligem Feuer, während im Vordergrunde knieende Krieger ein gekröntes, abgeschlagenes Haupt flehend zum erbarmungslosen Himmel emporstrecken. Das letzte Blatt giebt den Ausblick auf die weite trostlose Wasserfläche. Einzelne verzweiflungsvoll sich anklammernde Menschen ringen mit letzter Kraft um einen Haltpunkt; weiterhin wälzt sich dichtverschlungen ein Knäuel ungeheurer Thierleiber, schlangenumwundene Tiger, Elephanten und Giraffen, die alle vergebens nach der Arche hinstreben. Aber sie schwimmt schon ferne auf den hohen Wassern der Morgenröthe entgegen, überragt von einer majestätischen Engelsgestalt, die mit schützend ausgebreiteten Armen darauf steht.

Ich legte mit einer tiefen Trauerempfindung die Blätter wieder zusammen. Welch eine Welt ist mit diesem Geist erloschen! Und doch dürfen wir nur um uns klagen, nicht um ihn, denn das Leben hat ihm Alles geboten, was ein Mensch an Glück nur erreichen kann. Selbst die Noth der ersten Jugendzeit hat ihn früh zum Manne gehärtet und den überlegenen Geist in ihm gereift. Mit dem Eintritte in Cornelius’ Schule ging sein Glücksstern auf; er nahm erst als Schüler im Kreis fröhlicher Genossen, dann bald als Meister Theil an der durch König Ludwig wachgerufenen Kunstblüthe und ragte in kurzer Zeit als Erster unter Allem hervor. Sein äußeres Leben verlief ohne viel wechselvolle Schicksale; abgesehen von gelegentlichen Reisen und Berliner Aufenthalten zur Herstellung der Wandbilder, war und blieb er in München und zwar bildeten dort sein Haus und die Akademie die beiden Pole seiner Existenz. Aber unzählige Erinnerungen ernster und heiterer Natur knüpften sich im Laufe der Jahre an die gewohnte Umgebung, denn was von bedeutenden Menschen durch München kam, stellte sich ihm vor, und an jedem hervorragenden Ereignisse in Politik, Kunst und Geselligkeit nahm er lebhaften Antheil.

In der Gartenstraße unter hohen schattigen Bäumen steht das einfache, aber stattliche Haus, das sich Kaulbach erbaut und lange Jahre an der Seite einer edeln und schönen Frau, im Kreise blühender Kinder bewohnt hat. Die Abendstunden in diesem Kinderkreise waren für ihn eine Quelle der Erholung und Heiterkeit. Heute noch wird als Schatz und Familienkleinod ein dickes Buch aufbewahrt, dessen Inhalt, lauter Zeichnungen, Abends beim Märchenerzählen als Illustration für die Kleinen entstanden ist. Es ist ein bunter Reichthum von reizenden und schalkhaften Arabesken, traumhaften Märchenfiguren und den Portraits der kleinen Eigenthümer in allerhand komischen und tragischen Situationen. Seit Jahren sind diese allerdings schon groß, und so hat sich das Buch auf die zweite Generation vererbt, die in dem schönen Hause und Garten den Großvater nicht minder lustig umtobte als dereinst ihre Eltern.

Wer einmal die Schwelle dieses rothen Hauses als Gast überschritten hat, wird die darin verlebten Stunden nicht mehr vergessen. Hier war Kaulbach nur der liebenswürdige Wirth, der es schnell verstand, den Gast in die behaglichste Stimmung zu versetzen. Große und rauschende Geselligkeit liebte er in den letzten Jahren nicht mehr. Das im prächtigen Renaissancestil eingerichtete Eßzimmer, von dessen Wänden zwischen Draperien und alterthümlichen Prachtgeschirren die Bildnisse seiner Familienangehörigen und Freunde herabsehen, war unzählige Male Zeuge solcher bis tief in die Nacht hinein verlängerten fröhlichen Sitzungen bei Cigarre und Bowle. Im Sommer aber, besonders in den Reisemonaten August und September, wo auswärtige Freunde und fremde Celebritäten das gastfreie Haus aufsuchten, gab es schöne Abende in dem großen schattigen Garten, und in solcher Sternennacht, wenn da und dort in dem dichten Grün farbige Lampen schimmerten, während aus der offenen Balconthür die von Meisterhänden geweckten Saitenklänge im Vereine mit einer herrlichen Frauenstimme weit in die schweigende Runde hinauszogen, saß Kaulbach innerlich bewegt unter den niederhängenden Zweigen und lauschte der süßen Musik, die ihm wohl tausend Bilder in der Seele wachrief.

Es war Kaulbach gegönnt, in ungebrochener Kraft den Blick rückwärts auf ein langes ruhmreiches Leben zu richten und seinen Namen unter den Ersten der Nation gefeiert zu sehen. Dann hat ihn ein rascher, unvermutheter Tod aus der vollen Schaffensfreude weggenommen – sein Geist wird in seinen Werken unsterblich sein.




 Im Walde.

 (Mit Abbildung.)

Die Luft war lau; die Lerchen sangen;
Im Lenzhauch jede Knospe quoll;
Da sind wir in den Wald gegangen,
Du träumend, ich gedankenvoll.
Wir gingen Hand in Hand und lauschten,
Wie abendlich die Wipfel rauschten,
Und sprachen kaum ein Wort dazu.
Doch als, von süßem Bann gebunden,
Sich heimlich Blick und Blick gefunden,
Da sprach ich keck das erste Du.

Am Buchenstamm sind wir gesessen;
Ich wand Cyanen Dir in’s Haar
Und küßte Dich und sprach vermessen:
„Nun bist Du mein auf immerdar!“
Da bebtest Du – ich trank die Kunde,
Wie Du so lieb mich hast, vom Munde,
Vom Munde Dir, mein schüchtern Kind;
Ich schloß Dich fest in meine Arme,
Und Liebesworte, innig warme,
Vertrauten wir dem Abendwind. – –

Daß ich die Stätte wiederfinde,
Wo Du für’s Leben wurdest mein,
Grub tief ich in die Buchenrinde
Ein Herz und unsre Namen ein.
– Wie ging so schnell der Tag zur Neige!
Ein Rauschen noch in dem Gezweige –
Und jeder Klang im Wald verscholl.
Es brach die Nacht herein so milde;
Wir gingen heimwärts durch’s Gefilde,
Der freudigen Erkenntniß voll:

Es ist kein Kleinod so voll Segen,
Es macht uns nichts so frohgemuth,
Als in der tiefsten Brust zu hegen
Getreuer Liebe köstlich Gut.
Sie kommt herab auf unsre Pfade,
Wie Lebenstrost, wie Gottesgnade,
Oft ungeahnt, mit leisem Schritt;
Sie läßt der Freude Ströme rinnen
Durch die entzückte Brust tief innen
Und bringt uns ew’ge Jugend mit.

 Ernst Ziel.




Die Obstkammer Berlins.


Magdeburg! Eine Viertelstunde Aufenthalt! Nach Verlauf derselben dampft der Zug weiter berlinwärts. Von Magdeburg an, sagen wir uns, hört die Natur und ihre Poesie auf; aus der Region der Zuckerrübe kommen wir in die des Sandes und der Kiefern, wo still die Kartoffel blüht und das Tauchen des Wasserhuhns die einzige Bewegung in der Natur ist, in jene Gegend, die schon seit allen Zeiten als des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse verschrieen und verhöhnt war, in die Mark Brandenburg. Selbst der Bahnzug will der ihm drohenden Langeweile sobald wie möglich entfliehen; die Locomotive [441] beginnt durch die weite Ebene wie toll dahin zu rasen, und wir drücken uns in eine Ecke des Coupés und beginnen recht sanft zu schlafen – etwa zwei Stunden lang, dann werden wir durch einen kräftigen Ruck des Waggons aufgerüttelt; halb schlaftrunken noch, werfen wir einen Blick rechts durch das Fenster des Waggons, und ein Ausruf des Erstaunens, der Ueberraschung, ja des Entzückens entfährt unsern Lippen. Vor unsern Augen breitet sich eine weite seeartige Wasserfläche aus – wir sind am Ende des Juni – der Himmel ist sonnenblau, aber das Azurblau desselben ist blaß gegen die tiefe Ultramarinfarbe des immensen Wasserspiegels, dessen glatte, nur hier und da von einem Luftzug gekräuselte Fluth die hoch im Aether stehende Sonne an verschiedenen Stellen mit ihrem flüssigen Golde färbt. Das Gold und das Blau fließen ineinander und gehen in der Ferne in einen Silberton über, in welchem Wasser, Horizont und Luft verschwimmen. Sanfte Hügelwellungen steigen rings aus der Fluth empor und grenzen dieselbe in zwei weiten Halbkreisen wie eine Bucht von dem übrigen Spiegel ab, der sich vorwärts auf Stunden weit ausbreitet. Diese Erhöhungen sind mit dichtem Grün bedeckt; es ist nicht die düstere Farbe der Kiefern, auch nicht das Grün des Buchen- oder Eichenwaldes: es sind Obstbaumpflanzungen, die sich ununterbrochen über das ganze Hügelterrain fortziehen; auch nicht ein einziges kahles Fleckchen ist zu erblicken. Mitten aus der blauen Bucht hebt sich eine Insel in einer sanften Erhöhung empor; mit derselben entsteigen der glatten Fluth menschliche Wohnungen; hart am Ufer liegen in malerischer Gruppirung Fischerhütten, erkennbar an den davorliegenden Kähnen und den aufgespannten Netzen; weiter nach der Höhe hin tauchen aus den niedrigen rothen Ziegeldächern stattliche Giebelhäuser aus rothen Ziegelsteinen empor; und auf der Spitze des mitten aus der runden Buchtung auftauchenden Eilandes erhebt sich, die Menschenwohnungen weit überragend, eine gothische Kirche, die ihre spitzen Thürme und Thürmchen mit dem reichen steinernen Laubwerke und dem von den Sonnenstrahlen vergoldeten Kreuze wie eine stille Hymne in den goldenen Aether emporhebt. Sind wir noch in einem Traume befangen, haben die Bilder der Gegenden, in denen wir noch vor zwei, drei Tagen geweilt haben, sich so mächtig an unserer Phantasie erwiesen, daß sie plötzlich in frischer Lebendigkeit hier vor uns aufsteigen?

Unser Blick ist nicht mehr schlaftrunken; das wie eine Fata Morgana vor uns aufsteigende herrliche Landschaftsbild hat ihn plötzlich erhellt, und unmittelbar rechts und links von unserem Waggon schauen wir in die üppigste Vegetation. Aus dem tiefgrünen Laube blinkt die große braune Kirsche; fast der ganze Boden ist mit Erdbeerpflanzen bedeckt; an den Mauern und Bretterwänden sehen wir Aprikosen-, Pfirsich- und Weinspaliere. Zwischen den Obstbäumen ziehen sich noch dichte Himbeer- und Johannisbeerhecken durch; Alles wuchert und grünt, blüht und reift, und wo der Himmel nur irgend einen Sonnenstrahl hindurch läßt, da hat die Menschenhand einen Baum gepflanzt, daß die Himmelsleuchte durch Licht und Wärme sich zu Früchten gestalte und den Menschen zu einem köstlichen Genusse werde. Es ist eine Entfaltung der Natur, wie man sie nur im Süden kennt; es ist ein Landschaftsbild, das man an jedem andern vom Himmel gefallenen Fleck Erde vermuthete, nur nicht hier in der Mark.

Aber sind wir auch in der Mark?

Gewiß. In einer Viertelstunde sind wir in Potsdam, in drei Viertelstunden in Berlin.

Und wie heißt die Insel, die dort im See liegt?

Es ist kein See – es ist die Havel, und der Ort heißt Werder und bedeutet einen von Wasser umflossenen Ort. Der Name ist also deutsch; jedenfalls ist aber anzunehmen, daß, wie so viele Orte in der Nähe des Inselstädtchens, auch dieser einen slavischen Namen getragen habe. Die Kirche hat in der Mark mit den slavischen Elementen aufgeräumt; ihr war die schwierige Arbeit beschieden; ihr gehören die großen Erfolge der Germanisirung dieser Gegenden, und sie mag auch den slavischen Namen der Halbinsel in den deutschen umgewandelt haben. Bereits im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts war Werder im Besitze des benachbarten Klosters Lehnin und blieb es bis zur Reformation. Da nahm Joachim der Zweite von Brandenburg, wie so viele andere deutsche Fürsten, den geistlichen Herren die große Mühe, so viel Land und Leute regieren und verwalten zu müssen, bereitwilligst ab und setzte sich in Besitz der Klostergüter, die aus vierundzwanzig Dörfern und so und so viel Vorwerken bestanden. Nun wurde Werder kurfürstliches Domanialgut, aber es blieb immerhin ein ziemlich unbedeutender Flecken bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein, wo für den aus achtzehn Bürgern (Hüfern) und achtundzwanzig Kossäthen (Halbbürgern) bestehenden Ort eine Zeit des Aufblühens anfing.

Bald nach dem Antritt seiner Regierung begann Friedrich Wilhelm der Erste, der Vater Friedrich’s des Großen, jene bauliche Neugestaltung der Residenz Potsdam, die später sein großer Sohn bis zum Ende seiner Regierung vollendete. Er machte den Anfang mit dem sogenannten holländischen Viertel, mit Häusern, wie sie damals an den Grachten der holländischen Städte zu sehen waren, von rothen Ziegelsteinen mit weißen Steineinfassungen um Thüren und Fenster. Durch den großen Bedarf an Baumaterial entstanden auf der Werder’schen Feldmark die ersten Ziegelbrennereien und legten so den ersten Grundstein zu einer Industrie, die sich bis heutigen Tages bei der in Berlin herrschenden Bauwuth zu einer erstaunlichen Höhe emporgeschwungen und die schon damals in verhältnißmäßig kurzer Zeit dem kleinen Orte zu einer Zunahme an Einwohnern und zu einem gewissen Wohlstande verholfen hatte. Aber der Lehmboden war es nicht allein, aus dem eine so wichtige Existenzquelle für das Städtchen geschaffen wurde; Werder bekam auch noch eine Garnison und zwar einen der merkwürdigsten Truppentheile, die wohl je in einer Armee existirt haben. Friedrich Wilhelm der Erste hatte das Leib- oder Königsregiment errichtet, jene Riesengarde, welche die Bewunderung Europas erregte und für die in der ganzen Welt die längsten Menschenkinder geworben oder eingefangen wurden. Was für ein weibliches Herz die Brillanten sind, das waren für ihn seine langen Blauröcke.

Er war ein frommer Mann; aber wahrscheinlich konnte er sich auch den lieben Gott nicht anders vorstellen, als in der Uniform seines Riesenregimentes und von wenigstens sechs Fuß Länge. Im Regimente waren Franzosen, Italiener, Spanier, Portugiesen, Ungarn, Croaten, Polen, Böhmen, Engländer, Russen, Türken, Schweden, ja selbst Aethiopier. Die Grenadiere waren nicht in großen Casernen vereinigt, sondern in Bürgerhäusern untergebracht; diese Häuser ließ der König den Bürgern mit der Verpflichtung bauen, so und so viel Mann dafür aufzunehmen, für sie zu kochen, zu scheuern, überhaupt alle Handreichungen des häuslichen Lebens zu verrichten. Kein Soldat durfte Handarbeit verrichten, und Alles, was er brauchte, mußte ihm von der Wirthin geholt werden.

Nach Werder verlegte Friedrich Wilhelm der Erste hundertfünfzig Mann des Regimentes, namentlich junge Leute. Hier hatte er für sie ebenfalls Wohnungen wie in Potsdam bauen lassen; hier konnten sie nicht desertiren. Das war bei einer Truppe, die nur durch den sclavischen Gehorsam und durch die Furcht vor der allerdings grausamen Strafe zusammengehalten wurde, beständig zu gewärtigen. Die sächsische Grenze lag in der Nähe, und hatte dieselbe Einer erreicht, so war er frei von allen Fesseln, mit denen ihn hier eine eiserne Disciplin gefangen hielt. Potsdam war ein militärisches Kloster und Werder seine Filiale. Wer hier eintrat, für den war die Hoffnung zu Ende, für den gab es keine andere Aussicht mehr, als etwa die auf ein Grab des Garnisonkirchhofes. Hier regierte nur das Reglement, der Stock, die Disciplin. Exerciren und Wachtdienst thun, damit ward das ganze Leben hingebracht, und den übrigen leeren Raum füllte eine ungeheure Monotonie. Dabei befanden sich materiell die Leute noch in einer günstigen Lage. Sie wohnten gut; sie waren vortrefflich verpflegt; manche, namentlich Leute von Stande, bekamen bis zu zwanzig Thalern monatliche Zulage; sie waren nicht mit übermäßigem Dienste geplagt; sie trugen eine prächtige Uniform – aber alle diese Vortheile, was waren sie für elende Nothbehelfe für den Athem der Freiheit, nach dem selbst die stupideste Menschenseele ringt, wenn er ihr fehlt, für jenen Drang der Selbstbestimmung, der sich sagt: „Ich bin ich mit allen Kräften meines Lebens, mit allem Willen meiner Seele; ich bin ich und kein Anderer, und wenn ich mich einem äußeren Gesetze unterwerfe, so thue ich es mit vollem Bewußtsein meiner Freiheit, meiner Einsicht und des Pflichtgefühls, das die Unterwerfung des Einzelnen unter das Ganze fordert.“ Erst eine spätere Zeit allerdings [442] verlieh dem Individuum diese stolze und würdige Sprache; sie war unter Friedrich Wilhelm dem Ersten nicht an der Zeit; sie war es auch noch nicht unter seinem großen Sohne; was militärische Disciplin anbelangt, so hielt dieser die Zügel noch straffer, als es sein Vater gethan hatte. Er hatte aus dem Stamme des Lieblingsregiments seines Vaters und aus dem Regimente, dessen Chef er als Kronprinz war, ein Garde-Grenadierbataillon gebildet. Das Bataillon, etwa achthundert Mann stark, war eine von aller Berührung mit der übrigen Garnison in sich abgeschlossene Truppe; es waren ihm für seinen Bezirk gewisse Straßen der Stadt angewiesen, und diese durfte kein Grenadier ohne Paß verlassen. In das Freie gelangte er nur dann, wenn er zum Exerciren marschirte. Diese Soldaten waren die Prätorianer der preußischen Armee, und wenn sie nicht in Reihe und Glied standen, so war ihnen jede Freiheit, ausgenommen die, ihren Bataillonsbezirk zu verlassen, ja selbst jede Unart erlaubt. Um sich die tödtliche Langeweile zu vertreiben, schlugen sie auf der Straße Ball, führten sie dramatische Vorstellungen auf, tanzten, predigten, musicirten, stellten sie Maskeraden an.

Sie durften nicht verheirathet sein, aber wenn einem Grenadier auf der Straße ein Mädchen begegnete und sie ihm gefiel, so brauchte sich der Betreffende nur bei dem Commandeur seiner Compagnie zu melden und sich einen Zettel geben zu lassen des Inhalts: „Der Grenadier N. N. hat die Erlaubniß, die X. X. als Geliebte zu sich zu nehmen.“ Dann mußte – sehr bezeichnend für die damalige brüske Militärwirthschaft – das Waisenhaus seinen weiblichen Zögling, der Wirth sein Dienstmädchen hingeben, so lange es dem Grenadier gefiel, sie bei sich zu behalten; nachher lieferte er sie wieder zurück. Die Kinder, die einer solchen an’s Mormonenhafte erinnernden Verbindung entsprossen, wurden in das Waisenhaus geschickt. Nicht selten aber kam es auch vor, daß derartige Verhältnisse durch das ganze Leben dauerten.

War einer dieser Grenadiere wegen Alters oder wegen Gebrechlichkeit dienstunbrauchbar geworden, dann wurde er nach Werder versetzt. Die Havelinsel war das Invalidenhaus dieses Garde-Grenadierbataillons; hier bezogen die Ausrangirten die Wohnungen, die schon Friedrich Wilhelm der Erste für seine Riesen hatte erbauen lassen Der Gemeine bekam monatlich vier Thaler Tractament und für jede Bataille, die er mitgemacht hatte, einen Thaler Zulage, und auch Montur, aber nicht die reiche des activen Soldaten. Vom Dienste war er nicht ganz befreit. Es waren dreihundert Invaliden hier versammelt, und an schönen sonnigen Tagen saßen sie vor den Häusern des Städtchens in Gruppen beisammen und erzählten sich wohl von der Affaire bei Collin, wo das Bataillon von der sächsischen Cavallerie fast niedergehauen, und doch nicht gewichen war; von der Schlacht bei Mollwitz, wo es zwölfmal mit Pelotons in eben der Ordnung wie auf dem Exercirplatze gefeuert hatte, und wie der König das Gedächtniß dieses Tages immer dadurch feierte, daß er die Mannschaft ausrücken und weiter nichts machen ließ, als zweimal mit Peloton chargiren, und wie er dabei zu sagen pflegte: „So machten es Eure Vorfahren bei Mollwitz.“ Dann mag auch wohl in diesen Tagen des Abschieds vom Leben im Herzen die Sehnsucht nach Heimath und Freiheit wieder aufgewacht sein, bis dann ab und zu über den stillen Wasserspiegel Pelotonfeuer wie bei Mollwitz ertönten, zum Zeichen, daß Einer der Tapferen in sechs Fuß Erde die Heimath und die Freiheit gefunden habe, die kein Friedrich der Große ihm vorenthalten konnte.

Nun sieht man keinen Veteranen mehr, gebeugt von des Lebens Last, mühsam auf den Straßen dahinhumpeln. Nur noch der Garnisonkirchhof erinnert an den Militärdespotismus des achtzehnten Jahrhunderts. Man kann nicht leugnen, daß dieses Invalidencorps für den Ort und seine Einwohner eine bedeutende Einnahmequelle war, aber eine jener trügerischen, die in einer vorübergehenden Institution und deren Zeitperiode, und nicht in natürlichen Verhältnissen wurzeln, und wodurch die Einwohner jedenfalls abgehalten wurden, die Kraft und den Reichthum, der in ihrem namentlich für die Zucht edler Obstsorten sich eignenden Boden beruht, zu erkennen und auszunutzen.

Das ganze Terrain um Werder ist Obstpflanzung. Acker- und Wiesenland ist nur wenig vorhanden. Wenn ein Einwohner auch nur einen kleinen Hof besitzt, so kann man gewiß sein, daß er denselben zur Hälfte zur Obstzucht benutzt. Der Boden, wenn auch vorzugsweise nur aus Sand bestehend, ist für diese Cultur vorzüglich geeignet, namentlich aber möchte die durch den großen Reichthum an Wasser erzeugte Feuchtigkeit der Luft das Geheimniß enthüllen, daß hier in geschützten Lagen die edelsten Fruchtarten gedeihen, und zwar in einer Form, einem Wohlgeschmacke, wie solche sonst nur den Früchten des Südens eigen sind. Früher baute der Werderaner ausschließlich Wein, aber diesen Zweig des Obstbaues beginnt er in neuester Zeit fast ganz ausgehen zu lassen; die ungarischen Trauben, die gegenwärtig in Masse nach Berlin geführt werden, machen ihm zuviel Concurrenz, und da der Ertrag in Anbetracht der Mühe und Kosten zu unsicher ist, so giebt er sich vorzüglich mit der Kirschen- und Erdbeercultur ab. Er bringt auch Aprikosen, Pfirsiche, Birnen, Aepfel, Pflaumen hervor – von letzteren aber nur die Edelpflaume; die gewöhnliche blaue Pflaume gedeiht um Werder nicht –, Kirschen und Erdbeeren sind dagegen fast ausschließlich seine Domäne. Diese liefert Werder in ausgezeichneter Qualität. Aber wie mühen sich die Leute im Schweiße ihre Angesichts auch ab, um diese herrlichen, saftigen Früchte zu erzeugen! Schon im Februar, sobald der Schnee geschmolzen, beginnt in den Obstgärten die Arbeit, die Bäume mit Dünger zu umlegen, sie von Moos zu reinigen, den Boden zu schurfen und zu lockern, und namentlich den gefährlichsten Feind des Obstbaumes, die Wickelraupe, zu entfernen, und das geht so den ganzen Frühling und Sommer fort, kaum daß in dieser Jahreszeit der Sonntag den Leuten einige Ruhestunden bringt. Es ist ein unablässiges Ringen mit der Natur, um dem Boden seine kostbarsten Gaben abzugewinnen. Die Blüthezeit der Kirschen und Erdbeeren ist eine Existenzfrage für den ganzen Ort. Sind die vierzehn Tage dieser Blüthekrisis glücklich vorüber, dann herrscht Jubel und Freude unter den Einwohnern, dann ist die Ernte auch gesichert, dann kommt aus Berlin der Segen des Mansfelder Bergbaues in reicher Fülle, dann braucht man für den Winter nicht weiter zu sorgen, dann werden nach sauren Sommerwochen frohe Winterfeste gefeiert und Musik und Tanz hören in dem Städtchen den ganzen Winter gar nicht mehr auf.

Dort in der Ferne zeigt sich ein schwarzer Punkt; derselbe kommt näher und näher, wächst und nimmt vor unsern Augen die Gestalt eines Dampfschiffes an, durch dessen Schornstein dicke Rauchwolken in den reinen Aether emporsteigen. So wie der Dampfer in Sicht der Kirche ist, dröhnt über das Wasser ein Böllerschuß. Das ist das Zeichen, daß der Obstdampfer, der durch gemeinsame Mittel der Einwohner angeschafft worden ist, von Berlin zurück ist und daß man sich in den Bergen und Obstgärten sputen möge. Es ist jetzt drei Uhr, um sechs Uhr Abends muß die neue Obstfracht eingeladen sein. Um diese Stunde geht der Dampfer wieder nach Berlin zurück. Nun wird es rings in den Geländen, in den Gärten auf den Wegen und Straßen, die auf die Landungsbrücke führen, lebendig von Karren und Wagen, die mit Hunden, Kühen, Pferden und Menschen bespannt sind, und die alle nach der Brücke sich bewegen; nun thürmen sich dort die Tienen, die kleinen hölzernen Gefäße, in welche das Obst verpackt ist, von Viertelstunde zu Viertelstunde auf; nun sind Hunderte von Händen beschäftigt, dieselben, deren Zahl im Anfang Juli oft bis auf zehntausend steigt, in die beiden durch Dampfkraft gezogenen Schleppkähne einzuladen. Um sechs Uhr ist Alles fertig, jede einzelne Tiene im Bureau gebucht; die Männer, die Waare auf dem Schiffe haben, kehren zu ihrer Arbeit in den Obstgärten zurück, die Weiber dagegen folgen ihren Tienen nach Berlin. Mit einem Kofferchen mit Lebensmitteln und mit einem Kopfkissen unter dem Arme quartieren sie sich bei gutem Wetter auf dem Verdeck des Dampfschiffes ein; sobald aber die Sterne aufziehen oder Regen eintritt, suchen sie die Cajüte auf, wo sie übernachten. Gegen Morgen vier, fünf Uhr läuft das Dampfschiff in den Humboldtshafen von Berlin ein; die Schleppkähne werden abgehakt und nach der Friedrichsbrücke weitergeschoben. Dort ist die Börse für den Obsthandel; dort empfangen die Berliner Höker die neue Waare, und wenn wir, in Berlin angekommen, am nächsten Tag ein gutes Diner machen und man uns zum Dessert Kirschen und Erdbeeren servirt, dann können wir sicher sein, daß es Früchte aus der märkischen Isola Bella sind.

Georg Horn.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. * Bekanntlich die zwei gangbarsten Sorten Pfeifenköpfe.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: einhundertsechszig- bis zweimalhunderttausend. vergl. Berichtigung (Die Gartenlaube 1874/29)