Die Gartenlaube (1879)/Heft 31

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 31. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Donna Mercedes wartete vergebens auf ihr Wiedererscheinen; sie hörte nur, wie sich rasche Schritte drüben immer weiter von der trennenden grünen Wand entfernten und auf den geradlinigen Weg einbogen.... Ihr war seltsam zu Muthe. Nun hatte sie der Mutter ihres Bruders Auge in Auge gegenüber gestanden – sie hatte stets bitteren Haß gegen dieses tyrannische Weib gefühlt, und seit sie das Klosterhaus gesehen, aus welchem ihres Vaters erste Frau stammte, hatte sich jener Empfindung auch der Abscheu vor gemeiner Berührung beigemischt. Diese Vorstellung war jetzt versunken vor der herrlichen, stolzen Matronenerscheinung, die sie eben gesehen. Sie begriff vollkommen, daß diese Frau die Jugendliebe Major Lucian’s gewesen; sie verstand jetzt den letzten heißen Wunsch ihres Bruders, die Mutter zu versöhnen und in ihrem Herzen Liebe für seine Waisen zu erwecken.... Mochte jene auch äußerlich unzugänglich und starr erscheinen – tief in ihrer Seele lag doch verborgene Gluth, der schlimmste Feind, mit dem sie zu kämpfen hatte, eine wahre Geißel, welche die Natur der Tochter der Wolframs mitgegeben; gerade diese Gabe hatte sie zu dem gemacht, als was sie erschien, zu der Unerbittlichen, die ihrem Herzen, als schlechtem Rathgeber, mißtraute und consequent seine Einflüsterungen verwarf.... Donna Mercedes fühlte einen geheimnißvollen Zug – in dieser Natur lag eine gewisse Verwandtschaft mit der ihrigen.... Aber – seltsames Räthsel! – dieselbe Frau, die gewaltthätig in das Schicksal der Ihren eingegriffen, die ein Zurückweichen nie gekannt, sie war eben vor einer boshaften kindischen Drohung geflohen.

Die Schritte drüben gingen auf das Hinterhaus zu und mochten wohl der Thür nahe sein, als diese aufgestoßen wurde. Eine starke, tiefe Männerstimme – dann ein kurzes, hartes Auflachen, so hämisch, so verletzend, daß es selbst die unbetheiligte Zuhörerin reizte.

Die Majorin aber schien ihre Haltung wieder gewonnen zu haben. „Bin ich Deine Gefangene, Franz?“ hörte Donna Mercedes sie fragen. „Oder wollen wir in unseren alten Tagen noch Vormund und Mündel spielen? – Lasse mich! – Darf ich nicht nach dem fremden Kinde fragen, das durch unsere Schuld krank geworden ist?“

Damit ging sie in das Haus. Die Thür wurde zugeschlagen – in Nachbars Garten regte sich nichts mehr.

Donna Mercedes verließ ihren Posten. Wie traumbefangen, von völlig neuen Gedanken und Empfindungen bestürmt, wanderte sie noch einige Male in der Allee auf und ab und schlug dann den Weg nach dem Säulenhause ein.

Es dunkelte stark. Aus den weißen Lampenkugeln der Flurhalle strömte blendendes Licht und fiel auch aus der weitoffenen Thür wie ein breiter, glänzender Teppichstreifen über die Stufen der Freitreppe draußen. – Donna Mercedes wollte eben den Fuß auf die unterste Stufe setzen, als sie durch die entgegengesetzte, gleichfalls offene Hausthür eine Dame in den Flurraum treten sah, der alsbald eine zweite folgte.

Angesichts der zuerst eintretenden Gestalt schrak sie unwillkürlich zusammen; schattenhaft lang, schmal und grau, geräuschlos wie auf nackten Sohlen und ein gespenstisch fahles Gesicht forschend nach allen Seiten hinwendend, so glitt sie herein; es war, als schwebe der Hausgeist des alten Schillingshofes Musterung haltend durch die Halle. Aber diese geisterhafte Erscheinung hatte eine sehr menschliche Stimme von nervöser Gereiztheit.

„Mein Gott, wie bettelhaft ist das Entrée!“ sagte sie in weinerlichen Tönen. „Die Thüren weit offen wie in einer Schenke, und kein Diener zu hören noch zu sehen!... Ich bitte Dich, Adelheid“ – wandte sie sich zurück nach der andern Dame, die eben mit sichtlichem Unwillen einige Strohhalme von ihrer schwarzen Schleppe schüttelte – „ziehe die Thürglocke, aber so stark Du kannst!“

Die Dame im schwarzen Kleide trat wieder hinaus in die Säulenhalle und that wie ihr geheißen – die Glocke gab keinen Laut von sich.

Die Dame in Schwarz bog in den nach Süden laufenden Corridor ein. „Robert, wo stecken Sie?“ rief sie mit gebieterischer Stimme in das Souterrain hinab.

Die vollklingenden Laute schienen eine wahrhaft elektrisirende Kraft zu haben. Polternde Füße stürzten die Souterraintreppe herauf, und der Bediente Robert, hinter sich den Gärtner, den Hausknecht und den Stallburschen, erschien athemlos in der Flurhalle.

„Verzeihung, gnädiges Fräulein,“ stammelte er; „ich war nur für einen Augenblick in die Küche gegangen, um einen Schluck Wasser zu trinken.“

Er schritt vor und verbeugte sich tief vor der grauen Tante, die unbeweglich inmitten der Flurhalle stehen geblieben war. „Gnädige Frau Baronin kommen völlig unerwartet; wir – “

Sie unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. „In welchem verwahrlosten Zustande finde ich mein Haus!“ sagte sie, in ihre vorhin so aufgeregte Stimme nunmehr die Kälte der Gebieterin legend. „Ist der Schillingshof ein Gasthaus, daß die Thürflügel angelweit offen stehen? – Die Thürglocke ist [514] eingerostet; im Vorgarten brennt kein Gas – und was soll das Stroh auf den Wegen?“ wandte sie sich an den Gärtner und hob als Beweismittel, unter Zeichen ihrer inneren Empörung, den mit Strohresten garnirten Kleidersaum leicht von der Fußspitze. – „Seit wann wird die Streu für die Stallungen durch Vorgarten und Flurhalle geschafft?“

Die graue Gestalt mußte den erstarrenden Blick der Klapperschlange haben; denn der angeredete Mann stand da wie gelähmt – er brachte kein Wort zu seiner Vertheidigung über die Lippen. Der Bediente Robert war resoluter.

„Dafür können wir Dienstleute nicht, gnädige Frau Baronin,“ sagte er achselzuckend. „Mit Erlaubniß zu sagen, wir ballen selbst die Hand in der Tasche über die polnische Wirthschaft, die wir nun seit so und so viel Wochen im Schillingshof mit ansehen müssen. Die Hausthür hat der einfältige Bäckerjunge, der die Abendsemmeln gebracht hat, wieder einmal offen gelassen; zuschließen darf man ja nicht, weil die Zugglocke – nicht verrostet, wie gnädige Frau Baronin denken – sondern einfach abgenommen ist. Das Gas draußen brennt nicht; die Brunnenröhren sind zugeschraubt, und das Stroh liegt auf den Wegen – kurzum, die ganze heillose Wirthschaft ist nur um deswegen, weil der fremde kleine Junge den Typhus oder so etwas Aehnliches gehabt hat.“

Donna Mercedes fühlte das lebhafteste Verlangen, hervorzutreten und der Dame zu sagen, daß die Krankheit des Kindes nicht der Typhus, überhaupt keine ansteckende gewesen sei; trotzdem blieb ihr Fuß wie festgewurzelt stehen, und instinctmäßig bog sie ihre Gestalt aus dem herausfallenden Licht, das sie streifte. Nein, die erste Begegnung mit der Herrin vom Schillingshof durfte nicht in Gegenwart der gehässigen Domestiken stattfinden. Ob sie es überhaupt je über sich gewinnen würde, dieser Frau mit Worten der gebührenden Höflichkeit, des Dankes für die gewährte Gastfreundschaft zu nahen? – Etwas Abstoßenderes an Gestalt und Wesen, an Linien und Ausdruck, wie diese Heimkehrende mit dem unkleidsamen, grauumschleierten Glockenhut über dem langen, hager zugespitzten, farblosen Gesicht ließ sich nicht denken. Und die Stimme, dieses Gemisch von weinerlicher Bosheit und schneidender Impertinenz berührte sie unsagbar antipathisch.

„Typhus?!“ wiederholte die Baronin und fuhr mit dem Taschentuch durch die Luft – Donna Mercedes sah eine Röthe wie in Folge eines heftigen Erschreckens über ihr Gesicht hinfliegen „Ich will doch nicht hoffen, daß der Baron während dieser Zeit hier im Hause geblieben ist?“

Die Leute sahen sich scheu an.

„Der gnädige Herr kennt keine Furcht; er ist Tag und Nacht in der Krankenstube geblieben und hat das Kind gepflegt, als wenn’s ein – eigenes wäre,“ versetzte der Bediente mit dem Gesicht und der Haltung eines echten Duckmäusers.

Ein zornmüthiges Lächeln entblößte flüchtig die großen weißen Zähne der Dame; sie sah ihre Reisebegleiterin an, welche den Blick mit einem gleichgültigen Achselzucken erwiderte.

„Wundert Dich das, Clementine?“ fragte sie kalt.

Die Baronin antwortete nicht. Sie schob mit der Spitze ihres Sonnenschirmes einen Strohhalm von ihrer Rockgarnirung.

„Ist das Kind noch krank?“ fragte sie mit einem halben Aufblick nach dem Bedienten.

„Ja wohl, gnädige Frau – an ein Aufstehen ist noch lange nicht zu denken.“

„Mein Gott, wie verdrießlich! Ich habe entschieden keine Lust, die verpestete Krankenluft zu athmen. Sorgen Sie dafür, daß sofort Kohlenbecken mit Räucherung hier in der Flurhalle aufgestellt werden!... Wo ist der Baron?“

„Der gnädige Herr ist heute Nachmittag mit dem Fünfuhrzuge nach Berlin gereist,“ rapportirte er so prompt und eilig, als habe er schon längst auf diese Frage gewartet; er rieb sich vor innerer Genugthuung heimlich die Hände.

Hatte er gehofft, seine Herrin werde vor Ueberraschung die Fassung verlieren, dann war er im Irrthum gewesen. Sie hatte seine Bewegung sehr wohl bemerkt und verzog keine Miene, wenn sie auch abermals die Farbe wechselte. Wieder richtete sie den Blick auf die schwarze Dame. Lucile hatte stets behauptet, die Baronin habe glanzlose, todte Augen; das war falsch – es glomm im Gegentheil ein intensives Feuer in den grauen Sternen; sie flackerten unruhig wie Irrlichter unter den halbgesunkenen, dünnen Augenlidern.

„Erinnerst Du Dich, im letzten Brief etwas über diese Abreise gelesen zu haben, Adelheid?“ fragte sie ihre Reisebegleiterin anscheinend gelassen.

Die Dame schüttelte den Kopf.

„Ach, gnädige Frau Baronin, das ist wohl auch nicht gut möglich!“ wagte der Bediente einzuwerfen. „Heute Morgen hatte noch Niemand im Hause auch nur die blasse Ahnung von der Berliner Reise – die Sache hat sich ganz schnell gemacht. Das ist jetzt immer so bei uns, gnädige Frau. Vor ein paar Tagen ist auch die eine fremde Dame so schnell und heimlich nach Berlin abgereist, als ob – ja wirklich und wahrhaftig so ist’s gewesen – als wäre sie durchgebrannt.“ Die letzten Worte sprach er im halben Flüsterton wobei er scheu nach dem hinter der nördlichen Zimmerflucht hinlaufenden Corridor schielte.

Jetzt hatte er doch einen empfindlichen Nerv getroffen. Die Baronin fuhr empor. Ihre zusammengesunkene Haltung wandelte sich im Nu in eine stolzaufgerichtete; hastig fuhren die schlanken Finger prüfend nach der Hutschleife unter dem Kinn ob sie noch fest sitze; die Strohhalme wurden von der Schleppe geschüttelt; der Schleier wurde über das Gesicht gezogen.

„Wir fahren mit dem Neunuhrzuge nach Berlin,“ sagte sie kurz, aber mit fieberischer Aufregung in jedem Ton, zu ihrer Reisebegleiterin.

„Mit nichten Clementine – Du bedarfst dringend der Ruhe – wir bleiben hier,“ versetzte die Dame mit Mentormiene.

„Ruhe?“ lachte die Baronin. „Ich will reisen, und zwar sofort.“

Die schwarze Dame antwortete nicht. Sie trat der Baronin nur näher und griff nach einem großen, goldenen Kreuz, das auf der Brust derselben funkelte.

„Sieh da, Clementine!“ sagte sie. „Um ein Haar konntest Du Dein Kreuz unterwegs verlieren – es hängt nur noch lose in der Schleife. Was würde unsere liebe Frau Aebtissin zu diesem Verluste gesagt haben? Sie hat Dir das Erinnerungszeichen mit eigenen Händen umgehangen.“

Wie ein Erlöschen ging es über das aufgeregte Gesicht der Baronin; sie senkte den Kopf und zog maschinenmäßig das Kreuz an die Lippen, dessen Band ihr die andere Dame im Nacken fester knüpfte.

„Gehe Sie rasch hinauf und legen Sie einen bequemen Schlafrock für die Frau Baronin zurecht!“ befahl die letztere, sich nach der Kammerjungfer umwendend, die indessen, mit Reise-Effecten beladen, in die Flurhalle getreten war. „Die Birkner soll sogleich die Appartements droben aufschließen – wo ist sie?“

„Hier, gnädiges Fräulein!“ rief die Wirthschaftsmamsell, um die Corridorecke biegend, mit einem tiefen Knix. „Ich komme eben von oben; es ist Alles in Ordnung. Ach, was für ein Glück! Gerade heute habe ich die Zimmer der gnädigen Frau Baronin reinigen und tüchtig lüften lassen.“

„Wie – so werden meine Befehle respectirt?“ fuhr die Baronin empor. „Habe ich nicht ausdrücklich befohlen, daß während meiner Abwesenheit Niemand – ich sage Niemand meine Gemächer betrete? Nun wird man sich breit gemacht haben in meinem Eigenthum – ich konnte mir das denken!“

„Aber wer sollte denn so dreist sein, gnädige Frau?“ stotterte die Wirthschaftsmamsell. „Keine Menschenseele hat hinauf gedurft – ich hab’ die Schlüssel gehütet wie meinen Augapfel. Aber der Sturm hatte neulich die Terrassenthür aufgerissen – muß in der Eile bei der Abreise nicht ordentlich eingeklinkt worden sein – und da mußte ich nachsehen, denn das Auf- und Zuschlagen hörte gar nicht wieder auf, und der Glaser hat auch neue Scheiben einsetzen müssen. Der Staub lag fingerhoch; die Luft war dick zum Ersticken, und das war mir schrecklich.“

Sie war bei dieser von lebhaften Gesten begleiteten Auseinandersetzung näher herzugetreten. Die Baronin wich zurück. „Kommen Sie mir nicht zu nahe, Birkner!“ wehrte sie mit ausgestrecktem Arme in kindischer Heftigkeit ab, und in ihrem Gesicht dämmerte der Ausdruck wieder auf, der Donna Mercedes vorhin erschreckt hatte. – „Sie haben überhaupt von nun an in meinen Zimmern nichts mehr zu suchen – absolut nichts! Mein Haus soll und muß rein werden von diesen verpestenden Elementen –“

„Rege Dich nicht auf, Clementine!“ fiel die schwarze Dame [515] ein, und der Baronin den Arm bietend, befahl sie dem Bedienten, sogleich für das Arrangement des Theetisches zu sorgen. Damit führte sie die Herrin des Schillingshofes wie eine Pflegebefohlene durch den Corridor und die Treppe hinauf.

Die Druntenstehenden stoben aus einander. Mamsell Birkner verbarg ihr verstörtes Gesicht und die in Thränen schwimmenden Augen in ihr Taschentuch, während der Bediente Robert mit einem hämischen Lächeln an ihr vorüber in die Küche hinabrannte. Der Gärtner und der Stallbursche traten heraus auf die Freitreppe, um nach dem Stallgebäude zu gehen. Sie gingen an Donna Mercedes, welche sich an die Wand schmiegte, vorüber, ohne sie zu bemerken.

„Die muß springen!“ sagte halblaut der Gärtner, mit dem Daumen über die Schulter zurück nach der Wirthschaftsmamsell zeigend. „Die muß springen, da hilft kein Gott! Sie ist die einzige Protestantin im Schillingshofe – sie und das Hannchen. Die Beiden sind der Gnädigen immer ein Dorn im Auge gewesen, aber sie hat sich doch nicht getraut, die Leute, die der Herr beschützt, so mir nichts dir nichts aus dem Hause zu jagen. Nun ist sie aber wieder in Rom und gar im Kloster gewesen – Herr Gott, das sieht ihr ein Jeder auf hundert Schritt an. Sie müssen die Frau dort ganz rebellisch gemacht haben, und Fräulein von Riedt sieht auch aus wie ein Bild ohne Gnade – da giebt’s keine Rettung mehr für die arme Birkner.“

Sie gingen die Stufen hinab, und Donna Mercedes trat in das Haus. Ein starker Moschusduft hauchte sie an – er mochte das Lieblingsparfüm einer der heimgekehrten Damen sein. Es kam ihr vor, als sei plötzlich ein grauer Schleier über alles Licht, über den ganzen Schillingshof gesunken, als müßten die heidnischen Karyatiden vom Plafond und die Statuen eiligst aus ihren Nischen herabsteigen, um sich zu verstecken. Wie war es überhaupt möglich, daß sie bis heute ihren Platz behaupten konnten, daß die graue Schattengestalt sie nicht längst im fanatischen Eifer herabgestürzt hatte?

In dieser Nacht schloß Donna Mercedes die Augen nicht – sie suchte ihr Bett nicht einmal auf. Es bedurfte ihrer ganzen Geistesschärfe, ihrer vollen inneren Kraft, um sich über alles das, was auf sie einstürmte, emporzuarbeiten und den klaren Ueberblick zu gewinnen. Gerade jetzt galt es, auszuharren und fest auf dem Posten zu bleiben – gerade jetzt, wo vom Klostergute eine Hand – wenn auch noch scheu und widerstrebend – herübergriff und Fühlung suchte mit den Kindern des Verstoßenen.

So hatte sich Donna Mercedes, bald im Salon auf- und abwandelnd, bald in die Fensternische geschmiegt und den Blick auf das Bild des todten Bruders geheftet, gestählt und gefestet – vor Allem gegen das Heer von Anfechtungen, das sie unausbleiblich erwartete, seit sie in das Gesicht der heimgekehrten Frau vom Hause gesehen. Als die Hängelampe am Deckengebälk des Salons knisternd erlosch und ein blaßrosiger Schein den dämmernden Morgenhimmel überflog, da lag auf dem schönen Frauenantlitz der wiedererkämpfte Ausdruck rücksichtsloser Entschlossenheit.




26.

Mit Tagesanbruch wurde es lebendig im Schillingshof. Die Dienerschaft, die noch gestern auf den Zehen gegangen war, polterte treppauf, treppab und trabte mit gewichtigen Absätzen geräuschvoll über die Marmorfliesen der Flurhalle. Im Vorgarten rasselten eisernen Rechen über die Kieswege – einige Taglöhner rafften unter Anführung des Gärtners das Stroh weg, ängstlich sorgsam, auf daß auch nicht ein Halm an dem blanken Geröll hängen bleibe. Die Röhren des Brunnenmonumentes wurden auch aufgeschraubt, und brausend fuhren die so lange gefangen gehaltenen Wasserstrahlen in die sonnendurchleuchtete, blaue Morgenluft hinein.

Donna Mercedes sah vom Fenster aus ruhig und gelassen der Wiederherstellung der früheren Ordnung zu. José hatte in der Nacht prächtig geschlafen; er war frisch und sichtlich gestärkt erwacht, und das Geräusch in und außer dem Hause schien ihn nicht weiter zu behelligen. Die kleine Paula aber jubelte über die springenden Fontänen, wie über ein neues Spielzeug. Sie war nach dem Frühstück auf Tantes Lehnstuhl in der Fensternische geklettert und ergötzte sich unermüdlich an den plätschernden und zerstäubenden Wassern, denen das Sonnenlicht ein köstliches Regenbogengeflimmer entlockte.

Die Kleine sah in dem mächtigen Bogenfenster aus wie ein wirres Blumenelfchen. Mit den nackten Schultern aus dem losen, blauen Kleidchen schlüpfend, das an seinem Ausschnitt das Spitzengekräusel des Battisthemdchens sehen ließ, stützte sie die kleinen Arme auf den Fenstersims, und das Blondhaar fiel ihr volllockig in die Stirn und an den Schläfen hinab über Schultern und Rücken. Donna Mercedes stand neben ihr, im frischen weißen Morgenkleide; ihre Hand glitt mechanisch über das Lockengewoge des Kindes, während die dunklen Augen ziellos in den weiten Himmel hineinschweiften.

Da trat die Herrin des Schillingshofes in Fräulein von Riedt’s Begleitung hinter dem nächsten Buschwerk hervor. Sie war in derselben Toilette wie gestern Abend. Das goldene Kreuz funkelte ihr auf der Brust, und in den graubekleideten Händen hielt sie ein Buch von violettem Sammeteinband. Die Damen kamen jedenfalls schon aus der nahen Benediktinerkirche, wo sie ihr Morgengebet verrichtet hatten.

In der klaren, scharfen Morgenbeleuchtung erschien die Baronin fast noch abstoßender, als gestern beim Lampenlicht. – Kränklichkeit, vor Allem aber wohl ein leidenschaftliches, wenn auch mit großer Kunst verheimlichtes Naturell – wie Felix stets behauptet – hatten an diesem langgestreckten Gesicht verhäßlichend gearbeitet; die Züge waren schlaff und verwüstet, wie die einer Greisin.

Fräulein von Riedt sah abgewendet und aufmerksam über das Parterre hin, auf welchem noch die Arbeiter beschäftigt waren; die Augen der Baronin aber überflogen verstohlen die Fensterreihe der nördlichen Erdgeschoßwohnung. Einen Moment blieben diese glanzlosen Augen an dem Bogenfenster hängen, hinter dessen Scheiben die Dame mit dem Kinde stand – sie wurden weit und starr wie in plötzlicher Ueberraschung, aber fast ebenso schnell zuckte ein feindseliger Strahl herüber. Es lag etwas Duckmäuserisches in der Art, wie diese Frau den Kopf senkte und beschleunigten Schrittes weiter ging, als habe sie gar nichts gesehen.

Später kam der behandelnde Arzt, aber nicht direct von der Straße, sondern aus der Beletage – die Gnädige hatte ihn schon in aller Frühe in ihre Gemächer citirt, wie er sagte. Er war der Hausarzt im Schillingshofe – ein braver, gerader Mann, auf dessen Gesicht heute ein kaum zu unterdrückender Aerger lag. Er rieth denn auch Donna Mercedes im Laufe des Gespräches, vorläufig jede Begegnung mit der Baronin zu vermeiden; sie lasse es sich nicht ausreden, daß der Typhus in ihrem Hause sei, und zeige eine geradezu wahnwitzige Furcht vor der Ansteckung. In der Flurhalle sähe es aus, als würden den griechischen Götterbildern Weihe-Opfer dargebracht; so dampfe es in dicken blauen Wolken aus rings aufgestellten Kohlenbecken. Mit welchem sardonischen Lächeln er das sagte!

Seinen kleinen Patienten fand er in der Genesung auffallend vorgeschritten.

„Aber,“ sagte er mit aufgehobenem Drohfinger und bedeutungsvollem Nachdruck zu Donna Mercedes, „ich muß dringend bitten, daß Sie sich durch nichts, durch gar nichts bestimmen lassen, das Kind in seiner Ruhe zu stören! Ich mache Sie, gnädige Frau, für jede nachtheilige Veränderung im Befinden des Reconvalescenten verantwortlich.“

Was Alles mußte der Mann soeben in der Beletage gehört und erlebt haben! Das schien ihn jedoch nicht im Geringsten zu beeinflussen. Er hatte den kleinen Knaben sehr lieb gewonnen, und für Donna Mercedes zeigte er große Verehrung – er war liebenswürdiger als je und gestattete heute auch auf José’s Bitten endlich, daß die Tante zum ersten Male wieder auf dem Flügel spiele. Donna Mercedes setzte sich an das Instrument und schlug einige gedämpfte Accorde an. Sie war keine Meisterin; eine brillante Technik besaß sie nicht. Ihr feuriges Naturell sträubte sich gegen den Zwang des geduldigen Uebens, wie das Steppenroß gegen den Zügel, aber eine Art wilder Genialität durchglühte ihren Vortrag; sie fühlte unter den Tönen die Seelenfesseln springen.... Und deshalb hatte sie ihren Flügel mitgenommen – auf einem anderen Instrument spielte sie niemals.

Ein Freudenschimmer überflog ihr schönes, stolzes Gesicht, als sie die Finger zum ersten Mal nach so langer Entbehrung [516] wieder auf die Tasten legte. Sie spielte „Adelaide“ von Beethoven mit vorsichtigem Anschlag, in Berücksichtigung des kleinen Reconvalescenten – aber welche tiefe Innigkeit beseelte diese Klänge! „Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten“ – wie gefangen irrte ihre Seele um das exotische Gesträuch im Glashause; die Fontainen plätscherten; auf der zitternden Wasserfläche schwankte der Gloxinienkelch, und hinter der halbverhangenen Glaswand dämmerten ergreifend lebendig die Gestalten, die der eckigen Stirn des häßlichen Kopfes entstammten.

Zornig schüttelte die Spielerin das wogende Haar in den Nacken zurück und griff energischer in die Tasten, als sollten und müßten andere Melodien übertönt werden; das herrliche Instrument erbrauste in majestätischer Pracht und Tonfülle – José lauschte athemlos in seinem Bettchen, und der Arzt lehnte wie festgebannt am Fensterpfeiler.

Da wurde plötzlich die Salonthür geöffnet, rücksichtslos rasch und laut, als werde dringende Botschaft gebracht. Der Bediente Robert trat herein, aber nicht mit der gewohnten Devotion; er kehrte eine sehr dreiste Miene heraus – man sah sofort, daß dieser Mann in blanker Livrée, mit dem tadellosen Mittelscheitel und den zwinkernden Augen als Abgesandter auf ausgedehnten Vollmachten fuße.

„Meine gnädige Herrschaft läßt recht sehr bitten, nicht weiter zu spielen,“ sagte er ziemlich kurz und mit einer leichten Verbeugung. „Im Schillingshofe darf nie Musik gemacht werden; auch die Drehorgelmänner dürfen wir nicht hereinlassen. Die gnädige Frau Baronin kann absolut keine Musik vertragen.“

„Ei, ist’s denn die Möglichkeit! Selbst die Drehorgelmänner nicht?“ lachte der Arzt sarkastisch auf. „Uebrigens begreife ich nicht – die Gnädige wohnt ja doch auf der entgegengesetzten Seite –“

„Die Damen frühstücken auf der Terrasse, und da hört man das Spielen,“ unterbrach ihn der Bediente mit hochgezogenen Brauen wichtig und überlegen.

„Die Hexen!“ murmelte der Doctor grimmig in den Bart. Er griff nach seinem Hut und empfahl sich mit einem vielsagenden spöttischen Lächeln, während Donna Mercedes sich schweigend erhob und den Flügel schloß.

Sie trat an ihren Schreibtisch und schien es nicht zu bemerken, daß der Diener an der Thür stehen geblieben war. In dem Menschen, der sich plötzlich auf dem Standpunkt des Gebietenden der Dame gegenüber fühlte, kochte die Wuth. Er trat ziemlich geräuschvoll tiefer in das Zimmer und zeigte auf einen Papierbogen, den er in der Hand hielt.

„Ich möchte bitten“ – hob er unter vernehmlichem Räuspern an.

Die Dame wandte ihm langsam und majestätisch das Gesicht zu, und er bückte sich unwillkürlich vor dem stolz verwunderten Blick, der ihn von Kopf bis zu Füßen maß.

„Ich habe da verschiedene Auslagen notirt,“ sagte er, ihr das Papier hinhaltend, das sie jedoch nicht ergriff. „Die Dame, die abgereist ist, hat nie die Droschken bezahlt, mit denen sie nach Hause kam – die Kutscher hielten sich an mich. Auch den Leuten, welche die gekauften und bestellten Sachen brachten, hab’ ich das Trinkgeld geben müssen. Ich hab’ mich auch nicht geweigert; denn ich dachte immer, das gehöre mit zu der Gastfreundschaft. Nun hab’ ich vorhin der Gnädigen den Zettel vorgelegt, aber sie sagt, das gehe sie gar nichts an.“

„Das ist richtig. In derartigen Dingen haben Sie sich an meinen Diener Jack zu wenden.“

Er kraute sich mit einem impertinenten Lächeln hinter dem Ohr. „In dem Schwarzen seiner Hand hab’ ich noch keinen Pfennig gesehen,“ sagte er stockend in fingirter Verlegenheit; „und mein Grundsatz ist immer, lieber gleich vor die rechte Schmiede zu gehen.“

Donna Mercedes preßte die blaßgewordenen Lippen auf einander, und ein tiefer, schwerer Athemzug hob ihre Brust. Sie schloß schweigend einen Kasten im Aufsatz des Schreibtisches auf und zog ihn heraus – er war bis an den Rand mit Goldstücken gefüllt.

„Nehmen Sie, was Ihnen zukommt!“ sagte sie kurz und zeigte auf das Gold – um keinen Preis hätte sie diesem Menschen Geld hinzählen mögen.

Er prallte bestürzt zurück, als fahre ihm eine Flamme aus dem märchenhaft reichen Kasten entgegen. Er hatte eben noch boshaft angedeutet, daß er keinen Pfennig in der Erdgeschoßwohnung vermuthe, und nun blinkte ihm da eine niegesehene Geldmasse entgegen, so sorglos und nachlässig verwahrt, daß er sich selbst eingestand, die Dame müsse von Jugend auf in Nabobs-Gewohnheiten erzogen sein.

„Aber, gnädigste Frau, das kann ich doch unmöglich,“ stotterte er fassungslos – seine Bedientenaufgeblasenheit sank kläglich zusammen.

„Nehmen Sie!“ wiederholte sie, und ihre stolzen Brauen falteten sich finster.

Er trat scheu auf den Zehen heran und nahm mit so spitzen Fingern, als fürchte er, sich zu verbrennen, ein Goldstück heraus. Dann zog er schleunigst sein Portemonnaie aus der Tasche. „Meine Auslagen betragen nicht so viel – gnädigste Frau bekommen über die Hälfte zurück,“ sagte er und schickte sich an, schmutziges Kleingeld auf die Tischplatte, nahe vor dem Bild des „armen Valmaseda“, des ehemaligen Crösus von Südcarolina, hinzuzählen.

Donna Mercedes hob den Arm und zeigte nach der Thür.

„Gehen Sie!“ befahl sie streng und gebieterisch. „Für künftig bitte ich mir’s aus, daß ich nie wieder in dieser directen Weise behelligt werde. Mein Diener Jack hat den persönlichen Dienst – Ihnen steht es nicht zu, ohne specielle Aufforderung meine Gemächer zu betreten.“

„Wie die gnädige Frau befehlen!“ stammelte er unterwürfig.

Er steckte das Goldstück ein und zog sich unter tiefen Bücklingen nach der Thür zurück, freilich, ohne auch nur einen Blick zu erhaschen – Donna Mercedes hatte sich abgewendet und sah hinaus in den Garten.

„Ich Dummkopf! Ich Narr! Ich könnte mich selbst ohrfeigen für meine Stockblindheit,“ murmelte er draußen, einen Moment wie erstarrt an der Schwelle stehenbleibend. „Was für Trinkgelder hätte es da gegeben! Nun bin ich d’rum.... Da drinn ist doch Alles echt, Fritz“ – sagte er, nach dem Salon zurückdeutend, kleinlaut zu dem Hausknecht, der eben wieder neues Räucherwerk auf die dampfenden Kohlenpfannen schüttete – „die Edelsteine, das Gold und Silber, und – die Mohren auch! Die Dame hat Geld wie Heu. In dem schweren Koffer waren keine Bücher – nun weiß ich’s. Ach, das Gold! das Gold!“

Sie aber, von der er sprach, sie stand zürnend in der Fensternische, und ein unbeschreibliches Gemisch von Erstaunen, Ekel und Verachtung kämpfte in ihrem Gesichtsausdruck.... Die Domestikenfrechheit in diesem deutschen Hause hatte eben den Gipfelpunkt erreicht – ihre Persönlichkeit, ihr stolzer Name, ihr gewohntes sicheres Auftreten, das Alles vermochte nicht, Respect einzuflößen – die Waffe gegen die Unverschämtheit hatte sie unbewußt ergriffen – das Gold!... Das war eine bittere Lehre.... Und in diesem Hause genoß sie die Gastfreundschaft. – Gastfreundschaft! Daheim war sie in unbeschränktem Maße unter den Standesgenossen geübt worden – sie hatte das nie anders gewußt, und danach auch das Haus bemessen, das Baron Schilling ihrem Bruder für die Seinigen angeboten.... Sie mußte an die mitgenommenen Kellerschlüssel denken – die Frau Baronin war nicht allein tückisch, wie sie damals einzig und allein angenommen, sie war auch geizig.... Sollte sie von Bezahlung sprechen? Oder der Dame in etwas feinerer Form einige ihrer ungefaßten, kostbaren Juwelen hinaufschicken? Was aber würde er zu einem solchen Schritt sagen? – Er würde noch schlechter von ihr denken, als bisher....

Sie sank in ihren Lehnstuhl und vergrub das Gesicht in den Händen.




27.

Nun hatte sich der sehnliche Wunsch der Dienerschaft erfüllt – die Herrin war zurückgekehrt; allein die Schadenfreude war schon am anderen Morgen einer allgemeinen Niedergeschlagenheit gewichen. Die Reizbarkeit der Gnädige hatte sich, wie jedes Mal auf den Wallfahrtstouren, sehr verschlimmert. Dazu kam der heftige Unwille über die Abwesenheit ihres Gemahls. Sie hatte es zwar aufgegeben, ihm nachzureisen, nachdem ihr der Bediente Robert mitgetheilt, daß er und Mamsell Birkner nur für wenige Tage Instructionen erhalten und deshalb den gnädigen Herrn in der Kürze zurück erwarten dürften, allein die verbitterte Laune der gnädigen Frau war damit nicht besser geworden.

[517]

Mittelalterlicher Taufgang.
Nach dem Gemälde von August von Heyden.



Selbst Minka durfte ihr nicht vor die Augen kommen – sie hatte „die kleine, schwarze Canaille“ in der Pension belassen.

Die Kohlenbecken in der Flurhalle dampften noch tagtäglich; sie sollten vermuthlich nicht eher gelöscht werden, als bis Baron Schilling zurückgekehrt war und sich bereuend überzeugt hatte, daß er doch eigentlich seine ohnehin so kränkliche Gemahlin in augenscheinliche Gefahr, in eine recht peinliche Lage gebracht habe. Im Uebrigen wurden seine Schützlinge in der Parterrewohnung zwar in keiner Weise mehr behelligt, aber auch so vollständig ignorirt, als lägen die inneren Läden, die leeren [518] Räume von der Außenwelt abschließend, wie immer hinter den Scheiben.

Donna Mercedes wich stets in die Tiefe des Salons zurück, sobald sie die beiden Damen von der Straße her durch den Vorgarten heimkommen sah – und sie kamen täglich zweimal, Morgens und zur Abendzeit, aus der Benediktinerkirche.... Sie stand ihrem eigenen innersten Wesen wie einem dunklen Räthsel gegenüber. Donna Mercedes hatte alle Ursache, der Dame des Hauses zu grollen, welche die Convenienz, die allereinfachsten Anstandsregeln ihr gegenüber in hochmüthiger Willkür völlig aus den Augen setzte – aber das Haßgefühl, das in ihr aufwogte, sobald die graue Schleppe zwischen den Büschen auftauchte – diese namenlose innere Aufregung war ihr selbst unbegreiflich und verwirrte sie.

So waren abermals zwei Tage verstrichen, und am dritten befand sich Donna Mercedes vom frühen Morgen an in erwartungsvoller Unruhe – möglicher Weise kam Baron Schilling heute zurück. Ob er die Entflohene mitbrachte und ihren Pflichten wieder zuführte? – Die Hoffnung der jungen Dame hatte sich mit jeder Stunde verringert; heute war sie sogar fest überzeugt, daß sie Lucile nicht eher wiedersehen werde, als bis Siechthum und drohender Mangel die Pflichtvergessene unter ihren Schutz zurücktrieben.... Gleichwohl harrte sie in unbeschreiblicher Spannung auf Baron Schilling’s Rückkehr, und da er ihr so fest und entschieden erklärt hatte, das Wiedersehen mit José nur unter den Bäumen des Gartens feiern zu wollen, so konnte sie ebenso wenig wie vor einigen Tagen erwarten, daß er, selbst im Besitze dringender Nachrichten, die Parterrewohnung betreten würde.

Sie ging deshalb in der Nachmittagsstunde, zu welcher Zeit der Erwartete ankommen konnte, nach dem Glashause. Hannchen saß inzwischen bei José und erzählte ihm Märchen, während sich die kleine Paula unter Deborah’s Aufsicht in dem schattigen Fichtenwäldchen hinter dem Atelier tummelte.

Der Wintergarten war nicht verschlossen, und auch die in das Atelier führende Glasthür stand offen; der Gärtner hatte ja auch drüben die Cacteen und Farren zu pflegen und war vermuthlich eben hier beschäftigt gewesen – man sah die frischen Spuren der tropfenden Gießkanne auf dem Asphaltboden, und der grüne Vorhang drüben hinter der Glaswand war vollständig zurückgezogen; der ganze weite Raum that sich auf – ein immer wieder überraschender und blendender Anblick!

Donna Mercedes zog ein Buch aus der Tasche und setzte sich auf die eiserne Gartenbank, die, tief in den Pflanzenwald eingerückt, laubenartig überwölbt war. Hier, in dieser traumhaften Stille, umhaucht von der düftereichen, durch die zerstäubenden Wasser gekühlten Luft, konnte sie ungestört und ruhig warten – ruhig? – Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen; sie versuchte zu lesen, aber sie fand keinen Sinn in den Longfellow’schen Versen; ihre Augen schweiften von der Blattseite immer wieder hinüber in das Atelier, in diese Wunderwelt, die auch ein Gedicht war, ein Gedicht, das seine Poesie aus altversunkenen Zeiten, aus weltweiten Fernen geholt hatte und welches dem, der hier sann und schaffte, eine unerschöpfliche Gedankenfülle zuströmte.

Draußen in seiner Clause schlug Pirat plötzlich mit seiner gewaltigen Stimme an. Donna Mercedes schreckte empor – Fremde näherten sich dem Hause; sie hörte es an dem Toben und Lärmen des ungeberdigen Thieres, aber vor dem Glashause wurde kein Schritt laut; der Hund schwieg auch bald wieder, und Donna Mercedes lehnte sich beruhigt in ihre geschützte Ecke zurück.

Da bewegte sich die Gobelingardine droben auf der Gallerie; das farbensprühende Gewebe theilte sich langsam, und die lange, graue Frauengestalt zeigte sich im Thürrahmen; schlaff und zusammengesunken wie immer, aber jetzt auch schleichend, wie auf Diebessohlen, trat die Baronin auf die Gallerie heraus. Fräulein von Riedt folgte ihr.

„Mir widerstrebt es, da hinabzugehen“, sagte die Stiftsdame. „Ist hier oben Alles sorgfältig weggeräumt, wie Du Dich gestern überzeugt hast, so wirst Du im Atelier, wo sozusagen öffentlicher Boden ist, noch viel weniger Aufklärung finden.“

Die Baronin ignorirte völlig, was ihre Begleiterin sprach. Sie glitt über die Gallerie hin und die Wendeltreppe hinab.

Donna Mercedes athmete kaum in ihrem Versteck. Sie konnte sich jetzt unmöglich erheben, ohne sich den Damen, denen sie um keinen Preis vor Baron Schilling’s Rückkehr begegnen mochte, zu verrathen.

Die Baronin blieb am Fuße der Wendeltreppe stehen.

„Ich war noch nie hier – noch nie,“ sagte sie im Tone der Befriedigung und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. „Ich habe es durchgesetzt, was ich damals versichert, als er den Grundstein zu dem Hause legen ließ, durchgesetzt bis zu dieser Stunde. Und daß ich in diesem Augenblick mein Gelübde breche, das wird er nie erfahren. Sieh Dich um, Adelheid! Ist diese Einrichtung nicht zum Lachen? Darin hat er allerdings Recht gehabt – zu solchem Kram würde ich mein Geld nicht hergegeben haben. Er ist ein sinnloser Verschwender. In alte Scharteken und Trümmer steckt er Unsummen, wie er der fremden Gesellschaft im Parterre die theuersten Weine und Speisen durch die Gurgel jagt.“

Sie sagte es mit lebhafter Gesticulation, und ihr müder Gang wandelte sich plötzlich zum Geschwindschritt. Sie ging quer durch das Atelier und trat zu Donna Mercedes’ Entsetzen in den Wintergarten. „Die Domestiken klatschen, und er braucht’s doch nicht zu wissen,“ sagte sie vor sich hin. Sie drückte die in den Garten führende Thür zu, drehte den Schlüssel um und steckte ihn, als genüge ihr nur diese Art von Sicherheit, in die Tasche.

Donna Mercedes verhielt sich lautlos wie eine Todte. Nur das Myrthengezweig trennte sie von dem Frauengesicht, dessen Athem sie nahezu streifte. Sie befand sich in einer höchst peinlichen Lage – sie war gefangen. Ihr stolzer Sinn, ihr ganzes Empfinden empörte sich gegen die Mitwissenschaft dessen, was die Baronin in Abwesenheit ihres Mannes hier trieb, allein noch unerträglicher war ihr der Gedanke, jetzt erst hervorzutreten und der Frau den Schlüssel abzunöthigen – sie beschloß, still auszuharren.

(Fortsetzung folgt.)


Ludwig Lorenz Oken.
Zum hundertjährigen Geburtstage eines Vielgeschmäheten.


Unsere Zeit, deren wissenschaftliches Gepräge die einheitliche Auffassung des Kosmos als eines harmonischen Ganzen, der Lebewelt als einer großen Familie ist, dürfte dazu angethan sein, auch einem deutschen Naturforscher Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, welcher Decennien hindurch der jüngeren Generation geradezu als abschreckendes Beispiel, wie man die Natur nicht erforschen soll, dargestellt worden ist. Und doch hat sein ganzes Verbrechen darin bestanden, daß er vorzeitig und mit nicht ausreichenden Mitteln den Versuch gemacht hat, die sogenannten „beschreibenden“ Naturwissenschaften, welche ihr letztes Ziel in’s Sammeln, Beschreiben, Unterscheiden und Ordnen der Naturdinge setzten, dieser unwürdigen Stellung zu entheben und sie, wie Astronomie, Physik und Chemie, zu dem Range von Experimental- und Denkwissenschaften zu erheben.

Immer wieder nach langem geduldigem Sammeln, Beobachten und Verzagen hat sich das Streben des Menschengeistes aufgerafft, in der bunten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die Einheit zu suchen; jedesmal warf darauf die Kritik das religiöse oder philosophische System nieder, welches man ersonnen, um die Räthsel der Welt auf ihren Urgrund zurückzuführen. Doch unentmuthigt und immer von Neuem umringen Forscher und Denker das verschleierte Bild von Saïs. Um es mit einem Worte zu sagen: was Darwin mit beispiellosem Erfolge in unseren Tagen geleistet hat, das versuchte fünfzig Jahre vor ihm mit minderem Glück, aber nicht ohne Ahnung des richtigen Weges, Oken.

Hoffentlich wird uns sein Jubiläum auch eine zuverlässige, ausführliche Biographie von ihm bescheeren, die bisher fehlte. Wie wünschenswerth eine solche ist, mag der Umstand erläutern, daß von drei mir für diese kurze Schilderung vorliegenden Quellen: Günther’s „Lebensskizzen Jenenser Professoren“; Ph. von [519] Martius’ „Akademische Denkreden“ und Ratzeburg’s „Forstwissenschaftliches Schriftstellerlexicon“ jede nicht nur einen andern Geburtstag, sondern auch einen andern Geburtsort nennt, nämlich den 1., 2. und 3. August 1779 und die badischen Orte Bohlsbach, Offenburg und Freiburg. Die erstere Quelle dürfte die vertrauenswürdigste sein, da sie wahrscheinlich aus amtlichen Acten schöpfte; sie sagt uns ferner, daß die Eltern bürgerliche Eheleute katholischer Confession waren. Von der Mutter, Maria Anna Fröhle, weiß man – eine Ausnahme bei berühmten Leuten! – nichts zu berichten; dagegen meldete die Ortsüberlieferung von dem Vater Johann Adam Ockenfuß (erst der Sohn verkürzte den ihm häßlich dünkenden Namen zu Oken), daß er ein Mann von mehr als gewöhnlicher Einsicht gewesen sei, der in den politischen und kirchlichen Wirren seiner Zeit einen weiten Blick bekundete und oft künftige Ausgänge vorausgesagt haben soll, so z. B. auch die Neubildung des deutschen Kaiserreiches. Seine Mitbürger sprachen noch nach seinem Tode von ihm, wie von einem Orakel, und oft hörte man beim Eintritte bedeutender politischer oder kirchlicher Wendungen in der Gegend sagen: „Das hat schon Hans Adam vorausgesagt,“ und umgekehrt, wenn etwas Unerwartetes geschah: „Davon hat Hans Adam nichts geahnt.“

Der früh verwaiste, geistesfrische Knabe empfing durch den gelehrten Rector Meyer zu Baden eine sorgsame Erziehung und widmete sich dann in Würzburg und Göttingen dem Studium der Medicin, an welchem letzteren Orte wahrscheinlich der geistreiche Blumenbach stark auf ihn einwirkte. Da er sich gleichzeitig den Naturwissenschaften, der Sprachforschung und Philosophie mit Eifer zuwandte, so wurde das anfangs von ihm erwählte, seinem Geiste aber nicht Nahrung genug bietende, weil begrenzte Fachstudium bald durch den Trieb zur Universalforschung erstickt. Es war die Zeit eines mächtigen Ringens der Geister; der gesunde Menschenverstand strebte, sich von dem allverbreiteten naturphilosophischen Dogma zu befreien: die lebendige Welt sei, wie wir sie heute sehen, in Form in einander geschachtelter Keime erschaffen worden, die sich immerfort aus einander entwickelten; nichts in der Welt sei deshalb neu, sondern Alles nur eine ewige Wiederholung des Alten. Leibniz und von Haller, die Beherrscher der Geister jener Zeiten, hatten das naturphilosophische Dogma: „Es giebt kein Werden“ auf ihren Schild geschrieben, und selbst Buffon und Linné hatten sich demselben nur vorübergehend oder spät entwunden. Zwar war schon 1759 in Caspar Friedrich Wolff, dem Berliner Schneidersohn, ein Vorläufer der neueren Weltanschauung erschienen, der nachgewiesen hatte, daß sogar jedes einzelne Lebewesen eine vollständige Neubildung sei, aber seine Stimme verhallte in dem Lärm der herrschenden Schule.

Blumenbach und später auch Oken, der sich in Göttingen als Privatdocent niedergelassen hatte, folgten diesem erlösenden Fingerzeige aus dem Bann der allgemeinen Naturerstarrung, aber Allen voran trugen damals zwei Dichter das Banner der Werdelehre: Goethe in Deutschland und Erasmus Darwin in England. Seit dem Jahre 1780 hatte Goethe das Werden des Erdballs und der auf ihm lebenden Wesen verfolgt, mit bitterem Spott die Haller’sche Beharrungstheorie abgewiesen und die leise Ahnung einer Entwickelung vom Niedern zum Höhern auch in der Gesammtnatur gewonnen. Mit unbegreiflicher Halsstarrigkeit hat man Goethe in neuerer Zeit dieses Verdienst absprechen wollen, der doch Wolff selbst seinen „trefflichen Vorarbeiter“ nannte und den es 1785 so glücklich gemacht hatte, den Zwischenkiefer beim Menschen zu entdecken, dessen vermeintliches Fehlen zur Aufstellung eines trennenden Unterschiedes zwischen ihm und der übrigen Thierwelt benutzt worden war. Goethe’s Entdeckung der Pflanzenmetamorphose gehört in denselben Ideenkreis der Werdelehre; es wird darin gezeigt, wie sich die Glieder des Pflanzenorganismus fortwährend zu höheren Stufen umbilden und durch diese Wandlungsfähigkeit das geheime Gesetz der Pflanzenmannigfaltigkeit erklären.

Oken hatte bereits in seinen Jugendschriften, dem „Grundrisse der Naturphilosophie“ und der „Classification des Thierreichs“, ähnliche Ideen ausgesprochen; so lag es nahe, daß er sich dem Dichter geistig anschloß, und wahrscheinlich geschah es nicht ohne Goethe’s Billigung, der damals Curator der Jenaer Universität war, daß Oken im Jahre 1807 als Professor der Naturgeschichte und Naturphilosophie nach Jena berufen wurde. Er hatte zu dieser Zeit bereits durch seine naturphilosophischen Speculationen ein solches Aufsehen erregt, daß man in ihm einen gewissen Ersatz für Schelling und Hegel zu finden hoffte, die einige Jahre vorher die dortige Universität verlassen hatten. In jenen Tagen hatte er noch bei Goethe einen längeren Besuch gemacht, aber ein leidiger Prioritätsstreit führte Beide für immer aus einander. Goethe war früh zu einer seiner Idee der Pflanzenmetamorphose ähnlichen Deutung des Thierkörpers gelangt; wie sich die Blätter der Pflanze mit fortschreitender Entwickelung zu Kelch-, Blumenstaub- und Fruchtblättern umbilden, so glaubte er in den Knochen des Schädels umgebildete Wirbel zu erkennen, eine Ansicht, die, nach langem Streite, von der neueren Forschung in ihrem Grundgedanken als richtig anerkannt worden ist. Goethe hat später erzählt, daß ein weißgebleichter Schöpsenschädel, den sein Diener 1790 auf dem Judenkirchhof von Venedig aufhob, diese seine Ansicht zur Reife gebracht habe, und neuerdings herangezogene Briefe aus jenem Jahre sprechen bereits von dem Lichte, welches ihm bei Betrachtung dieses Fundes aufgegangen sei. Als Oken 1807 als Antrittsprogramm seiner neuen Stellung eine Schrift drucken ließ, in welcher er ähnliche, selbstständig gewonnene Ansichten aussprach, nannten ihn Dritte, die von Goethe’s unveröffentlichter Entdeckung wußten, einen Plagiator und reizten ihn, wie das bei Vertheidigung von Prioritätsansprüchen zu geschehen pltegt, zu einer Umkehrung des Vorwurfes, die das Unrecht desselben überbot. Auf diese Weise wurde Goethe äußerlich von der deutschen naturphilosophischen Schule, als deren geistigen Urheber man ihn vielleicht betrachten muß, durch persönliche Fehden getrennt; zu seinem größten Vortheile trat er an Oken mit dem geringen Ruhme auch alle üble Nachrede der Führerschaft ab.

Den Ausgangspunkt der damaligen Naturphilosophie, wie er später namentlich durch Schelling entwickelt wurde, bildete die sich selbst in der Natur verkörpernde göttliche Schöpferkraft des Spinoza. Vom Mineral zum einfachsten Organismus und endlich zum Menschen aufsteigend, offenbart sie sich dem Seherblicke des Forschers in der Stufenreihe der Naturdinge immer vollkommener. In seinem titanischen Drange, die Natur als ein einheitliches, zusammenhängendes Werk der schaffenden Kräfte darzustellen, warf sich Oken in Ermangelung genügender Fundamente für einen so großartigen Bau einer kühnen Speculation in die Arme. Gottfried Reinhold Treviranus aus Bremen und manche andere gleichstrebende Geister waren schon vorausgegangen, indem sie die gesammte Lebewelt von wenigen niederen Urformen ableiteten, aber während sie sich auf allgemeine, heute lebhaft in den Vordergrund getretene Anschauungen beschränkten, führte Oken Pfeiler auf Pfeiler, Bogen auf Bogen auf, um das ganze Naturreich in einem gewaltigen Gedankenbau unterzubringen. Die von Goethe nach allen Richtungen verfolgte Idee der Metamorphose war dabei sein Leitmotiv; wie in der Pflanze sich aus der Wurzel, mit ihren niederen Ernährungsfunctionen, der aufstrebende Stengel, das athmende Blatt, Blüthe, Samen und Frucht entwickeln, so meinte Oken, das Pflanzenreich habe mit niederen Gewächsen begonnen, bei denen Wurzel, Stengel und Blatt als solche noch nicht getrennt gebildet waren (Markpflanzen); darauf seien dann „Stockpflanzen“ gefolgt, in denen sich der Stengel als solcher unterschied und vollendete, bei denen aber als Unterclassen wiederum „Wurzler“, „Stengler“ und „Lauber“ unterschieden werden könnten. Darauf folgten „Blüthenpflanzen“ mit ähnlichen Unterclassen und endlich „Fruchtpflanzen“. Abgesehen von einzelnen Mißgriffen, ist die leitende Idee im Allgemeinen nicht falsch zu nennen; auch die neuere Botanik unterscheidet noch blatt- und stengellose, blüthenlose und blühende, samenlose und samentragende Pflanzen, und stellt sie in ein ähnliches entwickelungsgeschichtliches Stufenverhältniß wie Oken, aber der philosophische Schematismus, mit dem er dann weiter nach bestimmten Zahlenverhältnissen Classen und Unterclassen machte, läßt das System heute als eine mystische Spielerei erscheinen.

In ähnlicher Weise verfuhr er mit dem Thierreich. Auch da wurden z. B. unter den Insecten Wurzelinsecten (Würmer), Laubinsecten (Wanzen), Sameninsecten (Zweiflügler), Kapselinsecten (Bienen), Blumeninsecten (Schmetterlinge) und Fruchtinsecten (Käfer) unterschieden, wobei offenbar ganz oberflächliche Analogien leitend gewesen waren. Andererseits offenbarte sich das Genialische seiner Natur in der Schöpfung höchst origineller Classen- und Ordnungsnamen bei Thieren und Pflanzen, die oft wirklich der [520] Natur abgelauscht erscheinen und vielfach in Gebrauch geblieben sind, wie z. B. das Wort Lurche für die Salamander, Molche und Tritonen.

Auch finden sich unter den allgemeinen Bemerkungen durchaus geistvolle Vorahnungen des später Erforschten, so z. B. Oken’s Urschleimtheorie, die er mit den Worten vortrug: „Alles Organische ist aus Schleim hervorgegangen, ist nichts als verschieden gestalteter Schleim. Dieser Urschleim ist im Meere im Verfolge der Planetenentwickelung aus anorganischer Materie entstanden.“ Lassen wir den letzten, noch heute von einer großen Anzahl von Naturforschern vertheidigten Satz auf sich beruhen, so haben wir in dem ersten eine Umschreibung der heute allgemein angenommenen Protoplasmatheorie, die als die eigentliche lebende Materie des Thier- und Pflanzenkörpers, gleichsam als dessen „Seele“, jenen eiweißartigen Schleim betrachtet, der oftmals (auch vorübergehend bei höheren Wesen) den gesammten Organismus vorstellt und dessen verschiedene Hüllen und Kleider erst seine innerliche Mannigfaltigkeit dem Blicke offenbaren. Aus diesem Urschleim ließ er Bläschen sich bilden, die er Mile nannte und aus deren Zusammenhäufung er alle zusammengesetzten Lebewesen hervorgegangen betrachtete, wiederum eine geistreiche Vorahnung des wahren Sachverhalts, den Schleiden und Schwann erst mehrere Jahrzehnte später in ihrer Zellentheorie darlegten.

Auch verdankt das Studium der Entwickelungsgeschichte, von der ja die moderne Morphologie (Gestaltenlehre) ihren Ursprung nahm, seit den Tagen Wolff’s ihren Hauptanstoß einer Arbeit Oken’s über die Entwickelungsgeschichte des Darmcanals (1806), an welche sich später die epochemachenden Arbeiten Pander’s und Bär’s lehnten. Und sieht man endlich von der phantastischen Einrahmung der Oken’schen naturgeschichtlichen Werke ab, so findet man einen Kern von umfassendem, gediegenem Wissen in ihnen, und seine „Naturgeschichte für alle Stände“ ist noch heute eine Schatzkammer, in welcher mancher weidlich auf Oken schimpfende Tagesschriftsteller seine Taschen gefüllt hat.

Es besteht heute keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß die „philosophische Behandlung“ der Naturgeschichte in dem Umfange, wie man sie damals für angemessen hielt, eine Ueberschätzung des menschlichen Scharfsinnes war, die mit einer Niederlage endigen mußte, aber der Beifall und die bedeutende Nachfolge, die Oken bei vielen angesehenen Forschern seiner Zeit fand, läßt viele seiner Extravaganzen in einem milderen Lichte erscheinen. Diejenigen Naturforscher unserer Zeit aber, welche das Wort „Naturphilosoph“ nur noch als Schimpfwort in den Mund nehmen und, auf jene Niederlage der Naturforschung hinweisend, vor jeder Verallgemeinerung und Hypothesenanleihe auf naturwissenschaftlichem Gebiete warnen, sie vergessen eben, daß auf keinem andern Wege ein Fortschritt überhaupt möglich ist, und daß ein Lamarck, Blainville, Geoffroy Saint-Hilaire, von Bär, Schleiden, Alexander Braun, Darwin und Häckel auf derselben Straße, nur etwas vorsichtiger vorwärts gehend, der Naturwissenschaft zu der weltbewegenden Stellung verholfen haben, auf der wir sie heute erblicken.

Oken selbst hat durch seine im Jahre 1816 gegründete und bis zum Jahre 1849 fortgeführte Zeitschrift „Isis“ nicht unerheblich dazu beigetragen, diese hervorragende Stellung vorzubereiten. Die bedeutendsten Naturforscher betheiligten sich durch Beiträge, und sogar Cuvier, das Ideal der gegnerischen Partei, finden wir unter den Bewunderern ihres Leiters. Andererseits machte die „Isis“ durch ihre freimüthige Kritik der Universitäten und ihrer verrotteten Zustände, des Schulunterrichts und anderer öffentlicher Angelegenheiten bald ihren Herausgeber mißliebig; die Zeit der Demagogenriecherei kam, und die sonst ihrer Liberalität wegen mit Recht berühmte weimarische Regierung mußte Oken – wie es heißt, „auf fremdstaatliches Drängen“ – seiner Professur entsetzen. Er wurde das erste Opfer der „freien Wissenschaft und Lehre“ jener Zeit. Seine Bemühungen, in Berlin oder an anderen Universitäten eine Lehrstelle zu erhalten, scheiterten am Einspruche einzelner Vertreter der „strengen“ Wissenschaft, wie wir ja ähnliche Dinge oft erlebt haben. Sich nun ganz der Förderung seiner Zeitschrift hingebend, lebte er noch mehrere Jahre in Jena und gründete von da aus das Institut der jährlichen Wanderversammlungen deutscher Naturforscher und Aerzte, das in allen Culturländern Nachahmung gefunden und sich segensreich in dem Sinne ihres Stifters bewährt hat, um allgemeine Fragen hier zum Austrag zu bringen und der Naturforschung eine Art Selbstvertretung zu geben. Wie ein Hohn auf den freisinnigen Geist des Stifters mußte es freilich erscheinen, daß gerade auf dem fünfzigjährigen Stiftungstage dieser Versammlung ein Angriff auf die Freiheit der Lehre improvisirt wurde.

Oken war und blieb ein Märtyrer der freien Lehre und Meinungsäußerung. Im Jahre 1827 als Lehrer der Physiologie und Entwickelungsgeschichte nach München berufen, wurde er auch hier – diesmal, wie man sagt, von den Jesuiten – vertrieben und fand erst Ruhe in der freien Schweiz, wohin er 1832 als Lehrer an der neueröffneten Universität Zürich berufen wurde und woselbst er nach langer segensreicher Wirksamkeit am 11. August 1851 verstorben ist.

Oken war wohl in seiner Jugend etwas kraftgenialisch und hochfahrend gewesen; in seinen späteren Jahren hatte sich der wildgährende Most zu einem milden Geiste abgeklärt, und die jüngere Generation der deutschen Naturforscher blickte zu ihm wie zu einem Vater empor. Diese allgemeine Verehrung seiner unmittelbaren und mittelbaren Schüler bewährte sich trotz der Mißbilligung der „Strengen“ glänzend, als gleich nach seinem Tode die Aufstellung eines Ehrendenkmals in Anregung gebracht wurde. Im Handumdrehen war noch in demselben Herbste die zur Herstellung einer Kolossalbüste von Drake’s Meisterhand erforderliche Summe gezeichnet, sodaß die Naturforscherversammlung von 1857 auf dem Fürstengrabe in Jena die Enthüllung vornehmen konnte. Man darf annehmen, daß auch die diesjährige Naturforscherversammlung dem Andenken ihres Meisters eine bedeutsame Feier widmen wird, denn seine Irrthümer sind vergessen, sein Geist aber ist heute lebendiger als je.

Carus Sterne.




Die Pest.[1]
IV. Schauplatz, Verbreitung, muthmaßliche Entstehung und Erlöschen der letzten Epidemie.


Wer das ziemlich weit in das Kaspische Meer hineinragende Wolgadelta mit seinen 10 bis 12 größeren und unendlich vielen kleinen Mündungsarmen bei Astrachan hinter sich läßt, um eine Fahrt flußaufwärts zu unternehmen, wird besondere landschaftliche Schönheiten kaum zu verzeichnen haben. Zwar weisen die Inselniederungen zu gewissen Jahreszeiten Bilder üppigster Vegetation auf – aber dieselbe ist niedrig und einförmig; nur in geringer Zahl bieten Baumgruppen dem Blick einen Anhaltspunkt, und hat man nach etwa dreistündiger Dampfschifffahrt den Punkt erreicht, wo der mächtige Strom sich zuerst in zwei große Mündungsäste gabelt, so wirkt das ewig sich gleichbleibende Bild der flachen sandigen Ufer, wirkt selbst die Unterbrechung durch die zahlreichen, langgestreckten, niedrig bewaldeten Flußinseln in hohem Grade ermüdend. Zur rechten Hand – also auf dem östlichen Ufer – haben wir die bis zum Uralfluß sich hinstreckende innere Kirgisensteppe, links treten die Kalmückensteppen mit ihren fliegenden Dörfern bis an die Ufer des Flusses heran. Erst nach zehn- bis elfstündiger Fahrt beginnt am westlichen Ufer eine Erhebung, während das östliche vollkommen flach bleibt. In ungleichen Bogen erstreckt sich bis auf unabsehbare Entfernung eine Uferbank von 30 bis 60 Fuß Höhe; vor ihr ausgebreitet der vom Fluß bespülte Vorstrand, auf dem die an das Land gezogenen [521] zahlreichen Fischerboote in sicherer Höhe an Pflöcken und Pfählen befestigt sind. Selten nur zeigt sich ein um diese Boote beschäftigtes menschliches Wesen dem über die schmale Sandfläche schweifenden Blick; noch seltener winkt eine menschliche Wohnung oder ein niedriger Kirchthurm über die Höhe der Uferbank einen Gruß herab, aber in Reihen, wie nach dem Lineal geordnet, sitzen auf der scharfen Kante Schaaren von Fischadlern, deren durch die schrägen Abendsonnenstrahlen verlängerte Gestalten wie eine Cohorte soldatischer Wächter erscheinen.

„Wie heißt der Ort, dessen Kirchthurm genau den Endpunkt des weiten Uferbogens bildet – dort auf dem Vorgebirge?“

„Przizib!“

„Und hier die Häuser, die gerade neben uns auf der Höhe der steinigen Uferbank sichtbar werden?“

„Wetljanka!“

Mehrere kleine Uferpfade, die im Laufe der Zeit durch Austreten der Spalten im lehmigen Erdreich gangbar geworden sind, auch ein großer, für Pferde und Karren passirbarer Weg vermitteln die Verbindung mit dem oberen Flecken und dem hier breiten, mit zahlreichen Fischerbooten bedeckten Ufersand. Der größere Weg führt auf den ziemlich geräumigen rechteckigen Dorfplatz.

Sind diese reinlichen, fast zierlich gebauten und in wohlgeordneten Reihen zusammenstehenden Holzhäuser die Brutstätten einer fürchterlichen Krankheit gewesen? Schuf der Boden dieser saubergehaltenen Vorplätze, dieser wohlgelüfteten Dorfstraßen, die in die jetzt üppig grünende blumige Steppe auslaufen – schuf dieser Boden die tödtlichen Keime der Pest?

Kein Vorurtheil, in der That, mag gründlicher enttäuscht werden, als das, nach welchem man sich die vielgenannten Peststätten an der Wolga als elende, fast nur aus ärmlichen Hütten oder Zelten bestehende Schmutzorte vorstellte, bewohnt von einer verkommenen, ärmlichen, halbverthierten Bevölkerung, durchseucht mit den Abfällen von Ueberbleibseln verwesender Fische.

Die Kosakendörfer (Stanitzen) sind meistens sauber, oft stattlich und wohlhabend. Die einzelnen Gehöfte sondern sich durch kleine Vorplätze und Stacketenzäune von einander ab und weisen vielfach zwei bewohnbare Gebäude, ein Sommer- und ein Winterhaus, auf. Das erstere enthält, etwas primitiv aus Flechtwerk hergestellt, durchgängig nur zwei Räume. Die Winterhäuser jedoch präsentiren sich ganz stattlich mit ihren Glasfenstern und einer Vorlaube, einer Art Veranda, durch welche man in den Flur tritt. Von diesem führen Thüren in zwei, drei, auch wohl vier innere Gemächer. Im oberen Stock befinden sich Schlafstellen für Knechte und Mägde, Aufbewahrungs- und Vorrathsräume; hinter dem Hause Hundehütte, Schweinekoben und die Ställe für die so nützlichen und zahlreich gehaltenen Kosakenpferde. Auch Kühe und Schafe, sowie Hühner werden, wenngleich in verhältnißmäßig geringer Zahl, in Wetljanka und den Nachbardörfern gezogen.

Jedoch besteht der Reichthum jener Wolgagegenden nicht im Viehstande, noch weniger in irgend welchen Bodenerträgen. Die Steppe bringt, wenn sie sich im späten Frühjahr endlich von den letzten Schneelagern befreit hat, auf ihren salzfreien Theilen eine reiche Menge duftiger Gräser hervor, die im frischen Zustande und als Heu das (in manchen Jahren kärglich zugemessene) Futter für die obengenannten Hausthiere liefern. Außerdem wächst auf dem salzfreien Boden noch Senf, Wermuth und Hanf, sowie eine Menge blühender Gewächse. Getreide reift wegen der allzugroßen Trockenheit nicht; Roggen und alle Getreidearten haben einen höheren Preis als der Reis, und selbst die Kartoffel eignet sich nicht zum Anbau im Großen. Nur mit dem Gemüsebau hat man in Wetljanka und seiner nächsten Umgebung einige erfolgreiche Versuche gemacht. So kommt denn auch, da er zur Förderung der Bodenfruchtbarkeit nicht gebraucht werden kann, der Mist der Hausthiere zu einer für uns ganz fremdartigen Verwendung: er dient, ausgetrocknet und aufbewahrt, als Brennmaterial, da Holz nur schwer und theuer zu beschaffen ist. Schon dieser Umstand läßt die Wolgadörfer reinlicher erscheinen, als viele Dörfer Deutschlands, in welche ungeheure Composthaufen und dicht vor den Hausthüren sich ausbreitende Jauchetümpel die Luft in der nächsten Umgebung der Hütten einen großen Theil des Jahres hindurch verpesten.

Auf den salzhaltigen Theilen der Steppe gedeiht kein pflanzliches Leben. Hier sammelt sich auf flachen Seen und Morästen das Salz zu einer dicke Kruste an, wird mit stangenartigen Werkzeugen abgebrochen und auf Salzmühlen zu einer bestimmten Grobkörnigkeit zerkleinert, um zum Einsalzen der Fische zu dienen. Beide Producte vereint bedingen die Wohlhabenheit jener Striche. Von dem Fischreichthum des Stromes macht man sich nur schwer eine Vorstellung. Wenn die Fische in der Wolga meerwärts ziehen, bilden sie in den kleineren und schmäleren Ausflüssen solche Anhäufungen, daß Boote nicht mehr passiren können. Mit den plumpsten Vorrichtungen werden Millionen größerer und kleinerer Fische gefangen und der reichliche Segen – besonders durch sinnloses Vernichten der junge Brut – in der Weise ausgebeutet, daß neuerdings gesetzliche Bestimmungen dagegen nöthig geworden sind.

Welchen bedeutenden Handelsartikel die größeren und feineren Fischsorten, die in den Einsalzanstalten (Batagen) für den Versandt bereitet werden, bilden, ist genügend bekannt. Nur eine der größeren Anstalten dieser Art befindet sich in unmittelbarer Nähe von Wetljanka, eine größere Menge flußabwärts und die meisten bei Astrachan. Hierhin bringen die Fischer der oberen Dörfer ihre frischgefangene Waare, hierhin begeben sich aber auch zahlreiche Einwohner der Stanitzen gegen den Sommer hin, um einen sehr lohnenden Verdienst zu finden.

Lassen schon diese Verhältnisse es als unannehmbar erscheinen, daß eine an industriellen Erwerb, an lebhaften Außenverkehr gewöhnte Bevölkerung stumpf und unintelligent, oder bedürfnißlos und halb wild sei, so widerspricht noch mehr die eigenartige Organisation der kosakischen Gemeinden derartigen Voraussetzungen durchaus. Nicht so vornehm wie die Donischen Kosaken, haben doch auch die an der Wolga ihre Vorrechte, ihren Adel, ihre eigene Verwaltung und Gesetzgebung – Punkte, auf deren Bedeutung und besonders auf deren Nachtheile wir noch zurückkommen müssen. Von ihren unmittelbaren Nachbarn, den buddhistische Kalmücken, halten sie sich ganz abgeschlossen, von irgend einer Vermischung ist keine Rede, und wenn schon die Körperbildung sie genügend von dem tatarischen Typus unterscheidet, so prägt sich dieser Unterschied noch schärfer aus in der Lebensweise und den Lebensbedürfnissen. Kein Ort entbehrt seiner Kirche, kein Wohnhaus seiner Glasfenster und Möbel, die, wenn auch im Wesentlichen aus Tisch und verschiedenen großen Bänken bestehend, mit dem stattlichen Samowar (Theemaschine), den Heiligen- und Kaiserbildern, dem hier und da vorhandenen Spiegel, kleinen Decken u. dergl. m. durchaus an den Inhalt behäbiger deutscher Bauernstuben erinnern.

Das ist die Scenerie, auf welcher sich von October 1878 bis Januar 1879 Ereignisse abspielten, welche die Blicke von ganz Europa zwingend auf sich lenkten, ein Trauerspiel, dessen ganze Furchtbarkeit durch unsere damaligen Nachrichten (Nr. 9, 11, 13 dieses Jahrgangs) nicht etwa übertrieben, sondern im Gegentheil verschleiert worden ist. Wir dachten uns unter dem Pestschauplatz eine ganze Menge scheußlicher ärmlicher Nester, so stinkend widerwärtig und unsauber, daß man ernstlich daran glaubte, die Pest könne ganz wohl dortselbst, in Folge der Orts- und Bodenbeschaffenheit, entstanden sein, und wir finden die Seuche in einem Flecken von 1700 Einwohnern; hier bricht sie aus; hier fordert sie eine unglaubliche Zahl von Opfern; hier tobt sie sich fast aus und greift nur nachträglich und vergleichsweise unbedeutend auf einige Nachbarorte über.

Boden, Klima, Lebensverhältnisse in dem unglücklichen Wetljanka erscheinen geradezu vorteilhafter, gesünder, als sie es in den allermeisten russischen Dörfern, ja in vielen westrussischen und ostpreußischen Landstrichen sind. Was aber noch mehr ist: nicht eine Horde empfindungsloser, untergeordneter Menschenwesen, sondern eine intelligente, das Leben liebende Bevölkerung war es, die hier litt und dahingerafft wurde. Nicht roher und härter als die unseren waren die Gemüther der Eltern, Wittwen und Waisen, welche in Jammer und Hülflosigkeit es ansehen mußten, wie das grause Geschick sich an den nächsten und geliebtesten Familiengliedern erfüllte. Lange dauerte es, bis das Massensterben und der Schrecken ohne Ende die Bande des Hauses und der Gemeinde so lockerten, daß ein Theil fliehend aus einander stob. Warnend, kämpfend und schließlich selbst erliegend heben sich aus diesem Chaos des Elendes Gestalten heraus, welche unsere Theilnahme in hohem Grade verdienen.

Unter diesen wahrhaft epischen Persönlichkeiten Wetljankas [522] tritt der Geistliche des Ortes in die erste Reihe. Aus seinen Aufzeichnungen und Briefen geht mit Sicherheit hervor, daß er von den ersten Anfängen das Ungewöhnliche der Erkrankungsvorgänge erkannte, daß er die wachsende Sterblichkeit mit ängstlicher Spannung verfolgte, daß er bemüht war, das Nothsignal für die russische Regierung zu geben, als von Seiten der zuständigen Verwaltung noch die beklagenswertheste Indolenz an den Tag gelegt wurde.

Es verlohnt sich wohl der Mühe, uns einen Augenblick an die Stelle dieses gebildeten, feinfühlenden Mannes zu versetzen. In der ersten Octoberwoche stirbt ein Individuum nach kurzer Krankheit unter auffälligen, ungewöhnlichen Krankheitssymptomen. Die nächste Woche bringt ihre ein bis zwei regulären Todesfälle aus bekannten Ursachen – nichts Ungewöhnliches; in der dritten Woche dieses Monats sterben wieder zwei, in der vierten drei Personen unter jenen räthselhaften Erscheinungen. So hat die Zahl der Todten in einem Monat, statt wie sonst regelrecht etwa vier bis sechs, die Höhe von zwölf Fällen erreicht. Die erste Novemberwoche beruhigt die gespannte Aufmerksamkeit wieder – aber in der zweiten regt sich der unheimliche Feind von Neuem, es werden drei dem noch immer räthselhaften Uebel Erlegene zu Grabe gebracht; die dritte Novemberwoche fordert sieben, die folgende acht Opfer.

„Was ist das?“ fragt in einem nach Zarizin gerichteten Briefe der geängstigte Seelsorger; „wir dachten nach der guten Heu-Ernte einen glücklichen, behäbigen Winter zu verleben. Nun sterben aber unsere jüngsten und kräftigsten Leute an einer schrecklichen Seuche dahin. Die Aerzte reden von den Malariafiebern, die an unseren Ufern heimisch sind, aber wir kennen, weiß Gott, unsere Fieber zur Genüge, und das, was hier jetzt herrscht, hat damit nichts zu schaffen.“

Er sucht überall beizustehen und zu helfen; er hält es für nöthig, die weitläufigen Begräbnißceremonien, welche die griechisch-katholische Kirche vorschreibt, abzukürzen; er sieht seinen eigenen baldigen Tod vor Augen und begiebt sich zu dem Amtsgenossen in dem benachbarten Przizib, um dort zu beichten. Denn schon die erste Decemberwoche verläuft mit gegen zwanzig Sterbefällen; in der zweiten vermag er sie kaum noch zu übersehen, denn 56 seiner jetzt schon nicht mehr 1700 Dorfeingesessenen sind es, die als Verstorbene gemeldet werden, aber sie Alle finden sich doch noch mit Namen, Alter, Familienbezeichnungen im Kirchenbuche notirt. Als aber die Woche vom 9. bis 16. December 169 Todesfälle bringt, da hören die schriftlichen Aufzeichnungen plötzlich auf, denn unter den 41 Todten des 14. December befand sich der treue Gewährsmann selbst. Er war aber mehr gewesen; mit seinem Tode lösten sich alle Grundlagen des Gemeinwesens auf. Einige flüchteten in die endlose Steppe, andere nach der großen Wolgainsel, die sich vor dem Orte lang hinstreckt; noch andere trugen die Pest, den Schrecken und die Verwirrung in die Nachbardörfer. Durch die eigenen Hände seiner Mutter und Schwester fand unser Geistlicher ein ruhiges Grab; viele von denen, die nach ihm starben, blieben unbegraben liegen an der Stelle, wo der Tod sie überfiel. Denn war auch die größte Wuth der Seuche mit dem eben genannten Datum erschöpft, so waren es doch noch 54 Opfer, welche ihr im letzten Abschnitte des December, und über 30, welche in den ersten beiden Wochen des Januar erlagen. Der Vorhang war über dem eigentlichen Schauplatze der Epidemie bereits gefallen, als in widersprechenden Zeitungsnotizen zu uns davon die Kunde drang; die Ausläufer der Krankheit, die 3, 5, 8 Pesttodesfälle in Przizib, Staritzkoje, Udatschnoje, Nikolskoje und besonders 32 in Selitrennoje waren es, die als frische das gespannte Interesse der Zeitungsleser erregten und es fast in den Hintergrund stellten, daß in Wetljanka über 26 Procent der ganzen Bevölkerung erkrankt und von diesen Erkrankten über 80 Procent gestorben waren.

Welche Umstände erklären uns dieses selbst in der Geschichte der Pest ganz unerhörte Factum? Mit anderen Worten: wie kam die Pest in diesen isolirten Bezirk, und wie konnte die Sterblichkeit, da besonders begünstigende Momente uns bis jetzt nirgend begegnet sind, diese kolossale Höhe erlangen? – Wir haben in unserem ersten Artikel (Nr. 9 dieses Jahrgangs) zwar einige Andeutungen über die Pestausbrüche in Persien und Mesopotamien gemacht, uns jedoch wohl gehütet, eine bestimmte Hypothese über den Weg der Pest nach Wetljanka auszusprechen. Nicht als ob wir die Vermuthungen, welche von anderen Seite laut wurden, damit ohne Weiteres hätten verurtheilen wollen. Die gangbarsten derselben waren durchaus nicht ohne Werth und Wahrscheinlichkeit. Man wußte sicher, daß die Pest einerseits im Jahre 1876 in Bagdad, andererseits 1877 in Rescht geherrscht hatte – und man vermuthete, daß im Sommer des Jahres 1877 auch in Astrachan ein Ausbruch erfolgt wäre, der eben nur der Anerkennung durch die russischen Behörden entbehrte und für’s Erste todtgeschwiegen worden war. Eine klare Vorstellung, auf welchen Schleichwegen die Seuche von den erstgenannten Orten, von Bagdad oder von Rescht aus, nach Wetljanka gelangt sein sollte, ließ sich nicht gewinnen. Man beklagte den dichten Schleier, der überhaupt die sanitären Zustände an den Ufern des kaspischen Meeres bedeckt; man hielt es für denkbar, daß durch persische Handelsverbindungen Keime nach Norden verschleppt, oder auch, daß die Truppenbewegungen auf dem armenischen Kriegsschauplatze anzuklagen seien. Die letztere Vermuthung wurde von sachkundiger Seite am frühesten für unbegründet erklärt. „Die in einem Heere ausbrechende Pest läßt sich schlechterdings nicht verheimlichen – das ist die übereinstimmende Meinung aller russischen, türkischen, österreichischen und anderen Truppenärzte, welcher sich auch die Mitglieder der Untersuchungscommissionen angeschlossen haben.

Eine ganz heimliche Verbreitung der Krankheit in den Umgebungen des kaspischen Meeres, sodaß in keinem Orte eine Epidemie bemerkt worden wäre, mußte bei aller Berücksichtigung der primitiven Sanitätszustände dieser Gegenden als ebenso unwahrscheinlich zurückgewiesen werden. Es wurde also durch Hinwegräumung dieser beiden Hypothesen nun die Annahme einer verborgenen Pestepidemie in Astrachan in den Vordergrund gerückt; für eine Verbreitung derselben von hier nach Wetljanka bedurfte es bei dem ziemlich regen Verkehr beider Plätze weiterer Erklärungen dann nicht. War nun aber wirklich das, was in den Monaten Juli bis September 1877 – nicht, wie hin und wieder irrthümlich angegeben, 1878 – in Astrachan beobachtet wurde, eine Pestepidemie?

Dem Obmann der internationalen Commission, Professor A. Hirsch, haben die vollständigen Regierungsacten über die betreffenden Vorkommnisse vorgelegen, und derselbe erklärte, aus diesen circa 150 Krankheitsfällen (mit sehr geringem Fieber und Drüsenschwellungen, die sämmtlich im Herumgehen der Patienten behandelt wurden und von denen keiner mit dem Tode endete und keiner als ansteckend sich erwies) die Züge einer Pestepidemie nicht herausfinden zu können.

Als die internationale Commission nach Wetljanka kam, schien ein ganz directer Fingerzeig sich in der Erkrankung einer Frau darzubieten, die, nach Astrachan gereist, von dort krank zurückgekehrt und – bereits im October – an der Pest verstorben war. Bald aber ließ sich nachweisen, daß diesem Falle schon mehrere vorangegangen waren, daß die Frau schon krank von Wetljanka abgereist war und daß auch nicht der leiseste Verdacht auf Personen oder Gegenstände, durch die sie in Astrachan hätte angesteckt sein können, begründet werde konnte. – Es ist nicht schlechterdings zurückzuweisen, daß ein Zusammenhang zwischen den Erkrankungen in Astrachan und der vollkommenen Pestepidemie Wetljankas bestehen könne. Aber die Verschiedenartigkeit der beiden Erkrankungsreihen, die Thatsache einer längeren Pause zwischen beiden und das isolirte Befallenwerden Wetljankas mit Uebergehung so vieler Ortschaften, welche in noch viel lebhafterem Verkehre mit Astrachan stehen – alle diese Umstände widersprechen der Wahrscheinlichkeit jenes Zusammenhanges.

Auf die naheliegende Frage, „ob wir denn im Stande sind, einen besser begründeten Zusammenhang von Thatsachen aufzufinden?“ antworten wir ohne Vorbehalt bejahend. Es findet sich ein greifbares Etwas vor, Objecte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit als Pestträger zu bezeichnen sind und die genau unmittelbar vor und während des Ausbruches der Seuche nach Wetljanka gebracht wurden. Diese Gegenstände sind Beutestücke, welche durch die aus dem Bezirke recrutirten Kosaken nach ihrem Heimathsorte theils geschickt, theils gebracht worden sind. An der massenhaften Einführung von Kriegsbeute, aus Seidenrollen, Gewändern, Shawls und dergleichen bestehend, nach Wetljanka ist gar kein Zweifel möglich; die internationalen Commissarien haben solche [523] Stücke selbst gesehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind dieselben in Persien fabricirt, an einem Pestorte inficirt und verpackt, nach Armenien versandt, hier – und zwar muthmaßlich in Kars – den plündernden Kosaken in die Hände gefallen und von diesen – in unausgepacktem Zustande, da in den Regimentern selbst die Pest nicht ausbrach – nach Wetljanka übermittelt. Die ersten Stücke der Art langten durch die Post Anfangs October an; eine größere Menge derselben brachte das am 9. November anlangende Detachement selbst mit. Bis hierher die auf jene Beute bezüglichen Facta, denen wir eine entsprechende Wichtigkeit besonders dann werden zuerkennen müssen, wenn gewisse unterstützende Einzelheiten ermittelt werden können und wenn Logik und Erfahrung mit ihnen im Einklange stehen. Von jenen Einzelheiten seien hier folgende kurz skizzirt.

1) Der erste an der Pest verstorbene Wetljanker war ein reicher Fischer, der mit mehreren der zurückgekehrten Kosaken über ihre Beutestücke in Verhandlung getreten war; sein Sohn folgte ihm sehr bald im Tode nach; in seiner Familie fiel eine große Reihe von Opfern.

2) Ein junger Kosak – man erinnert sich, diesen Vorfall in einer naiven, etwas verstümmelten Darstellung in den Zeitungen gelesen zu haben – schickte seiner Braut einen schönen erbeuteten Shawl. Das Mädchen sollte, damit angeputzt, unmittelbar vor dem Spiegel erkrankt und todt niedergesunken sein, was natürlich übertrieben ist. Thatsache jedoch ist, daß diese junge Person ebenfalls zu den ersten Pestkranken zählte, und weitere Thatsache, daß, als der heirathslustige Kosak sich sehr bald darauf an eine Wittwe mit seinen Werbungen und Geschenken wandte, auch diese und ihre Kinder der Pest erlagen.

3) Der Pfarrer von Przizib (bei welchem der Geistliche von Wetljanka zur Beichte gegangen war) erzählt: „Als die dortige Epidemie auf ihrer Höhe war, gingen von hier drei Betschwestern dorthin, um ,über’ einigen Kranken zu beten. Sie kamen jedoch dabei mit denselben nicht in Berührung. An einem der nächsten Tage entdeckte der Küster hinter einem Muttergottesbilde in der Kirche ein Stück schweren, fremdartigen Seidenzeuges, wie es bei uns gar nicht bekannt ist. Am vierten Tage nach ihrer Rückkehr erkrankten jene drei Betschwestern, sowie auch eine ihnen dienende Magd, die gar nicht nach Wetljanka gekommen war. Alle Vier starben. Die Mutter aber gestand später, daß Jene das Seidenzeug in Wetljanka zum Geschenk erhalten und es von dorther mitgebracht hätten. Da ließ ich es schleunig und mit aller Vorsicht verbrennen.“

Auch der letzte noch im März ganz unerwartet aufgetretene vereinzelte Pestfall beweist auf’s Schlagendste, welche wichtige Rolle inficirte Effecten bei der Verschleppung der Pest spielen. Die Erkrankung betraf ein neunzehnjähriges Mädchen, das in einer zum Verbrennen bestimmten Kleiderkiste gewühlt hatte, welche die Hinterlassenschaft einer vollkommen ausgestorbenen Familie enthielt.

Wir dürfen damit wohl die Reihe der Details, welche auf eine Uebertragung im gedachten Sinne schließen lassen, beenden und nur noch daran erinnern, daß die Logik durchaus nicht gegen dieselbe spricht, und daß vom Beginne sehr vieler Pestepidemien durchaus ähnliche Thatsachen, wenn auch meistens etwas ausgeschmückt, berichtet werden.

Warum breitete sich die Epidemie in so fürchterlicher Weise aus, warum nahm sie – wie wir hier am besten einfügen – allmählich eine so hohe Gefährlichkeit an? – Weil bei der Mangelhaftigkeit der ärztlichen Institutionen jeder Begriff über den Charakter und die Bedeutung der Epidemie fehlte, weil Niemand auftrat, um die nothwendigsten Abwehrmaßregeln in dem Momente zu unternehmen, als es noch Zeit dazu war.

Die Schilderung, welche wir in unsern früheren Artikeln von den ärztlichen Einrichtungen auf dem platten Lande in Rußland gaben, gilt nicht für die Kosakengegenden. Diese haben vielmehr eine Selbstverwaltung bis in die höchsten Stellen hinauf und zwar der Art, daß die Regierung sich in gewöhnlichen Zeiten gar nicht hineinmischt. Während also der Kosakenhetman des Bezirks, der in Astrachan seinen Wohnsitz hat, sich durch so unzureichende Organe, wie sie sich ihm eben darboten, über die ungewöhnlichen Ereignisse zu informiren suchte, betrachtete die Regierung in Petersburg die ganze Sache als einen gar nicht in ihr Ressort gehörigen Vorfall, als eine interne Angelegenheit des Kosakendepartements, die, wie alle anderen, ihrer Zeit schon zur Erledigung kommen würde. Diesem eigenthümlichen Dualismus in der inneren Verwaltung haben diese unglücklichen Dörfer, hat besonders Wetljanka sein Geschick zu verdanken. Die schließliche Regierungsmaßregel, welche in der Ausstattung des Generals Graf Loris Melikoff mit dictatorischer Vollmacht bestand, war der einzige Ausweg, um den Willen der Regierung wirklich zur Geltung zu bringen.

Jedoch war der Zeitpunkt längst vorüber, in welchem diese Veranstaltung zur Bekämpfung der Pest in den schon ergriffenen Orten auch nur das Geringste hätte beitragen können. Sie diente der festeren Sicherung der bereits bestehenden Cordons, und sie hatte den Zweck, den Schutt und die Leichname aus den befallenen Dörfern wegzuräumen, um diese für die europäische Commission sichtbar zu machen. In Wetljanka hatte die Seuche sich ausgelebt; in den anderen Dörfern hatten die Bewohner selbst zur Abwehr mittelst der unbarmherzigsten Isolirungsmaßregeln gegriffen. Wer in Verdacht kam, krank zu sein, wer nur über Kopfschmerzen klagte oder ungewöhnlich aussah, wurde von den entsetzten Bauern in die bereits verseuchten Häuser eingesperrt und seinem Schicksal überlassen. So wurde die Krankheit auf einzelne wenige ergriffene Häuser und Familien, ja auf einzelne Personen beschränkt, nachdem man ihre furchtbare Gewalt erkannt hatte. Das Princip der Absperrung und Unschädlichmachung der einzelnen Infectionsherde hat sich in den nebenher befallenen Dörfern auf’s Schlagendste bewährt.

Mit diesen Thatsachen tritt die letzte Pestepidemie in die Reihe derjenigen, welche eher geeignet sind zu beruhigen als aufzuregen. Sie verlief anfangs milde und erreichte die kolossale Sterblichkeit erst in der elften Woche; sie wurde verkannt und wie das unschuldigste Leiden, wie eines, bei welchem an Ansteckung nicht zu denken sei, angesehen. Von ärztlichen Maßregeln war nicht die Rede, weil in der Zeit, in welcher wirkliche gebildete Aerzte nach Wetljanka kamen, das Krankheitsgift durch die Vernachlässigung bereits eine so furchtbar tödtende Kraft erlangt hatte, daß diese Aerzte nach wenigen Tagen selbst ergriffen wurden und starben. Es fehlte endlich an allen, auch den primitivsten vorbeugenden und hygienischen Maßregeln, weil der Mechanismus der Verwaltung solche gar nicht kannte und weil keine Behörde existirte, die sich zu ihrer Ausübung ermächtigt fühlte.

Wie stark mit diesen Verhältnissen die unsrigen contrastiren, deuteten wir bereits am Schlusse unseres ersten Artikels an und können uns hier daran genügen lassen, die unabweisbaren Lehren, welche man an Ort und Stelle gewonnen haben dürfte, kurz zusammenzufassen. Die Möglichkeit, rechtzeitig die etwa wieder ausbrechende Krankheit zu erkennen, ist ungleich näher gelegt als vorher. Speciell dürfte in Bezug auf die etwa durch Vergraben von Effecten in Wetljanka und Umgegend conservirten Pestkeime der Schrecken, dem die Bevölkerung unterlag, die beste Bürgschaft dafür bieten, daß diese Keime ewig begraben bleiben. Die gespannte Aufmerksamkeit, welche die Blicke administrativer und ärztlicher Beamten viele Monate lang an die Unglücksstätte gefesselt hielten, wird in den nächsten Jahren schwerlich ganz eingeschläfert werden; auch dürfte die Nothwendigkeit, die Kosakengegenden etwas fester in den Regierungsmechanismus einzufügen, grell genug hervorgetreten sein, um diese Frage als eine wichtige erscheinen zu lassen.

Die russische Regierung hat ein schweres Lehrgeld bezahlt. Es existiren noch keine officiellen Darlegungen über die Kosten, welche die Erschwerung des Verkehrs, die Unterbrechung der Handelsbeziehungen, die enorme Verminderung der Exporte, die Cordonnirung so großer Striche und die an Ort und Stelle zur Ausführung gelangten Maßregeln erfordert haben. Daß sie sehr bedeutend gewesen sein müssen, unterliegt keinem Zweifel.

Dr. A. W.

[524]
Meine Täubchen.
Von Eduard Graf Reichenbach.


Nach langer kalter Regenzeit hat sich der Himmel eines Nachts geklärt, die Frühe zieht die dünn gewordene Wolkendecke vollends vom Himmel, und endlich erhebt sich wieder einmal hell und warm die Sonne über den Horizont. Wie Millionen Brillanten erglitzern die Tropfen an den Zweigen, aus denen der kreischende Lärm und der schwirrende Flügelschlag der Spatzen, wohl auch der Flötenton einer Amsel oder das Gezwitscher einer Grasmücke hervorklingt. Auf dem dampfenden Dache aber tummelt sich eine Taubenschaar in lang entbehrter Freiheit und Fröhlichkeit. Laut schallt das Girren und Rucksen der stattlichen Täuber, und mit klatschendem Flügelschlage steigen die Pärchen auf zum Reigen in die klare blaue Luft.

Gestern saßen sie noch mit aufgebauschtem Gefieder eng an einander gerückt trübselig da und wurden nur regsam, wenn sie Futter erhielten – heute aber ist mit der Alles belebenden Wärme und reineren Luft die Liebe wieder bei ihnen eingekehrt, und die unsagbare Lust, welche sie bringt, läßt die Vögel vor dem Auge ihres Pflegers herrliche Bilder entfalten. Wenn da im glänzenden Aether seine Tümmler sich „tummeln“, seine Purzler „werfen“, seine Klätscher mit den Flügeln „klatschen“, vor ihm auf dem Dach die Kröpfer „blasen“, die Trommler „trommeln“ und die zierlichen Mövchen kosen – so geht ihm wohl das Herz auf vor Entzücken. Wie an jedem Morgen, tritt er auch heute mit dem Futtermaß hinaus, aber sein lockendes Pfeifen findet kaum Beachtung. Wohl kommen einige jüngere Täubchen herbei, namentlich die gezähmten Lieblinge, um ihre Leckerbissen zu empfangen, aber sie werden von den sogleich folgenden Täubern so arg bedrängt, daß es ihnen kaum gelingt, einige Körner aufzupicken. Hier und da ein solches haschend, trippelt das Täubchen voran, während der Täuber die Gattin fortwährend kopfnickend verfolgt und wohl hin und wieder tüchtig bei dem Schopfe packt. Man nennt dies das „Treiben“. Und der futterstreuende Pfleger ist keineswegs verdrießlich über die mangelnde Abnahme, welche seine Körner finden – er ist eben Züchter und weiß, daß dies zärtliche Spiel ihm die Belohnung für alle die Mühwaltung und die nicht unerheblichen Kosten verbürgt, welche die Erhaltung des Taubenflugs durch das ganze Jahr erfordert.

Freilich, so ganz nach Wunsch würde die Ehestandsabschließung seiner Pfleglinge nicht vor sich gehen, wenn er sich mit dem bloßen Beobachten begnügen wollte. Da ist beispielsweise jenes zierliche, doch unscheinbar gefärbte Täubchen, schwarz-grau mit weißen Spießen (die äußersten Spitzen der Schwingen), welches so furchtsam um sich blickt, trotzdem aber einer der kühnsten und gewandtesten Purzler und deshalb für den Liebhaber von überaus hohem Werth ist: es besitzt eine Tugend, welche in den Augen ihres Besitzers ein arger Fehler ist. Alle Bemühungen, ihr in Freiheit einen Täuber von gleichen Vorzügen anzupaaren, sind stets an ihrem Eigensinn gescheitert. Ihr gefiel nun einmal jener Täuber mit tiefrothem Käppchen, gleichem Schwanz und schneeweißem Körper viel besser – allein er ist nicht von guter Abstammung, und das arme Täubchen mußte daher, mit einem andern zusammen eingesperrt, den schönsten Theil des Frühlings im Verpaarungskäfig zubringen. Dieses sogenannte Verpaaren ist aber keineswegs leicht. So besitze ich ein Pärchen ebenfalls von solchen farbenköpfigen Tauben oder „Geköpften“, wie sie gewöhnlich geheißen werden, von denen das Männchen ein Schwarz- und das Weibchen ein Gelbkopf ist. Lange Jahre bewohnen dieselben das Taubenhaus, und stets haben sie sich wirklich als ein Muster von ehelicher Liebe und Treue gezeigt. Vielmals wurde der Versuch gemacht, sie aus einander zu bringen und jedes mit einem gleichfarbigen anderen Ehegespons zusammen zu geben, aber es half nichts. Selbst nach monatelanger Verpaarungshaft warfen sie unsere Maßnahmen über den Haufen und fanden sich immer wieder zusammen. Es blieb also nichts weiter übrig, als sie gewähren zu lassen. Wie bei den meisten Vögeln, so währt dann auch hier die Ehe für’s ganze Leben.

Trotzdem ist es mit der Taubentreue solch eigen Ding, und ich vermag in dieser Hinsicht ein bezeichnendes Vorkommniß zu erzählen. Das erwähnte treue Pärchen war vom Beginn der Liebhaberei an in unserem Besitz; die beiden Tauben verkehrten fast nur mit einander; sie flogen viel allein, hatten ihren bevorzugten Platz im Schlage und waren so zahm, daß sie dem Pfleger jederzeit auf die Hand kamen und sich ruhig greifen ließen. Der sehr geräumige, wie eine Stube eingerichtete Taubenschlag erhielt seine Beleuchtung durch zwei große Fenster, welche dicht über den auf das Dach hinausgehenden Flugbrettern angebracht waren; daneben konnte man aus einem Erkerchen bequem beobachten. Das Pärchen war in der Brut begriffen, und die Jungen hatten soeben die Eierschalen durchbrochen. Bekanntlich löst der Täuber alltäglich für einige Stunden seine Taube im Brüten ab, und wenn er dann wieder frei wird, stürzt er mit lautem Girren hinaus und giebt seine Freude in Flugkünsten zu erkennen. Einst, da er sich so ergötzte, setzte sich auf den Schlag ein zartes Täubchen, trippelte hin und her, putzte sich und ordnete hier und da ein Federchen – sodaß man es wohl mit einem koketten Fräulein vergleichen durfte. Und nun spielte sich eine Scene ab, welche wohl einen Beitrag zur Kenntniß des Seelenlebens der Thiere geben könnte und die ich schildern will, ohne sie im geringsten auszuschmücken.

Der alte Täuber girrte das Täubchen an, und bald wurde ein flüchtiger Liebesbund geschlossen – da stürzt plötzlich pfeilschnell die alte Täubin aus dem inneren Schlage hervor, mit Gewalt gegen das Glasfenster, ein Fehlstoß, welchen sie bei sonstiger Gemüthsruhe nie gethan hätte, und dann fällt sie mit Schnabel- und Flügelschlägen, nicht über die Nebenbuhlerin, sondern über den untreuen Gatten her und bearbeitet ihn, solange ihre Kräfte ausreichen. Der Täuber ließ sich die Züchtigung ruhig gefallen und rückte langsam bis an die Kante des Flugbretts. Endlich, fast herabgestoßen, schwang er sich in die Luft empor, stieg mit kräftigem Flügelschlage bis zu bedeutender Höhe, in weiten mächtigen Bogen den Aether durchmessend. Seine Ehehälfte aber blieb ruhig sitzen, mit tief eingezogenem Kopfe – und wenn Tauben weinen könnten, so weinte sie gewiß bitterlich. Das währte sehr lange, sodaß ich bereits fürchtete, die noch fast ganz nackten Jungen würden erstarren und zu Grunde gehen. Endlich erhob sie sich, machte kurz Kehrt und trippelte in den Schlag zu den Jungen zurück.

Auch das Leben in dauernder Einehe bei den Tauben erleidet Ausnahmen. Ich selbst hatte Gelegenheit, eine Art „Graf von Gleichen“ unter den Tauben zu beobachten, einen jungen kräftigen Täuber, welcher mit zwei Täubinnen in friedlichster Ehe zusammenlebt. Alle drei haben ein Nest bezogen; die Weibchen legen gemeinschaftlich ihre Eier; alle drei brüten abwechselnd und füttern die ausgekommenen Jungen.

Daß ein außerordentlicher Reiz in dem intimen Verkehr mit diesen anmuthigen Geschöpfen, in der Pflege derselben wie in der aufmerksamen Betrachtung ihres Lebens liegt, wird jeder Taubenliebhaber empfinden und bestätigen. Das Vergnügen, welches die schärfere Beobachtung jedes Stückchens Natur gewährt, trifft hier, wie bei der Stubenvogelzucht, mit der Freude am Besitz und mit dem geheimnißvollen Hochgefühl zusammen, die Entwickelung thierischen Lebens bis zu einem gewissen Grade nach seinem Willen lenken zu können. Dies und der nicht zu unterschätzende materielle Nutzen hat denn auch von Alters her zusammengewirkt, um der Taubenzucht zahlreiche Freunde zu gewinnen.

Die Liebhaberei für die Tauben erstreckt sich nach verschiedenen Richtungen und hat ihre ganz besonderen Gebiete. Als die bekannteste, wenigstens als die früher in den weitesten Kreisen verbreitete ist die für Flug- oder sogenannte Jagetauben anzusehen. Der Natur- und Thierfreund kann sich allerdings kaum einen schöneren Anblick denken, als einen recht vielköpfigen Flug von Tauben, welche sich kreisend hoch in der klaren Luft tummeln. Der Besitzer hat sie sämmtlich bis auf die brütenden Täubchen und noch nicht flüggen Jungen aus dem Schlage hinausgejagt, und von eine Bodenluke oder auch vom Dache selber aus scheucht er sie vermittelst einer langen Stange, an welcher ein Lappen fahnenartig hängt, fortwährend zurück, sodaß sie wohl stundenlang fliegen müssen. Während der ganze Schwarm kreist, führen die einzelnen ihre besonderen Künste im Ueberschlagen, Werfen und Purzeln aus und werden im Rundfluge immer wieder aufgenommen. Diese Liebhaberei wurde früher

[525] 

Ein Idyll auf dem Dache.
Originalzeichnung von F. Specht.

[526] mit unglaublichem Eifer und nicht selten mit großen Opfern an Zeit und Geld betrieben. Sie war vorzugsweise in größeren Städten, so besonders in Leipzig, Berlin und Köln heimisch. Mit ihr Hand in Hand ging dann auch oft genug Taubenfang und Räuberei. Man benutzte die in jedem Schlage vorhandenen überzähligen Täuber, um vermittelst derselben Täubinnen und mit diesen zusammen zugleich auch andere Tauben anzulocken.

Eine andere, mehr harmlose Neigung ist die für die sogenannten Farbentauben, deren Pflege sich bereits zu einer Art von Wissenschaft entwickelt hat. Schon die allergewöhnlichsten Taubenschwärme auf dem Hofe des behäbigen Gutsbesitzers, Pächters oder Bauern zeigen eine bunte Mannigfaltigkeit in Farben und Zeichnungen. Da giebt es Hohlflügel, Flechttauben, Feuertauben, Eistauben, Lerchentauben, Schuppentauben u. dergl. m., die man im Allgemeinen als Feldtauben oder Feldflieger bezeichnet, soweit sie glatte Köpfe haben, aber Haustauben nennt, sobald sie „gehäubt“ oder „getollt“ sind und „Latschen“, das heißt befiederte Füße, haben. Sie stammen alle von der eigentlichen Feld- und Landtaube ab, welche einfarbig blau ist, mit breiten, schwarzen Binden über die Flügel, und zwar meistens aus deren Mischung mit edlen Rassen. Als die eigentlichen Farbentauben werden solche mit gewissen bevorzugten Zeichnungen betrachtet. Hierher gehören Starhals-, Schweizer-, Pfaffen-, Mönch-, Masken-, Elster-, Storch-, Schwalben-, Muschel- und Schildtaube, Bläßchen, Weißkopf, Mohrenkopf und andere. Man kann es nicht leugnen, daß in dieser Fülle vielfältiger, eigenartiger Erscheinungen für den Züchter ein eigenthümlicher Reiz liegt, zumal wenn es ihm gelingt, die Farben- und Zeichnungsspielarten in reinster Form zu erzielen.

Ein ungleich bedeutungsvolleres Gebiet hat aber der Züchter der Rassetauben. Bei ihm handelt es sich nicht allein um die absonderlichen regelmäßigen Farben und Zeichnungen, sondern um ganz besondere Merkmale des Körperbaues. Nehmen wir ein Lehrbuch in die Hand (als das kürzeste und beste ist „Die Arten der Haustaube“ von G. Prütz und dann als ein größeres umfassenderes das illustrirte „Handbuch der Federviehzucht“ von Dr. Baldamus zu empfehlen), so finden wir diese Tauben in fünf Gruppen: Trommeltauben, Tümmler, Kropftauben, Hühnertauben und Pfau-, Locken- nebst Mövchentauben beschrieben, innerhalb derselben aber giebt es gegen sechszig verschiedene Rassen und Spielarten. Es ist hier ja nicht möglich, auf die Unterscheidungsmerkmale der russischen, bucharischen und altenburger Trommeltauben, der deutschen und englischen Tümmler, Nönnchen und Ringschläger, der zierlichen ägyptischen, chinesischen und deutschen Mövchen, der zahlreichen Kröpfer, türkischen oder orientalischen und spanischen Tauben oder gar der Brieftauben, als Mischlinge aus vielen Rassen zusammen, näher einzugehen. Die Liebhaber, welche sich weiter belehren wollen, seien auf die genannten Bücher, sowie auf Dr. Karl Ruß’ „Die Brieftaube“ verwiesen.

Die Taubenzucht im Allgemeinen ist keineswegs schwierig, und das nur zu vielfach verbreitete Vorurtheil, welches in der Redensart gipfelt: „Wer sein Geld nicht sehen kann liegen, kauf’ sich Tauben, sieht er’s fliegen“, ist haltlos. Dagegen hat die Züchtung guter und reiner Rassetauben allerdings Schwierigkeiten. Gleichwohl hat sich gerade die Liebhaberei für edle Tauben in letzter Zeit in Deutschland staunenswerth verbreitet; man zählt mehrere hundert Vereine, in denen theils ausschließlich Brieftaubenliebhaberei, teils Geflügelliebhaberei im Allgemeinen, größtenteils auch noch mit der Vogelliebhaberei verbunden, gepflegt wird. Alljährlich werden in zahlreichen Städten mehr oder minder großartige Ausstellungen veranstaltet, ferner Taubenwettflüge von den Brieftaubenliebhabervereinen, und bei allen diesen Gelegenheiten werden reichlich Prämien vergeben, die nicht selten von hohem Werth sind. Bei den deutschen Ausstellungen handelt es sich zum größten Theile, ähnlich wie bei den englischen, wenn auch nicht ganz in dem Maße, lediglich um Luxustauben; es giebt Pärchen in den verschiedenen Rassen zum Preise von 15 bis 200 Mark, und auf einer sehr glänzenden Berliner Ausstellung waren unter Anderem bucharische Trommeltauben das Paar für 150 bis 200 Mark, und ägyptische Mövchen das Pärchen für 600 bis 900 Mark vorhanden. Um solche kostbare Vögel zu züchten, bedarf es natürlich gründlicher Kenntnisse, sorgsamster Pflege und unermüdlicher Ausdauer. Da verfolgen die Züchter wohl den Weg, daß sie ihre ganze Sorgfalt nur einer einzigen Rasse zuwenden, in deren Zucht sie dann allerdings Außerordentliches erreichen. So giebt es einen „Pfauentauben-König“, eine „Mövchen-Königin“ u. dergl. m., deren tadellose Thiere auf allen großen Ausstellungen Bewunderung erregen und mit den höchsten Preisen gekrönt werden.

Die Verbreitung dieser Liebhaberei für die Luxustauben verdanken wir zunächst dem Beispiele der Frau Prinzessin Karl von Preußen. Ihr Haushofmeister, Herr W. Meyer, kaufte während der häufigen und weiten Reisen stets die seltensten und schönsten Tauben auf, und so wurden die vorhin genannten köstlichen Rassen, sowie, nebenbei erwähnt, auch die sogenannten holländischen Kanarienvögel, durch ihn zuerst in Deutschland eingeführt. Die Prinzessin hielt immer etwa 300 Paar Tauben und ließ durch Herrn Meyer fleißig die Ausstellungen beschicken. Die erste derartige Tauben- beziehungsweise Geflügelausstellung in Deutschland wurde von Herrn Hofkorbmachermeister Springer in Altenburg schon in den vierziger Jahren veranstaltet, und seitdem hat sich die Liebhaberei reißend schnell verbreitet, namentlich seit durch das Auftreten des Berliner Vereins „Cypria“ mit Dr. Bodinus an der Spitze andere Vereine in wachsender Zahl entstanden und mehr oder minder große Erfolge erzielten. In dem Städtchen Lähn in Schlesien, auch in Liebenthal und einigen anderen, werden seit alter Zeit her alljährliche Taubenmärkte abgehalten, und dem Zuge der neueren Zeit zu folgen, zeigen sich auf denselben unter den wohl dreitausend Paar und darüber vorhandenen Tauben jetzt auch bereits die werthvolleren Rassen zum Preise von hundertzwanzig bis hundertfünfzig Mark für das Paar.

Indessen hat, so scheint es leider, die Taubenliebhaberei ihren Höhepunkt bereits überschritten. Namentlich gilt dies von der Pflege der vorhin erwähnten Flug- und Farbentauben: während dieselben früher recht gesucht waren, behalten sie die Händler jetzt wohl monatelang in den Käfigen. Auf dem Lande, in Guts-, Pfarr- und Bauernhöfen, ferner bei den Ackerwirthen in kleineren Städten sieht man entweder gar keine oder doch nur die allergewöhnlichsten gemeinen Rassen – und doch sollte man bedenken, daß gute edle Tauben einerseits in der Ernährung durchaus nicht kostspieliger sind, und daß sie andererseits doch einen namhaften Ertrag bringen können, neben der Freude und dem Vergnügen, welches sie gewähren. Sollte für den gelangweilten Pensionär in der kleinen Provinzialstadt, dem es meistens an jeder Zerstreuung fehlt, und für unzählige Andere in ähnlichen Verhältnissen Lebende die Liebhaberei für die Tauben – ebenso wie die für einheimische und fremdländische Stubenvögel – nicht eine wahre Wohlthat sein? Sie könnte ihnen über das geisttödtende Einerlei des täglichen Lebens hinweghelfen und ihnen eine anregende und unter Umständen recht einträgliche, in jedem Falle aber harmlose Thätigkeit gewähren.




Ein heiliger Stein.
Erinnerung aus dem amerikanischen Westen.


In jenen trostlosen, jeder landschaftlichen Schönheit baren Regionen des nördlichen Dacota, welche die Amerikaner in den Karten als bad lands (schlechtes Land) bezeichnen, hatten wir den immer spärlicher werdenden Büffel während des kurzen, oft von Schneegestöber unterbrochenen Sommers gejagt und waren nun auf der Heimfahrt, ostwärts, nach Minnesota begriffen. Unsere kleine Karawane war aus vier weißen Männern, einem Halbblutindianer und einer kleinen Bande echter, rechter Rothhäute aus dem Stamme der Sissiton-Sioux zusammensetzt, welche Letztere wir für die Dauer der Jagdzeit angeworben hatten, theils damit sie uns als Führer in jener pfadlosen Graswüste dienen sollten, theils aber auch um in ihnen eine Hülfe beim Abhäuten der erlegten Thiere und tüchtige Kutscher für unsere vier Wagen zu finden. Der Halbblutindianer hatte als Koch zu figuriren und war unser Factotum in allem, was Jagd und Reisepläne anbelangte. Pierre, wie er sich nicht ohne Stolz nennen ließ, war in der canadischen Provinz Manitoba, die an Dacota grenzt, zu Hause, und dieses weite, aber schwach bevölkerte Gebiet, in welchem ein französisches Kauderwelsch gesprochen wird, liefert die trefflichsten Jäger, Bootsleute und Pfadfinder, ohne welche die sonder Beispiel dastehende, vorzügliche Organisation des Pelzhandels der Hudsonsbaygesellschaft, welche in Manitoba noch ein factisches Monopol [527] ausübt, nicht möglich sein würde. Auch Pierre stand einst im Dienste der Gesellschaft als „voyageur“, jetzt aber wollte er sich selbstständig machen und auf eigene Rechnung Büffel und Pelzthiere jagen.

So erreichten wir denn in langsamer Ostwärtsbewegung die Wigwams der Sissiton-Sioux, wo wir für einige Tage verweilen wollten, damit unsere rothen Begleiter das mitgebrachte Büffelfleisch – ihren Jagdantheil – in Muße an ihre Frauen abliefern konnten, denen es oblag, daraus den Pemican – ein Wort, das ich nicht ohne Gruseln niederschreiben kann – zu bereiten.

Während unsere Zelte aufgeschlagen wurden, schweiften meine Augen über die nächste Umgebung des Indianerdorfes und blieben unwillkürlich an einem großen Felsblock haften, der halb über, halb in der Erde an der Seite der schwachen Bodenerhebung lag, an deren Fuß wir unsern Lagerplatz einrichteten. Diese in der stein- und felsenlosen Gegend so fremdartige Erscheinung erregte mein Interesse dermaßen, daß ich sofort eine nähere Besichtigung unternahm. Es war ein Syenitstein, wie ich mich leicht überzeugen konnte, und da das ganze Gebiet, soweit ich es zu übersehen vermochte, ein Alluvialgebilde war, so unterlag es wohl keinem Zweifel, daß ich es mit einem erratischen Block zu thun hatte, der in der Eisperiode, vielleicht fern aus Norden, dahin geschwemmt worden war.

Meine Neugierde wuchs, als ich auf der glatten Oberfläche, die ungefähr neun Fuß lang und sechs Fuß breit war, mystische Zeichen in roher, aber doch keineswegs ungeschickter Ausführung eingemeißelt fand. In einem ovalen Kranze liefen sechs Linien parallel, mit dicken Knoten an den Enden, und zwischen diesen Linien waren Punkte eingestreut, außerdem vier Hirsche und symbolische Zeichen, die ich nicht zu enträthseln vermochte. Linien wie Punkte waren achtzehn Zoll tief eingehauen und darum, obgleich im Laufe der Zeit Wind und Wetter auch an diesem Steine nicht ohne Erfolg genagt hatten, deutlich zu erkennen. Welche Bedeutung hat dieser Stein in menschenleerem, wüstem Lande, das nur das wandernde Jägervolk der Sioux bewohnt, und wer enträthselt mir diese Hieroglyphen?

Mit solchen Gedanken kam ich zum Lagerplatz zurück und rief Greencorn, einen alten Häuptling, an meine Seite.

„Erzählt mir, was Ihr von jenem Steine wißt!“ hob ich an und reichte ihm den Tabaksbeutel zur Füllung seiner Pfeife hin.

Statt einer Antwort winkte er mir geheimnißvoll und schritt mir schweigend nach dem Stein voran. Dort setzten wir uns nieder, zündeten unsere Pfeifen an und saßen eine Weile wortlos neben einander, denn so werden nach Indianerart große Verhandlungen eingeleitet.

„Das ist,“ so hob der alte Krieger endlich an, „ein heiliger Stein. Es ist das steinerne Thor, das in das Wigwam der Zwillingsschwestern führt. Die Zwillingsschwestern sind Geister, welche die Macht besitzen, die Dacotaweiber schön zu machen und sie die Anfertigung von Perlenschnüren und Federtand zu lehren. Die Geister leben unter diesem Steine und haben diese Zeichen auf ihn geschrieben, welche besagen, daß er heilig sei. Unsere Weiber kommen hierher, opfern Farben, Perlen und Nadeln und bitten um Schönheit, aber auch um einen Mann. Wenn indessen ein Krieger diesen Stein berührt, so wird sein Arm schwach, sein Blut zu Wasser und das Schrecklichste von Allem geschieht ihm: er wird zur Frau umgewandelt. Die Indianer nennen diesen Hügel mato-ti (Bärenhöhle), denn in der Sprache der Dacota heißt mato Bär und ti Höhle.“

„Weshalb?“ forschte ich, denn der Alte wollte wieder in tiefes Schweigen versinken.

„Das kam so. Eine lange, lange Zeit ist es schon her – da jagte ein Dacota-Indianer hier in der Nähe und sah statt Wild ein sehr schönes Weib, die er sofort fragte, ob sie seine Frau werden wolle.

‚Nein, es ist besser, Du heirathest ein Mädchen aus Deinem Stamme. Ich gehöre zum Volke der Bären, und Dacotas und Bären sind Feinde.’

Aber der Dacota ließ sich nicht so leicht abweisen. Er war ein guter Jäger, und so brachte er ihr denn täglich einen Theil seiner Beute, entweder zartes Büffelfleisch, einen fetten Hirsch oder gar klaren, süßen Honig, welchen sie sehr liebte.

Der Dacota wollte um keinen Preis von ihr lassen, und so erklärte sie ihm denn nach einiger Zeit:

‚Gut, ich will Deine Frau werden, aber das Versprechen mußt Du mir geben, daß Du niemals mein Volk, die Bären, tödten willst.’

Der Dacota versprach bereitwillig, niemals einen Bären zu erlegen, sondern ihrem Volke immer sorgsam aus dem Wege zu gehen, und so wurden sie denn verheirathet und lebten eine Zeitlang glücklich in der Höhle zusammen. Eines Tages aber war der Dacota auf der Jagd gewesen und hatte nichts erlegt. Müde und ärgerlich kehrte er nach Hause zurück. Da sieht er, wie ein Bär dem Eingange seiner Höhle zustrebt, und ohne an das seiner Frau gegebene Versprechen zu denken, läßt er den Pfeil fliegen. Ein gellender Schrei folgt dieser That, und als der Dacota in seine Hütte eilt, findet er seine Frau mit seinem Pfeil im Herzen, das Bärenfell aber war abgefallen und mit ihrem Lebensblute bedeckt. Manchmal,“ so schloß der Alte seine Erzählung, „sehen die Dacotas Nachts einen Bären zu der Quelle kommen, die da etwas abseits vom Steine nach unserem Dorfe hinunter rieselt, aber sie wissen, es ist nur der Geist jener ermordeten Frau, denn er wirft keinen Schatten im Mondlichte und seine Fußtritte hinterlassen keine Spuren am weichen Rande des Wassers.“

Langsam schlenderten wir nach den Zelten zurück, wo schon Alles im tiefsten Schlummer lag; nur in Greencorn’s Wigwam erwartete man uns noch mit einem trefflichen Abendessen aus Büffelfleisch, Maiskuchen und gerösteten Rüben. Dann aber ging ich gedankenvoll nach meinem eigenen Zelte zurück, in dem Pierre in seiner vorsorglichen Weise ein Feuer angemacht und mit grünem Grase beworfen hatte, damit der dicke gelbe Rauch die Mosquitos von meiner Lagerstätte fern halten sollte. Allein diese Vorsichtsmaßregel belästigt oft eben so sehr den Menschen wie die Mosquitos. Das war auch der Grund, warum ich an jenem Abende Zelt und Feuer floh und mit meiner wollenen Decke nach dem Hügel in die Nähe des heiligen Steines wanderte, denn dort wehte eine frische Brise, die von den Mosquitos so sehr wie Feuer gefürchtet wird.

Da lag sie vor mir, die endlose Prairie, auf der die Grabesruhe lagerte, die selbst nicht von dem Indianerdorfe aus, das sich im blassen Sternenlichte nur in unsicheren Umrissen von dem Grasocean abhob, unterbrochen wurde. Diese Prairiescenen ermüden leicht, denn das Auge findet keinen Ruhepunkt. Von der feierlichen Stille begünstigt, wollte ich mein Bewußtsein im Schlafe verlieren, da – ich reibe mir die Augen klar – sehe ich am Fuße des Hügels eine dunkle Gestalt, die sich, so weit es im Dunkel der Nacht zu erkennen war, aufwärts nach meiner Lagerstätte bewegte. Es war mir, dem Waffenlosen, wohl nicht zu verargen, wenn ich mich mit der Frage beschäftigte: was thun, wenn es statt eines friedlichen Menschen ein reißendes Thier ist? und mit Greencorn’s Bärenfabel so frisch im Gedächtnisse, wünschte ich herzlich, ich wäre wieder glücklich im Lager. Doch da schimmerten die ersten Strahlen des aufgehenden Mondes über die Prairie, und bei ihrem fahlen Scheine konnte ich nun, zu meiner Beruhigung, deutlich erkennen, daß es eine Indianerin war. Geräuschlos und behutsam setzte sie den vorwärts schreitenden Fuß zur Erde, immer ängstlich rückwärts blickend, ob ihr Niemand folge und ob ihr geheimnisvolles Thun auch unbeobachtet bliebe. Mit katzengleicher Vorsicht näherte sie sich dem heiligen Steine und setzte sich an seine Längsseite nieder. Nun zog sie unter ihrem losen Calicokleide ein Rehfell hervor, breitete es vor dem Steine aus und murmelte Dacotaworte, die ich nicht verstand. Sie streute etwas auf die Oberfläche des Steins, offenbar ihre Opfergabe – wie ich mich später überzeugte, aus Glasperlen und etwas gepulvertem Carmoisin bestehend – nach welchem Acte sie sich auf ihr Rehfell setzte, still, regungslos und mit gefalteten Händen. Der Mond stand nun voll und klar am Himmel, und seine Strahlen fielen über den Kamm des Hügels in das ernste, flehende Gesicht der lieblichen Silberzunge, der ältesten Tochter Greencorn’s. Ihr langes schwarzes Haar hing lose um Nacken und Schultern, die es wie ein Gewand bedeckte. Ihr ganzes Gebahren bezeugte zur Genüge, daß sie liebeswund war, daß sie in stiller, geheimnißvoller Mitternacht gekommen war, um die Vermittelung der Geister der Zwillingsschwestern anzurufen, die wohl den Vater erweichen sollten, damit er für sie keinen allzu hohen Preis von dem angebeteten Manne fordern möchte. Nachdem Silberzunge ungefähr eine halbe Stunde gesessen, seufzte sie tief auf, packte ihr Rehfell wieder zusammen und verließ auf einem andern Wege, als auf dem sie gekommen, den Hügel, aber immer unter derselben lauernden Vorsicht, die sie bei ihrem Nahen beobachtet hatte.

Ich habe bei den Aeltesten der Indianer noch vielfach Umfrage gehalten, ob sie mir nähere, vielleicht durch die Tradition fortgepflanzte Auskunft über den Ursprung dieses Geisterglaubens und der Heiligsprechung des erratischen Blockes geben könnten, aber Alle behaupteten einstimmig, daß der Stein sich schon seit Menschengedenken in dieser Position befände, und daß sie die Legende, die sich an ihn knüpfe, von ihren Vorfahren gehört hätten. Kein Faden führt zu dem Geheimniß, das der heilige Thorstein vor der Geisterhöhle der Zwillingsschwestern hütet. Das Gehirn, das die Legende erdachte, und die Hand, welche die Hieroglyphen meißelte, sind vor langen Jahrhunderten in Staub zerfallen, und nur der Alterthumsforscher wird dieses seltsame Monument der Vergangenheit mit prüfendem Blicke betrachten, um zu enträthseln, was jene mystischen Zeichen der Nachwelt verkünden sollten und wie sie in den harten Stein eingegraben wurden, mit eisernem Werkzeug oder den Fragmenten eines Feuersteins.

Solche Legenden, wie die, welche uns Greencorn von der Bärenfrau erzählte, findet man übrigens unter allen Stämmen der amerikanischen Indianer, welche sämmtlich annehmen, daß Bären und Biber schon Menschen gewesen sind oder sich nach Belieben in solche verwandeln können. Manche Stämme, Banden und Familien leiten ihre Abkunft sogar auf solche thierische Vorfahren zurück, und keineswegs finden sie in diesem Glauben eine Herabwürdigung. Damit stehen sie nicht tiefer, als die ungebildeten Classen mancher europäischen Nation, und selbst in unserem deutschen Vaterlande kenne ich Gegenden, wo bis auf den heutigen Tag noch der Glaube existirt, es könne sich ein Mensch, wenn er nur den Zauberspruch weiß, in einen Werwolf verwandeln. Auch die Verehrung und Anbetung eines Steines ist keine vereinzelte Erscheinung, so wenig in der Geschichte des gesammten Heidenthums wie speciell unter den Indianern. Gewöhnlich ist es ein durch seltsame Lage oder merkwürdige Form auffallender Stein, welchen die Letzteren mit Roth, der heiligen Farbe und wahrscheinlich dem Sinnbild des Blutes, bemalten und in Bilderschrift der Mit- und Nachwelt als einen geheiligten Gegenstand bezeichneten. Diese Bilderschriften der amerikanischen Indianer erinnern an die früheste Form der ägyptischen Hieroglyphen; es war eben hier wie dort ein Versuch, durch allgemein bekannte Symbole Gedanken und Ereignisse zur öffentlichen Kenntnis bei Mit- und Nachwelt zu bringen. Unter den Azteken erreichte diese Kunst bekanntlich eine sehr hohe Vollendung, sodaß die Geschichte des damaligen mexicanischen Reiches in bester Ordnung aufgeschrieben oder besser eingravirt werden konnte. Dagegen ist es unter den nördlicher wohnenden Indianern bei rohen, unbeholfenen Versuchen geblieben. Oft sollen die Zeichen nur den Namen eines hervorragenden Mannes angeben, wie diejenigen an dem gefährlichen Leapingrock in Dacota oder sie sollen auch das Portrait eines Thieres oder Objectes sein, das ihnen im Schlafe erschienen ist; denn den Träumen schenken die Indianer eine große Beachtung.

Der Tag des Abschieds kam heran, und uns lag es noch ob, das Zelt Greencorn’s zu betreten und dem alten Häuptling, der uns wie immer würdevoll empfing, Lebewohl zu sagen. Da trafen wir auch die kleine Silberzunge, aus deren tiefdunklen Augen jede Sorge verschwunden [528] war und die nun so heiter lachte, wie der Himmel, der über uns blaute. Die Geister der Zwillingsschwestern sind in jener Mitternachtsstunde nicht vergeblich um Vermittelung angerufen worden, denn kein Anderer als unser braver, nußbrauner Pierre brachte am Morgen des Abschiedstages dem alten Chef ein struppiges Indianerpferd, eine Flinte mit Feuersteinschloß und etwas Calico in das Wigwam, und als Gegenwerth empfing er die kleine Silberzunge. Unser Zelt, das wir jetzt nicht mehr brauchten, übergaben wir dem glücklichen dunkelfarbigen Paare als Hochzeitsgeschenk, und dann ritten wir dem Missouri zu, wo wir uns nach dem Süden einschifften.

Das war vor mehreren Jahren. Als mich verflossenen Sommer mein Weg noch einmal in jene Gegend führte, die inzwischen lebhafter geworden war, denn ein neues Dorado, die black hills, die eine Oase in der Wüste bilden, war gefunden, da traf ich meine ehemaligen Jagdgenossen nicht mehr. Auch sie hatten den Kriegspfad betreten in den erbitterten, für Weiße und Rothe so empfindlichen Kämpfen, die, wie immer, damit endeten, daß Letztere das Feld räumen und nach dem Lande der untergehenden Sonne weiter ziehen mußten. Der heilige Stein ruht noch wohl gebettet an der Seite des Bärenhügels, aber kein Dacotaweib opfert mehr Perlen und Farben den Geistern der Zwillingsschwestern. Wie ehedem, so wächst und grünt noch auf der Prairie das Gras, aber selten wie ein Indianergesicht sind auch die Büffel geworden, die in endlosen Heerden über diese Ebene nach Norden zogen, ehe der weiße Mann mit seinen vorzüglichen Waffen die schonungslose Jagd begann.
S.




Blätter und Blüthen.


Mittelalterlicher Taufgang. (Mit Abbildung, S. 517.) Unser Bild führt uns nach Straßburg, und zwar in die Zeit seines reindeutschen Lebens, in die erste Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts zurück, auf diese Zeit deuten die Costüme hin, welche sich uns als niederdeutsche mit burgundischen Anklängen zeigen. Wir hätten das Bild auch „Die vier Lebensalter“ benennen können, denn diese sind sämmtlich in den Gestalten vertreten, welche wir die wundervolle steinerne Wendeltreppe herabsteigen sehen, die im ehemaligen „Frauenhause“ (Südfront des Schloßplatzes) noch jetzt die Freude aller Kunstverständigen ist. Das „Frauenhaus“ bewahrt bekanntlich gegenwärtig eine Sammlung von Abgüssen der Sculpturcuriositäten des Münsters und andere Dommerkwürdigkeiten, und ist deshalb ein von Kunstjüngern oft besuchter Ort. Unser Künstler bestieg jene Wendeltreppe im Jahre 1870, als er seinen von Franctireurs gefangenen Freund Theodor Fontane im damaligen Kriegsland suchte, und fand bei dieser Gelegenheit die Idee zu unserem Bilde.

Bedarf das Bild keiner weitern Erklärung, so werden unsere Leser um so lieber über den Schöpfer desselben Einiges erfahren; der begabte Meister selbst hat auf unsere specielle Bitte hin die Freundlichkeit gehabt, uns mit Daten an die Hand zu gehen. August von Heyden hat das Glück einer sehr achtbaren Ahnenschaft im Ritterthum der Geister. Einer der frühesten und geistreichsten deutschen Humoristen, Theodor Gottlieb von Hippel, war sein Großonkel, Theodor von Hippel, der Verfasser des Aufrufs „An mein Volk“ und von „Beiträgen zur Charakteristik Friedrich Wilhelm’s des Dritten“ sein Großvater, sein Vater aber der Dichter des jüngst in zweiundzwanzigster Auflage erschienenen Hohenstaufen-Epos „Das Wort der Frau“. Kein Wunder, wenn zur geistigen Erbschaft dieses Nachkommen, der am 13. Juni 1827 in Breslau geboren wurde, auch die poetische Ader gehörte, deren Schaffelust jedoch den Jüngling zur bildenden Kunst hindrängte. Da aber, nach seines Vaters Ansicht, „die Kunst möglichst wenig nach Brod gehen sollte“, so mußte August von Heyden zunächst einen andern Beruf wählen und folgte seiner Neigung zu den Naturwissenschaften und seinem Hange zum Außergewöhnlichen, indem er den Entschluß faßte, Bergmann zu werden.

Nachdem er in Waldenburg wacker das Leder getragen, machte er Universitätsstudien erst in Breslau, dann in Berlin. Hier markirte das Schicksal schon die künftige Wendung seines Lebenspfades, denn abgesehen von seinem eifrigen Verkehr mit Kaulbach und dessen Genossen beim Ausmalen des neuen Museums, wurde er durch Hermann Stilke ein von Tag zu Tag willkommenerer Gast im Hause von Cornelius, der von dem jungen, phantasievollen Bergmann an einsamen Abenden hinter seiner durch einen Lichtschirm verdunkelten Lampe sich Bergmannsabenteuer und Grubengespenstergeschichten erzählen ließ. Zugleich verband ihn die innigste Freundschaft mit dem später so berühmt gewordenen Architekten Richard Lucä und ward für ihn zu einer neuen Fessel an Berlin. Erst 1859 zerriß er die ihn hemmende Berufskette. Obwohl, nach vorgängiger Wirksamkeit zu Albona in Istrien, bereits Verwaltungschef der Bergwerke des Herzogs von Ujest, verheirathet und Vater von vier Kindern, schied er mit raschem Entschluß aus seinem Amte, besuchte, ein Mann unter Jünglingen, die untersten Classen der Berliner Akademie, trat 1860 in Steffeck’s Atelier und ging im folgenden Jahre nach Paris, wo er bei Glaire und Couture arbeitete und schon nach anderthalb Jahren sich auf dem Pariser Salon durch sein Bild der „Heiligen Barbara als Schutzpatronin der Bergleute“ die goldene Medaille erwarb.

Als fertiger Meister kehrte er 1863 nach Berlin zurück. Das Verzeichniß der zahlreichen Werke, welche der Künstler seitdem geschaffen, findet der Leser, der darnach sucht, in jedem Conversations- und Künstlerlexicon. Genrebilder machen den Anfang, dann aber folgen Schlag auf Schlag historische Bilder und große monumentale Arbeiten, in denen er sein eigenstes Können entfaltet; dazwischen fallen einige Radirungen und mancherlei Illustrationen. Die bekanntesten seiner größeren Arbeiten sind, außer der genannten Bergmanns-Heiligen, „Luther und Frundsberg zu Worms“, jetzt im Germanischen Museum zu Nürnberg, und „Vor der Schloßkirche zu Wittenberg am 31. October 1517“; ferner der Vorhang des Berliner Opernhauses, Arion auf den Meereswogen darstellend, eine reiche, von festlichem Leben erfüllte Composition; als reizende, poetische Schöpfungen wurden 1870 bewundert: „Die Siesta“, „Das Märchen“ und „Der Festmorgen“, welch letzterer von der Nationalgallerie in Berlin erworben ist. Orpheum, Rathhauskeller, Kaisergallerie, Nationalgallerie und manche Privatgebäude in Berlin enthalten monumentale Arbeiten des Meisters. Auch die Ausschmückung des deutschen Fürstenpavillons auf der Wiener Weltausstellung war sein Werk, und im Generalstabsgebäude hat er das Arbeitszimmer Moltke’s decorirt. Nachdem A. von Heyden 1866 mit Bleibtreu und L. Burger die preußische Armee ohne künstlerische Ausbeute auf die böhmischen Schlachtfelder begleitet hatte, regte das Jahr 1870 ihn zu seinem großen Bilde „Walküren reiten über das Schlachtfeld“ an, das in Wien mit der Medaille ausgezeichnet ward. – Romantiker mit voller überzeugter Hingabe, faßt A. von Heyden selbst classische Stoffe von diesem Gesichtspunkte an, wählt aber mit Vorliebe deutsche und nordische Stoffe. Augenblicklich schreitet er zur Ausführung eines großen Auftrages: der Ausmalung des Schwurgerichtssaales in Posen.

A. von Heyden ist auch schriftstellerisch thätig. Er gab „Blätter für Costümkunde“ bei Franz Lipperheide in Berlin heraus, veröffentlichte culturhistorische Aufsätze in Zeitschriften und ist Verfasser anmuthiger Bergmannsmärchen, die unter dem Titel „Aus der Teufe“ im Grote’schen Verlag erschienen sind.




Zur Seemannssprache. Daß in unserem lieben Deutschland nautische Ausdrücke vielfach unrichtig und verdreht seitens des Publicums gebraucht werden, ist eine längst bekannte Thatsache. Es wäre eine Arbeit, ärger als das Leerpumpen eines lecken Schiffes, eine Berichtigung all dieser Irrthümer vornehmen zu wollen. Seit einiger Zeit aber wird ein seemännischer Ausdruck selbst in officiösen und officiellen Artikeln in ganz corrumpirter Weise und so häufig gebraucht, daß es fast scheint, als wolle er sich in dieser unrichtigen Form in unserer Schriftsprache einbürgern.

Es handelt sich um den Ausdruck: „Das Schiff macht so und so viel Knoten die Stunde.“ Bekanntlich wurde früher allgemein und wird jetzt noch auf den kleineren Schiffen, welchen ein Patentlog zu theuer ist, die Schnelligkeit der Fahrt durch das Log gemessen, ein kleines dreieckiges, mit Blei beschwertes Brett, welches so construirt ist, daß es sich bei einem gelinden Zuge gegen das Wasser stemmt und so ziemlich auf dem Platze liegen bleibt, wo es in’s Wasser geworfen ist. An demselben ist eine Leine befestigt, welche auf dem Schiffe an einer leicht drehbaren Rolle läuft. Während das Log fest liegt, das Schiff sich aber von demselben entfernt, kann man an der Länge der sich während einer bestimmten Zeit abrollenden Leine genau sehen, welchen Raum das Schiff in dieser Zeit durchfahren hat. Um nun die Leine nicht zu lang machen und das Geschäft des Loggens nicht zu sehr ausdehnen zu müssen, ist die Zeit der eigentliche Messung bei allen seefahrenden Nationen nur auf eine halbe Minute festgesetzt. Zur leichteren Messung ist die Logleine mit gleichmäßig von einander entfernten Marken versehen. Die Entfernung dieser Marken von einander beträgt 1/120 Seemeile oder ziemlich genau 15,43 Meter, und bezeichnet man diese Entfernung mit dem Ausdrucke „Knoten“. Genau so viel Knoten also ein Gegenstand (Schiff, Strom, Ebbe- und Fluthwellen) in einer halben Minute macht, genau so viel Seemeilen macht er in einer Sekunde oder geographische Meilen in vier Stunden. Da jeder Seemann weiß, was er darunter zu verstehen hat, so ist der Ausdruck „das Schiff macht so und so viel Knoten“ völlig correct; der Seemann ergänzt dabei aber: „in der halben Minute. Ebenso correct ist es zu sagen: „das Schiff macht so und so viel Seemeilen die Stunde“. Aber zu sagen: „das Schiff macht so und so viel Knoten die Stunde oder in der Stunde“, ist nach dem eben Entwickelten ein bodenloser Unsinn.
Ein Seemann.


„Nur wer die Sehnsucht kennt –“ In der nördlichen Moldau lebt eine junge, kinderlose Wittwe, welche aus drückenden Verhältnissen heraus sich nach ihrer Thüringer Heimath sehnt, ohne daß sie oder ihre Angehörigen die Mittel zu der weiten Reise aufzubringen vermöchten. In dieser Noth schöpft sie ihre Hoffnung aus der Möglichkeit, daß eine wohlhabende Familie aus Rumänien nach Deutschland reisen und sie als Reisedienerin mitnehmen könne. Es ist freilich nur ein Strohhalm, nach dem sie greift, aber wir bieten ihr ihn gern: vielleicht kommt doch dieses Blatt der „Gartenlaube“ Lesern vor Augen, welche in der Lage sind, ihr zu nützen, und welche diesen Antrag mit günstigen Blicken ansehen – dann wäre ja wieder einer armen Bedrängten geholfen.



Kleiner Briefkasten.

Mehreren Fragestellern zur Antwort: Die chemische Untersuchung hat ergeben, daß das unter dem Namen „Gölis’ Speisepulver“ bekannte weiße, etwas feuchte Pulver der Hauptsache nach aus doppeltkohlensaurem Natron besteht; beigemischt sind demselben geringe Mengen Cremortartari, Salpeter, Zuckerpulver, sowie ein wenig kohlensaurer Kalk.

A. M. in S. Die Sprachverhältnisse in Belgien waren im Jahre 1879 die folgenden: 2,659,890 sprachen nur vlämisch, 2,256,860 nur französisch resp. wallonisch, 340,770 vlämisch und französisch, 38,070 nur deutsch, 22,700 deutsch und französisch, 1790 vlämisch und deutsch, 7650 andere Sprachen.

Stuttgart 4711. Einen Artikel über die Zulu-Kaffern mit Abbildungen haben wir bereits in unserer Nr. 12 veröffentlicht, Sie scheinen also nicht gerade zu den „aufmerksamen“ unter unseren Lesern zu gehören.

H. H. in F. Ungeeignet! Verfügen Sie über das Manuscript!


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Fast scheint es einer Entschuldigung zu bedürfen, daß wir, ein unsern Lesern gegebenes Versprechen erfüllend, mit diesem Schlußartikel über die Pest in den Wolgadistricten (October 1878 bis Januar 1879) noch einmal an einen Gegenstand herantreten, der nicht mehr im Vordergrund des Tagesinteresses steht. Da aber die internationale Commission zur Untersuchung der Pestgegenden erst kürzlich die Resultate ihrer Forschungen endgültig gesichtet und geordnet hat, so war die Veröffentlichung dieses sich durchaus auf authentische Berichte stützenden Schlußartikels nicht früher thunlich.
    Die Redaction.