Die Gartenlaube (1880)/Heft 16

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[253]

No. 16.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.
Der Weg zum Herzen.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Die unruhigen Pferde hatten den Kutscher, der sie nur mit Mühe bändigte, zur Seite gedrängt, aber auch die Fährleute verhindert, ihren Haken zu gebrauchen; statt an der Landungsbrücke sachte stehen zu bleiben, war das Fährboot mit hartem Stoß gegen dieselbe gefahren und wieder zurück geprallt. Nun hätte es, da die Steuerung noch nicht umgestellt war, wohl nach einer Weile abermals angelegt, aber durch die Macht des Anpralles und die Stauung des Wassers war endlich eingetreten, was man schon seit einiger Zeit befürchtet, ohne daß sich die Indolenz der dortigen Bauern zu einer vorbeugenden Maßregel aufgerafft hätte. Der Ankergrund hatte sich durch die Anschwellung des Flusses in der letzten Zeit gelockert, und der große Grundanker schon wiederholt um ein Weniges nachgegeben, worauf man sich jedoch mit der bequemeren Kürzung des Seiles begnügt hatte. Diesmal wich aber der Anker nicht mehr um Zolle und Meter, sondern ganz und gar. Das Fährboot mit allem, was darauf war, nahm, vorläufig noch langsam, den Weg stromab; kam es in die volle Strömung, dann hielt die stürmische Fahrt wohl nichts mehr auf, und an dem ersten aufragenden Felsen mußte das morsche Wrack seinen Untergang finden.

Die Bauerweiber, die zufällig mit darauf waren, rangen jammernd die Hände und riefen die Heiligen an, während ein paar von den Männern dem Kutscher zu Hülfe gekommen waren und wenigstens die Pferde fest hielten, daß diese in ihrem ersten Schreck nicht Alles zerschlugen und zertrümmerten. Die Bootsleute winkten inzwischen zum Ufer hin und forderten schreiend die wenigen dort befindlichen Leute auf, ein schnell bereit gemachtes Tau zu fangen. Dazu war es jedoch zu spät; schon trieben sie weit abwärts, als die langsam zum Entschluß Gekommenen im Nebenherlaufen ihre Hülfsbereitschaft kund gaben.

Noch war es jener Kahn weiter unten, der das Unheil abwenden konnte, und in der That, er stieß soeben vom Lande ab.

Ohne darauf zu achten, daß Steinweg im Begriff stand, auszusteigen, war Witold, sobald er die Gefahr erkannt hatte, mit einem Satze hinabgesprungen, welcher das Boot derart in's Schwanken brachte, daß Steinweg, statt an's Land zu steigen, schleunigst niedersitzen mußte. Im Nu hatte jener sein Ruder wieder zur Hand genommen und mit demselben abgestoßen. Unter Peter's Beihülfe trieb er das leichte Fahrzeug blitzschnell durch die hastigen Wellen, und es gelang, dasselbe so nahe an das treibende Fährboot heranzuarbeiten, daß das geschleuderte Tau voraussichtlich herüberreichte.

Witold war aufgestanden, und während Peter allein weiterruderte, hatte er mit scharfem Auge und gespannt dem Wurfe entgegengesehen.

Jetzt flog der Ring durch die Luft; schwirrend senkte er sich nieder; Witold hielt ihn in der Hand, und ein Jubelruf aus fast einem Dutzend Kehlen begrüßte das Gelingen.

Aber das Jauchzen der Freude war urplötzlich in ein jähes Jammergekreisch verwandelt. All die Stimmen jedoch übertönte ein schriller Aufschrei, der vom andern Ufer herüberscholl.

So schnell und kräftig sich Witold des Taues bemächtigt hatte, vermochte er doch nicht, es ebenso schnell um eine Bank oder Rudergabel zu schlingen und so am Boot zu befestigen, denn es hatte sich in dem Bootshaken verfangen, mit welchem sich Steinweg instinctiv bewaffnet hatte. Während Witold aber hastig bestrebt war, es zu lösen, that es einen mächtigen Ruck und nahm ihn, da er es nicht fahren lassen wollte, kurzweg über Bord.

Wie ein geschleuderter schwerer Stein war die große Gestalt in den aufspringenden Wellen verschwunden.

Doch es waren nur Secunden des athemlosen lähmenden Schrecks. Da erschien auch schon wieder der Kopf und das breite Schulterpaar aus den grüngelblichen Fluthen, auf denen der Hut flüchtig dahintrieb.

„Ich hab's, ich hab's,“ war Witold's erster Ruf. Im nächsten Augenblicke rief er Denen auf dem Fährboote abwehrend zu: „Nicht aufwinden! Dann ist alles verloren. Peter – her mit dem Kahn!“

Und in der That: wurde er auf das Fährboot gewunden, so war zwar sein Leben vorläufig außer Gefahr, die letzte Aussicht auf Rettung aber für Alle dahingegeben. Das sah man hier und dort ein. Peter that auch das Möglichste, seinen Herrn einzuholen, und nun kam Steinweg's Bootshaken glanzvoll zur Geltung: mit einem Male faßte derselbe, so sacht es ging, den Schwimmenden unter die Schulter, und im Nu war die Entfernung, welche diesen vom Kahn getrennt, verschwunden.

Steinweg hielt fest; Witold konnte die Bootswand erfassen. Aber auch jetzt noch dachte er an das unternommene Rettungswerk, ehe er sich selbst in Sicherheit brachte. Er glitt bis an das Steuer und schlang das Tau mit einem raschen Knoten in den Ring am Stern. Erst als das vollbracht war, schwang er sich mit Steinweg's Hülfe in das Boot zurück.

Bis jetzt hatte dieses mit der Fähre getrieben; nun begann die schwere Arbeit, mit dem kleinen Fahrzeug die Last des großen [254] an's Land zu bringen. Auch das gelang der Anstrengung der drei Männer, aber es war ein Glück, daß kein neuer Zwischenfall kam; denn alle Drei waren so ziemlich am Rande ihrer Kräfte, als sie endlich an's Ufer stießen.

Die Bauern und Fährleute waren in's seichte Wasser gesprungen und zogen jetzt das unbeholfene Fahrzeug vollends heran. Mit Balken und Brettern war alsbald auch eine Brücke eingerichtet, auf welcher man die vor Schreck schäumenden und zitternden Pferde und auch den Wagen an's Land bringen konnte. Jedermann griff eifrig zu; denn der Graf hatte allen ursprünglichen Zorn vergessen, freigebige Belohnungen ausgesetzt und statt der Verwünschungen, die er zuerst auf die „verlotterten, dickknochigen Bauernschädel“ hatte herabwettern lassen, nur noch ein aus erleichtertem Herzen kommendes „Charmant! charmant!“ auf den Lippen, während er Witold's nasse Hand zwischen der seinen preßte.

„Ach, das war interessant!“ trillerte der kleine Canarienvogel dazwischen. „Siehst Du, Papa, wie Recht ich hatte, auf die Wasserfahrt zu bestehen! Nun habe ich doch auch ein Mal ein Abenteuer erlebt. Wenn ich nur auch mit auf der Fähre gewesen wäre! Es muß sehr hübsch sein, seinem Lebensretter danken zu können.“

Sie versuchte dabei einen Blick, der einem solchen Gefühle entsprach, Steinweg jedoch, dem er zugedacht war, wendete sich ab, weniger vielleicht aus Bescheidenheit, als weil er noch zu thun hatte, mit seinem Athem einigermaßen in's Gleichgewicht zu kommen; der Schweiß rann ihm in ziemlich eben so dicken Tropfen von der Stirn, wie Witold das Wasser.

Dieser hatte seinem Lebensretter übrigens nicht einmal die Hand geboten, auch kein Wort geäußert, und erst als ihm von Steinweg der Antrag gemacht wurde, sofort den Arzt aus der Stadt zu schicken, warf er ablehnend hin, ohne den Rittmeister jedoch anzusehen: „Bah, eines Bades wegen!“

„Aber die Erkältung in dieser Jahreszeit!“ meinte der Graf.

„Das Zurückrudern wird mich schon warm erhalten,“ erklärte dagegen Witold und benutzte das auch als Entschuldigung, um sich zu entfernen, ehe noch Alles zur Abfahrt des Wagens gerüstet war.

Nachdem er sich die Zusendung eines Arztes noch einmal ernstlich verbeten hatte, bestieg Witold sein Boot. Dasselbe rauschte in die Wellen hinaus, unbekümmert um die Comtesse mit ihrer Versicherung, wie wunderbar Alles gewesen, wie es so gut zu dem Liede „Loreley“ gepaßt und wie sie es, sobald sie nach Hause gekommen, haarklein ihrer Freundin, Mimi Hartenstein, schreiben müsse etc.

Sie wedelte mit ihrem Taschentuche in der Richtung zu den Damen hinüber, vom jenseitigen Ufer antwortete jedoch nur ein einziges weißes Tuch, und vielleicht galt dieses Zeichen über den Fluß nicht einmal ihr.

Nur Lora hatte gewinkt. Ihre Schwester, die Tante und selbst das Kind hatten noch nicht die Beruhigung wiedergewonnen für solch halb tändelndes Thun. Noch lag Lisa, mehr einer Leiche als einer Lebenden gleich, auf den Knieen im Kiese. Sie hatte die Sinne schwinden gefühlt und war niedergeglitten, aber so lange sie die Augen noch brauchte, durften sie ihr nicht versagen; dafür schien es, als wäre mit dem wilden gellenden Aufschrei ihre Zunge für immer verstummt. Regungslos lehnte sie an dem Gitter, das sie umklammerte – sie mußte sich festhalten, um jetzt hinterher nicht umzusinken, und weder das kleine Gretchen, das sich an sie drängte, noch die Tante, die sich, nachdem der eigene Schreck überwunden war, mit freundlicher Aufmunterung an sie wendete, brachten sie zum Reden. Nicht eine Thräne erleichtert ihr das Herz.

Erst als das Boot, das unter Witold's und Peter's Ruderschlägen pfeilschnell über den Fluß daherschoß, sich schon dem Ufer näherte, raffte sie sich auf, um ihrem Gatten an die Landungsstelle entgegen zu gehen. Als er den Fuß auf die Treppe setzte, fiel der erste Schimmer der aufgehenden Mondscheibe auf sie und ließ ihr kreidebleiches Gesicht fast gespensterhaft erscheinen.

Lora und Gretchen stürmten auf ihn ein, und er hatte Mühe ihnen zu wehren.

„Kinder, Ihr werdet naß,“ warnte er sie.

Sie ließen sich jedoch nicht zurückhalten, und er nahm Lora's Kuß hin und hob Gretchen zu seinem Munde empor.

„Glaubst Du, wir ließen uns dadurch abschrecken?“ rief Lora begeistert aus. „Du Retter in der Noth, was haben wir um Dich für Angst ausgestanden! Aber auch der Retter fand seinen Retter. Ach, es war schön von ihm, und wir wollen ihn dankbar in unseren Herzen aufnehmen. Sag selbst, hat er es nicht wohlverdient um Dich, um uns Alle? Aber eigentlich sah es beinahe komisch aus – ein Husar als Walfischfänger. Wie wenn er Dich harpunirte, war es anzusehen. Seien Sie stolz auf Ihren Fischzug, Herr Capitain!“

Die letzten Worte rief sie lachend über den Fluß, obwohl der Ton nicht hinüberreichen konnte. Aus dem schattenhaft gewordenen Gewühl drüben setzte sich die endlich flott gemachte Kutsche in Gang, das schwerfällige Fährboot aber bewegte sich an der Zugleine langsam aufwärts seinem Anlegeplatze zu.

Witold sah nicht mehr zurück; er stand jetzt vor seiner Frau, welche die Hand erhoben hatte und sie ihm zitternd darreichte. Sie hatte gesehen, wie ihre Schwester ihn umhalst hatte, wenn auch immerhin mit einiger Vorsicht; o wie gern hätte sie nun den Triefenden umfangen – aber sie hatte kein Recht, an dieser Brust einen Platz zu suchen, von dem sie nicht Besitz ergriffen, als er ihr geboten wurde, und von dem sie nun eine Andere verdrängte.

Aber doch die Hand, die Hand brauchte er ihr nicht zu verweigern, mit der auch hier wiederholten Ausflucht, sie sei naß! Und wie herb hatten seine Worte gelautet, als sie mit stockender Stimme die ersten abgebrochenen Laute hervorbrachte!

„Ich freue mich,“ hatte sie kaum hörbar gestammelt.

Wohl war es ein gewöhnlicher, kühlklingender, einfältiger Anfang, aber was hätte sie in dieser Minute sagen sollen, um damit auszudrücken, was sie bewegte! Am Ende war es ja doch zunächst die Freude, daß er da lebend und unversehrt vor ihr stand, was sie fühlte, und sie hätte es nicht verdient, daß ihr ein so höhnischer Zweifel in seiner Erwiderung begegnete:

„Du freust Dich? Es wäre vielleicht einfacher und bequemer gewesen, wenn –“

Was er wohl gemeint und nun am Ende doch auszusprechen unterlassen hatte? Der böse Blick, mit dem er sie durchbohrte, verstattete kaum eine harmlose Erklärung; bitter lächelnd ging an ihr vorüber dem Hause zu.

Selbst der Tante wollte diese unfreundliche Begegnung nicht gefallen. Als sie später, nachdem Witold sich umgekleidet hatte, mit dem Thee zu ihm auf's Zimmer trat – denn etwas mußte er nach ihrer Meinung, trotz aller Abweisung, doch zu sich nehmen, damit er sich innerlich erwärme – da konnte sie sich nicht enthalten, ihm in's Gewissen zu reden. Aber er unterbrach sie schon bei den ersten Worten voll Ungeduld.

„Sieht man so aus, wenn man sich freut?“ wendete er unmuthig die Achseln zuckend ein. „Wie ganz anders zeigte Lora ihr Empfinden!“

„Sei nicht ungerecht wie Lear! Es ist doch noch gar nicht lange, daß Du uns das Stück vorgelesen. Denke an Cordelia! Es giebt Naturen, bei denen die Gefühle nicht so leichtflüssig sind und als lustiger Bach von der Zunge gehen.“

„Es ist nicht Jede eine Cordelia, die schweigt.“

„Lisa aber scheint mir zu dieser Rasse zu gehören.“

„Du willst mich doch nicht glauben machen, daß bei ihr wirkliche Empfindung unausgesprochen blieb?“

„Wenn Du gesehen hättest, wie sie mit einem verzweifelten Angstschrei zusammenbrach, als Du in's Wasser stürztest, so müßtest Du bei dem Anblicke dieses Entsetzens auch Mitleid gefühlt haben, noch neben dem eigenen Schreck.“

„Vielleicht ein Entsetzen vor der Erfüllung des eben erst im Stillen gehegten Wunsches.“

„Witold!“ rief die alte Dame, indem sie die Hände faltete und betroffen auf seine hohnvoll verzerrte Miene blickte. „Was hast Du? Bedenke, welche furchtbare Anklage gegen Deine eigene Frau! Ich weiß es wohl, daß Ihr nicht glücklich lebt; ein Blinder müßt' es sehen; die Beschuldigung aber, die Du erhebst, ist sinnlos. Was hielte sie bei Dir fest, wenn nicht ihr Wille?“

„Vielleicht noch heute; im höchsten Falle bis morgen.“

„Du irrst, Du irrst. Und Du thust ihr Unrecht.“

„Ich?! Du scheinst ja plötzlich ihr warmer Anwalt geworden zu sein.“

„Weil ich sie anders beurtheilen gelernt habe. Geh Du erst Wochen und Wochen neben einem Menschen her, von früh bis Abends, und Du wirst bald sehen, weß Charakters und Gemüths

[255] er ist. Aus irgend einem Schlitzchen oder Riß wird die Wahrheit hervorgucken, wenn noch so kostbare Maskenkleider darüber gezogen sind. Bei ihr kommt Tag um Tag ein weiteres Stück des gesunden Kerns zum Vorschein. Nein, ich hab' ihr schon lange im Stillen abgebeten, und ich mißgönne ihr den Platz an meines Kindes Stelle nicht; denn sie füllt ihn aus als ein braves Weib, als eine treue Mutter. An ihr liegt's nicht – und darüber wollt' ich Dich einmal ernstlich sprechen – an ihr nicht!“

„Sondern an mir. Nun ja, ja, mag sein – ich will mich bessern – ein anderes Mal können wir ja darüber weiter verhandeln. Für heute Nacht habe ich an dem einen Mittel genug, das Du mir verordnet. Es ist ja auch eins gegen Erkältung, vielleicht findet sich da Heilung gegen alle Arten derselben. Gute Nacht!“

Das war nicht der rechte Ton, und die Gräfin, ungewohnt, ihren Neffen in dieser Weise sprechen zu hören, ging kopfschüttelnd von dannen.

Doch eben darum, weil er ihren warmen Worten so zurückweisend begegnet, fühlte sie sich jetzt mehr als je zuvor zu Lisa hingezogen. Die ausgesprochene Meinung hatte mit einem Male auch für sie ein weit größeres Gewicht, als da sie noch in ihren Gedanken sich entwickelte, und der Zweifel daran erschien ihr wie eine Beleidigung an ihr selbst, welche die Zusammengehörigkeit zwischen ihr und der in Schutz Genommenen erst vollends festigte. Sie hatte das Gefühl, die Sühne für fremdes Unrecht mit übernehmen zu müssen. Lisa's Befinden gab ihr Anlaß, zu thun, was ihr bis jetzt noch niemals beigekommen, sie nämlich in ihrem Schlafzimmer aufzusuchen, wohin sie dieselbe, um des leichten Fieberanfalles willen, der auf den Schreck gefolgt, verbannt hatte.

Da saß sie an ihrem Bette, sah in die von der Nachtlampe nur matt erhellten großen traurigen Augen, hielt die kalte schmale Hand in der ihrigen und sprach wie mit einem kranken Kinde – von Diesem und Jenem, nur nicht von der Krankheit selbst.

Und da kam denn auch ein Plan zu Tage, mit dem sich die alte Dame schon seit einiger Zeit getragen zu haben schien und der Lisa im ersten Augenblicke mit namenloser Ueberraschung erfüllte.

Mit freudig geöffneten Augen die Worte von den schmalen Lippen der Sprecherin lesend, war sie emporgefahren.

„Du meinst, Tante?“ hatte sie bebend ausgerufen, doch alsbald ließ sie sich wieder sinken.

Sie wußte ja besser, welchen Zweck Rittmeister Steinweg eigentlich mit seinen Besuchen verfolgte.

Lora's eigene Gefühle neigten ja doch nicht ihm zu. Mochte die Tante diese und jene feine Beobachtung für die Möglichkeit sprechen lassen, was wogen dieselben gegen die Gewißheit, die Lisa heute so unzweifelhaft geworden?

Sie unterließ es, einen Gegenbeweis anzuführen, weil sie keine Anklage erheben wollte, und sie hätte das ja gegen zwei Menschen thun müssen, die ihr die liebsten waren auf Erden; so konnte sie sich nur darauf beschränken, ihrem Zweifel Ausdruck zu geben.

„Es ist ja fast, als ob Du Beiden das Glück mißgönntest,“ ereiferte sich zuletzt die Tante ernstlich über diesen „unbegründeten“ Widerspruch.

Lisa lächelte nur schmerzlich. Sie küßte die hagere Hand, welche so weich und gütig, wie die einer Mutter, über ihre Stirn strich.

Wie anders war Alles, als dieses gute, treue sorgende Herz meinte, das sie sich einst verschlossen geglaubt und dessen Werth und Reichthum an edler Liebe sie jetzt erst ganz erkennen gelernt! Und mit dieser Erkenntniß stahl sich auch ein Hoffnungsstrahl in Lisa's Seele. Sie vergegenwärtigte sich Alles, jedes Wort, jeden Blick, und es erschien ihr immer wahrscheinlicher, daß die Tante dennoch Recht haben könnte. War nicht die Art, wie sich ihr Steinweg heute genaht, eigentlich doch ganz anders gewesen, als bei früherer Gelegenheit? Hatte er nicht Reue gezeigt? Konnte er nicht beabsichtigt haben, ihr seine Sinnesänderung mitzutheilen, da sie ihm so scharf das Wort abgeschnitten?

Nicht die kleinste Regung gekränkter Eitelkeit empfand sie über solchen Abfall; der Gedanke, daß es möglich wäre, in dieser Weise doch noch jene feinen Fäden zu lösen, die sie vielleicht nur irrthümlich schon für ein unzerreißbares Gewebe zwischen Witold und Lora gehalten, machte sie zu glücklich, als daß daneben ein unlauteres Gefühl in ihrer Brust Raum gefunden hätte. Was sie jahrelang für die echte Liebe des Herzens gehalten, jetzt wußte sie, daß es ja doch nur ein Spiel der Phantasie gewesen. O, wie wollte sie sich in ihrer Schwester Vertrauen schleichen, zart, mitfühlend, liebevoll in sie dringen und sie sanft hinüberlenken zu Aller Glück und Segen! Er aber – er, ob er sich entwinden lassen würde, was sein Herz mit allen Fasern umfaßt? Er sah ja in Lora seine erste Frau wieder und hatte auf sie seine Liebe übertragen. Da waren wieder Zweifel, Furcht und Hoffnungslosigkeit, mit denen sie rang.

Stunden mußten darüber hinweggegangen sein.

Sie hörte plötzlich ein Geräusch – ein dumpfes Krachen und Brechen, das sie jäh aus ihren sich fieberhaft verwirrenden Gedanken- und Gefühlskämpfen riß.

Sie horchte auf. Das konnte nur aus dem unter ihr gelegenen Zimmer, welches Witold bewohnte, kommen. War er krank geworden? War ihm etwas zugestoßen?

Nun vernahm sie abermals ein Geräusch, und zwar ein Gepolter wie von einem Falle. Er war vielleicht nach dem Glockenzuge gegangen, gestürzt; es war keine Hülfe bei der Hand – – oder verbarg man ihr eine Gefahr?

Eine ungeheure Angst überfiel sie, und ihre krankhaft erregte Einbildungskraft spiegelte ihr alles erdenkliche Unheil vor. Diesmal ließ sie sich keine Zeit, zur Besinnung zu kommen. Sie sprang vom Lager auf, schlüpfte in ihre weichen Schuhe, entzündete ihr Licht und glitt rasch und geräuschlos auf den Gang hinaus und die Treppe hinab, über die der Mond seine breiten Lichtstreifen legte.

Jetzt stand sie an der Thür des Bibliothekzimmers. Sie lauschte, da aber Alles still blieb, öffnete sie dieselbe. Vom Mondschein erhellt, sah sie durch die offenen Portièren Witold's Arbeitszimmer vor sich liegen, aber nichts regte sich darin. Wie war's doch möglich gewesen, daß sie jenen Fall so deutlich zu hören vermeint? Es konnte gewiß keine bloße Sinnestäuschung gewesen sein!

Doch Witold's Schlafzimmer lag jenseits; der Schall hatte sich ja fortpflanzen können, und war dort etwas geschehen, um so schlimmer; denn dann lag er unzweifelhaft hülflos da. Die namenlose Angst, die sie hergetrieben, zog sie nun auch durch das Arbeitsgemach bis an die andere Thür. Jeder Nerv in ihr war in fiebernder Bewegung.

Doch ehe sie die Hand auf die Klinke gelegt, hörte sie die Schritte ihres Mannes an der andern Seite der Thür, und wie bei einem Diebstahl ertappt, fuhr sie zurück; sie fühlte ihre Glieder erstarren. Witold mußte noch nicht zu Bett gewesen sein; das war der Tritt fester Sohlen, wie sie der Landmann an seinem Schuhwerke braucht.

Wenn er sie nun hier fand? Sie glaubte vor Scham vergehen zu müssen. Doch da wandte sich der Schritt und entfernte sich wieder von der Thür. Sie hörte das Klirren eines Glases, und jetzt fühlte sie auch die Beweglichkeit der Glieder wieder zurück kehren. Auf ihrer scheuen Flucht wäre ihr Fuß beinahe an ein Hinderniß gestoßen; ein Brett lag zur Seite des Schreibtisches, wie man es zum Verschlusse einer Kiste verwendet; noch staken die Nägel darin. Es mußte dasselbe jenes Geräusch verursacht haben, das sie unter sich vernommen. Da stand ja auch die Kiste auf dem Schreibtische, gegen das schwere Bureau gelehnt, unterhalb jenes Bildes, das sie vor Jahren aus der Entfernung hier gesehen und vor dem ihr Urtheil gesprochen worden war. Und da – in der Kiste, noch in der Verpackung, befand sich ebenfalls ein Frauenbild – ein zweites – kein Spiegel – nein – es war wirklich ihr Bild! Nicht im Nachtgewande, die hochgehaltene Kerze in der zitternden Hand, sondern im dunklen Seidenkleide, den Rosenschmuck im Haare, lächelte die eine Lisa von oben herab auf die andre, welche hier unten stand und wankte und noch ein paar Schritte that und dann hinsank mit fast stehenbleibendem Herzen und nahezu aufhörendem Athem.

Die Aufregung der letzten Stunden hatte ihr Recht verlangt; die jüngste Erschütterung war die heftigste gewesen. Ihr Bild, ihr eigenes Bild bei ihrem Gatten! So war Alles, Alles anders, als sie mit Furcht, Entsagung, Verzweiflung angenommen! Als die Kräfte sie verließen, da hatte sie nur einen Gedanken: So sterben war Seligkeit! – das Glück hatte ihr die Besinnung geraubt. – –

Jenseits der geschlossenen Thür in seinem Schlafzimmer [256] stand Witold an seinem Waschtische und hielt seine Rechte in das Becken, in welchem sich das soeben frisch nachgefüllte Wasser schon wieder roth zu färben begann von seinem Blute, das in einem zerfließenden Faden von dem Ballen seiner Hand aussickerte.

Und gerade diese Hand mußte es sein! Gerade die Rechte!

Wozu hatte er es auch nöthig gehabt, jetzt noch, in dieser Nacht, die Kiste zu öffnen, in welcher er das Bild Lisa's seit Wochen wohl geborgen gewußt?

Als er es bei einem berühmten Maler der Residenz bestellte, der es mit Hülfe einer Photographie aus dem Gedächtnisse zu malen unternommen, da war er noch der Meinung gewesen, Alles könnte trotz alle und alledem eine bessere Wendung nehmen – ihr ruhiges Dahinleben erfüllte ihn mit leise wachsendem Vertrauen.

Als dann aber das vollendete Werk eintraf, kam es in eine Zeit, wo seine ganze Stimmung schon eine schwere Wandlung erlitten hatte. An der getroffenen Entscheidung war nun nicht mehr zu zweifeln, der Mann, der in seine Rechte treten sollte, ging bereits ein und aus in seinem Hause, als wenn ihn nichts mehr behindern könne, den Schatz desselben davon zu tragen, sobald es ihm beliebe. Da war denn die rohe Holzhütte des Meisterwerks in einen Winkel des Gemaches geräumt worden und dort uneröffnet stehen geblieben, bis heute – ja, bis zu dieser mitternächtigen Stunde.

Nachdem die Tante geschieden, war er nicht zu Bette gegangen, wie sie meinte, er hatte sich nicht einmal entkleidet; das Blut in seinen Adern verlangte nicht nach Ruhe. Bald in seinen Lehnstuhl hingeworfen, bald in unablässigem Auf- und Niederschreiten, bald an seinem Schreibtische hatte er die Zeit vollbracht. Er achtete nicht auf die verrinnenden Minuten. In ihm war ein Brand, der Raum und Zeit verschlang.

Wo war die kühle Ruhe der Entsagung? Wo auch nur der Muth und Wille zum Verzicht, die er noch heute Morgen festzuhalten vermeinte? Wo der edle Wunsch, ihrem Glücke das eigene zum Opfer zu bringen? Alles dahin, wie der verwehende Rauch einer Brandstätte! Es hatte nur eines Blickes auf die Beiden bedurft, wie sie in offenbar gestörter Verabredung einander gegenüberstanden, um all seine ernsten, fest gefaßten Vorsätze in Nichts zu verflüchtigen.

Einst hatte er gesagt, daß es ein Unrecht sei, ihr nicht auch sein Herz schenken zu können. Er hatte jahrelang gemeint, die Strafe für die Immoralität einer solchen Verbindung zu erleiden. Wie irrig! Jetzt erst erlitt er sie. Er liebte Lisa – jetzt liebte er sie, wo er sich sagen mußte, daß es ein Wahnsinn sei, und dennoch sich wehrlos fand gegen das titanenhafte in seiner ganzen Raserei entfesselte Gefühl.

Sie jetzt von sich zu lassen, schien ihm eine Unmöglichkeit, und in dieser Ueberzeugung hatte er seinem Rivalen den Besuch für morgen angekündigt. Nach demselben konnte nur einer von Beiden nach Riefling zurückkehren, und die Kugel mußte entscheiden, wen die Entsagung traf.

Inzwischen aber war jener Sturz in den Fluß erfolgt, und als er sich wieder in's Boot schwang, war der Gegner zu – seinem Lebensretter geworden.

Sollte ihm das die schußbereite Waffe aus der Hand reißen? Lebensretter? – Ein Griff mit dem Haken, wie vielleicht nach einem vom Winde entführten Hute, einem Fächer der Comtesse – was war die ganze That mehr? Wäre er denn ohne sie ganz zweifellos dem Tode verfallen gewesen? Und wenn es das Leben war, das ihm bewahrt worden, was galt diese elende Formel ohne Inhalt? Warum mußte ihm jener Mann auch noch die Last der Dankbarkeit aufbürden? Er war ihm darum nur doppelt verhaßt.

Dennoch bäumte sich in ihm etwas gegen den Gedanken auf, die Pistole auf den zu richten, der die rettende Hand nach ihm ausgestreckt. – Wenn es aber von seiner Seite nur zum Scheine geschah – wenn er dem Anderen die Blutschuld überließ, mit dem einen Schusse alles Weh und alles Begehren in diesem brennenden Herzen zu tilgen, das dann zur Ruhe kam? –

Er schrieb; er ordnete; er beschloß und verwarf wieder; ruhelos ging er dazwischen auf und ab. Leise verrannen die Stunden.

Zuletzt, als manches Papier zerrissen und manches versiegelt war, stand er vor der Kiste und es erwachte der Wunsch in ihm, wenigstens das Bild des so heiß geliebten Weibes noch einmal zu sehen. Dort hing das Portrait seiner ersten Frau. Nein, er hatte sie nie geliebt, wie diese. Ein gutes treues Auge blickte aus den ein wenig breiten und reizlosen Zügen, in welchen nur verblendete Mutterliebe eine Aehnlichkeit mit denen Lora's entdecken konnte. Es war auch nur die herzlich warme Neigung der Jugendfreundschaft, die ihn zu jener ersten Verbindung geführt. Wie anders konnte hier dieses dunkle Auge blicken, dessen kalter abwehrender Strahl schon einen Brand in seiner Brust zu entfachen vermocht hatte! Welch ein Pfuscher mußte doch jener berühmte Meister sein, daß dieser Strahl, wenn auch nur gemalt, die erbärmliche Holzdecke nicht von innen heraus durchsengte!

Heraus aus dem Grabe! Laß doch wenigstens sehen, was der Stümper geschaffen!

Und nun splitterte das Holz. Die verrosteten Nägel leisteten Widerstand, die kraftvolle Hand aber, die auch unter dem Wasser das Tau nicht losgelassen, wurde seiner Herr; da rollte der Sargdeckel hinab und fiel polternd auf die Erde.

Ja, sie war erlöst, aber nur indem sein Blut floß.

Wie das Alles für die erregten Sinne Bedeutung gewann zu solch später Stunde der Nacht, die den Ahnungen günstig ist wie den Gespenstern! Auch selbst diese Wunde, die ihm der Nagel gerissen, auch der dunkle Purpurtropfen, der auf das Bild geflossen und nun an dieser weißen Stirn haftete wie ein Schuldmal, das doch wieder seine eigene Hand verwischte, die Linke, die ja nicht wissen soll, was die Rechte thut.

Diese aber hielt er in's Wasser, das er in seinem Schlafzimmer suchen mußte. Ja, wenn hier sein ganzes Herzblut bis auf den letzten Tropfen den Ausweg hätte nehmen wollen, wie einfach und leicht wäre da die letzte Frage gelöst gewesen! Aber so war's ihm nicht vergönnt. Und nun war es diese Hand, die der Unfall betroffen, gerade diese, welche die Waffe – doch zum Scheine wenigstens – führen mußte!

Die Blutung hatte nachgelassen, sodaß er daran gehen konnte, einen Verband anzulegen. Da horchte er, den einen Zipfel des Tuches noch zwischen den Zähnen, plötzlich auf.

Welch seltsamer Laut?

Und jetzt wieder! Das war das Winseln eines Hündchens, und es kam aus seinem Wohnzimmer.

War das Frip? Wie hatte der seinen Weg dahinein gefunden? Mit einem Schritte war Witold vor der Thür. War auch das ein Vorzeichen? Hunde winseln ja, sagt man, wo ein Sterbender im Hause ist.

Er riß die Thür auf.

Vom Mond beschienen lag inmitten des Zimmers eine weiße Gestalt am Boden, und Frip kroch ängstlich um dieselbe her und leckte die ausgestreckte Hand, die noch den kleinen Leuchter mit der gebrochenen Kerze hielt.

War sie ohnmächtig? War sie –?

Ein wildes Heer von Fragen durchkreuzte sein Hirn. Ueberraschung, Freude, Zweifel, Entsetzen, all die Empfindungen sprangen fast gleichzeitig im wirren Durcheinanderklange in seiner Brust auf. Ehe er sie gesondert, lag er auf den Knieen neben Lisa.

Gottlob, sie lebte!

Er sah in das schöne bleiche Gesicht; er sah den wunderbaren weißen Hals zwischen den halbgeöffneten gestickten Kanten des Nachtkleides und drückte die Hände gegen die Stirn.

Seine Frau bei ihm – bei ihm! Aber was hatte sie hierher geführt? War sie gekommen, ihm eine Mittheilung zu machen? Die längst erwartete, längst gefürchtete? Und hatte der Beschluß den Schlaf von ihren Lidern gescheucht? Seine Stirn runzelte sich drohend, und sein Auge begann zu glühen.

Nur wie ein Blitz war der Gedanke ihm durch den Kopf gezuckt; denn schon hatte er die schlanke Gestalt auf seine Arme genommen und eilte mit ihr fort.

Flüchtigen Schrittes trug er die leichte Last die Treppe empor. Auf seiner Schulter ruhte der Kopf; an seiner Wange fühlte er das sich aus dem Häubchen drängende Haar, an seiner Brust den jungfräulichen Busen. Ein süßer Duft ging von der lieblichen Gestalt aus, den er mit tiefem wonnigem Athemzuge in sich sog. Er drückte sie innig an sich.

Sie war ja sein, sein!

Und jetzt sollte er sie lassen, jetzt wo er sie liebte mit aller wilden Gluth der Leidenschaft? Jetzt, wo er sie an seiner Brust hielt, die Widerstandslose? Hier war das Gemach, das er selbst

[257]

Frühlingsleben.
Originalzeichnung von Emil Schmidt.

[258] eingerichtet und nie mehr betreten, seit dem Tage vor seiner Hochzeit. Die Wände begannen um ihn zu kreisen. Der rosige Schein der Ampel schien das verödete Lager in Gluth zu tauchen. – War er nicht hier zu Hause? War er hier nicht im Recht?

Alles umwirbelte ihn – ein Rausch, ein Taumel bemächtigte sich seiner. Fester preßte er die Geliebte an sich, indem er sie auf die Kissen niederließ; seine glühenden Lippen legten sich an ihren Mund.

Und es war ihm, als höbe ein Seufzer diese zarte Brust, als schlinge ein Arm sich um seinen Hals.

Da riß er sich mit übermenschlicher Gewalt empor. Ein Grauen vor sich selbst hatte ihn durchzuckt – sollte er zum Sclaven seiner trunkenen Sinne werden?

„Kein Raub, kein Frevel!“ brauste es in seinen Ohren und scheuchte ihn hinweg. Noch einen Blick that er auf die stille Schläferin, die wie ein Marmorbild auf einem Sarkophage zu ruhen schien. Dann stürzte er fort.

Lust ohne Liebe? Nein, das war es nicht, wonach sein Herz schrie.

(Schluß folgt.)




Frauen als Entdeckungsreisende und Geographen.
II.
Mistreß Atkinson's sibirische Hochzeitsreise.

Es war in den Jahren 1848 bis 1851, als der englische Maler Thomas Atkinson seine mehrjährige Studienreise nach Sibirien, der Mongolei, der Kirgisen-Steppe, der chinesischen Tatarei ausführte. Sein Reisewerk mit mehr als achtzig Bildern und Skizzen erschien im Jahre 1860, fand aber wenig Beifall, obgleich es von Gegenden handelte, die damals noch wenig bekannt waren. Um so mehr Anerkennung erwarb sich die Beschreibung derselben Reise, welche seine Frau, Mrs. Atkinson, die den Gatten muthig und treu in allen Beschwerden und Gefahren begleitet hatte, 1863 herausgab.

Wir sehen an ihr, daß Frauen ganz andere Dinge beobachten und fremde Eigenthümlichkeiten oft schärfer auffassen, als Männer; daher bietet das Buch eine Fülle interessanter Neuigkeiten und spannender Situationen dar. Mrs. Atkinson war überdies eine wahrhaft heroische Dame; denn es gehört nicht wenig Muth zu dem Entschlusse, aus der gebildeten Welt heraus eine vierjährige Wanderung unter den nomadischen Steppenvölkern Sibiriens zu unternehmen und auszuführen. Hierzu kam, daß diese Wanderung die Hochzeitsreise der Mrs. Atkinson war; eine seltsame Hochzeitsreise! Zu den eigenthümlichen Vorbereitungen für dieselbe gehörte unter anderem eine fleißige Uebung im Pistolen- und Büchsenschießen, im Handhaben verschiedener Waffen, um in Noth und Gefahr sich selbst vertheidigen zu können. –

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Wir begrüßen unsere Reisenden in Jalutarowsk am Ischim. Es war die erste sibirische Stadt, wo länger gerastet wurde. Das junge Ehepaar war an Herrn Murawieff empfohlen, einen der Hauptverschwörer des Jahres 1825. Sein Bruder war jener Serjei Murawieff, der damals unter Umständen hingerichtet wurde, die selbst in Rußland Grauen und Schrecken erregten. Schon hatte der Henker sein Amt vollbracht, schon hing der Unglückliche am Galgen – da riß der Strick. Ehe man einen neuen herbeigeschafft, kehrte dem Gehenkten die Besinnung zurück; er merkte, was um ihn vorging, und äußerte darüber die herzbrechenden Worte: „Es ist doch zu viel für einen Menschen, zweimal hingerichtet zu werden.“ Herr Murawieff befand sich inzwischen hier so wohl, wie sich in Sibirien ein Verbannter befinden kann.

Zwischen Omsk und Tomsk begegnete es den Reisenden, daß sie im Schlitten eingeschlafen waren, und als sie erwachten, stand derselbe still und die Pferde waren ausgespannt, obgleich die Gegend keine Poststation aufzuweisen hatte, sondern nur zwei oder drei elende Hütten mitten im Wald. Der spitzbübische Yemtschik (Postillon) hatte die Schläfer einer Diebesbande zugeführt, und nur ihr wackerer Steppenhund und die gespannten Pistolen verhalfen ihnen wieder zu dem Ihrigen, so daß die Reise fortgesetzt werden konnte.“

Tomsk ist eine Stadt der Goldwäscher. Mrs. Atkinson sah hier Goldstufen von fünfundzwanzig bis dreißig Pfund Gewicht. Auch der Vicegouverneur gehörte zur Goldaristokratie des Ortes. Er hatte die Tochter eines Goldsuchers geheirathet, die früher barfuß in den Straßen herumgelaufen war, bis ihr alter Vater an einem glücklichen Tage durch Entdeckung eines Goldlagers zum steinreichen Manne geworden.

Am 3. Juni 1848 ging die Reise von Tomsk südwärts. Frau Atkinson war entzückt über den Blumenreichthum der Steppe. Ganze Flächen leuchteten in tiefer Orangefarbe von den Blumen der Kugelanemonen, zwischen denen hellblaue Streifen von Vergißmeinnicht sich zeigten. Dabei lag noch viel Schnee. Der Obi hatte weite Strecken überschwemmt, was das Reisen sehr erschwerte; auch brach ein Steppensturm aus, wegen dessen man die Nacht am Ufer des Stromes zubringen mußte.

Dafür wurde es am nächsten Tage in Barnaul gemüthlicher. Mrs. Atkinson lernte hier das Hausfrauenleben in einer Steppenstadt von einer eigenthümlichen Seite kennen. Die Hausfrauen zeigten hier mit Stolz ihre Vorrathskammern oder vielmehr Vorrathssäle, die einem vollständigen Specereimagazin glichen. Ganze Kisten von Lichtern, Mehl, Gewürzen etc. waren mit untadelhafter Sauberkeit aufgespeichert. Jede Familie muß sich nämlich für ein ganzes Jahr mit Vorräthen versehen, und wehe der Hausfrau, die nicht gut gerechnet oder die Vorräthe nicht zusammengehalten hat, denn mit Geld läßt sich der Schaden nicht mehr gut machen, da der Apotheker nur einmal im Jahre auf die Messe nach Irbit geht, wo er den Hausfrauen ihre Bedürfnisse für das ganze Jahr einkauft.

Nach dem Ritt durch die heiße Steppe von Bisk mußte der schöne Damensattel mit einem Herrensattel vertauscht werden; denn die Gebirgspfade sind so schmal und schwindelerregend, daß ein anderes als Cavalierreiten unmöglich ist. Die beherzte Engländerin hatte daher Manneskleider angelegt, saß auch in einem Mannessattel fest und sicher und schlief unter dem Filzzelte eines Kalmückendorfes ruhig und sorglos.

Am goldenen See im Altai verlebte das junge Ehepaar die Flitterwochen; dann ging's nach Kopal im Süden des Balkaschsees. Sehr glücklich machte es überall die Frauen, zu erfahren, daß die Großfürstin Olga verheirathet sei. Jetzt, meinte eine derselben, da sie einen Mann habe, müsse sie auch ein Platock, das ist ein Kopftuch, tragen. Wie betroffen aber war die sibirische Einfalt, als die Engländerin versicherte, daß eine Großfürstin weder vor noch nach der Hochzeit ein Tuch um den Kopf winde, was den loyalen Sibirierinnen wie eine anstößige Sittenverletzung erschien.

Ein Kirgisen-Aul südlich von Ajagyz auf der Steppe zeigte ringsum nur Heerden. Die Jurte, das Wohnzelt, welches Frau Atkinson betrat, stand auf einem reinen Rasenflecke in der Nähe eines kleinen Stromes, und der Boden war bedeckt mit prächtigen bucharischen Teppichen. Als der Thee fertig war, zu welchem auf erlesenem chinesischem Porcellan getrocknete Früchte gegeben wurden, brachte ein struppiger Kirgise ein kleines lebendiges Lamm, um die Gäste zu fragen, ob sie mit dem Aussehen des Thieres zufrieden seien. Da kein Einwand zu erheben war, mußte das arme Thier bluten und dampfte wenige Minuten später schon in einem bereit stehenden Kessel. Nach dem Thee wurden vom gastfreien Häuptling des Aul Kumis (gegohrene Stutenmilch) und Pfeifen servirt.

Am 13. September verließ man einen Lagerplatz in der Nähe des Ala-Kul-Sees. Es war ein köstlicher Morgen, zum ersten Male zeigte sich die Silberkette des Ala-Tau im Süden. Frau Atkinson fühlte sich schon seit mehreren Monaten Mutter, und die Beschwerden der Reise wurden um so empfindlicher. Man ritt den ganzen Tag. Kein Tropfen Wasser war anzutreffen; nur eine Wassermelone gewährte einige Erquickung. Die Sonne sank, und Dämmerung folgte rasch hinterdrein. Der Ritt ging auch in der Dunkelheit immer vorwärts. Aber bald wurde es bitter kalt, Mrs. Atkinson konnte vor Erstarrung nicht mehr die Zügel [259] halten; man saß ab, breitete ein paar Bärenfelle auf den Boden und ließ sie ausruhen. Erwärmt und in Pelze gehüllt, setzte sie die Reise fort. Nach zwei Stunden aber konnte Frau Atkinson nicht mehr im Sattel bleiben. Sie ging eine kleine Strecke, saß wieder auf, ging wieder und wechselte oft in Ermattung und Schwäche. Endlich sah man Feuer und hörte das Bellen von Hunden. Der Aul war erreicht, nachdem man ohne Rast 150 Werst (über 21 deutsche Meilen) zurückgelegt und seit Morgens nichts genossen hatte als ein Glas Rum und eine Wassermelone. Am 20. September erreichte man Kopal.

Hier genas Frau Atkinson am 4. November, in Folge der großen Anstrengungen um zwei Monate zu früh, eines Knaben. Derselbe erhielt die Namen Alatau Tamtschibulak, nach Berg und Quelle, in deren Nähe er geboren wurde, und die Dame, welche ohne Zwischenrast 150 Werst weit reiten konnte, absolvirte auch das Wochenbett in gleichem heroischen Stil. „Schon den Tag nach meiner Entbindung stand ich auf und ging etwas umher. Den dritten Tag stand ich nach dem Frühstück auf und legte mich seitdem nur zur Nachtruhe wieder nieder.“

Als Wärterin diente eine Frau, die wegen Kindesmordes zu hundert Streichen verurtheilt worden war, das heißt: zum Tode. Als sie die Prügel empfangen sollte, trat indeß ein liebeglühender Kosak vor und erbot sich, sie zu heirathen, worauf er – das ist gesetzlich – fünfzehn Streiche sich selbst für die Geliebte aufzählen ließ, während die Mörderin straflos blieb. Seitdem lebte das Paar glücklich zusammen, und dem Anschein nach war die Frau trotz ihres begangenen Verbrechens ein gutmüthiges und williges Geschöpf.

Anfangs wohnte Mrs. Atkinson unter einem runden, aus Weidenholz geflochtenen, mit Filz aus Wolle und Kameelhaar gedeckten Zelte. Die Thür wurde wie ein Vorhang aufgerollt oder herabgelassen. Der Schornstein war eine runde Oeffnung im Zeltdach, der Boden mit Filz und drüber gelegten bucharischen Teppichen bedeckt. Man hätte sich in einer solchen Jurte ganz behaglich fühlen können, wenn die Buran nicht gekommen wären, jene furchtbaren Steppenstürme, welche nur gar zu oft die Zelte über den Köpfen der Schläfer abbrechen. Zu Gunsten des kleinen Alatau wurde daher eine hölzerne Bude mit zwei Zimmern erbaut, und außerdem verschaffte man sich den unerhörten Luxus eines Lehnsessels, eines Stuhles und zweier Tische. Die Geburt des Knaben war in Kopal ein freudiges Ereigniß; denn gerade in jenem Monat des Jahres 1848 waren alle Kinder in der Steppe gestorben. Von weit und breit kamen nun die Kirgisen herbei, um den Naturschatz zu sehen, und einer der Sultane schickte einen Knecht sogar 200 Werst weit, um dem sechs Wochen alten Alatau zum Geschenk eine geräucherte Hammelkeule zu überbringen, die nicht etwa für die Eltern, sondern ganz ernsthaft nur für das Kind bestimmt war. Wäre das Kind aber ein Mädchen gewesen, so hätte sich kein Kirgise in die geringsten Unkosten versetzt. Die Kirgisen des Ala-Tau wollten den Buben durchaus bei sich behalten, ja, sie behaupteten ernstlich, er gehöre ihnen, weil er auf ihrem Gebiete geboren und von ihren Thieren genährt worden sei. Sie versprachen, aus ihm einen Häuptling zu machen und ihn mit Heerden zu beschenken. Mit diesen gutgemeinten Rechtsansprüchen und Versprechungen konnte sich jedoch die Mutter nicht befreunden.

Mit dem Gouverneur von Kopal, Baron Wrangel, schloß man innige Freundschaft; er war dankbar für den geselligen Umgang während des Winters. Eines Tages gab er den Officiersdamen der Steppe einen Ball. Selbst von Bisk her kamen die eingeladenen Gäste. Die Officiere, versichert unsere Verfasserin, waren Gentlemen, die Frauen aber über alle Begriffe entsetzlich. Eine dieser Damen erschien auf dem Ball in einem sehr kurzen, grell gedruckten Kattunrocke mit einem zwei Zoll breiten Rosasaum, mit stark benagelten Schuhen und – ohne Strümpfe. Handschuhe fehlten ihr gleichfalls, dafür aber hatte sie muskulöse Arme wie ein Athlet, und Hände, um einen Stier niederzuschlagen. Die vornehmsten Damen, die Honoratioren von Bisk, erschienen in wollenen, ja sogar in verschossenen grünseidenen Kleidern. Beim Balle selbst zeigte sich jedoch, daß die strumpflose Officiersdame durch ihre wirbelnden Bewegungen alle andern Tänzer und Tänzerinnen im Ballsaale verdunkelte. Um acht Uhr setzte man sich zur Abendtafel, und um zehn Uhr ging oder taumelte alles heim; denn gehen konnte Niemand – so herzhaft hatte man dem Schnaps zugesprochen.

Am 24. Mai 1849 ging es nicht ohne dankbaren Abschied von Kopal gegen Osten. In den Bergen giebt es eine Fülle wilder Fruchtbäume und Fruchtsträucher: Stachelbeeren, Johannisbeeren, Erdbeeren, Pfirsiche, Aepfel. Die Kirgisen essen nichts davon; denn „Kraut und Frucht sind für die Thiere, und die Thiere sind für die Menschen“.

Der Knabe blieb während der Reise immer gesund, obgleich die Blattern grassirten. Die Mutter schreibt dies den fortwährenden kalten Waschungen zu; sie selbst hatte eine starke Vorliebe für kaltes Wasser und badete oft dreimal am Tage, selbst im Winter, wenn sie sich das Eis der Flüsse aufthauen lassen mußte.

Die Steppe war reich an glitzernden Bächen, und nur gegen den Balkasch zu ging sie in eine schauervolle trockene Wüste über. Die Lufttöne des Bildes waren von solcher Pracht und Wärme, daß die Frau des Malers ausruft: „Wer diese Räume nicht besucht hat, der kann keine Ahnung haben von dem Glanz und der Pracht einer Abendlandschaft auf der Steppe.“

Der Rückweg nach Sibirien führte wieder über die Steppe der große Horde. Mrs. Atkinson beobachtete hier, daß die Kirgisenfrauen Knaben bis zum zehnten und elften Jahre säugen, aber auch nur die Knaben, den Mädchen wird keine solche Liebe zu Theil. Uebrigens kann ein Kirgise oft drei Tage ohne Nahrung aushalten, wenn er aber anfängt zu essen, dann hört er nicht eher auf, bis er Alles, was gerade da ist, aufgezehrt hat. Ein Mann kann ein ganzes Schaf bei einer Mahlzeit verzehren. Auffallend sind oft die grellen Altersunterschiede zwischen Frau und Mann. In einem Aul sah Frau Atkinson einen Burschen, der fast noch ein Kind war, an eine dreißigjährige Frau verheirathet, die ihn, dem Alter entsprechend, wie ein Kind behandelte; ein schwächlicher Knabe von fünfzehn Jahren hatte ein handfestes Weib zur Frau. Solche Ehen finden jedoch nur statt bei Knaben, die als Waisen zurückgeblieben und deren Angehörige oder Vormünder, wie wir sagen würden, für eine ältere Frau sorgen, die sie in Obhut nimmt und aufzieht.

In Ajagyz nahm die Verfasserin zum letzten Mal Abschied von den Silbergipfeln des Ak-Tau und Ala-Tau im Süden; denn die Reise ging jetzt wieder nach Sibirien zurück. Ueber Barnaul und Tomsk ging es nach Krasnojarsk, an dessen Goldwäschen 9000 Sträflinge unter der Aufsicht von nur 80 Kosaken beschäftigt waren. Die Winterstation war Irkutsk. Von einem ihrer dortigen Verehrer erhielt unsere Verfasserin ein sonst höchst gefährliches Geschenk, einen Briefbeschwerer, ein Stück Malachit mit einigen Goldäderchen auf der Oberfläche, wie man sie in Mineraliensammlungen oft findet. Das Geschenk war von einer amtlichen Urkunde begleitet, welche bescheinigte, durch wen und auf welche Weise die Inhaberin in den Besitz dieser Erzstufe gekommen sei. Hätte man dieselbe bei ihr gefunden ohne diese Urkunde, so hätte sie lebenslängliche Verbannung nach Sibirien zu gewärtigen gehabt.

In Irkutsk verkehrte die Dame viel mit verbannten Russen. Zu diesen zählte Fürst Wolkonskoi mit seiner Familie. „Das Reisen,“ bemerkte er, „hat auf die Menschen oft ganz eigenthümliche Wirkungen. Ich zum Beispiel ging als ungestümer Jüngling nach Deutschland, Frankreich und England. Als ich nach Hause zurückkehrte, merkte ich unglücklicher Weise, daß meine Reise nach dem Westen der gerade Weg nach Sibirien und in die Bergwerke war.“ – –

Zu den Bekannten in Irkutsk zählte auch eine noch ziemlich hübsche Dame, die in ihren guten Tagen auffallend schön gewesen sein mußte. Sie war sehr jung an einen reichen, lebenslustigen Mann verheirathet, der aber dem russischen Nationallaster, dem Spiel, ergeben war. In wenigen Jahren verspielte er sein großes Vermögen, ohne daß die arme Frau das Geringste davon geahnt hatte, bis zu ihrem Schrecken eines Tages ein Herr sich bei ihr melden ließ, der ihr erklärte, daß er das Haus mit allem Zubehör und sie selbst im Spiel gewonnen habe. Ihr Mann hätte in letzter Nacht mit besonderem Unglück gespielt. Als das Geld bis auf die letzten Kopeken, dann alle unbewegliche und bewegliche Habe, Aecker, Haus, Möbel und Pferde verspielt waren, setzte er seine Frau auf die letzte Karte und – verlor. Das Glück war der Frau insofern hold, als sie mit dem glücklichen Spieler seitdem zwanzig Jahre exemplarisch zufrieden gelebt hatte.

In Nischni-Udinsk wohnten die Reisenden bei einer Salinebeamten. Das offene Haus zeigte eine auffallende Sorglosigkeit [260] gegen Diebe und Diebstahl. Dennoch arbeiteten in der Saline nur Sträflinge. Frau Taskin, die Gemahlin des Beamten, erzählte, daß sie nur Sträflinge und zwar nur solche, die sehr schwere Verbrechen begangen hatten, halten dürfe. Das Zimmer, welches unsere Künstlerfamilie bewohnte, ließ sich weder verschließen noch verriegeln. Nebenan schlief eine Magd, die ihren Herrn ermordet, und im Hause diente als Kindeswärterin eine Person, die ihre Herrin vergiftet hatte, und doch erklärte Frau Taskin, daß sie sich niemals treuere und bessere Dienstboten wünsche, als diese Sträflinge.

In Kiachta, an der chinesischen Grenze, wurde für die Fremdlinge ein chinesisches Festdiner veranstaltet. Chinesische Tafelschlachten sind bis zum Ueberdruß beschrieben worden, aber Frau Atkinson ist die erste, die uns belehrt hat, nach welcher Methode die chinesischen Köche ihre Treffen ordnen. Der große Gedanke eines chinesischen Diners besteht nämlich in der systematischen Folge der Gerichte. Zuerst erscheint alles Fleisch gesotten; nach diesem Gang kommen dieselben Fleischarten gedünstet, dann in dritter Reihe gebraten, und zuletzt erscheinen sie in Gestalt von Saucen oder Suppen. Jeder Gang besteht aus einem Dutzend Schüsseln, was uns nicht auffallen darf, weil die chinesische Küche sehr reich an Fleischsorten ist, da auch junges oder altes Katzen- und Hundefleisch nicht verschmäht wird.

Der Thee, welcher nach Tisch gereicht wurde, wollte der Verfasserin nicht munden; er war ihr weniger schmackhaft als in russischen Häusern. Die Ursache liegt darin, daß die Chinesen den Thee in Kesseln kochen lassen, wodurch natürlich ein Ueberschuß von Gerbsäure ausgezogen wird. Merkwürdig, daß man in dem Theelande keinen Thee zu bereiten versteht! Unsere sachverständige Hausfrau erzählt uns, daß die Russen, wenn sie Thee bereiten, ihn mit siedendem Wasser brühen, die Kanne schwenken und den ersten Aufguß wegschütten. Da die Russen als die ersten Adepten unter allen Theetrinkern gelten, so wird dieser Gebrauch jetzt in England und auch von anderen unserer aufgeklärten Theetrinker nachgeahmt. Indessen behaupten die Chemiker, daß gerade das Theïn, das Arom, welches den Thee zum Thee macht, zuerst aufgelöst werde und später erst die schwerer lösliche Gerbsäure hinzu komme, die dem Thee seine braune Farbe und den herben Geschmack mittheile. Die Russen gießen also das Beste hinweg. Am rathsamsten ist's, man spült den Thee mit lauwarmem Wasser, welches reinigt, ohne das Theïn aufzulösen.

Zwischen dem russischen Kiachta und der Chinesenstadt Maimatschin wird der gesammte Landhandel zwischen Rußland und China vermittelt. Auch Maimatschin wurde besucht, ja das Künstlerpaar erhielt sogar Erlaubniß, nach Schluß der Thore die Stadt im Glanze der Papierlaternenbeleuchtung zu sehen, was eine besondere Vergünstigung war; denn Fremde mußten vor Thorschluß die Stadt verlassen. Unglücklicher Weise war gerade Hoftrauer, und die Theater waren in Folge dessen im ganzen himmlischen Reiche für ein Jahr geschlossen.

Nach Barnaul war inzwischen ein neuer Commandant, Oberst Strolemann, gekommen, der sein Amt mit einem Balle inaugurirte, und der „Commandantenball“ ist für Barnaul stets das größte Ereigniß im ganzen Winter. Da aber, wie schon bemerkt worden, hier alle Waaren von der Irbiter Messe bezogen werden müssen, die Strolemann's aber noch nicht mit dem Nöthigen versorgt waren, so hatten sie sich in Barnaul nur dürftig versehen können. So kam es denn, daß während des heitersten Ballvergnügens, als die Kerzen erst zum geringen Theile herabgebrannt waren, eine nach der anderen ausging und es bald immer finsterer wurde. Die Bedienten liefen herbei, die Kerzen wieder anzuzünden. Alles vergeblich! Endlich machte man die Entdeckung, daß die Dochte der Kerzen betrügerischer Weise nur durch den oberen Theil derselben hindurchgezogen waren. Es wurden allerdings noch zur Fortsetzung des Vergnügens ein paar Kerzen aufgetrieben, aber die Hausfrau fühlte sich tief beschämt durch die Störung des Festes, und die Stimmung der Damen, die ihren besten Staat auch bei glänzender Beleuchtung sehen lassen wollten, trübte sich wie der Ballsaal. –

Und trotz alledem klagt Frau Atkinson, als sie heimkehren mußte: „Ich muß seufzen, so oft ich daran denke, daß wir Sibirien, seine Eisblöcke, seine Schneegebirge, seine lieblichen Landschaften, seine erhabene Natur bald verlassen sollen. Fast möchte ich wünschen, ich wäre eine Kirgisin und dürfte wandernd herumziehen unter dem klaren Himmel auf saftigen Gebirgstriften!“

Der kleine Alatau Tamtschibulak entwickelte sich übrigens vortrefflich, und die „British Association“ veranstaltete nach dem Tode des Vaters, 1861, eine reiche Sammlung für seine weitere Erziehung und Ausbildung.

J. Loewenberg.




Erinnerungen an den alten Holtei.
Von Max Kalbeck.

Mir ist, als wäre es gestern erst gewesen, und doch liegen so viele unruhige Jahre dazwischen. Es war ein verhängnißvoller Besuchsweg, der einem ganzen Leben Ziel und Richtung geben sollte, und ich bin ihn ahnungslos mit dem Leichtsinn glücklicher Jugend gegangen, den Horaz unterm Arm und einige mit Versen beschriebene Blätter in der Tasche, halb zuversichtlich, halb verzagt – den Weg vom Magdalenen-Gymnasium der Stadt Breslau zu der Wohnung des „Alten von den drei Bergen“.

Als sechszehnjähriger Secundaner stand ich bei meinen Mitschülern im Ansehen eines Poeten. Ich las der Classe in den Zwischenstunden vor, was ich leider meist während des Unterrichts insgeheim gesündigt hatte, konnte auf eine große Schaar begeisterter Anhänger und auf ebenso viele kritische Widersacher zählen und war bei vielfältigen tollen Extravaganzen die Geißel und der Schrecken meiner armen Lehrer. Unter denen, welche mit mir dieselbe Bank drückten, befand sich auch ein aufgewecktes, naseweises rundes Kerlchen, das zur Partei meiner Gegner neigte und mir durch seine überlegene Skepsis besonders gefährlich erschien. Zwar hatte ich ihn einmal gründlich durchgebläut, weil er an einem unsträflichen Distichon etwas auszusetzen wagte, und ihn durch diesen Realbeweis scheinbar auch zu einer milderen und einsichtsvolleren Denkungsart bewogen. Allein damit war, wie ich bald merkte, nicht viel gewonnen. Er befleißigte sich in der Folge bei meinem Vorlesen eines heilsamen Stillschweigens und setzte sich damit bei den Anderen nur in um so größere Autorität. Als er uns nun gar eines Tages von ungefähr mit der Mittheilung überraschte, Herr von Holtei verkehre im Hause seiner Eltern, fühlte ich mich völlig überwunden. Der Umgang mit einem solchen über jeden Zweifel erhabenen Altmeister der Dichtkunst, den wir Alle kannten und verehrten, mußte meinen Widerpart berechtigen, in literarischen Dingen seine eigene Meinung zu haben.

Das leuchtete der Secunda und auch mir ein, und ich betrachtete unsern Kritiker fortan wie einen Bevorzugten mit Blicken scheuen Respects und heimlichen Neides. Tag und Nacht dachte ich jetzt an nichts als an die Möglichkeit, Holtei ebenfalls kennen zu lernen. Oft, wenn ich aus der Classe kam und meine eigenen Seitenpfade einschlug, die gewöhnlich an einem Lehrerinnen-Seminar vorüberführten, begegnete mir der Alte. Hochaufgerichtet, die Hände auf den Rücken gelegt, mit den Augen den Blicken der Vorbeigehenden ausweichend, schritt er durch die Menge, eine Erscheinung, so herrlich und würdevoll, wie man sie selten wieder treffen wird. So kann nur ein wirklicher Dichter aussehen, sagte ich mir, wie dieser schöne große Mann mit den wallenden weißen Locken und den leuchtenden blauen Augen. Mich überlief es immer kalt und warm, wenn ich an die Verwegenheit dachte, jemals ein Wort an ihn zu richten; unwillkürlich wich ich ihm aus, sobald er kam, und zog meine Mütze. Einige Male schlug er die Augen zu mir auf und griff dankend an den braunen Calabreser. Das war ein Triumph – hatte er mich doch wenigstens angesehen.

Inzwischen war ich Primaner geworden, von Homer und Virgil zu Horaz und Sophokles übergegangen, und dichtete immer wüthender darauf los, als verlange man von einem Abiturienten

[261]

Was sich liebt, das neckt sich.
Nach seinem Gemälde auf Holz übertragen von Otto Piltz.




nichts weiter als hundert Oden alkäischen, asklepiadischen und sapphischen Maßes. In’s Unberechenbare aber steigerte sich meine Production, als mir ein Ungefähr Platen’s Gedichte in die Hand spielte; ich sah mich dabei veranlaßt, von Griechenland weiter nach Osten auszuschweifen und ausschließlich Ghaselen zu componiren, in welchen Bülbül sang und sehr viel Wein verzapft wurde, obwohl ich es selber kaum an hohen Festtagen bis zu einem Glase gebracht hatte. Jetzt schwamm ich in meinem Element, und auch die leidenschaftlichsten Feinde streckten vor den Ghaselen, die bataillonsweise anrückten, ihre Waffen und bekannten sich zu meiner Hafisischen Schulweisheit, welche mit unserem Geschmack so wohl übereinstimmte und bei jeder Strophe mit einem neuen Reime melodisch an den Becher klang. Ich trank mir an dieser allgemeinen Begeisterung den gehörigen Muth, ließ mir die Haare wachsen, legte die Hände auf den Rücken und fühlte mich Holtei somit um ein Bedeutendes näher gerückt. Zwanzig meiner besten Ghaselen schrieb ich ab, klappte den Horaz eines schönen mittags sehr energisch zu und machte mich auf nach der Büttnerstraße. Dort wohnte Holtei in dem Hôtel „Zu den drei Bergen“, nachdem er Mitte der sechsziger Jahre von Graz nach Breslau übergesiedelt war, um hier zu sterben und in heimischer Erde zu ruhen, wie er zu sagen pflegte.

[262] Ich weiß nicht mehr, wie ich die drei Stiegen im Hôtel hinaufgekommen bin. Jedenfalls muß ich sehr einfältig und sehr ängstlich ausgesehen haben; denn der Portier lächelte mir mit einer wahren Gönnermiene zu, als wollte er sagen: Nur Muth, mein Junge! Der Alte brummt zwar, aber er beißt nicht. Noch heute aber danke ich dem guten Manne für sein freundliches Gesicht – wehe mir, wenn er mir die übliche vornehme Hausknechtsmiene aufgesteckt hätte!

Außer Athem und mit klopfender Brust stand ich endlich im dritten Stock vor der Nr. 27. Es war eine goldene Ziffer auf grünem Grunde, die mir vorkam wie ein mystisches Räthsel; ich zählte noch: sieben und zwei macht neun, also drei mal drei – das ist eine gute Vorbedeutung – und klopfte schüchtern an. Drinnen und draußen blieb Alles ruhig; nur eine melancholische Bremse summte am Saalfenster auf und ab und stieß mit dem Kopfe gegen die Scheiben. Ich klopfte stärker und stärker; es rührte sich nichts. Schon wollte ich wieder gehen – da wurde innen eine Thür zugeworfen; eine tiefe Stimme raisonnirte etwas von „niederträchtiger Wirthschaft“ und „verfluchtem Gelaufe“; dann rief es mürrisch: Herein!

Der Alte stand vor mir, musterte mich mit prüfendem Blicke, der allmählich freundlicher wurde, und schnitt meine mühsam hervorgestotterten Entschuldigungen damit ab, daß er mich an den Schultern ergriff, auf ein Sopha niederdrückte und fragte:

„Mensch, rauchen Sie?“

„Noch nicht,“ erwiderte ich, „aber ich werde mir wohl auch diese Untugend angewöhnen müssen, vorläufig mache ich nur Gedichte.“

„Um Gotteswillen, wer sind Sie und was wollen Sie? Gesehen hab’ ich Sie schon irgendwo. Sie dichten? Mein aufrichtiges Beileid! Sie wollen mir doch nicht etwa Ihre Verse vorlesen?“

„Das nicht, aber wenn Sie vielleicht selbst die Güte hätten – ich habe Alles auf gutes Papier abgeschrieben; eine ziemlich leserliche Handschrift – es sind nur Ghaselen,“ setzte ich begütigend hinzu.

„Auch das noch! Nun, rücken Sie heraus damit! Sie sind der Erste nicht. Stecken Sie Ihre ‚Früchte aus dem Gartenhain von Schiras‘ dort in jenes Fach, wo meine unbeantworteten Briefe liegen! Ihr Wille geschehe! Nur verlangen Sie nicht mein Urtheil! Ich habe keins.“

Nach und nach wurde er gemüthlicher und aufgeräumter; er erkundigte sich nach meinen Verhältnissen, meinen Plänen für die Zukunft, erzählte auf meinen Bescheid, daß mein Vater mich zum Mediciner bestimmt habe, gleich eine Anzahl lustiger Geschichten von Aerzten und Kranken und lachte laut auf, als ich ihm sagte, wir, das heißt unsere literarisch gebildete Prima, bemitleideten ihn, weil er immer an Zahnschmerzen zu leiden scheine.

Er trug nämlich, auch im Sommer, stets ein schwarzseidenes Tuch um den Kopf.

„Hier sehen Sie – das sind meine Zahnschmerzen.“

Er strich die langen weißen Haare zurück und brachte eine starke Blutgeschwulst unter dem linken Ohre zum Vorschein.

„Wegen dieses jugendlichen Uebermuths meines alten Körpers muß ich mir die Locken so lang wachsen lassen, daß ich aussehe wie Kutschers Affenpinscher oder der leibhaftige Rübezahl. Und damit mir der Wind nicht die Haare herunterbläst, halte ich die ganze Geschichte mit dem Tuche zusammen. Mein Freund und Menschenzerschneider M. möchte mir das Anhängsel gern abnehmen, aber mich kriegt er nicht vor’s Messer. Es lohnt sich ja so nicht; ob ein halbes Pfund Fleisch mehr oder weniger mit mir zusammenfault – was thut’s! Na, adje, mein Sohn! Kommen Sie hübsch wieder! Jetzt muß ich ausgehen. Am Nachmittag treffen Sie mich immer daheeme. B’hüt Ihne Gott!“

Die ersehnte Bekanntschaft war also gemacht; aus ihr sollte sich mit der Zeit ein fortdauernder freundschaftlicher Verkehr entwickeln, welchem ich die Richtung meines Lebens und Förderung und Anregung in jeder Weise zu verdanken habe. Vorerst mußten jedoch noch einige Steine fortgeräumt werden, die ich mir selbst vor die Füße geworfen hatte; denn gleich in den ersten acht Tagen drohten unsere kaum angesponnenen Beziehungen ziemlich kläglich abzureißen. Jene unglücklichen Ghaselen, respective die Eitelkeit ihres grünen Verfassers, waren schuld daran. Denn, als ich wieder zu ihm kam und großes Lob einzuernten hoffte, gab mir der Alte das Manuscript mit vielsagendem Lächeln zurück und wollte nicht mit der Sprache heraus. Endlich nahm er eines der Gedichte – es reimte durchweg auf die bedeutsame Silbe „ocken“ und behandelte einen zwischen himmlischer und irdischer Liebe schwankenden Musensohn, der durch ein schönes Kind vom sonntäglichen Kirchgange zurückgehalten wird – und sagte mit dem gutmüthigsten Spotte: „Hier haben Sie sich eine ebenso naheliegende wie wirksame Pointe entgehen lassen. Sie schließen Ihr Gedicht:

Süß lockt ihre Stimme; dumpf läuten die Glocken;
Ihr Kuß ist zärtlich, die Predigt trocken.

Aendern Sie das lieber um:

Ihr Kuß ist saftig, die Predigt trocken.

Das giebt einen viel wirksameren, anschaulicheren Contrast.“

Ich war wie vom Donner gerührt und fühlte mich in tiefster Seele verletzt. Mit diesem garstigen Scherze sollten meine vom feinsten orientalischen Gewürz triefenden Ghaselen, der Stolz und die Zierde der Unter-Prima, abgethan werden? Aber es kam noch schlimmer. Holtei schenkte mir ein Exemplar seiner hochdeutschen Gedichte, und mein gekränktes Autorgemüth wäre durch dieses Geschenk jedenfalls wieder ausgesöhnt worden, hätte ich nicht die darin befindlichen Zeilen von seiner Hand auf mich bezogen und mich noch schmerzlicher enttäuscht gesehen. Auf der ersten Seite des Buches stand in den wohlbekannten energischen Zügen des Altmeisters geschrieben:

„Lenzesfrisch im Jugendtraum
     Scheinen uns unsere Lieder,
Säuseln wie hoch vom schattigen Baum
     Blüthenduftig hernieder.

Ach, wir bergen sie an der Brust,
     Wollen zum Kranze sie winden
Und erschrecken dann – – einen Wust
     Welker Blätter zu finden.“

Wie klar und hübsch ist diese allgemeine Wahrheit gesagt, und wie bescheiden trat der Dichter mit dieser Widmung für seine eigenen Jugendgedichte ein! Ich aber, mit dem Dünkel eines siebenzehnjährigen Poeten, meinte in den beiden Strophen eine abweisende Kritik meiner unreifen Versuche sehen zu müssen und zog sehr verstimmt mit dem vermeintlichen Danaergeschenk ab, zeigte es auch Niemandem, sondern verschloß es in meinem Schreibtische.

Ein halbes Jahr lang ließ ich, trotz wiederholter Erkundigungen und Grüße Holtei’s, mich nicht mehr bei ihm sehen und ging erst wieder an seinem Geburtstage, am 24. Januar, zu ihm, nachdem ich mich endlich eines Bessern besonnen hatte. Ich beichtete ihm meinen schnöden Verdacht und ließ mich weidlich auslachen. Auf meines Kritikers theilnehmende Frage nach dem Befinden meiner Muse konnte ich wieder etwas aus der Tasche ziehen, diesmal allerdings keine wohlgesetzten, zierlichen Plateniana, sondern etwas Eigenes, das, wenn auch keinen anderen Vorzug, so doch den der Wahrheit und Treue des Selbstempfundenen hatte. Es war das erste verlegene und unbeholfene Stammeln einer tiefen Leidenschaft, und ich las es ihm mit halb erstickter Stimme und unendlichem Räuspern vor. Er rückte ungeduldig auf dem Stuhle hin und her, sprang dann mit jugendlicher Leichtigkeit in die Höhe, riß mir die Blätter aus den Fingern und rief:

„Und das haben Sie gemacht, Sie Silbenzähler, Wortklauber, Versedrechsler? Da brate mir Einer einen Storch! Das ist mir noch nicht vorgekommen.“

Und nun erging er sich in einem Strome liebenswürdiger Schmeicheleien, die ich nicht wiederholen will, und prophezeite mir Dinge, die leider bis zum heutigen Tage noch nicht eingetroffen sind. Der gute, theilnahmevolle, herzige Mensch! Er war immer maßlos in Lob und Tadel, in Geringschätzung und Bewunderung, eine unmittelbare, ehrliche und warmblütige Natur, voller Antipathien und Sympathien, die, wo sie Verwandtes traf, widerstandslos sich dahingab, wo sie auf Fremdes stieß, mit Händen und Füßen Alles von sich abwehrte.

Mein Schicksal war entschieden. Der Vorsatz, Dichter zu werden, stand in mir fest. Holtei war fortan eifrig hinter Allem her, was ich begann, und schürte das heilige Feuer der Kunst in meinem Herzen durch Wort und That. Er verschaffte mir die [263] Wonne, mich zum ersten Mal in Zeitschriften gedruckt zu sehen, las meine Gedichte in seinen Kreisen überall vor, brachte mich, noch während meiner Gymnasialzeit, als Prologdichter auf das Breslauer Theater und wußte für meine Schülerpoesien sogar einen mächtigen Gönner und unvorsichtigen Verleger aufzutreiben, bei welchem sie denn auch seit einem Jahrzehnt in ungestörter Verborgenheit ruhen.

So wurde er mein bester Freund, dem ich Alles vertrauen konnte, was mir auf der Seele lag, und der auch mir, obgleich ich um mehr als zwei Menschenalter jünger war, sein volles Vertrauen schenkte. Wenn wir in seinem Zimmer zur Dämmerstunde beisammen saßen oder mit einander einen Mittagsspaziergang über die Breslauer Promenaden machten, gab es immer viel zu erörtern. Gespräche politischen, religiösen, philosophischen oder literarischen Inhalts wechselten bunt mit einander.

War er besonders gut aufgelegt, so las er wohl auch Dies und Jenes vor, eine Scene aus einem Shakespeare’schen Stücke, einige seiner köstlichen schlesischen Gedichte, oder etwas Fremdes, Neues, das sein Gefallen erregt hatte. Als Erzähler wie als Vorleser war Holtei unerschöpflich und unübertrefflich. Er konnte Einen plötzlich und ohne weitere Vorbereitung lachen und weinen machen, erschüttern und beseligen, zermalmen und erheben, und beherrschte seine Stoffe mit so großer Virtuosität, daß auch das Unbedeutendste durch die Art, wie er es darbot, den Schein des Bedeutenden gewann. Eigenthümlich war das Mittel, durch welches er die Aufmerksamkeit seines Hörers zu fesseln verstand. Er las, als wenn er sich unterhielte, und nagelte den Angeredeten, der oft nicht wußte, wo das Gespräch aufhörte und die Vorlesung begann, mit den Augen fest.

Welche Augen! Aus ihrem hellen Blau leuchtete die volle Seele, und ihre Lider überflog entweder ein Schatten leichter Melancholie, oder es umspielten sie hundert schalkhafte Falten des Humors. Diese Augen hatten nichts zu verheimlichen, und wen sie ansahen, der konnte, im Moment wenigstens, einer Ausflucht oder Lüge nicht fähig sein. In ihren Blicken waren seine rührende Gutmüthigkeit, seine oft geradezu erschreckende Offenherzigkeit, seine ausgelassenen Launen und seine aus Todessehnsucht und Sterbensfurcht gemischte Schwermuth deutlich zu erkennen. Was Holtei vor der Mehrzahl der anderen Menschen voraus hatte, war die in’s Unglaubliche gesteigerte Macht der Persönlichkeit. Man kann sagen, ohne damit seine poetische Begabung im mindesten herabzusetzen, daß der Mensch in ihm den Dichter an Bedeutung bei weitem übertraf. Auch seine beliebtesten, gerade ihres natürlichen Zaubers wegen so gern gelesenen Schriften geben kein vollständig zutreffendes Bild des eigenthümlichen Originals, das nur im nähern persönlichen Verkehr genau zu verstehen war.

Von der merkwürdigen Gabe des anschaulichen Vergegenwärtigens, die seinem Erzähler- und Vorlesertalente eigen war, habe ich namentlich in einer Hinsicht profitirt. Als Gymnasiast hatte ich noch sehr wenig von deutscher Literatur erfahren, die mittelalterliche ausgenommen, die mir gar nicht behagen wollte; in der neuern Geschichte der Poesie wurden wir mit trockenen Zahlen und Namen abgespeist, und nur der Zufall und der einmal erwachte Wissenstrieb machten mich mit dem oder jenem Dichter näher vertraut. Da hatte ich nun in Holtei ein lebendiges Buch vor mir, das mir Aufschluß über Alles gab, was ich nur wissen wollte, und zwar auf die allerunzweideutigste Art. Nicht nur, daß er selbst ein sehr langes und interessantes Stück Literaturgeschichte repräsentirte, das den ganzen Entwickelungsproceß des neunzehnten Jahrhunderts enthielt: seine ihm wieder von Aelteren mitgetheilten Erinnerungen reichten noch weiter zurück, bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Ich habe ihn weidlich gequält, bis er mich mit allen Größen der letzten Epoche genau bekannt gemacht hatte. Es gab kaum einen Dichter, Musiker und Schauspieler von 1820 bis 1870, dem er nicht irgendwo begegnet wäre. Dabei war der üppige Haushalt seiner Erinnerungen und Erlebnisse in so vorzüglicher Ordnung, daß Wiederholungen zu den allerseltensten Ausnahmen gehörten. Erst in der letzten Zeit, nachdem er von den „drei Bergen“ in’s Kloster der barmherzigen Brüder übergesiedelt war und seine allmähliche körperliche Auflösung begann, begegnete es ihm, daß er sich öfter wiederholte.

(Schluß folgt.)




Wallenstein als Student in Altdorf.
Nach Wagenseil, Murr und Baader dargestellt von Karl Ueberhorst.


– „zu Altdorf im Studentenkragen
Trieb er’s, mit Permiß zu sagen
Ein wenig locker und burschikos,
Hätte seinen Famulus bald erschlagen.
Wollten ihn drauf die Nürnberger Herren
Mir nichts, dir nichts in’s Carcer sperren;
’s war just ein neugebautes Nest;
Der erste Bewohner sollt’ es taufen.
Aber wie fängt er’s an? Er läßt
Weislich den Pudel voran erst laufen.
Nach dem Hunde nennt sich’s bis diesen Tag –
Ein rechter Kerl sich dran spiegeln mag.“ –

Welchem unserer Leser wären obige Worte, mit denen der Jäger in „Wallenstein’s Lager“, die, wenn auch nur kurze, doch um so wildere und ausgelassenere Studentenzeit des Helden der Schiller’schen Trilogie so charakteristisch schildert, nicht bekannt? Sie haben gar manche geschichtliche Controverse insofern hervorgerufen, als der Aufenthalt Albrecht von Waldstein’s auf der Schule zu Altdorf vielfach bestritten worden ist. Der um die böhmische Geschichte hochverdiente Franz Palacki insbesondere verweist, indem er der Wallenstein’schen Biographie des Domherrn Cerwenka aus dem siebenzehnten Jahrhundert folgt, alle Nachrichten über Wallenstein’s Altdorfer Studentenzeit in den Bereich der Sage, und hauptsächlich diesem sonst hochverdienten und zuverlässigen Geschichtsschreiber, der bei genauerem Durchforschen deutscher Quellen sicherlich bald seines Irrthums würde inne geworden sein, verdanken wir das jeder Prüfung baare Nacherzählen obiger Behauptung. Schon im siebenzehnten Jahrhundert berichtet uns der Altdorfer Professor Wagenseil urkundlich über den Aufenthalt des jungen Waldstein in Altdorf – ebenso beweisen Murr im vorigen, Baader in diesem Jahrhundert aus Universitätsacten und Nürnberger Rathserlassen, daß Wallenstein nicht nur Student in Altdorf, sondern auch ganz der wilde Student gewesen, wie ihn uns Schiller so treffend in obigen Versen geschildert. Ein Anderes ist es mit der bekannte Carcerlegende. Die Sage umkleidet das Leben große und hervorragender Menschen gern mit vielerlei abenteuerlichen Historien; daß sich dem gleich einem Meteor am deutschen Himmel emporsteigenden Friedländer derartige Anekdoten, lustige und schaurige, an die Fersen heften mußten, ist daher selbstverständlich – war er doch um 1632 der gefürchtetste, mächtigste und auch wohl reichste Mann Europas (das jährliche Einkommen seiner Güter allein belief sich nachweislich auf drei Millionen Gulden). Diesen Volkssagen nun verdanken wir auch die Anekdote von der originellen Taufe des Altdorfer Carcers. Bei näherer Einsicht in die Dichterwerkstatt Schiller’s aber wird der Literarhistoriker bald erkennen, daß dieser nicht nur der Volksmythe folgte, sondern auch, insbesondere bei Erwähnung des nahezu „erschlagenen Famulus“, ja selbst bei der Zeile: „Nach dem Hunde nennt sich’s bis diesen Tag“, historische Quellen – wahrscheinlich dieselben, welche uns vorliegen – benutzte. Diese Quellen aber ergeben Folgendes.

Der Nürnberger Rath verlegte sein kurz nach der Reformation von Melanchthon eingerichtetes Gymnasium um 1575 nach dem zum Nürnberger Gebiet gehörigen, nahegelegenen kleinen Altdorf, um die studirende Jugend von den Zerstreuungen, welche die reiche und lebenslustige Reichsstadt nur allzu verführerisch bot, abzuhalten. Rudolph der Zweite erhob die Schule 1576 zu einer Akademie; den eigentlichen Universitätsrang erhielt sie 1622. Wir wollen hier gleich hinzufügen, daß sie 1809 mit Erlangen vereinigt, aber erst 1818 vollständig aufgehoben wurde.

Die Hoffnung des Nürnberger Raths auf ein ruhiges und fleißiges Leben der studirenden Jugend ging nicht in Erfüllung; denn, wie zu dieser Zeit auf fast allen deutschen Universitäten ein wüstes Leben eingerissen war, so finden sich die Anzeichen [264] eines solchen auch hier. Das Zechen der Professoren mit den Studenten ist nicht nur in Jena üblich gewesen – auch in Altdorf sehen wir beispielsweise den durch Trunksucht und zänkisches Wesen berüchtigten Dr. Gentilis, der in den Jahren 1597 und 1613 Rector war, in bezechtem Zustande mit den Studenten fluchend durch Altdorfs Gassen ziehen und mit blankem Degen die Bürger bedrohen.

Wilden, feurigen Temperaments, welches sich erst in späteren Jahren zu kalter Ruhe und Berechnung abklärte, gerieth der junge, früh verwaiste böhmische Cavalier Albrecht von Waldstein zu Ende August 1599 in dieses Treiben. Er wurde am 29. August 1599 nebst seinen Begleitern folgendermaßen in die Matrikel eingetragen:

Albertus a Waldstein, Baro Bohemus.
Johannes Heldreich, praeceptor Görlicensis, Lusatus.
Wenceslaus Metrouski, famulus.

Gleich in den ersten Wochen offenbart sich ein bereits den späteren Friedländer andeutender Charakterzug: kaum angelangt, warf er sich zum Haupte einer Tumultantenschaar auf. Teutschenbrunn’s Jurisdiction in causis criminalibus berichtet darüber kurz, aber treffend:

„Den 7. Dez. 1599 klagte Herr Dr. Schopper propter nocturnas actiones ante aedes suas (wegen nächtlicher Ruhestörung vor seiner Wohnung). Die Thäter dieser Action sind gewesen, nach viel gehabter Mühe, Freyherr von Waldstein, Sebisch (scheint, wie aus späteren gemeinschaftlichen Affairen zu schließen, ein Hauptcumpan Waldstein’s gewesen zu sein), Jeroslaus Secolinsky, Joh. de Lopes et famulus Socolinski, qui aufugit (welcher entfloh).“

Der den nächtlichen „actionibus“ folgende Arrest muß nicht allzu streng gewesen sein; denn schon am 23. desselben Monats sehen wir unsern Waldstein abermals bei einem Ereignisse betheiligt, welches einen tragischen Ausgang nehmen sollte. Wolf Fuchs, ein Fähndrich der Miliz, wird (ob in regelrechtem Duell, ist nicht ersichtlich) von Hans von Steinau, dem Sohne des Rothenberger Burggrafen, erstochen. Waldstein und Sebisch, bei der That (wahrscheinlich als Secundanten) zugegen, verhelfen dem Thäter zur Flucht, sodaß derselbe glücklich nach dem nahegelegenen Rothenberg entkommt, obschon der Nürnberger Rath ausschreiben läßt, „daß, wer den Theter anmelden werde, nit allein unvermehret bleiben, sondern ihm hundert Gulden zu einer verehrung gegeben werden solle“. –

Zugleich wird eine Haussuchung gehalten, welche aber auf bewaffneten Widerstand der Studenten stößt, sodaß der Nürnberger Rath Mannschaft nach Altdorf sendet und zugleich in einem Decret Waldstein und Sebisch als „studiosi“ namhaft macht, „die sich bisher alles mutwillens beflissen und fast mancherlei unruhe gestift und angerichtet haben“. – Alles dieses aber scheint den jungen Waldstein nicht besonders zu berühren; denn noch während der Untersuchung obigen Falles sehen wir ihn in einen neuen Handel verwickelt.

„Am 9. Januar 1600 erschienen (vor Pfleger und Rector) Baro von Waldstein und Gotthardus Livo, welcher von dem Barone im Fuß gestochen worden. Darauf sie vereinigt worden und hat Baro dem vulnerato (dem Verwundeten) die Schäden ausrichten müssen.“ Das beigegebene Bild versucht, die Scene im Zeitcostüm zu vergegenwärtigen.

Mittlerweile rescribirt der Nürnberger Rath drei Tage später – also am 12. Januar – in Sachen des getödteten Fuchs dem Pfleger und Rector:

„Dieweil sich erzeigt, daß Albrecht von Walstein, Freyherr, in der kurzen Zeit her, so er zu Altorff gewesen und studiren sollen, sich in mancherley weis allerley unruhe und mutwillens unterstanden, insonderheit auch bei angeregtem Ableib (des Fuchs) das seinige gethan, da er billig dem Theter von seinem bösen vorhaben mehr abhalten helfen sollen, so wollen wir hierin sein ehrlichen Stand und Herkommen respectirt und Euch hiermit befohlen haben, ihm Freyherrn von Walstein oben angezogener ursachen halber auf sein habitation oder wonstuben, darauf er sich auch speisen lassen und davon nicht kommen soll, so lang zu verstricken, bis er seine zu Altorff gemachte Schulden abgericht und bezahlen haben wird, und wenn dasselb geschehen, sich von Altorff hinweg zu thun und sein gelegenheit anderer orten zu suchen.“ –

Dem wilden Gesellen aber muß es in dieser „Stubenverstrickung“, welche er, da seine Complicen „auf den im Collegio versperrten Thurm“, ja sogar nach Nürnberg abgeführt wurden, lediglich seinem „ehrlichen Stand“ als Freiherr zu verdanken hatte, allzu langweilig geworden sein, die ziemlich deutlich ausgesprochene Relegation ihn vor der Hand aber gar nicht beunruhigt zu haben; denn schon am 14. Januar wurde Freiherr von Waldstein, welcher seinen Famulus Joh. Rehberger, weil derselbe müßig zum Fenster auf den Markt hinausgesehen, mit einer Peitsche auf kaum glaubliche Art tractirt hatte, verklagt, und der Knabe, da er ihn so unmenschlich gezeichnet, „nach Nürnberg ad D. D. Scholarchas geschickt. Hierauf den 19. dieß ist der Herren Scholarcharum befehl erfolget, daß Baro der Akademie deßwegen 30 fl. Straf geben und sich mit des Knaben Freundschaft vergleichen soll. Baro beschwert sich dessen, vorwendend, der Knab wäre unfleißig gewesen, erbot sich, das Arztlohn auszurichten und den Knaben zu einem ehrlichen Handwerk zu verlegen und die zuerkennte Straf zu bezahlen.“

Obige urkundliche Notizen haben Schiller sicherlich vorgelegen und ihm zu dem bekannten Verse: „Hätte seinen Famulus bald erschlagen“ die Veranlassung gegeben. Während der mißhandelte Famulus, respective dessen Vormünder erst am 17. März abgefunden werden, schickt Wallenstein zur Zeit obiger Vorladung zwei Commilitonen nach Nürnberg, um dort die Aufhebung seines Stubenarrestes zu bewirken. Der Nürnberger Rath bewilligt ihm hierauf, „daß er bei seinem gewöhnlichen Kostherrn zu Tisch und, da er will, in die Predigten (Wallenstein war damals noch protestantisch) und Lectiones gehen mög, sich aber sonsten des ausgehens und umschweifens in der Stadt und für die Thor enthalten soll“, in dem Uebrigen aber (nämlich „sich von Altorff hinweg zu thun und sein gelegenheit anderer orten zu suchen“) läßt er’s bei vorigem Befehl bewenden.

Diese unter den Fuß gegebene Relegation nun muß dem jungen, stolzen Cavalier wenig behagt haben; denn unter dem 20. Januar wendet er sich in folgendem, eigenhändig unterzeichnetem Schreiben an die „Edlen, Ehrenfesten, Erbahren und Hochweisen Herren Bürgermeister und Rathmannen der löblichen Reichsstadt Nürnberg, seine günstigen Herren und Freunde“:

„Mein freundlichen gruß, Edele, Ehrenfeste, Erbare und Hochweise, günstige Herren und freinde. Das die Herren, auf mein bit, den mir auferlegten arrest etwas relaxiret, daraus vermerke ich der Herren geneigter gemütter gegen mir, und thue mich dessen gegen den Herren freindtlich und fleißig bedanken. Dieweilen aber in der Herrn bevelich, an hiesige Ihre löbliche Universitet gethan, lauttet, mir beneben dem arrest aufczuerlegen, Mich nach gethaner richtiger beczahlung von hinnen zu begeben, welche wordt gleichsam eine tacitam relegationem in sich begreiffen: und aber dieselbige nit allein meiner Person, sondern auch dem Wolgeborenen Herren Herr Caroln, und Herr Adams (Adam von Waldstein) beider Herren von Waltstein, Rom. Kay. M. meines allergnädigsten Khunigs und Herren geheimbder Räthe, sowol meinem ganczen Löblichen Geschlechte zu einem großen despect und nachtheil gelangen mochte. Als ist hiermit an die Herren mein freindtlich und fleißige bitte, Sie geruhen an deme mir auferlegten langwierigen arrest ein genügen zu haben, gedachte relegationem genczlich zu remittiren und nachzulaßen und mir in meinen freyen Willen zu stellen, zu welcher Zeit ich mich von hier begeben möge, so wol auch aus dem arrest nu mehr zu erledigen. Hergegen bin ich mein creditores richtig abzuzahlen, den Herren nit lang verdrißlich zu sein, und mich hinfüro allenthalben, als einem Herren gebühret, zu verhalten, So wol umb die Herren solches nach Vermögen freindtlichen zu verschulden erbottig.

     Gegeben in Altorff den 20. January Anno 1600.
          Ewer williger
               Albrecht von Waldstein.
                    Freyher.“

Daß der unterzeichnete Albrecht von Waldstein nicht eine andere Person desselben Geschlechts, wie Palacki behauptet, sondern mit dem späteren Fürsten Wallenstein identisch, wird durch die Anführung seiner nächsten Verwandten, von denen Adam von [265] Waldstein (gest. 1638) vom Kaiser in den Grafenstand erhoben wurde, bis zur Evidenz bewiesen.

Der Nürnberger Rath mochte es mit der vornehmen böhmischen Sippe nicht verderben. Er schrieb deshalb unter dem 31. Januar an Rector (Nicolaus Taurello) und Pfleger der Akademie (Görg Roggenbach):

„Es ist unser meinung gar nit gewesen, daß es für eine relegation gehalten, sondern was diesfalls geschehen, das ist ihm selbst zum besten und dahin angesehen gewesen, damit er den leuten, welche er mit den fürgezogenen Handlungen beleidigt, mit dem förderlichsten aus den Augen kommen und ferner unrecht verhütet werden möcht. Dieweil er dann für sich selbst erbietig ist, sich nach abzahlung seiner schulden nicht weiter in die Läng daselbst aufzuhalten, wollen wir ihn nicht allein des weitern arrests entlassen, sondern auch das auferlegte Hinwegziehen begehrtermaßen zu seiner freien gelegenheit gestellt haben.“


Ein Verhör des Studiosus Wallenstein vor Pfleger und Rector der Schule zu Altdorf.
Originalzeichnung von C. Röhling.


Da nun am 17. März der Handel mit seinem Famulus zu Ende getragen wurde, so können wir annehmen, daß Waldstein, wie auch Murr angiebt, Anfangs April 1600 von Altdorf abgezogen ist. Die Nürnberger Herren mögen froh gewesen sein, des wilden Gesellen ledig zu werden, in Altdorf aber wird man trotz des nur siebenmonatlichen Aufenthaltes seiner um desto länger gedacht haben, als er zwanzig Jahre später begann mit so gewaltiger Hand in die Geschicke Deutschlands einzugreifen. Der blutige Kampf unter Nürnbergs Mauern zwischen den zwei größten Kriegsfürsten damaliger Zeit rief der Altdorfer Universität das Andenken Waldstein’s auch noch auf andere Art zurück.

Bei der Anwesenheit Gustav Adolf’s in Nürnberg kam eine ziemlich große Anzahl Altdorfer Professoren, unter ihnen auch der damalige Rector Dr. Nößler, nach Nürnberg, um den König zu sehen. Bei der Rückkehr nach Altdorf wurden sie von Kroaten angegriffen, vier von ihnen niedergehauen, mehrere verwundet, fünfzehn aber in’s Friedländische Lager geführt, von wo aus sie sich mit einer großen Summe Geldes „ranzioniren“ mußten. Den Mediciner Dr. Nößler aber behielt Wallenstein als Arzt bei seiner Armee, beschenkte ihn zwar mit einer goldenen Kette, im Uebrigen mußte er ihm aber bis nach Lützen folgen, wo es Nößler, wahrscheinlich im Trubel des Rückzuges, gelang, nach Altdorf zu entkommen. Allzuschlecht aber muß es ihm im Friedländischen Dienst nicht ergangen sein; denn er brachte 500 Goldgulden nach Altdorf heim. Aus dem lateinischen Schreiben, welches Nößler im September 1632 an die Altdorfer Universität sendet und in welchem er die Grundzüge einer Bittschrift hinsichtlich seiner Befreiung mittheilt, geht deutlich hervor, daß Nößler es für gut hält, Wallenstein an seine Altdorfer Studentenzeit zu erinnern. Nößler räth der Universität, zu schreiben, „man habe zu Wallenstein’s Gnade und Milde die Hoffnung, daß auch Nößler demnächst freigelassen werde, was die Universität als ein Zeichen seines alten besondern Wohlwollen gegen dieselbe betrachten wolle.“

Wallenstein war in seinen jüngeren Mannesjahren von stattlichem und einnehmendem Aeußeren. In der Liechtenstein’schen Bildergallerie in Wien befindet sich ein Portrait – unseres Wissens von van Dyk 1626, wahrscheinlich nach seiner Rückkehr von Italien gemalt – welches Wallenstein im besten Mannesalter darstellt. Wir erblicken auf demselben nichts von dem schwermüthigen, meist finsteren Ausdrucke der späteren Bilder; goldbraunes Haar umrahmt ein gesundes Antlitz, aus welchem uns ein großes, mächtiges Auge entgegenstrahlt. So erklärt sich wohl die leidenschaftliche, bis zu Liebestränken sich versteigende Neigung seiner ersten, sehr reichen, aber weit älteren Gemahlin, [266] welche er um 1610 heirathete. Strapazen aller Art untergruben später Kraft und Gesundheit, sodaß, als er, kaum einundfünfzig Jahre alt, aegre egrae (durch Mord zu Eger – ein damals sehr beliebtes Wortspiel) umkam, die Mordwaffe Deveroux’ einen nur noch siechen Körper zu Boden warf.

Es erübrigt uns noch, auf das Altdorfer Carcer, respective dessen vielbesprochene Taufe zurückzukommen. Daß der junge Waldstein nicht mit Carcer-, sondern Stubenarrest bestraft wurde, haben wir oben gesehen. Ebensowenig aber ist das Altdorfer Carcer durch den Namen eines Hundes getauft worden. Ursprünglich führte dasselbe nach seinem ersten Bewohner Gabriel Stumpflein, welcher es – also ein Jahr nach der Uebersiedelung der Schule und dreiundzwanzig Jahre vor dem Eintreffen Waldstein’s in Altdorf – einweihte, den Beinamen „Stumpfel“. Später wurde es Bärenkasten, Hundsloch oder auch kurzweg „Hund“ genannt. Und letztere, noch zu Schiller’s Zeit gebräuchliche Benennung hat auch den Dichter zweifelsohne zu dem Verse bewogen:

     „Nach dem Hunde nennt sich’s bis diesen Tag.“

Wenn er dabei vorher des Pudels erwähnt, so verbindet er hier dichterisch die Volksmythe mit der Wirklichkeit. Wahrscheinlich noch bei Lebzeiten des Friedländers hat sich die Sage des Märleins von der seltsamen Carcertaufe bemächtigt, denn schon Wagenseil sieht sich veranlaßt, dasselbe in der fünften seiner „Exercitationes sex varii argumenti“ zu widerlegen.




Pflanzenzucht bei elektrischem Lichte.
Von Carus Sterne.

Einer der Fremden, in deren Gesellschaft der Schreiber dieser Zeilen vor langen Jahren einmal die Glücksbrunner Höhle bei Bad Liebenstein besuchte, wurde daselbst von einer schönen Pflanzendecoration, die zu Ehren eines voraufgegangenen fürstlichen Besuches mit besonderer Pracht am Ufer des unterirdischen Sees arrangirt war, so überrascht und verblüfft, daß er den Charon unserer acherontischen Fahrt fragte, ob diese Palmen, Myrthen, Dracänen etc. immer dablieben und so schön gediehen? Wir lachten damals über den biedern Sohn der Thüringer Berge, der nicht zu wissen schien, daß grüne Pflanzen nur im Lichte gedeihen können, allein wie die seit Februar dieses Jahres angestellten Versuche des Herrn Wilhelm Siemens in London, eines Bruders des bekannten Berliner Elektrikers, gezeigt haben, wäre eine solche unterirdische Pflanzen- und Blumenzüchterei in ewig dem Sonnenlichte entzogenen Grotten doch am Ende sehr wohl ausführbar gewesen.

Die Tageszeitungen haben mit großem Getrommel darüber berichtet, daß Herr Siemens am 4. März vor der Londoner königlichen Gesellschaft der Wissenschaften Tulpenknospen in weniger als einer Stunde durch elektrisches Licht zum Aufblühen gebracht habe, und das Berliner „Mikroskopische Aquarium“ zeigt dieses schon mehr an die „höhere Physik“ erinnernde Kunststück seitdem alltäglich seinen erstaunten Besuchern. Weder den Posaunisten, noch Herrn Siemens selbst scheint es bekannt gewesen zu sein, daß man dieses Experiment unter der wärmestrahlenden Glocke jeder Petroleumlampe ebenso gut, ja sogar im Dunkeln bewerkstelligen kann, da die geschlossenen Blumen mehr durch die steigende Wärme, als durch das Licht zum Ausbrechen gereizt werden. Mehr als einmal habe ich im Hochgebirge des Abends die geschlossenen tiefblauen Gentianen, die ich am Tage in der Nähe des ewigen Schnees gepflückt hatte, durch Lampenwärme zum Oeffnen gebracht; es ist das eine höchst einfache Zauberei, die mich Dr. Hermann Müller vor Jahren gelehrt hat. In verschiedenen Gegenden Deutschlands, namentlich Thüringens, z. B. in der Gegend von Hildburghausen, herrscht die schöne Sitte, kurz vor dem ersten Advent starke Aeste von Waldkirschen, Birken, Apfelbäumen, Flieder, sowie von anderen Gehölzen in die Zimmer zu holen, sie in großen Behältern mit feuchtgehaltenem Sand in eine Zimmerecke zu stellen und dort treiben zu lassen. Hier in den niedrigen Bauernstuben, in der dunkelsten Zeit des Jahres und in einer keineswegs begünstigten Zimmerecke erfüllt sich das in so vielen Volkssagen und Märchen geschilderte Wunder: die Apfelbäume, durch welche die Sünde in die Welt gekommen, erblühen um Weihnachten, wenn nicht aus Freude über die Geburt des Erlösers, so doch kraft der Strahlen des wohlgeheizten Zimmerofens; man freuet sich der Frühlingspracht blühender Apfel- und Kirschbäume und der Fliederblüthe, die sonst das Pfingstfest schmückt, in den Weihnachtsfeiertagen.

In den Großstädten beginnt das Treiben der Frühlingsblumen im Spätherbste nach großem Maßstabe; schon vor Weihnachten hat man daselbst frische Veilchen, Maiblumen, Tazetten etc., und manche dieser Pflanzen, wie z. B der Flieder, werden in völliger Dunkelheit getrieben. Trotzdessen zeigen sie wohlausgebildete und schöne Blüthen zum Beweise dafür, daß die Blüthenentwickelung ganz ohne Licht vor sich gehen kann, was ja auch schon der Umstand beweist, daß die vollkommene Ausbildung der Blüthe sich in der dicht geschlossenen Knospe vollzieht. Dagegen zeigen die Blätter im Dunklen getriebener Gewächse, Salatpflanzen u. dergl. eine auffallende, bei den letzteren ihre Zartheit vermehrende und deshalb geschätzte Eigenthümlichkeit: sie sind nicht grün gefärbt, sondern von einem gelblichen Elfenbeinweiß, etiolirt (vergeilt), wie der Kunstausdruck sagt. Man sieht also, die Pflanzentriebe besitzen das Vermögen, ohne Mithülfe des Lichtes, bei genügender Wärme aus den angesammelten, in Wurzeln, Stengeln oder Zwiebeln angehäuften Nahrungs-(Reserve-)Stoffen Blätter und Blüthen zu treiben, nur vermögen die meisten derselben nicht ohne Mithülfe des Lichtes den grünen Farbstoff, das Blattgrün oder Chlorophyll, auszubilden, der mit der Forternährung der Pflanzentriebe in sehr nahen Beziehungen steht.

Ich sagte mit Absicht, die meisten Pflanzen; denn einige der ältesten Pflanzen, die schon auf der Erde erschienen sind, als das Sonnenlicht wahrscheinlich noch durch eine dichtere Atmosphäre sehr gedämpft war, so die Farnkräuter und Nadelhölzer, besitzen das Vermögen, auch ohne Licht Blattgrün wenigstens in einem beschränkten Grade, zu erzeugen, und einige derselben gedeihen nur im Schatten und scheuen das ungemäßigte Sonnenlicht geradezu; ja sie sollen zum Theil in demselben ebenso erbleichen, wie andere Pflanzen im Dunklen. Man hat bis zum vorigen Jahre ganz allgemein geglaubt, dieser grüne Farbstoff, welcher mit Ausnahme einiger, ausschließlich auf fremde Kosten lebender Schmarotzerpflanzen keinem höheren Gewächse fehlt, bewirke die Ernährung der Pflanzen, indem er es sei, der die Kohlensäure im Lichte binde und zersetze, um den Kohlenstoff, den Grundbestandtheil der meisten Stoffe des Pflanzenleibes, abzuscheiden und in Gestalt verschiedener Verbindungen den einzelnen Theilen und Geweben zuzuführen.

Allein geistreiche Versuche, welche der ausgezeichnete Botaniker Professor Pringsheim in Berlin im vergangenen Jahre angestellt hat, scheinen diese seit langen Jahren angenommene Ansicht zu erschüttern und vielmehr die Vermuthung nahe zu legen, daß das grüne Kleid der Pflanzen nur ein übergeworfener grüner Schleier sei, der wie ein Lichtschirm oder eine gefärbte Schutzbrille wirke, um den Pflanzen das volle Sonnenlicht erträglich zu machen und die eigentlich die Nahrungsaufnahme (Assimilation) bewirkenden Zellstoffe vor ihrer versengenden Wirkung zu behüten. Erst hinter dieser grünen Außenfläche der Zellkörper bewirke das durch sie gemilderte Licht die Neubildung der Stärke-, Zucker-, Eiweißstoffe etc., welche die Pflanze aufbauen und später gegen das Ende der Vegetationsperiode in eigenen Vorrathsorganen aufgespeichert werden, um das Material zum nächsten Blüthen- und Blatttriebe zu liefern.

Sei dem nun, wie ihm wolle, so viel ist sicher, daß jene Entwickelung der Pflanze ohne Licht nur so lange möglich ist, wie noch Reservestoffe vorhanden sind, während ein Ersatz derselben und das darauf beruhende Weiterleben nur im Lichte geschehen kann, wobei dann auch das immerfort vom Lichte zersetzte Chlorophyll immer wieder neu gebildet wird. Nun haben sich die Naturforscher seit lange gefragt, ob hierzu unbedingt das Sonnenlicht nöthig sei, oder ob auch künstliches Licht ausreiche. Schon im Jahre 1806 hatte der berühmte Genfer Botaniker Decandolle [267] mit dem Lichte von sechs Argand’schen Lampen experimentirend gefunden, daß im Dunkeln getriebene weiße Pflanzen sich an dieser Lichtquelle grün färbten, also Chlorophyll bildeten, aber er konnte ebenso wenig wie spätere Untersucher finden, daß die Pflanzen bei diesem schwachen Lichte Kohlensäure zersetzen, was sich leicht an der dadurch herbeigeführten Ausscheidung von Sauerstoffgas, der Lebensluft der Thiere, erkennen lassen würde. Sie ergrünten, aber ohne merkliche Ernährungserscheinungen zu zeigen.

Man glaubte nun eine lange Zeit hindurch, daß der Mangel der gewöhnlichen künstlichen Lichtquellen an sogenannten chemischen Strahlen – der geneigte Leser wolle über dieselben „Gartenlaube“ 1880, Nr. 1 nachlesen – es sei, welcher sie unfähig mache, die Ernährungsprocesse in der Pflanzenzelle anzuregen. Allein genauere Untersuchungen der deutschen Botaniker Sachs, Kraus und Pfeffer (1866 bis 1872) zeigten, daß es nicht die dunklen chemischen Strahlen des Sonnenspectrums, welche sich bei der Photographie so wirksam erweisen, sondern im Gegentheil die leuchtendsten gelben Strahlen sind, welche die stärkste Kohlensäurezersetzung hervorrufen. Wenn sie eine Anzahl Wasserpflanzen derselben Art in ganz mit Wasser gefüllten Glocken in den rothen, gelben, grünen, blauen und violetten Raum des Sonnenspectrums brachten, so schieden stets die in den gelben Raum gestellten Pflanzen die größte Sauerstoffmenge ab.

Schon früher hatte man indessen bemerkt, daß beim Gedeihen der Pflanzen doch auch die chemischen Strahlen eine wichtige Rolle spielen, indem sie es sind, welche die Bewegungen der Pflanzen regeln und sie nach der Sonne richten. Pflanzen, die im Schatten wachsen, schießen bekanntlich sehr schnell in die Länge, wo aber der Stengel von den chemischen Strahlen des Lichtes getroffen wird, hindern dieselben dieses geile Wachsthum und es entsteht eine Gewebespannung, welche natürlich bewirken muß, daß sich der auf der dunklen Seite stärker verlängerte Stengel dem Lichte zuwendet. Unter den verschieden schnellschwingenden Strahlen des Sonnenlichtes besteht also dem Pflanzenleben gegenüber eine merkwürdige Arbeitstheilung. Die langsamsten (Wärmestrahlen) befördern die innere Weiterverarbeitung der aufgespeicherten Stoffe, das Wachsen, Treiben und Entfalten, die schneller schwingenden rothen, gelben und grünen Lichtwellen regen die Stoffaufnahme an, und die schnellsten blauen, violetten und ultravioletten Strahlen richten die Pflanze nach der Licht- und Wärmequelle hin. Man dürfte hiernach vermuthen, daß das elektrische Licht vermöge seines Reichthums an chemischen Strahlen eine stark richtende Wirkung auf die Pflanzen äußern müsse, und diese Wirkung wurde in der That bereits 1861 durch Versuche von Hervé-Mangon bestätigt. Diese Experimente fortsetzend, hat der französische Naturforscher Prillieux vor einigen Jahren zeigen können, daß das elektrische Licht, und ebenso das sogenannte Drummond-Licht, ja sogar intensives Gaslicht wirklich aus Wasserpflanzen Sauerstoff entwickelt, also die Aufnahme von Nährstoffen ebenso anregt wie das Sonnenlicht.

Man sieht, es handelt sich in den neueren Versuchen von Siemens um keine neue naturwissenschaftliche Entdeckung, sondern nur um die praktische Erprobung der wissenschaftlich längst festgestellten Wirkung des elektrischen Lichtes auf die Pflanzen in einem etwas größeren Maßstabe und mit dem Hintergedanken einer ökonomischen Ausbeutung dieser Wirkungen. Gleichwohl haben diese Versuche ein allgemeineres Interesse, weshalb wir etwas genauer darauf eingehen wollen. Herr Siemens wollte zunächst feststellen, welche Einwirkung starkes elektrisches Licht auf das Gedeihen der Pflanzen habe, und wendete eine durch einen Otto’schen Gasmotor getriebene dynamo-elektrische Maschine an, welche Licht von einer 1400 Kerzen gleichkommenden Stärke erzeugte. Die mit einem metallischen Hohlspiegel versehene Lampe wurde zunächst in freier Luft ungefähr zwei Meter hoch über dem Glasdache eines unterirdischen Melonenhauses angebracht, in welchem eine beträchtliche Anzahl von Blumentöpfen mit eingesäeten oder eingepflanzten schnellwachsenden Gartengewächsen, wie Senf, Möhren, Zuckerrüben, Bohnen, Gurken und Melonen aufgestellt waren. Die Pflanzen konnten dort, ohne vom Platze bewegt zu werden, abwechselnd dem Tageslicht und dem beinahe unter demselben Winkel einfallenden elektrischen Lichte ausgesetzt werden.

Die Töpfe wurden in vier Gruppen getheilt, von denen die erste gänzlich im Dunkeln gelassen die zweite einzig dem Einflusse des elektrischen Lichtes, die dritte allein dem Tageslichte und die vierte dem elektrischen und dem Tageslichte abwechselnd ausgesetzt wurden. Das elektrische Licht wirkte täglich von fünf bis elf Uhr Abends ein, und den Rest der Nacht blieben die Pflanzen im Dunkeln. In allen Fällen waren die Wirkungsunterschiede unverkennbar. Die im Dunkeln gelassenen Pflanzen waren blaßgelb, schmächtig im Wuchs und starben bald. Die allein dem elektrischen Licht ausgesetzten Pflanzen zeigten lichtgrüne Blätter und besaßen hinreichende Kraftfülle, um weiter zu leben. Die dem Tageslicht allein ausgesetzten Pflanzen waren von einem dunkleren Grün und größerer Kräftigkeit. Die den beiden Lichtquellen ausgesetzten Pflanzen zeigten eine entschiedene Ueberlegenheit in der Kraftfülle über alle andern und ihr Grün war von einer reichen dunklen Farbe. Hierbei muß bemerkt werden, daß das elektrische Licht nur halb so lange wie das Tageslicht und unter ungünstigen Verhältnissen wirkte, weil die Glasbedeckung des Hauses in den kühlen Nächten stark mit Feuchtigkeit beschlug und weniger Licht einließ.

Nach diesen gelungenen Vorversuchen brachte Siemens das elektrische Licht in’s Gewächshaus selbst, indem er die Versuchspflanzen diesmal in drei Gruppen theilte und sie entweder nur dem Tageslichte oder nur dem elektrischen Lichte (je elf Stunden) oder beiden Lichtpunkten abwechselnd je elf Stunden aussetzte. Diese Experimente wurden vier Tage und Nächte hindurch fortgesetzt und zeigten ganz entschieden den günstigen Einfluß des elektrischen Lichtes, obwohl die dem Tageslichte ausgesetzten Pflanzen im Allgemeinen die nur dem elektrischen Lichte ausgesetzten Pflanzen an Frische übertrafen. Sehr merklich war die gleichzeitig von dem elektrischen Bogen gespendete Hitze, welche erlaubte, die Heizung einzustellen. Die von ihm erzeugte Kohlensäure reichte hin, die Pflanzen ohne Ventilation zu ernähren, und von den gleichzeitig in geringer Menge gebildeten Stickstoffverbindungen wurde ein schädlicher Einfluß auf die Pflanzen nicht bemerkt.

Diese Experimente sind nicht blos dadurch lehrreich, daß sie das Vermögen des elektrischen Lichtes beweisen, die Pflanzen an Stelle der Sonne zu ernähren und am Leben zu erhalten, sondern noch besonders durch die Bestätigung der Erfahrung, daß den Pflanzen eine eigentliche Nachtruhe nicht nöthig ist. Pflanzen, die ihre Blätter und Blüthen während der Nacht zum sogenannten „Schlaf“ schließen, thun dies nicht aus Müdigkeit, sondern nur weil der Licht- und Wärmereiz der Sonnenstrahlen fehlt und weil sie sich im geschlossenen Zustande besser gegen Nachtkühle und Nachtthau schützen. Unter die elektrische Lampe gebracht, breitete eine schlafende Acacia lophanta ihre zusammengelegten Fiederblätter alsbald wieder aus. Freilich würde man aus diesen viertägigen Experimenten noch nicht auf die völlige Entbehrlichkeit der Nachtruhe für die Pflanzen schließen können, wenn man nicht wüßte, daß in den Polarregionen, im nördlichen Schweden, Norwegen und Finnland Getreide in den beiden Sommermonaten, während die Sonne beinahe ununterbrochen über dem Horizonte ist, ungewöhnlich schnell wächst und reift. Diese schnellen Ernten könnte man also durch Ersatz des Sonnenlichtes mittelst des elektrischen Lichtes während der Nacht auch in andern Breiten erzielen, wenn das sich verlohnte. Die Pflanzen verrichten weder Muskel- noch Kopfarbeit – wozu sollten sie also der Nachtruhe bedürfen?

Der nächste Versuch bestand darin, daß die elektrische Lampe derartig an der südlichen Seite der Decke eines gläsernen Palmenhauses angebracht wurde, daß ihre Strahlen unter einem ähnlichen Winkel, wie die der Mittagssonne, die Pflanzen trafen. Die elektrische Lampe war eine ganze Woche hindurch (vom 18. bis 24. Februar) täglich, mit Ausnahme der Sonntagnacht, von fünf Uhr Abends bis sechs Uhr Morgens in Thätigkeit, und alle Pflanzen zeigten dabei ein gesundes Aussehen. Von drei Alicante-Weinreben machte die dem elektrischen Lichte zunächst stehende die meisten Fortschritte, und dasselbe konnte an den Nektarpfirsichen und Rosen bemerkt werden. Auch die nächststehenden Pflanzen, z. B. ein Geranium, wurden von der Hitze nicht beeinträchtigt; die Blätter nahmen eine dunklere und kräftigere Farbe an, und die Blumenfarbe der blühenden Pflanzen schien lebhafter als gewöhnlich zu sein. Dieser Versuch, obwohl ebenfalls von zu kurzer Dauer, um alle Zweifel zu heben, scheint doch den Schluß zu erlauben, daß das elektrische Licht in Gewächshäusern verwendet werden kann, ohne daß die Pflanzen Schaden leiden.

Ein fernerer Versuch sollte die Wirkung des elektrischen Lichtes auf unter Glas und in freier Luft wachsende Pflanzen [268] gleichzeitig und neben einander zeigen. Die Lampe wurde deshalb, wie bei dem ersten Versuche, zwei Meter hoch über dem Boden zwischen einem unterirdischen Melonenhause und einem ebenfalls unterirdischen Gewächshause mit Rosen, Lilien, Erdbeeren und anderen Gewächsen angebracht. Der ungefähr einen Meter breite und sieben Meter lange Bodenraum zwischen diesen beiden Häusern wurde mit Kästen besetzt, in denen frühe Pflanzen (Senf, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln etc.) gesäet oder gepflanzt waren, während niedrige Mauern an den beiden offenen Seiten des Zwischenraumes kalten Winden den Zutritt abschnitten. Auch hier war die Wirkung unverkennbar und konnte leicht deutlicher gemacht werden, wenn einzelnen Pflanzen, ohne ihren Platz zu verändern, durch Beschattung das elektrische Licht entzogen wurde; sie blieben gegen die Nachbarn entschieden zurück. Besonders sichtbar war die vortheilhafte Wirkung auf die blühenden Pflanzen, und hierbei scheint besonders die von dem elektrischen Bogen ausgehende Strahlungswärme mitzuwirken. Aus diesem Grunde glaubt Siemens, daß das elektrische Licht mit Nutzen angewendet werden könnte, um Obstspaliere, Baum- und Küchengärten gegen den Einfluß der Nachtfröste, besonders zur Zeit der Blüthenentfaltung und des Fruchtansatzes zu schützen. Natürlich wird es darauf ankommen, ob die Kosten für solche Anlagen nicht zu groß werden. Die Siemens’sche Lampe (= 1400 Kerzen) erfordert zum Betriebe einen Gasmotor von drei Pferdekraft, Siemens gedenkt aber die erforderliche mechanische Kraft künftig durch eine Turbine zu gewinnen. Solche Gärten, die an einem raschlaufenden Flusse oder gar an einem Wasserfalle liegen, würden das Licht beinahe umsonst gewinnen können.

Schreiber dieser Zeilen fürchtet aber, daß solche Träumereien von bei elektrischem Lichte gezogenen Blumen und Früchten nur unter dem trüben Himmel Englands reifen konnten und nur für die Polarnacht Bedeutung haben. Bei elektrischem Lichte gezogene Melonen, Pfirsiche und Erbsen im Winter zu speisen, möchte ja einen besonderen pikanten Beigeschmack haben, aber dem Wohle der Gesammtheit werden solche Treibhauskünste wenig dienen. Mit einigen Schmauchfeuern, welche künstliche Wolken erzeugen, kann man einen Baumgarten oder Weinberg sicher zehnmal wirksamer gegen Nachtfrost schützen, als mit einigen Dutzend elektrischer Lampen. (Vergl. Gartenlaube 1874, S. 45.)

Aber von dem großen Interesse, welches heutzutage Jedermann an den Experimenten mit dem elektrischen Lichte nimmt, strahlt natürlich ein gut Theil auf diese Treibhauskünste, und es hat einen äußerst prickelnden Reiz, nicht blos das Gaslicht, sondern auch gleich die Sonne zu ersetzen, sie gleichsam zu pensioniren und in Ruhestand zu versetzen.

Uebrigens könnte man diese Versuche auch auf gewisse Thiere ausdehnen, die des Sonnenlichtes für ihr Wohlbefinden ebenso wie die Pflanzen bedürfen. Die meisten Thiere unterscheiden sich bekanntlich von den grünen Pflanzen dadurch, daß sie sich nicht wie diese direct von der Luft und den Mineralstoffen des Bodens ernähren können, dafür aber auch des Lichtes als einer nothwendigen Lebensbedingung nicht bedürfen, vielmehr jahrelang, ja zeitlebens, wie die Grottenthiere, im Finstern existiren können. Aber man hat in der Neuzeit auch grüne Thiere entdeckt, die, den grünen Pflanzen, welche der Sonnenstrahlen als der vornehmsten Lebensbedingung bedürfen, entsprechend, mit demselben Farbstoff (Chlorophyll) erfüllt sind, und deren Ernährung eine durchaus pflanzenartige ist. Schon längst hatte man an mehreren Meeresküsten grüne Plattwürmer (Planarien) gefunden, die augenscheinlich das Licht aufsuchen und sich im seichten Wasser auf der Oberfläche des weißen Sandes sonnen. Der Naturforscher P. Geddes hat im Herbste des Jahres 1878 den Lebensproceß dieser Thiere an der Küste von Roskoff in der Bretagne genauer beobachtet, nachdem es ihm aufgefallen war, daß sie im Aquarium stets die Lichtseite aufsuchen. Er beobachtete sie nunmehr im Sonnenschein und sah von ihrem Körper eine Gasentwickelung ausgehen, die derjenigen vom Laube einer besonnten grünen Meeresalge durchaus nichts nachgab. Um das abgeschiedene Gas genauer zu untersuchen, brachte er sie unter eine ganz mit Wasser gefüllte Glasglocke und erhielt nach einem einzigen Tage Sonnenschein ein ganzes Probirglas voll Gas. Ein glimmendes Zündhölzchen erglühte darin mit lebhaftem Glanze; es war also vorwiegend Sauerstoffgas, 43 bis 52 Procent, wie genauere Analysen ergaben. Das Verhalten dieser Thiere war somit demjenigen der Pflanzen sehr ähnlich, und die weitere Untersuchung ergab, daß die Plattwürmer auch Stärkemehl unter dem Einfluß des Lichtes in ihrem Körper erzeugen. Ja, es ist nicht unmöglich, daß sich dieselben zum größern Theil und hauptsächlich auf diese Weise ernähren, indem sie sich die Sonne in den Leib scheinen lassen; denn sie konnten des Lichtes nicht lange ohne Schaden entbehren. Nachdem sie den Transport von Roskoff nach Paris glücklich überstanden hatten, starben sie innerhalb zwei bis vier Tagen sämmtlich, wenn man sie im Dunklen hielt, während sie im zerstreuten Tageslichte fortfuhren, die Kohlensäure zu zerlegen, und mindestens zwei Wochen am Leben blieben. Es würde nun, meine ich, nicht uninteressant sein, in größeren Aquarien grüne Plattwürmer zu halten und sie mit elektrischem Lichte zu beleuchten. Wenn sie, wie das sehr wahrscheinlich ist, den verschmälerten Strahl aufsuchen und dort wie die Wasserpflanzen einen feinen Gasstrom erzeugen, so würde das ein interessantes Schaustück für die Besucher abgeben.




Blätter und Blüthen.

Erwachendes Leben. Zwei Frühlingsbilder (S. 567 und 261). Hier der Fink auf dem Blüthenbaum, welchen Bienen und Fliegen umsummen und Schmetterlinge als fliegende Blumen umgaukeln, eines der Bilder, welche Emil Schmidt so gern und gut der Natur ablauscht, – und dort ein ganz junges Menschenkind auf dem ältesten Thron der Welt, dessen Spielcamerad Kleinjakob ist, der junge Rabe, der seine Belustigungsdienste mit gestuzten Flügeln verrichten muß – eine treffliche Composition von Otto Pilz. Der blühende Baum und der aufblühende kleine Mensch – beider Anblick erfreut das Herz mit schönen Hoffnungsträumen; denn beide blühen der Zukunft entgegen, wo aus der Blüthe die Frucht sich entwickeln soll. Und doch können auch diese Bilder einen Schatten über das sinnende Gemüth hinwerfen, den das Volkslied so lieblich ausspricht:

„Von Rosen erblüht dir
Alljährlich ein Strauß –
Die Liebe blüht einmal;
Dann ist’s mit ihr aus.

Der Lenz muß erscheinen,
Ist der Winter vorbei –
Doch der Mensch hat nur einen
Ureinzigen Mai.“





Die telegrafische Verbindung mit in Bewegung befindlichen Eisenbahnzügen war längst ein angestrebtes Ziel verschiedener Elektriker; denn daß man während einer Eisenbahnfahrt keine Telegramme empfangen und absenden kann, ist ein schon manchmal empfundener Mangel. Wenn ein Fürst mittelst seines nirgends haltenden Jagdzuges eine weitere Fahrt ohne Unterbrechung machen will, so muß das arme Land einen halben oder ganzen Tag vollständig unregiert bleiben, eine vaterlose Waise. Jenes Problem in nun von einem schwedischen Ingenieur G. M. Dalström kürzlich in einer Weise gelöst worden, die allen damit angestellten Proben genügt hat. Es handelt sich dabei um die ununterbrochene Hineinführung der oberirdischen Metallleitung in den sammt dem ganzen Zuge in Bewegung befindlichen Dienstwagen, der den Telegraphenapparat enthält. Diese fortdauernde Berührung mit dem neben dem Bahnkörper herlaufenden Telegraphendraht erreicht nun Dalström einfach dadurch, daß er an der Decke des Dienstwagens eine kupferne Walze auf der Leitungsseite hervortreten läßt, die beständig gegen den Leitungsdraht gedrückt und durch die Reibung an demselben in fortwährende Drehung versetzt wird. Natürlich muß der betreffende Draht so angebracht sein, daß er nur von oben her gehalten wird, sodaß die von unten an denselben durch eine leichte Feder gepreßte Rolle nirgends einem Hinderniß begegnet.

In den mit dieser Vorrichtung auf einer Eisenbahnstrecke in Schweden angestellten Versuchen setzte man auf diese Weise zwei auf demselben Gleise, in gleicher, aber entgegengesetzter Richtung[WS 1] fahrende Züge in Verbindung und konnte so in beständiger telegraphischer Unterhaltung bleiben, obgleich man die übliche Geschwindigkeit einhielt. Ob etwa die im Winter an den Drähten vorkommenden Eisbildungen und größere Geschwindigkeiten diesen Verkehr erschweren, respective unmöglich machen, sollen weitere auf den schwedischen Staatsbahnen anzustellende Versuche feststellen.



Kleiner Briefkasten.

Spanien. Deutschland deckt seinen Bedarf an spanischen Fliegen zum großen Theil aus Rußland. Der Preis ist in den verschiedenen Jahrgängen schwankend; gegenwärtig beträgt derselbe im Grossoverkehr etwa acht Mark pro Kilo.

J. B. in S. und G. in L. Ungeeignet! Verfügen Sie über das Manuscript!

Eine treue Anhängerin in St. Petersburg. Unter Hinzufügung von „Stuttgart“ wird die angegebene Adresse genügen.

R. R. Schwindel!

A. B. in Wilborg. Gedichte werden grundsätzlich nicht zurückgesandt, ebensowenig kleinere Artikel.



Anmerkungen (Wikisource)