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Die Gartenlaube (1881)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[241]

No. 15.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Sogleich wurde der jenseits im Schlosse steckende Schlüssel gedreht; Lanken schob das Sopha ein wenig bei Seite; die Thür öffnete sich, und eine schlanke junge Dame trat herein, mit feinen rosigen Zügen, blondem Haar und in schwarzer einfacher, aber völlig modischer Tracht – eine echt englische Schönheit. Eine romantisch angelegte deutsche Jünglingsseele hätte dieses reizende, ein wenig melancholisch aussehende Frauenbild nicht erblicken können, ohne eine starke Neigung zu empfinden, ihr eine Reihe Sonette zu widmen, die ihr unausbleiblich zarte, goldumsäumte Engelschwingen an die fein gerundeten Schultern gesetzt hätten.

Die Schwingen wären ihr freilich in diesem Augenblick ganz überflüssig gewesen; denn auch ohne diese flog sie mit hochgeröthetem Gesicht dem alten Thierarzt an die Brust und drückte einen herzhaften Kuß auf seine bärtige Wange.

„O theurer Papa,“ sagte sie, in Thränen ausbrechend, „wie gut, daß Du da bist – wie gut!“

„Ja, da bin ich, Du arme Grasmücke, armer kleiner Vogel,“ versetzte er, seine gewöhnlich sehr laute Stimme dämpfend, „da bin ich glücklich angekommen in meinem alten Nest – verdammt ruppiges Nest das – oder meinst Du, es sei just das richtige für einen alten Markolf, wie ich bin? Nun, setz’ Dich her zu mir! Erzähle mir, wie’s Dir ergangen ist, und erkläre mir, was all Deine geheimnißvolle, unverständliche Schreiberei bedeutet!“

„O Papa,“ sagte die junge Dame, sich neben ihn auf das kleine Sopha, auf das er sie niederzog, setzend und ihre Hand in der seinen lassend, „o Papa, wie anders habe ich Alles gefunden, als ich es erwartete!“

Der Alte lachte bitter auf.

„Wahrhaftig,“ sagte er, „mir ist’s nicht besser gegangen. Hab’ auch etwas gründlich anders gefunden, als ich erwartete. Der dumme Junge, der Aurel, ist nun Minister geworden. Minister! Es ist, um des Teufels zu werden! Mein Junge, mein Fleisch und Blut – Minister!“

„Das ist’s ja eben, Papa,“ sagte die junge Dame. „Und nun war ja alle meine Hoffnung, durch ihn etwas zu erreichen, geschwunden; er ist nicht blos Minister und die rechte Hand des Fürsten – dann hätte ich ja eine noch viel bessere Stütze an ihm gefunden, als an dem bloßen Advocaten – es ist noch viel schlimmer – noch viel, viel schlimmer.“

„Na, bin begierig zu hören, wie’s noch schlimmer sein kann.“

„Er geht ein und aus bei den Gollheim’s, und die Leute sagen, er sei verlobt mit der Comtesse Regine Gollheim, der jüngeren Schwester Ludwig’s –“

„Ach, das fehlte noch – verlobt mit der Schwester dieses vermaledeiten Schufts, der –!“

Die junge Dame hielt ihren Papa die Hand auf den Mund.

„Du sollst so nicht von ihm sprechen, Papa,“ sagte sie.

„Wie soll ich anders von ihm sprechen,“ versetzte er, zornig ihre Hand niederdrückend, „ein Schuft ist und bleibt er – und nun erzähle weiter!“

„Du weißt nun Alles – mein Bruder, an dem ich die beste Stütze zu haben hoffte, ist der beste Freund dieser Leute, und dazu ein allmächtiger Mann im Lande. Ich wagte seitdem nicht mehr, mich zu rühren; ich nannte Niemand meinen eigentlichen Namen; ich wagte kaum auszugehen aus Furcht, der fürchterliche Bruder könne mich von seiner Polizei aufheben und aus dem Lande schaffen lassen – ich wagte nichts, bevor Du hier warst. Dich wird doch dieser schreckliche Bruder nicht verleugnen können. Dir wird er glauben müssen.“

„Verzweifelte Geschichte das!“ rief der alte Republikaner. „Ehe wir etwas beschließen können, muß ich mit dem Aurel sprechen. War am Bahnhof, mich in Empfang zu nehmen – hatte ihm telegraphirt, daß ich kommen würde – war wahrhaftig so überrumpelt von seiner Ministerschaft, daß ich gar nicht die Courage fand, ihm von Dir zu reden – hätte weit ausholen müssen, weißt Du, und calculirte: hast du vor mir den Heimtücker gespielt und mir deine Fahnenflüchtigkeit, dein Hofschranzenthum verheimlicht – nun, so revanchiren wir uns ein wenig, mein Junge, und sagen dir vorderhand nichts von der kleinen Grasmücke, die wir hier haben, die uns in’s alte Nest vorausgeflogen ist. Ist immer noch Zeit – immer noch! Und auch das alte Känguruh von Schallmeyer braucht nichts davon zu erfahren, wie nah wir zusammengehören – würde ein hübsches Stadtgeklatsch geben, das dem Aurel seine Polizei zutragen würde, ehe noch drei Viertelstunden verflossen wären – kenne das, kenne das.“

„Dein alter Freund Schallmeyer, an den Du mich gewiesen hast, Papa,“ sagte die junge Dame, „ist ein unheimlicher Mensch, und die Haushälterin ist so neugierig; sie schleicht so lautlos umher und ist immer, wo man sie nicht erwartet. Jeden Augenblick tauchen neue Mägde auf –“

„Wenn es Mäuse wären,“ lachte der alte Herr, „würde ich denken, sie habe die früheren verspeist. Na, vielleicht finden wir ein gemüthlicheres Unterkommen. Für’s Erste werde ich zu Tische gehen – in irgend einem Restaurant in der Nähe –, dann meine Reisemüdigkeit ein wenig ausschlafen, und nachher werde ich [242] als Zimmernachbar und als Dein Landsmann von drüben her Dich um die Vergünstigung bitten lassen, Dir einen Besuch machen zu dürfen. Du wirst das passend finden, gelt, my darling? Du wirst herablassend den Besuch annehmen, und nachher werden wir merkwürdig gute Freunde werden – die Grasmücke und ich!“

„Ganz wie Du meinst, Papa! Also ich schlüpfe jetzt in mein Zimmer zurück; am Abende erwidere ich die Freundlichkeit Deines Besuches durch eine Einladung zum Thee.“

„Gut ausgesonnen,“ versetzte lächelnd der alte Herr. „Aurel’s Polizei wird hoffentlich nichts dagegen haben. Wir werden den Thee zusammen trinken und uns dabei unsere Reise-Abenteuer erzählen – aber auch unsere Schlachtpläne machen. Wenn ich nur erst ein wenig recognoscirt habe, wo der Feind steht und wie stark er ist! Werden ja sehen!“ – – –

Als Lanken nach einer kurzen Frist das Haus verließ und gestützt auf seine alte Localkenntniß leicht die Restauration ausfindig machte, welche ihm Frau Förster, die leise redende Wirthschafterin, bezeichnet hatte, fand er in dem nach seinen Begriffen sehr verräuchert aussehenden Local seinen Wirth bereits vor. Schallmeyer saß in der hintersten dunkelsten Ecke unter einer Gruppe biertrinkender Herren um einen runden Tisch und holte seinen Gast sofort zu dieser Gesellschaft heran. Lanken mußte unter ihnen Platz nehmen; Schallmeyer hatte offenbar eben die Tafelrunde von seiner Ankunft unterrichtet, und der alte Lanken von 1848 war sicherlich das Thema ihrer die großen Volksmänner von dazumal verherrlichenden Unterhaltung gewesen. Lanken sah sich mit einer Art löwenhaften Bewußtseins unter ihnen um, und indem er in die schweigend ihn anstarrenden Gesichter blickte, leuchtete aus seinen Augen ein stolzer Glanz; vielleicht war es der Abglanz einer Vorahnung des imposanten Fackelzuges, welchen ihm diese Biedermänner zu bringen gedachten und eben beriethen.

„Geräthst hier gleich in einen Kreis von lauter guten Freunden,“ sagte Schallmeyer vorstellend, „lauter Leuten auf der Höhe der Zeit; wirst schon sehen, daß die Uhren nicht blos bei Euch drüben vorwärts gehen, sondern hier zu Lande auch –“

„Und am meisten bei denen, die gar keine haben,“ warf hier mit einem unmotivirt rohen Gelächter ein vierschrötiger Herr mit einem dicken rothen Kopfe dazwischen.

„Calculire, ist ein wenig Euer Fehler hier,“ sagte Lanken, der sich breit und bequem aus dem Platz, den man ihm gemacht, niederließ, „keine Uhren zu haben.“

„Was willst Du damit sagen?“ fragte Schallmeyer.

„Damit will ich sagen, daß wir drüben doch ein wenig besser den Werth der Zeit kennen. ‚Time is money,‘ sagen wir drüben …“

„Und glauben Sie damit etwas sehr Gescheidtes gesagt zu haben?“ fragte hier ein noch junger Mann, der ein auffallend schönes Gesicht mit einem prächtigen dunkeln Haarwuchs hatte, wenn nur das Gesicht nicht so roth unnd nicht so wunderlich mit einer erschrecklichen Menge von Pusteln betupft gewesen wäre.

„Damit glaube ich allerdings etwas Gescheidtes gesagt zu haben,“ versetzte, durch die Querfrage betroffen, der ehemalige Thierarzt.

„Dann bedauere ich Sie,“ erwiderte still lächelnd der fleckige Apollokopf.

Lanken sah ihn verwundert an und wollte etwas Scharfes zur Antwort geben, als Schallmeyer ihn mit dem Arm anstieß und mit einer schadenfrohen Miene sagte:

„Laß Dich warnen, alter Freund, vor einem Disput mit diesem Herrn da; es ist Milchsieber – unser berühmter Milchsieber, ist mit dem echten socialdemokratischen Wasser getauft.“

„Meinethalben mag er getauft sein – was aber das socialdemokratische Wasser angeht, so fürcht’ ich mich nicht vor ihm; ist eine ganz verdammte, niederträchtige Fluth, die erst ablaufen muß, bevor der richtige Fortschritt sein Werk wieder aufnehmen und Euch zu den politischen Umgestaltungen führen kann, deren Ihr hier zu Lande bedürft.“

„Und ist Ihnen wohl klar geworden, welches die politischen Umgestaltungen sind, deren wir hier bedürfen?“ fragte Apollo-Milchsieber mit der bewundernswerthen Ruhe, welche die überlegenen Geister auszeichnet. Lanken maß ihn mit einem verachtungsvollen Blicke. Er war nicht gekommen, um sich hier so examiniren zu lassen – ganz im Gegentheil!

„Ich denke,“ sagte er, „da ich, noch ehe Sie geboren wurden, schon darüber meine Betrachtungen angestellt habe, kann es mir klar geworden sein. Und wenn Sie sich seitdem ein wenig mit der Geschichte von 1848 beschäftigt hätten, würden Sie wissen, daß der alte Lanken ein Republikaner von echtem Schrot und Korn war, und das ist er mit Gottes Hülfe auch geblieben. Außer der Republik kein Heil, und in der Republik Platz für die freie Entfaltung aller Kräfte, Schutz für alle Früchte, welche die individuelle Kraftentfaltung sich erringt: auf die individuelle Kraftentfaltung, darauf muß Alles gebaut sein, Herr, nichts auf die Vorzüge der Geburt und der Kaste, aber was der Einzelne für sich, seine Familie, seine Kinder erwirbt und erringt, das will ich ihm gesichert sehen für alle Zeiten, und wer mir mit Theorien kommt, wie: das Ergebniß meines Fleißes und meiner Intelligenz sei ein Raub an der Gesammtheit, den laß ich hängen in meiner Republik, Herr.“

„Danke, Herr,“ entgegnete mild lächelnd der Apollo mit den Tupfen, während Schallmeyer sagte:

„Alter Junge, Du bist bedauerlich hinter der Zeit zurückgeblieben mit Deinem Republikanerthum. Du willst zwar nicht, daß der Baron kraft seines Geburtsrechts den Leibeigenen ausbeutet, aber Du willst mit den Früchten Deines Fleißes, als Capitalist den Arbeiter, den Du Dir einspannst, ausbeuten.“

„Bourgeoistheorien!“ sagte hier der dicke Rothe wieder mit dem unmotivirten Auflachen.

„Diese Republikaner von Anno dazumal,“ bemerkte Milchsieber, seine Nachbarn rechts und links anschauend, als ob er ihnen eine Erklärung des Phänomens eines so wunderlichen alten Volksmannes schuldig sei – „diese Republikaner sind alle in dem betrübten Irrthum stecken geblieben, daß das Heil der Menschen von ihrer politischen Staatsform allein abhänge. Die Könige abgeschafft, die Staatsgewalt vom Willen des Volkes abhängig, das wieder vom Bourgeois abhängig ist – und das tausendjährige Reich ist für sie da. Welcher Blödsinn! Ob Sie ein glückliches menschenwürdiges Dasein führen, das, mein Bester, hängt nicht davon ab, ob Sie einen König, einen Präsidenten, einen Dictator oder gar nichts dergleichen haben, und wenn Sie darüber noch im Dunkel sind, so thun Sie wohl, daß Sie Ihr hinter der Zeit zurückgebliebenes Republikanerthum bei uns sich ein wenig darüber aufklären lassen.“

„Wirst bei mir täglich das Blatt, das Milchsieber redigirt, die ‚Rothe Flagge‘ lesen können,“ fiel Schallmeyer mit seinem Känguruhgesicht den alten Freund schadenfroh anlächelnd ein.

„Hole der Teufel Eure ‚Rothe Flagge‘ und die saure Milch, die darin gesiebt wird!“ antwortete Lanken ingrimmig – „bin gekommen, um hier eines Eurer ledernen Beefsteaks zu verzehren – mit dem nimmt’s mein Magen noch auf – aber Eure hirnverbrannte neueste Weisheit, Eure Socialdemokraten-Ideen, verdau’ ich ein- für allemal nicht – bleibt mir vom Halse damit!“

Der alte Thierarzt war in einen bitteren Aerger gerathen. Es war in der That eine verdrießliche Aufnahme, die er in seiner Vaterstadt gefunden hatte. Im Geiste hatte er über „dem alten Nest“ sich aufgehen sehen, wie ein hell erleuchtendes Fackellicht, wie ein Meteor der politischen Aufklärung, das in die dunkle Enge der deutschen Philisterköpfe Klarheit und Helle brachte, mindestens wie ein elektrisches Licht unter den dürftigen gelben Gasflammen. Und nun kamen ihm diese Menschen so! Wie einem Schulknaben, der lernen sollte, kamen sie ihm, dem alten Kämpfer, der gelitten hatte um der Freiheit, der Volksrechte, seiner politischen Ideale willen, der ihretwillen in die Verbannung gezogen war. Es war empörend. Wie er in seinem Mißmuthe so dasaß, sagte plötzlich der betupfte Apollo mit der Ueberlegenheit, welche ihm der Wiederschein der „Rothen Flagge“ gab:

„Schallmeyer, Sie sollten Ihrem Freunde nicht die ‚Rothe Flagge‘ zum Studium empfehlen, sondern irgend eine Anleitung, wie man sich hier zu Lande in gebildeter Gesellschaft ausdrückt – mir scheint, daß ihm das mehr noth thut.“

Das schlug dem Fasse den Boden aus. Lanken überwältigte der Zorn; rasend sprang er auf, und auf den Apollo eindringend, rief er ihm eine Fluth herausfordernder Worte zu. Die ganze Tafelrunde war aufgesprungen, und ein unbeschreibliches Durcheinander folgte, eine wüste Fluth gegenseitiger Herausforderungen, und um diesen stürmisch bewegten Knäuel von Streitenden bildeten die sämmtlichen andern Gäste der Restauration einen Kreis ergötzter Zuschauer. Aber unter diesen Zuschauern lief bald das Wort. „Lanken, der alte Lanken von 1848“ um. Ein paar von [243] ihnen mochten ihn erkennen oder sich seiner politischen Bedeutung von ehemals erinnern; sie schlugen sich respectvoll auf seine Seite; mehrere ältere Männer drängten sich vertheidigend um ihn.

Die stürmischen Gefühle des alten Herrn aber beruhigten sich, als er sah, daß er nicht mehr allein stand. Er wischte sich athemschöpfend die Stirn.

„Seh doch, daß es auch noch vernünftige Leute hier giebt,“ sagte er dabei zu Schallmayer, der jetzt den Arm unter den seinigen schob, um ihn fortzuziehen. „Ich komme schon, komme schon; such’ mir nur meinen Hut, und dann machen wir uns davon – dieser Eurer rothen Flagge bring’ ich schon noch ein ander Mal bei, auf halben Mast herunterzugehen.“

Und dabei stülpte er sich trotzig den breitrandigen Filz, den Schallmeyer ihm brachte, auf die erhitzte Stirn, und Beide verschwanden durch eine nahe in ihrem Rücken befindliche Hinterthür.

Als sie draußen auf der stillen Straße waren, sagte Lanken, den Arm Schallmeyer’s abschiebend:

„Daß Du zu diesen Menschen hältst, Schallmeyer, das gefällt mir nicht.“

„War’s denn nicht lustig?“ versetzte Schallmeyer. „Mußte Dir doch just zu Muthe sein, als ob Du in einer Washingtoner Parlamentssitzung wärest – nur ein paar Revolverschüsse fehlten.“

„So? Ist das Deine Vorstellung davon? Dann irrst Du gewaltig. Geht da Alles sehr würdig und gemessen zu, wie es sich für die gesetzgebende Versammlung eines freien Landes, für die Staatsmänner einer Republik geziemt.“

„Ah bah – Eure Republikaner kennen wir! Capitalisten sind’s, Bourgeoisleute, deren Söhne das Holz sind, aus denen man Minister machen kann. Nimm mir’s nicht übel, Lanken, aber für Deine Republik gebe ich keinen Schuß Pulver. Und wenn Du’s wissen willst – in Deinem Sohne steckt noch mehr als in Dir. Man hört doch zuweilen aus seinen Kammerreden noch einen großen Zukunftsgedanken heraus.“

„In der That? Nun meinethalb! Aber jetzt, Känguruh, thu mir den Gefallen und zeige mir eine andere Restauration, wo ich zu meinem Beefsteak kommen kann, ohne es mir von Eurer Politik verpfeffern lassen zu müssen!“




3.

Wenn man in der Hauptstraße unserer Haupt- und Residenzstadt westwärts wandelte, gelangte man auf einen mit grünen Rasenanlagen und schönen alten Bäumen geschmückten Platz, jenseits dessen sich das mit seinen Rococofronten und Mansardendächern durch die grünen Ulmen- und Ahornwipfel schimmernde Fürstenschloß erhob. Die Ausmündung der Straße aber, die auf diesen Schloßplatz führte, wurde durch zwei palaisartige Bauten gebildet, die beide zu gleicher Zeit nach dem gleichen Plane entstanden sein mußten; beide bestanden aus zwei im rechten Winkel zusammenschießenden Flügeln, deren äußerste Ecken durch eine niedere Mauer mit einem schönen und reichen Gitterwerk aus geschlagenem Eisen verbunden waren, welches nach dem Schloßplatz hin eine schräge Linie bildete. Das eine dieser Gebäude zeigte verschlossene Läden und schien für den Augenblick unbewohnt; desto belebter war das andere – auf dem kleinen, von dem schrägen Gitter abgeschlossenen Hofe waren Stallleute beschäftigt, eine Kalesche zu waschen; auf dem Balcon über dem durch eine vorgeschobene kleine Säulenhalle geschützten Portal stellte eine Zofe Blumen aus; an einem der Fenster wurden Vorhänge aufgezogen, die den Tag hindurch die Strahlen der jetzt untergehenden Sonne abgehalten hatten.

Es war Abend geworden, und in den hinteren nach Osten liegenden Räumen des Hotels, die auf einen mäßig großen, parkähnlich angelegten Garten mit alten Bäumen hinausgingen, dunkelte es bereits. Es waren große, hohe, aber ein wenig frostig und ungemüthlich ausschauende Gemächer, diese Räume, deren ursprüngliche Einrichtung zu vortrefflich mit dem ganzen Stil des Rococobaues harmonirte, als daß man wohl je auf den Gedanken gekommen, viel daran zu ändern. Nur die Zeit hatte mit leiser Hand daran gerührt, die Farben gedämpft, die Vergoldungen an den krummbeinigen Spiegeltischen ergrauen und die alten Oelgemälde so nachdunkeln lassen, daß man jetzt in dem abnehmenden Tageslicht schon gar nicht mehr sah, was sie darstellten. Aber auch wenn dies nicht der Fall und sie von der Hand des größten Meisters gemalt gewesen, hätte ihnen wohl Niemand Aufmerksamkeit geschenkt, der den kleinen ovalen Salon in der Mitte dieser Räume betreten – des reizenden lebenden Bildes wegen, das hier sein Auge gefesselt haben würde.

Die große, auf einen geräumigen Balcon hinausgehende Fensterthür stand offen; man blickte durch sie auf eine dichte grüne Laubwand hinaus, und auf diesem Hintergrunde sich abzeichnend, lehnte sich an den Rahmen der Thür eine hohe, schlankgebaute weibliche Gestalt in einem hellen Kleide von leichtem Stoffe; ihre Züge waren in dem Halbdunkel, das darauf lag, nicht scharf zu unterscheiden; man nahm nur ein vollkommen schönes Oval des Kopfes wahr, auf dessen kastanienbraunem, reichgelocktem und über die Schultern frei niederfallendem Haar goldene Lichter lagen, von einzelnen, durch die grünen Wipfel brechenden letzten Sonnenstrahlen darauf geworfen. In der Haltung der jungen Dame, in der Art, mit der sie wie müde ihr Haupt und die Schulter an den Thürrahmen lehnte, sprach sich eine gewisse Niedergeschlagenheit oder Ermattung wie unter der Last drückender Gedanken aus. Und dieser Eindruck konnte nur verstärkt werden durch den Reflex, den ihre Gemüthsstimmung in den Zügen eines jungen Mannes zu finden schien, eines verdrossen darein schauenden und hochaufgeschossenen Jünglings in der Mitte der Zwanziger, der unfern von ihr verkehrt auf einem Stuhle saß, die Arme auf die Lehne desselben stützend und seinen Kopf dem Lichte zuwendend, sodaß man seine aristokratischen, aber ein wenig bleichen und leidenden Züge wahrnahm. Die hellgrauen Augen schauten, wenn die breiten Lider, von denen sie halb bedeckt waren, sich hoben, merkwürdig matt darein – um den seinen Mund zuckte dann etwas wie Spott und Verachtung, aber in der ganzen Haltung und dem Wesen des jungen Mannes lag nichts von dem Ausdruck energischen Kraftbewußtseins, dem man die Menschenverachtung allenfalls verzeiht.

Von den beiden jungen Leuten durch einen in der Mitte des Salons stehenden Tisch getrennt, ging in der Tiefe des Gemachs ein älterer Herr auf und ab, der sehr lebhaft sprach; ein kräftig gebauter Mann mit starkem grauem Schnurr- und Backenbart, in weißer Binde und weißer Weste, aber in einer bequemen Jagdjoppe, in deren Seitentaschen er seine Hände gesenkt hatte; er trug den Kopf ein wenig vorgebeugt, warf ihn jedoch von Zeit zu Zeit wie mit einer Bewegung zornigen Stolzes in den Nacken und seine Stimme bekam dann jedesmal etwas von einem unangenehm scharfen Discant, der mit der breitschulterigen Gestalt gar nicht in Harmonie stand.

„Es ist ganz genau so zugegangen, wie ich Dir sage, Regina,“ sagte er; „der Becker, auf den ich mich von allen meinen Leuten am meisten verlassen kann, ist ja selbst dabei gewesen und hat es mir als Augenzeuge berichtet – die helle Wirthshausschlägerei unter diesen Socialdemokraten, und inmitten des Tumults des Vater Lanken, eben aus Amerika angekommen, um, wie es scheint, Bewegung in die Sache zu bringen. Es muß unendlich erheiternd für seinen Herrn Sohn sein – aber das geht diesen an – uns nur die Nothwendigkeit, die Verbindung mit diesen Leuten gründlich abzubrechen, wie Du nun endlich doch wohl einsehen wirst.“

„Seltsam, lieber Papa,“ sagte der junge Mann jetzt, indem er lässig in seine Brusttasche fuhr und ein Cigaretten-Etui hervorholte, um es dann jedoch nachdenklich wie ein Rad durch seine Finger kreisen zu lassen; „seltsam, daß Dein Herr Becker, ein Beamter des Oberstallmeisteramtes, in den Bierhäusern der Socialdemokraten verkehrt, um Dir zu berichten, was darin vorgeht!“

„Ich hindere meine Leute nicht, zu verkehren, wo es ihnen gefällt, wenn sie dienstfrei sind,“ antwortete der alte Herr zornig.

„Dienstfrei!“ wiederholte der junge Mann halblaut, als ob er Zweifel an der völligen Dienstfreiheit des Mannes hege, der so genau beobachtet und die Resultate seiner Beobachtungen seinem Chef hinterbracht hatte.

„Uebrigens,“ fuhr dieser fort, „kommt es ja gar nicht darauf an; die ganze Stadt wird morgen von dem Skandal wissen. Und ganz aufrichtig gesagt – mir ist die Sache ganz und gar nicht leid. Deinetwegen nicht, Regina. Man kommt dadurch zu einer ganz einfachen und klaren Position.“

„Du siehst darin heller und ruhiger als ich,“ sagte das junge Mädchen, mit einem Seufzer sich aufrichtend und ihre Stellung verändernd, indem sie nun mit dem Rücken sich an die Umrahmung der Glasthür lehnte und, die Hände über dem Schooße faltend, in das Abendlicht blickte, das jetzt einen eigenthümlichen feinen Goldschimmer auf ihre schönen ernsten Züge legte, Züge, welche [244] an die des jungen Mannes erinnerten, aber viel mehr gesunde Frische und selbstbewußten Jugendmuth zeigten, als die seinigen.

„Mag sein,“ versetzte der ältere Herr; „aber Du wirst mir zugeben, daß ich richtig sehe und daß es nun auch unnütz ist, über die Sache viel Worte zu verlieren. Was Aurel Lanken gegenüber etwa noch zu sagen wäre – vorausgesetzt, er wäre so tactlos noch eine Erklärung zu verlangen, das überlasse mir! Und was Dich betrifft, so kann doch die Sache nicht einfacher abgemacht werden, als indem Du, von Ludwig begleitet, morgen zu Deiner Tante Hedwig reisest und bei ihr den Herbst über bleibst, vielleicht für den Winter sie nach Nizza begleitest …“

Die beiden jungen Leute nahmen diese Anordnung mit einem gedankenvollen Schweigen auf; nur Ludwig nickte ein paar Mal zustimmend mit dem Kopfe.

„Du, Ludwig,“ fuhr darauf Graf Gollheim fort, „kommst jedoch augenblicklich von der Tante Hedwig zurück. Es ist Zeit, daß Du Dich wieder bei Deiner Truppe zum Dienst meldest.“

„Zum Dienst?“ fragte Ludwig mit einem bitteren Lächeln.

„Du fühlst Dich als freier Weltbürger wohl über den fleißigen pflichttreuen Dienst hinausgewachsen –“

„In der That, Vater – unmittelbar nach einer Weltreise lockt die Aussicht, wieder Recruten zu exerciren, nicht sehr.“

„Ich habe Dich doch die Weltreise nur machen lassen, damit Deine Gesundheit sich zum weiteren Dienst hinreichend kräftige. Das ist, gottlob, erreicht, und Du wirst nun wieder eine Beschäftigung, eine Pflichterfüllung auf Dich nehmen, welche Deinem Müßiggange ein Ende macht.“

„Ich bin nicht müßig, Vater – ich ordne meine Tagebücher, arbeite die Eindrücke meiner langen Fahrt aus –“

„Nun ja, kann mir’s denken. Die Eindrücke! Die Eindrücke haben immer eine große Rolle bei Dir gespielt. Hast Dich ihnen immer ziemlich kopf- und willenlos hingegeben. Ich will nun aber ein Ende dieser an Deine Eindrücke verwendeten Thätigkeit sehen. Hast Du’s bis zum Rittmeister gebracht, magst Du Deinen Abschied nehmen und das Majorat beziehen, das ich für Dich gründe, jetzt aber, sobald Du von der Tante Hedwig zurückgekehrt, zu der Du Regina begleitest, trittst Du Deinen Dienst an.“

Graf Gollheim sprach das mit solcher Bestimmtheit, daß man sah, Widerstand gegen die väterlichen Anordnungen gab es in diesem Hause nicht. Auch schien Ludwig Gollheim den Muth zu einem weiteren Widerstreben nicht zu finden; er murmelte nur noch leise ein paar Worte, als ob er irgend einem unterdrückten Gefühle damit Luft machen müsse. Dann schwiegen alle Drei, wie in ihre Gedanken, die sehr verschiedene Straßen ziehen mochten, versunken, bis Regina wieder das Wort nahm und mit einer gewissen Entschiedenheit und fest zu ihrem Vater aufblickend sagte:

„Ich möchte doch Lanken noch erst sprechen.“

„Unsinn! Das wäre völlig unzweckmäßig –“

„Zweckmäßigkeit und Nutzen,“ fiel sie bitter ein, „sind auch nicht das, was ich dabei im Auge habe, Vater.“

„Auch ich meine,“ bemerkte Ludwig, „wenn es zu Regina’s Beruhigung dient, solltest Du Dich nicht widersetzen, nachdem Du –“

„Nachdem ich – was?“

„Nachdem Du,“ antwortete Regina statt ihres Bruders, „so lange Lanken’s Annäherungen ermuthigt und begünstigt hast.“

„So lange? Wie lange? So lange ich ihn nicht kannte – was doch aber bald genug der Fall war.“

„Und bis Du richtig Dein Diplom in der Tasche hattest,“ sagte hier halblaut Ludwig.

„Was murmelst Du da von Diplom?“ fiel stehen bleibend mit seinem zornigen Discant der Vater ein. „ Glaubst Du etwa, ich hätte zu unserer Standeserhöhung Lanken’s bedurft? Wahrhaftig nicht. Meine Verbindungen in B… – –“

„Konnten Dir doch nicht den guten Willen unseres dirigirenden Ministers überflüssig machen,“ fiel der junge Mann ein.

„Ludwig,“ rief dieser jetzt wie drohend – „Du willst mir doch nicht vorwerfen, ich hätte Lanken mit der Hoffnung auf die Hand Regina’s gekirrt und gelockt, um durch ihn zu erreichen, was ich erreichen wollte?“

„Ich will Dir nichts vorwerfen, Vater – bin weit davon entfernt, Dich richten zu wollen – nur finde ich es stark, Regina jetzt ihren Wunsch abzuschlagen“

„Und mich so Dir gegenüber zu einer offenen Erklärung zu zwingen, Vater,“ sagte jetzt Regina, indem sie einen Schritt in’s Zimmer hinein machte und mit einem leisen, wie zornigen Erröthen sich groß und stolz aufrichtete.

„Zu einer Erklärung? Ich bin neugierig, zu welcher?“ antwortete mit mitleidigem Gleichmuthe Graf Gollheim.

„Zu der, daß mir Aurel Lanken näher steht, als Du denkst. Du hast seine Bewerbungen um meine Neigung, wie Du selbst gestehst, begünstigt, so lange Du glaubtest, ihn Deinen Absichten dienstbar machen zu können. Die Anschauungen und die politische Richtung des Ministers waren Dir und Deinen Freunden unbequem. Da zeigte sich nun durch Lanken’s Neigung für mich ein schönster Ausweg. Du gewannst durch meine Hand den in der Gunst des Herzogs nun einmal nicht zu erschütternden Minister, und dann war er gebunden, Dir und Deinen Parteigenossen in die Hände geliefert. Das war Deine Berechnung in der Zeit, in welcher Lanken täglich hier im Hause verkehrte und Du keinen theureren Freund kanntest als ihn. Aber nicht lange, und Du begannest zu ahnen, einzusehen, Dir endlich widerwillig zu gestehen, daß Deine Hoffnung auf Sand gebaut sei, daß Lanken ein Mann von ebenso festem Willen wie von klarem Blicke sei, den keine Hofpartei zu sich herumbringen, der nie die Creatur einer Camarilla, wie Ihr sie bilden wolltet, sein werde. Das war’s. Von dem Augenblicke an wurde Lanken in Deinen Augen doch ‚nur ein Bürgerlicher‘ – man mußte doch Bedacht darauf nehmen, daß die eingerissene Intimität mit ihm nicht gar zu weit gehe –“

„Du hältst mir da eine merkwürdige Strafrede, Regina – als ob ich der Mann wäre, mir Vorwürfe von meinen Kindern gefallen zu lassen –“

„Verzeihe, Vater! Ich beabsichtige nicht im Entferntesten Dir eine Strafrede zu halten, sondern nur eine Vertheidigungsrede für mich selber, um Dir zu erklären, weshalb ich mich nicht willenlos in Deine Anordnungen füge.“

„Ah, Du weigerst mir den Gehorsam, Du lehnst Dich wider meine entschiedensten Befehle auf?“

„Ich lehne mich dawider auf, daß Du mich wie einen Preis, wie den Einsatz bei einer Speculation betrachtest, den Du einfach zurückziehst, sobald die Speculation Dir verfehlt scheint. Ich bin zu alt, mich als solchen behandeln zu lassen.“

„Aber zum Henker,“ murmelte Gollheim zwischen den Zähnen, „ich möchte wissen, worüber Du Dich denn beschwerst; wenn Du nicht wie der Einsatz einer Speculation behandelt sein willst – was kann ich denn weiter thun, als diesen Einsatz zurückziehen?“

„Dazu ist es eben zu spät. Ich habe unterdeß etwas, an das Du nicht gedacht hast, eingesetzt – mein Herz! Das gehört Lanken, und ich werde es niemals zurückziehen – nie!“

(Fortsetzung folgt.)




Die neue preußische Herrscher- und Feldherrenhalle.

Seit der König von Preußen zum deutschen Kaiser und somit zum obersten Kriegsherrn der ganzen bewaffneten Macht unseres Vaterlandes erhoben worden, hat die preußische Armee, als solche, aufgehört zu existiren. Sie ist mit den Armeen der anderen zum neuen Reiche verbundenen Staaten in dem großen deutschen Heere aufgegangen. Aber auch unterhalb dieses weiteren Verbandes bewahren die alten Regimenter ihre historischen, durch große Thaten und Geschicke geweihten Namen, und wohl niemals werden die aus Preußen recrutirten Theile des deutschen Heeres dem Cultus ihrer besonderen ruhmvollen Erinnerungen entsagen. So fand auch der königliche Gedanke: dem Waffenruhm der preußischen Armee, ihren Feldherren und fürstlichen höchsten Führern in der Hauptstadt des Landes gleichsam einen Gedächtnißtempel zu weihen, im ganzen Heere begeisterte Zustimmung. Von dem beim Kaiser stets besonders beliebt gewesenen, nunmehr verstorbenen Geheimen Rath Louis Schneider wurde dem Monarchen der Vorschlag unterbreitet: innerhalb des alten Zeughauses zu Berlin eine „Ruhmeshalle des preußischen Heeres“ aus den in ihm vorhandenen Waffen und

[245]

Der Lichthof des Berliner Zeughauses.
Für die „Gartenlaube“ gezeichnet von G. Theuerkauf.

[246] Siegestrophäen herzustellen und diese würdig zu decoriren. Kaiser Wilhelm bezeigte für die Ausführung dieses Planes ein warmes Interesse; so trat man denn mit dem berühmten Architekten, dem Geheimen Rathe Professor Hitzig in Berathung über die dazu notwendigen baulichen Anlagen und Umänderungen innerhalb des Zeughauses, und der von diesem Baumeister dafür ausgearbeitete Entwurf fand des Kaisers Billigung, da die Aufgabe darin im großen Stile aufgefaßt und gelöst worden war.

Im Jahre 1875 brachte die Regierung beim preußischen Landtage den Antrag ein, die zur Ausführung der Neubauten erforderliche, ziemlich hohe Kostensumme von sieben Millionen Mark zu bewilligen. Bekanntlich wurde dieser Antrag abgelehnt, aber zwei Jahre später ging er noch einmal, wenn auch in wesentlich modificirter Gestalt und unter Ermäßigung der Forderung auf viereinhalb Millionen, an die Volksvertretung zurück. Nach diesem neuen, derselben 1877 vorgelegten Plane handelte es sich nur um gewisse nothwendige bauliche Änderungen, Verbesserungen und Wiederherstellungen im Innern des Zeughauses, um die Einrichtung bestimmter Partien desselben zu einer „Preußischen Herrscher- und Feldherrenhalle“ und der sonstigen Räume zu einem wirklichen historischen Waffenmuseum, aus welchen Namen das Zeughaus in seiner bisherigen Gestalt trotz der reichen derartigen Schätze, die es enthielt, keinen Anspruch erheben konnte. Diesmal mochte der Landtag dem entschieden kundgegebenen Wunsche des Kaisers nicht entgegentreten, und der Regierungsantrag gelangte zur Annahme. Mit dem Baue selbst wurde im Jahre 1878 begonnen, und gegenwärtig ist der architektonische Theil der Umgestaltung vollendet, der decorative freilich erst in sehr geringem Maße. Aber schon jetzt ist es möglich, sich aus dem Vorhandenen und Erreichten ein Bild des künftig zum Abschlusse zu bringenden Prachtbaues geistig zu vergegenwärtigen.

Um die Art und die Größe der ausgeführten Umwandlung richtig zu würdigen, müssen wir uns die Einrichtung des Gebäudes vor deren Beginn vergegenwärtigen. Das Fürstengeschlecht, welches zu Köln an der Spree und Berlin während des späteren Mittelalters residirte, war ebenso wenig, wie die damalige Bevölkerung der Stadt, in der Lage gewesen, die Spuren seines Daseins in großartigen und schönheitsvollen architektonischen und sonstigen künstlerischen Denkmälern der Nachwelt zu hinterlassen. Es fehlte jenen harten, nüchternen, stets mit der Noth der Wirklichkeit ringenden Menschen an Genie und an Reichthum. In Folge dessen ist Berlin, trotz seines Alters, in Bezug auf seine bauliche Gestalt eine neue Stadt; denn was in ihr noch von Denkmalen ihrer mittelalterlichen Periode erhalten blieb, ist ohne besondere künstlerische Bedeutung.

Ein wahrhaft großer, schöpferischer Künstlergeist hat sich in dieser Haupt- und Residenzstadt nicht vor der Zeit jenes Fürsten betätigt, welcher mit genialer Kraft die verwüstete, verarmte Mark zu einer Ausschlag gebenden Macht in Europa erhob und den Grundstein zur künftigen Größe des preußischen Staates legte, und dieser Fürst war Friedrich Wilhelm der Große Kurfürst. Gegen das Ende seiner Regierungszeit und während derjenigen seines pracht- und kunstliebenden Nachfolgers, des ersten Preußenkönigs, erstanden in Berlin, inmitten der armseligen, kleinstädtischen Umgebung, jene beiden mächtigen Monumentalbauten, welche das Gepräge einer stolzen Größe tragen, als ob sie in der sicheren Vorahnung der Zukunft dieses Fürstenhauses, dieser Stadt und dieses Staates begründet worden wären: das königliche Schloß und das Zeughaus. Der Erbauer des ersteren, Andreas Schlüter, einer der gewaltigsten Meister der Architektur und Bildnerkunst aller Zeiten, der auch das herrliche Reiterstandbild des Großen Kurfürsten auf der langen Brücke geschaffen hat, leitete den Bau des Zeughauses wenigstens ein Jahr lang. Nach Nehring’s Entwurf war es begonnen; durch Jean de Bodt mit manchen Abweichungen davon ist es vollendet worden. Aber mehr noch als durch seine kurze Bauleitung ist Schlüter’s glorreicher Name für immer mit diesem Gebäude durch den Sculpturenschmuck verknüpft, welchen er dem Aeußeren und dem Inneren desselben verlieh. Er meißelte die Reliefs am Giebel des Mittelbaues der nach Süden gelegenen Hauptfront, die beiden mächtigen Sandsteingruppen auf der oben abschließenden Balustrade über der Mitte der beiden seitlichen Portalbauten dieser Front und die zahlreichen Waffentrophäen. Die wichtigsten Arbeiten Schlüters am Zeughause aber sind die berühmten „Masken sterbender Krieger“, welche, als Hochreliefs behandelt, die Schlußsteine der halbrunden Fensterbogen an den einen quadratischen offenen Hof umschließenden Innenseiten des Hauses bilden. In diesen Köpfen ist der Todesschmerz und -Kampf in allen Abstufungen, von der wüthenden Pein an bis zum letzten Verlöschen und Aushauchen des Lebens, mit einer Gewalt und Wahrheit des Ausdrucks und zugleich einer Größe und einem Adel des Stils dargestellt, daß selbst die Köpfe des sich der Schlangen im namenlosen Schmerz erwehrenden Laokoon und jener todtwunden und sterbenden Giganten des Pergamenischen Frieses weitaus dadurch übertroffen werden.

Die ganze diesem Hofe zugewendete Façade, mit jenen hohen Meisterwerken der Sculptur an ihren Fensterbögen und der übrigen, entsprechend reichen ornamentalen Decoration der architektonischen Theile, war länger als eineinhalb Jahrhunderte lang in dem offenen, roh gepflasterten Hofe dem Staube, Schnee und Regen ausgesetzt gewesen. Gegen solche Einwirkungen hatte man die Masken sterbender Krieger durch wiederholten Oelfarbenanstrich zu sichern gesucht – man hatte sie geschützt, aber dem Auge des Beschauers dafür die zarte Schönheit ihrer Meißelarbeit entzogen. Seltsamer Weise war dieses prachtvolle Gebäude bisher so gut wie ohne eine das Erdgeschoß mit dem ersten Stockwerk vermittelnde den Forderungen der Kunst genügende Treppe; nur zwei enge hölzerne Wendelsteigen in den halbcylindrischen Einbauten in der Ost- und Westecke der nördlichen Hofseite dienten als Verbindung zwischen beiden Etagen, und so hielt es Hitzig bei dem vom Kaiser angenommenen Umwandlungsplan für seine erste Hauptaufgabe, eine wahrhaft monumentale Treppe zum Hauptgeschoß herzustellen. Da in die äußere Gestalt des alten Zeughauses kein sie gewaltsam verändernder Eingriff gethan werden sollte, so mußte diese Treppe in’s Innere des Hofes verlegt werden und zwar naturgemäß vor die nördliche Seite des Quarrés, um so Jedem, der durch den in der Südseite gelegenen Haupteingang in den Hof eintrat, einen imposanten Anblick zu bieten. Im Grundriß einen flachgeschwungenen Viertelskreisbogen bildend, steigen die granitenen und schwarzmarmorirten Stufen dieser Treppen in zwei Armen von der Ost- und Westseite her und aus jeder Seite einmal durch einen Absatz unterbrochen, auf einem mächtigen, als Rustika behandelten, sandsteinernen Unterbau zu dem Perron vor dem Mittelportal des Hauptgeschosses der Nordseite empor. Ihr kalksteinernes Balustraden-Geländer der äußeren Seiten endet unten in geflügelten Löwengestalten, und aus den inneren Pfosten erheben sich die sitzenden Statuen zweier römischer Krieger, welche Reinhold Begas im Stile der Epoche Schlüter’s gemeißelt hat. Der Unterbau ist in der Mitte durch ein hohes rundbogiges Portal, welches auf den rückseitigen Ausgang des Gebäudes führt, und zu beiden Seiten durch zwei kleine Durchgänge unterbrochen, durch welche man zu den Thüren der thurmartigen Einbauten und ihren Wendeltreppen gelangt. Der Hof selbst durfte nicht mehr unbedeckt bleiben, und die Aufgabe, diesen 36 Meter im Quadrat umfassenden Raum mit einem Oberlichtdache zu versehen, hat Hitzig in ganz eigenthümlicher Weise gelöst, die freilich mit dem Stil des alten Gebäudes wenig Gemeinsames hat: Er führte über jeder der vier Wände flache Schildbogen auf und legte an jeden derselben ein schmales Stück cassettierte Decke. Diese vier Streifen umfassen nun wie ein Rahmen das enorme Glasdach, welches durch kühne, bogig geschwungene, sich rechtwinkelig kreuzende eiserne Träger in zahlreiche Cassetten getheilt wird. Ueber jeder derselben erhebt sich ein vierseitiges pyramidenförmiges Dach von starken Glasplatten, während der eiserne Dachstuhl und das gesammte Sparrenwerk mit seinen sehr schön von Peters ausgeführten, in Kupfer getriebenen Rosetten darunter offen zu Tage liegen. Eine schöne, gleichmäßige, wohlthuende Helligkeit strömt so aus der Höhe her in den Raum, und auf die von ihrer häßlichen Farbenkruste befreiten herrlichen Bildwerke Schlüter’s.

Von dem Perron der Treppe gelangt man durch das hohe Hauptportal, welches künftig durch reich reliefirte prachtvolle Bronzethüren nach Otto Lessing’s Modell geschlossen wird, in die zur „Herrscher- und Feldherrenhalle“ geweihten Räume. Sie nehmen die ganze Nordseite des Gebäudes ein. Nach Norden hin sind sie, da die Fenster nicht direct zugemauert und dennoch große Wandflächen behufs der auszuführenden monumentalen Gemälde geschaffen werden sollten, in ihrer ganzen Länge durch eine nahe davor aufgeführte Mauer verborgen. Sämmtliche Pfeilercompartimente aller vier Gallerien auch dieses Stockwerks sind nun massiv überwölbt [247] worden, und die der Nordseite zugekehrten Räume werden durch viereckige Oberlichtfenster im Scheitel der Gewölbkoppen noch besonders erhellt. Die neun mittelsten Pfeilercompartimente der Nordgallerie wurden speciell zum Tempel des preußischen Herrscherruhms bestimmt, die mittelsten vier Pfeiler dagegen hinweggenommen, und so gewann man einen quadratischen Raum, dessen Seitenmauern weit über die bisherige Dachhöhe des alten Zeughauses hinausgeführt und dann durch eine flache Kuppel überwölbt wurden.

Von außen her gesehen, wird dieser höhere quadratische Mittelbau der Nordseite oben mit einer Balustrade abgeschlossen, auf welcher römische Trophäen, genau im Stil der so häufig auf dem alten Gebäude wiederkehrenden, aufgestellt sind. Von ihr umgeben, erhebt sich die in Kupfer getriebene äußere Schutzkuppel, während die gemauerte Kuppel im Innern auf einem eisernen Ringe ruht, der nur an den vier Berührungspunkten auf den tragenden Mauern aufliegt. Um ihnen und den an den vier Ecken eingefügten, leichten, dünn gemauerten Zwickeln die für sie zu schwere Last zu erleichtern, ist diese innere Kuppel in den vier Ecken durch ein darüber errichtetes eisernes Hängewerk gleichsam schwebend gehalten. Die Gallerien der Nordseite zur Rechten und Linken dieser mit einer Kuppel überwölbten Herrscherhalle sind zur Ruhmeshalle der preußischen Feldherren bestimmt.

Gegen die auf sie mündenden Nord- und Westgallerien werden sie zwischen den Pfeilern durch prachtvolle, von E. Puls (Berlin) mit der ganzen Kunst der alten Augsburger und Nürnberger Meister in Eisen geschmiedete Gitterthore abgeschlossen, wie auch ähnliche Gitter von nicht minder reicher Zeichnung, im Stil der edelsten Barocke von demselben Meister geschmiedet, im Erdgeschoß die Gallerien des Ingenieur- und Artilleriemuseums zur Rechten und Linken der mittleren Eingangshalle des Gebäudes abschließen.

Auf den ihrer Bestimmung entsprechenden künstlerischen Schmuck wird sowohl die Herrscher- wie die Feldherrenhalle wohl noch manches Jahr zu warten haben, und von ihrer dereinstigen reichen, farbigen Erscheinung kann man sich gegenwärtig noch kaum ein Bild machen. Nur Einiges mag schon jetzt hier hervorgehoben werden. So sollen unter Andern die großen halbrund abgeschlossenen Wandflächen der Feldherrenhalle in späteren Zeiten mit den Bildern von Ruhmesthaten der preußischen Armee geschmückt werden, während die Büsten der Führer der letzteren auf hohen hermenartigen schwarz marmornen Postamenten vor den Pfeilern ihre Aufstellung finden werden.

Die vier Gemälde an den entsprechenden Wandflächen der Herrscherhalle rechts und links von der Eingangsthür und drüben zu beiden Seiten der dort hinein vertieften Nische sollen jene großen geschichtlichen Ereignisse darstellen, welche vier verschiedene Epochen der Entwickelung der preußischen Herrschermacht eröffnen und bezeichnen: Die Krönung Friedrich’s des Ersten zu Königsberg, gemalt von Camphausen, die Huldigung der schlesischen Stände vor Friedrich dem Zweiten, gemalt von Steffeck; der Aufruf Friedrich Wilhelm’s des Dritten an sein Volk von Bleibtreu, und die Kaiserproclamation zu Versailles von Anton von Werner. Dagegen sind für die weißen Flächen der vier Gewölbzwickel und die innere flache Kuppelhöhlung selbst Gemälde symbolischen Stoffes und idealen Stiles projectirt, für welche Aufgabe in dem Maler Geselschap der vor Allen berufene und auserwählte Künstler glücklich gefunden worden ist.

Auf den Zwickeln finden in runder Umrahmung die symbolische Gestalten der vier Herrschertugenden: Weisheit, Mäßigung, Tapferkeit und Gerechtigkeit ihren Platz, und aus vergoldeten Schilden unterhalb derselben sind, durch Lessing in Stuck modellirt, Handlungen dargestellt, in welchen diese Tugenden sich äußern. Auf den großen Schildbogenflächen, welche von rein ornamental behandelten Dreiecken seitlich eingeschlossen werden, werden in figurenreichen Compositionen folgende Darstellungen ihren Platz finden: die Herausforderung des Vaterlandes durch äußere Feinde, die Vertheidigung seines Bodens, die Hineintragung des muthwillig entstammten Krieges auf des Feindes Gebiet, der Sieg und die Vereinigung der deutschen Stämme. Auf dem Kuppelgemälde, dessen Cartons und große Farbeskizzen bereits eine volle Anschauung seiner künftigen Erscheinung gewähren, sieht man in friesartiger Composition auf Goldgrund zwischen einer obern und untern ornamentalen Einfassung einen ringförmig geschlossenen Zug dahinschwebender charaktervoller Idealgestalten; die letzteren stellen den Triumph des Siegers, den Stolz, den Glanz und strahlenden Pomp des Kriegers und auf der andern Seite den Jammer der besiegte und gestürzten Herrscher, über welchen die Nemesis den Stab bricht, das Weh der gefangenen Krieger und des unterworfenen Volkes dar.

In diesen Schöpfungen Geselschap’s vereinigt sich die ideale Großartigkeit der Anschauung und Gestaltung mit gründlichem Naturstudium, eine wahrhaft rafaelische Schönheit der Zeichnung mit der harmonischen Pracht des Colorits. Unter den Werken der deutsche monumentale Malerei unseres Jahrhunderts werden diese immer unter den ersten genannt werden.

Der plastischen Kunst bleibt ebenfalls ein bedeutender Antheil an der Ausschmückung der Herrscherhalle zugewiesen: In der mit rothem Stuckmarmor ausgekleidete Nische, der Thür gegenüber, wird die von Fritz Schaper in Marmor auszuführende kolossale Victoria, die mit erhobenem Lorbeerkranz in der Rechten auf mächtige Schwingen heranschwebt, ihre Stelle finden, während vor jedem der vier Eckpilaster dieses Kuppelraumes eine sitzende Idealgestalt angebracht werden wird; diese Idealgestalten werden Verkörperungen des Sinnes Hohenzollern’scher Wahlsprüche darstellen und wahrscheinlich von R. Begas in Marmor gemeißelt werden. Zu beiden Seiten zunächst jener Victoria, und ebenso zunächst der Eingangspforte und vor den vier die Kuppel tragenden Pfeilern werden die bronzenen Kolossalstatuen vom großen Kurfürsten bis zu Kaiser Wilhelm aufgestellt werden, und die Bildhauer Enke, Schüler, Hitgers, Brunow und Hundrieser sind mit der Ausführung der ersten sieben Fürstenstatuen betraut, während für die Statue des Kaisers während seines Lebens der betreffende Auftrag nicht ertheilt werden soll.

Der Boden dieses ganzen Hauptgeschosses ist statt der frühere Dielenlage nun mit der schönsten römischen Marmor- und Kalksteinmosaik bekleidet, und in einzelnen besonders ausgezeichneten Compartimeten zeigt derselbe eine prächtig stilisirte Ornamentik; in den vier Ecken des Bodens der Kuppelhalle außerhalb des mittleren großen ornamentalen Ringes sieht man nach Geselschap’s Zeichnungen in vier Gruppen musivisch dargestellt: den Kampf mit dem Ur, dem Hirsch, dem Bären und die Bändigung des wilden Rosses. Die Bogengurten der Compartimente der Feldherrenhalle sind durch ornamentale Reliefcompositionen decorirt, deren Kernstück immer einen der sechs großen preußischen Orden bildet, und in ähnlicher Weise fanden in den Gurten der Wölbungen der übrigen drei Gallerien dieses Geschosses die preußischen Kriegsdenkmünzen künstlerische Verwendung.

Diese herrlichen Gallerien sind zum historischen Museum der Schutz- und Handwaffen bestimmt, wie die des Erdgeschosses zum Artillerie- und Ingenieur-Museum. Solcher Bestimmung entsprechend, sind hier unter die nächsten zwei Wandpfeiler- und Bogenflächen zu beiden Seiten des Eingangs- und Ausgangsportals mit grau in grau gemalte Bildern (von Ludwig Burger) geschmückt, welche die Vertheidigung einer befestigten Stadt im Mittelalter, die Beschießung einer solchen in der ersten Zeit nach Einführung des Pulvers, die Laufgräbenarbeiten vor Straßburg und die heutige Küstenvertheidigung durch die Monstregeschütze der Strandbatterien darstellen. Durch das Entfernen der alten Fester, an deren Stelle Butzenscheiben von feinfarbigem Kathedralglas gesetzt wurden und durch die prächtigen Hotzsculpturen der Thürflügel im Schlüter’schen Stil von Jörgens haben auch diese Erdgeschoßräume, in welchen nun wohlgeordnet die reiche Sammlung von Geschützen aus drei Jahrhunderten und die der Festungsmodelle, der Werkzeuge und sonstigen Gegenstände des Kriegs-Ingenieurwesens ihre systematische Ausstellung erhalten, eine völlig verwandelte Erscheinung gewonnen.

Zum artistischen Director des Waffenmuseums ist der bekannte Maler und kunstgelehrte Professor Hermann Weiß, der Verfasser der „Costumkunde“, ernannt worden.

Die reichen Schätze an alten kunstvolle Waffen, Meisterwerken mannigfacher Kunstgewerbe des fünfzehnten, sechzehnten, siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, welche ehedem im alten Zeughause fast verloren waren, werden nun erst durch die vorzügliche systematisch geordnete und praktisch verständliche Aufstellung in den Gallerien des ersten Stockwerks zu ihrer vollen Geltung gelangen und für das Studium im Einzelnen zugänglich werden, und nicht minder reich ist diese Sammlung auch an althistorischen Reliquien der brandenburgisch-preußischen Fürsten, Feldherren und Truppen aus drei bis vier Jahrhunderten, welche für uns ein ebenso lebhaftes patriotisches wie allgemein geschichtliches [248] Interesse haben. Bei der Aufstellung und dem Arrangement aller dieser Waffen wird ebenso wie die größtmögliche Bequemlichkeit für das Studium auch die decorativ bedeutende Wirkung berücksichtigt.

Das ganze Waffenmuseum verspricht eins der schönsten unter denen der europäischen Hauptstädte zu werden, wenn auch gegen das Unternehmen von Beginn an öffentlich und heimlich viel Widerspruch erhoben worden ist. Manches im Einzelnen mag auch heute noch mit Grund getadelt werden. Angesichts des Ganzen aber, das in diesem Werk durch das einmüthige Zusammenwirken so vieler tüchtiger künstlerischer und technischer Kräfte und nach eines ebenso einsichtigen wie genialen Meisters Plänen geschaffen ist, wird jeder Widerspruch verstummen müssen. Durch die Umwandlung des alten Zeughauses ist Berlin um eine der merkwürdigsten und großartigsten Leistungen der modernen monumentalen Architektur und der ihr dienenden Künste und damit um einen echten, würdigen Tempel des vaterländischen Waffenruhmes reicher geworden.

Ludwig Pietsch.




Der „heilige“ Vogt von Sinzig.
Die Geschichte eines Leichnams.

„Wissen Sie, welches der wunderlichste Heilige im ganzen Rheinlande ist?“ fragte der Capitain des Salondampfers, auf welchem wir in heiterer Gesellschaft an einem wunderwollen Herbsttage von Mainz nach Bonn den Rhein hinabführen.

Der Fragesteller, einer von den auch am Rheine immer seltener werdenden Typen, welche mit den weißen Haaren des Greises den Frohsinn des Jünglings und das Gemüth des Kindes vereinigen, hatte während der mehrstündigen Fahrt nach und nach einen Kreis von Zuhörern um sich gesammelt, deren er, einer lebendigen Rheinchronik gleichend, in einem wunderbaren Gemisch von Dichtung und Wahrheit, theils Sagen und Legenden, theils Geschichtliches und Selbsterlebtes in buntester Aufeinanderfolge vorführte, stets anknüpfend an die Landschaften und Uferorte, an denen wir vorbeidampften.

Mit besonderer Vorliebe und köstlichem Humor schilderte er die verschiedenen Heiligen, die sich durch irgend welche hervorragende Thaten am Rheinstrome einen Namen gemacht haben; wie den heiligen Werner und den wunderthätigen Apollinaris.

„Sehen Sie dort auf jenem rebenbewachsenen Hügel das Städtchen Sinzig?“ fragte unser freundlicher Schiffsführer. „Dieses hat das Glück, den sogenannten heiligen Vogt zu besitzen, und der ist der wunderlichste Heilige im Rheinlande. Hat einen gar ascetischen Lebenswandel geführt, sodaß zuletzt nichts mehr an ihm war, als Haut und Knochen. Die Würmer bissen sich an seiner Leiche die Zähne aus und mußten nach langem, vergeblichem Bemühen auf dieselbe verzichten. So ist sie bis auf den heutigen Tag unverwest geblieben.“

Die Erzählung des wackeren Capitains veranlaßte mich später, dem Städtchen Sinzig und seinem todten Vogte meinen Besuch abzustatten.

Sinzig, das römische Seniacum, hat eine reizende Lage auf einer kleinen Anhöhe, welche, an der Mündung der Ahr in den Rhein sich erhebend, die fruchtbare Ebene der „Goldenen Meile“ beherrscht. Wenn der Rhein, der nachweisbar in früheren Zeiten dicht an Sinzig vorbeifloß, sich nicht von letzterem unfreundlich ab- und dem über eine halbe Stunde entfernten entgegengesetzten Thalabhange zugewendet hätte, so wäre unser Städtchen sicherlich einer der schönsten Punkte im ganzen Rheinthale. Das Panorama, das sich dem Beschauer von der aus dem höchsten Punkte der Anhöhe gelegenen Kirche aus bietet und das außer dem Rhein- auch einen Theil des Ahrthales mit dem mächtigen Basaltkegel der Landskrone umfaßt, ist besonders in herbstlicher Beleuchtung geradezu unvergleichlich, nicht überwältigend, wie die Aussichtspunkte der Hochalpen, aber unendlich lieblich durch die reiche Mannigfaltigkeit und die satten, harmonisch abgestuften Farbentöne des bergigen Hintergrundes. Diese schöne Lage mag wohl dazu beigetragen haben, daß die Frankenkönige mit besonderer Vorliebe das Palatium in Sinzig als Absteigequartier wählten und daß auch Friedrich Barbarossa, sowie mehrere seiner Nachfolger, öfters hier residirten.

Mein erster Gang in Sinzig galt der malerisch gelegenen Pfarrkirche, einer aus dem dreizehnten Jahrhundert stammenden gewölbten Basilika spätromanischen Stils, mit wenig vorspringenden Kreuzarmen, viereckigen Thürmchen zu beiden Seiten des Chores und einem achteckigen Hauptthurme über der Vierung.

Erst nach längeren Verhandlungen und nachdem ich einen entsprechenden Beitrag in den Kirchenbaufonds gespendet, gelang es mir, beim heiligen Vogt Zutritt zu erhalten. Ich fand ihn als wohlerhaltene Mumie in einen eleganten Glassarg gebettet. Der Leib ist theilweise von einem weißen Tuche umhüllt; um die Schläfen windet sich ein Kranz von künstlichen Blumen, und die Füße sind mit weißen Strumpfen und rothen, mit Schleifen geschmückten Schuhen bekleidet. Auf den ersten Anblick glaubt man, einen wenige Tage alten Leichnam vor sich zu haben. Die Haut, welche vollständig erhalten geblieben ist, hat nämlich ihre natürliche Farbe fast ganz bewahrt. Sie fühlt sich pergamentartig, zum Theil lederartig an und umschließt lose die steinhart gewordenen, auf ein Minimum zusammengeschrumpften Muskeln. An den Armen und Beinen treten die einzelnen Muskelbündel so scharf hervor, daß man sie äußerlich leicht unterscheiden kann.

Die genaueste Untersuchung der Mumie hat ergeben, daß sich am ganzen Körper, der sämmtliche in Brust- und Bauchhöhle befindliche Organe vollständig enthält, kein Einschnitt befindet, ein Beweis, daß keinesfalls eine künstliche Einbalsamirung stattgefunden hat, sondern daß es sich in dem vorliegenden Falle um eine natürliche, vom wissentschaftlichen Standpunkte aus äußerst interessante Mumie handelt.

Die Hände, welche nicht gefaltet und auch nicht über der Brust gekreuzt, sondern sonderbarer Weise so gelegt sind, daß sie den Oberarm der anderen Seite über dem Ellenbogengelenke umfassen, weisen noch alle Nägel auf, ebenso die Füße. Die Lippen der Mumie haben sich in Folge der stattgehabten Eintrocknung etwas verkürzt, sodaß das prachtvolle, blendendweiße Gebiß, an welchem kein einziger Zahn fehlt, sichtbar ist. Es verleiht dies dem Gesichte einen mit dem Ernste des Todes in seltsamem Contraste stehenden lachenden Ausdruck.

Die Ohren sind noch ziemlich vollständig vorhanden, dagegen sind die Augen seit einiger Zeit in einem zunehmenden Verwesungsprocesse begriffen, der sich schon durch den dem Beschauer beim Oeffnen des Glassarges entgegenströmenden penetranten Modergeruch verräth. Noch vor zwanzig bis dreißig Jahren sollen nach Angabe verschiedener Personen, die ich über diesen Punkt befragte, die Augen vollständig erhalten gewesen sein, wie auch der Kopf der Mumie früher noch reichlichen Haarwuchs getragen haben soll. Letzterer ist jetzt vollständig verschwunden. Nur mit der Loupe lassen sich noch einzelne Spuren von dunkel gefärbten Kopf- und Barthaaren erkennen. Auch bei der Nase, welche wohl in Folge irgend einer mechanischen Einwirkung plattgedrückt wurde, zeigt sich der beginnende Zersetzungsproceß.

Besonders interessant an unserem Vogte ist die an künstlichen wie natürlichen Mumien bis jetzt noch kaum in diesem Grade beobachtete Beweglichkeit der einzelnen Gelenke. Man kann z. B. das Schulter-, noch mehr das Ellenbogengelenk mit geringer Kraftanwendung bewegen. Ebenso lassen sich auch die Finger hin- und herbewegen. Dagegen ist es nur nicht gelungen, die von der Bevölkerung allgemein behauptete Beweglichkeit der Zunge nachzuweisen. Der Unterkiefer widerstand hartnäckig meinen Bemühungen, ihn abwärts zu drücken und so den Mund zu öffnen. Von Anwendung mechanischer Gewalt mußte aus naheliegenden Gründen abgesehen werden.

Wer ist nun eigentlich der heilige Vogt?

Eine endgültige Antwort wird auf diese Frage wohl nie gegeben werden können, da alle auf die Person des Heiligen bezüglichen Documente bei einem Brande verloren gingen. Wir sind daher außer der Ueberlieferung größtenteils auf die Legende angewiesen, welche in ihrer Art stets da die Lücken ausfüllt, wo der historische Nachweis nicht zu erbringen ist.

Die Heiligengeschichte weist Dutzende von Beispielen auf, in denen der Körper heiliger Personen Jahrhunderte später, „einen

[249] lieblichen Wohlgeruch ausströmend, so gut erhalten aufgefunden wurde, als ob der Tod erst gestern eingetreten wäre“. Bei der Wundergläubigkeit der Bevölkerung lag es daher nahe, daß man die Unverweslichkeit als ein Wunder betrachtete und den Vogt, obgleich er nicht im Besitze von Legitimationspapieren, ja nicht einmal eines verbürgten Namens war, als Heiligen ansah, auch ohne daß die Canonisation von Rom aus erfolgt wäre.

Ueber die Herkunft des Vogtes erzählt nun die Legende, er sei Hausvogt und Schloßcaplan der Kaiserin Helena, der Mutter Constantin’s des Großen, gewesen, die in Sinzig residirt habe. Geschichtlich läßt sich dies nicht nachweisen, doch leitet der Volksmund die Namen verschiedener Sinziger Localitäten von hohem Alter von der Anwesenheit jener Kaiserin ab.

Besagter Vogt nun zeichnete sich durch einen exemplarisch reinen Lebenswandel aus und legte besonderen Eifer in Bekehrung der Heiden im Rhein- und Ahrthale an den Tag. Von den vier bei der Beurtheilung eines Heiligen in Betracht kommenden Haupttugenden: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung habe er sich besonders letzterer in hohem Grade beflissen und durch beispiellose Abtödtung in Speise und Trank seinen Leib so sehr kasteiet, daß er nach dem Tode der Verwesung nicht anheim fallen konnte, sondern der Nachwelt als leuchtendes Muster zur Nachahmung erhalten blieb.

Kaiserin Helena ließ ihren Vogt sodann in einer von ihr erbauten Gruft neben der heutigen Kirche beisetzen, wo er ungestört ruhte, bis vor etwa zweihundert Jahren einer frommen alten Frau im Traume ein Engel erschien, der ihr befahl, an der betreffenden Stelle nachgraben zu lassen. Dies geschah, und so wurde der Leib des heiligen Vogtes entdeckt – der bekannte „liebliche Wohlgeruch“ fehlte auch in diesem Falle nicht – und in die Kirche gebracht.


Franz Josef Karl Herzog von Reichstadt
Nach der Orginalzeichnung Moritz Michael Daffinger’s
Auf Holz übertragen von Prof. S. l’Allemand in Wien.


Nach einer andern wesentlich abweichenden Lesart lebte der Heilige als Schloßvogt bei einem römischen Großen in dem benachbarten dicht am Rhein gelegenen Rigomagus, jetzt Remagen, und führte ein nichts weniger als heiliges Leben; im Gegentheil war er unter seinen leichtlebigen Genossen geradezu einer der schlimmsten. Nach einer schweren Krankheit, von welcher seine in’s Grab mitgenommene Magerkeit her datirt, bekehrte er sich zum Christenthum und zog sich in das obere Ahrthal zurück, wo er sich als Klausner fern vom Weltgetümmel frommen Uebungen hingab. Nur der Teufel, der ihn mit allen möglichen Mitteln wieder in die Welt zurückzuführen suchte, störte ihn in seiner Einsamkeit. Aus Aerger über die Hartnäckigkeit des Gottesmannes warf der Teufel einmal nach ihm mit einem Beile, das jedoch nicht sein Ziel, sondern einen Felsen traf. Das Loch, das hierbei entstand, wird heute noch gezeigt, ebenso wie die unter dem Namen „Teufelslei“ bekannten, wirr durch einander liegenden Felsblöcke, mit welchen Satanas eines Tages einen bis an den Himmel reichenden Thurm bauen wollte, bis der Einsiedler diesen durch einen kräftigen Segensspruch zum Einsturze brachte und den Teufel aus dem Ahrthale vertrieb. Letzterer spukt seitdem nur noch in den Rothweinen, welche an den Schieferabhängen des Thales gezogen werden und deren Feuer schon von Vater Arndt in seinen „Ahrwanderungen“ gebührend gewürdigt wird.

Nach dem Tode des Klausners blieb sein Körper unverwest. Da Niemand da war, ihn zu begraben oder zu verehren, so hoben ihn die mitleidigen Wellen der Ahr auf ihren Rücken, trugen ihn thalabwärts und setzte ihn bei Sinzig in der Nähe der Brücke wohlbehalten an’s Gestade. Gar bald sammelte sich daselbst eine zahlreiche Menge, welche sich stritt, was mit dem Fremdling anzufangen sei. Endlich gewann die Ansicht die Oberhand, daß dies ein sogenanntes „Pestmännchen“ sein müsse, das Tod und Verderben bringe, wohin es komme, und es wurde daher der Entschluß gefaßt, die Leiche wieder in die Ahr zu werfen, um das der Vaterstadt drohende Unheil abzuwenden und es irgend einem der nahegelegenen Rheinorte freundnachbarlichst zuzuschicken. Aber siehe da, der Körper wurde auf einmal so schwer, daß ihn ein Dutzend der stärksten Männer nicht von der Stelle zu heben vermochten. Da erkannte man denn deutlich, daß man es mit einem Heiligen zu thun habe, und führte ihn, der auf einmal wieder federleicht geworden, mit Sang und Klang nach Sinzig.

Das Städtchen hatte dies nicht zu bereuen; denn der heilige Vogt vergalt die ihm erwiesene Gastfreundschaft dadurch, daß er die Einwohnerschaft vor ansteckenden Krankheiten bewahrte und bewirkte, daß Sinzig in den schweren Kriegen viel glimpflicher behandelt wurde, als die Nachbarstädte. So weit die Legende, wie sie sich im Volksmunde erhalten hat.

Gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts kam der gute Vogt etwas in Mißcredit. Sei es, daß er in seinen alten Tagen der Ruhe pflege und nichts mehr mit dieser verderbten Welt zu thun haben wollte, oder daß die Wundergläubigkeit der Sinziger abgenommen hatte, kurz die frühere pietätvolle Verehrung war gänzlich verschwunden. Nicht einmal sein ehrwürdiges Alter schützte ihn vor dem Muthwillen der übermüthigen Jugend.

So fand man ihn einmal an einem israelitischen Festtage in der Hausflur einer jüdischen Familie, welche in Folge dessen gezwungen war, das dadurch verunreinigte Haus von oben bis unten noch einmal zu scheuern. Da die Urheber dieses schlechten Witzes nicht ausfindig zu machen waren, blieb obendrein auf dem Vogt noch der Verdacht lasten den für sein Alter äußerst unpassenden Scherz selbstständig ausgeführt zu haben. Indeß fand sich gar bald Gelegenheit zu glänzender Wiederherstellung seines früheren Ansehens.

Während des siebenjährigen Krieges kamen nämlich die Franzosen als ungebetene Gäste auch nach Sinzig. Einer derselben schnitt – vielleicht aus Muthwillen – der Mumie ein Stück aus der Schulter und nahm es beim Abmarsch in seinem Tornister mit. Er kam auch glücklich bis zu dem benachbarten Schwalbenberge. Plötzlich begann das Stück in seinem Tornister zu rumoren und in einer fremden Sprache zu sprechen. Gleichzeitig vermehrte sich das Gewicht des Tornisters immer mehr, bis er ihn endlich nicht mehr weiter zu schleppen vermochte. Schließlich warf er ihn auf einen Bagagewagen, aber vier Pferde vermochten ihn nicht von der Stelle zu bringen. Nach langem, vergeblichem Bemühen blieb nichts anderes übrig, als dem Heiligen das geraubte Stück zurückzugeben, das dann an der betreffenden Stelle wieder eingesetzt wurde.

Im Jahre 1794 wurde abermals die Ruhe des heiligen Vogtes gestört, und zwar wieder durch die Franzosen. Diese begnügten sich aber diesmal nicht blos mit einem Stücke, sondern packten die Mumie sorgfältig ein, um sie als Merkwürdigkeit nach Paris zu schicken. Damals begannen bekanntlich die Franzosen das später noch mehr ausgebildete System einzuführen, die bemerkenswerthesten

[250] Kunstwerke und Seltenheiten aus Feindesland nach Paris zu befördern, wie man sich naiv ausdrückte, „im Interesse der Gelehrten“, welche dann nicht mehr nöthig hätten, das Material für ihre Studien in der halben Welt herum zu suchen, sondern es auf einem Punkte vereinigt fänden.

Die Ortsgeschichte von Sinzig hat leider nichts darüber aufbewahrt, ob die Stadt gegen die Wegnahme des Vogtes protestirte. Wie es scheint, hat man die französischen Truppen gewähren lassen, um bei Bemessung der Kriegslasten möglichst günstig wegzukommen. Vielleicht hat man auch im Stillen gehofft, der Vogt werde, als echter Heiliger, den Weg in die Heimath zurückfinden.

Diese Hoffnung sollte nicht getäuscht werden. Nach dem Einmarsche der Alliirten in Paris gelang es nämlich einem bei der Armee befindlichen Sinziger, den heiligen Vogt zu entdecken, der, mit einigen ägyptischen Mumien zusammengeworfen, sich sechszehn Jahre lang nach dem grünen Rheinstrome gesehnt hatte. Der Entdecker interessirte den Freiherrn von Stein für diese Angelegenheit, und während so mancher von den Franzosen geraubte Kunstschatz in Paris verblieb, befand sich die Mumie ausdrücklich unter den im Friedensvertrage bedungenen Gegenständen, deren Herausgabe zu erfolgen hatte. Dieselbe langte im Herbste 1815 in Köln an und wurde von da aus in pomphafter Procession nach Sinzig gebracht, empfangen von dem endlosen Jubel der Bevölkerung, welche während der langjährigen Abwesenheit des guten Vogtes sich in den schweren Kriegsläuften oft des früheren Helfers in der Noth erinnert hatte.

Freiherr von Stein vermuthete, der Vogt sei ein Ahn der auf der Landskron ansässig gewesenen Seitenlinie seines Hauses, die ihr Erbbegräbniß in der Kirche zu Sinzig gehabt haben soll. Arndt erzählt in seinen „Rhein- und Ahrwanderungen“: „Bald nach der Rückkehr des heiligen Vogtes aus Paris sah ich den Minister von Stein in Nassau, welcher scherzend und lachend zu mir sagte: ‚Wissen Sie, was für ein Heil mir widerfahren ist? Ich kann nun nimmer verderben; ich habe jetzt auch einen katholischen Heiligen und Fürbitter in meinem Hause, einen alten Ahn und Vogt von Landskron; war vielleicht in seinen Lebenstagen ein weidlicher Trinker und Raufbold, und hat ihm wohl nicht geträumt, daß er einmal unter die Heiligen versetzt werden würde!‘“

Welche Versuche die Franzosen mit dem Vogte angestellt haben, ist nicht bekannt geworden. Eine Broschüre aus dem Jahre 1812 erwähnt desselben und vermuthet in ihm eine Mumie arabischen Ursprunges, jedenfalls irrthümlich, da sowohl Schädelbildung wie Gesichtsausdruck den rein germanischen Typus zeigen. Wenn man dem Volksmunde glauben darf, wurde er unter Anderem in Oel gesotten, weil man glaubte, balsamische Stoffe in ihm zu finden. Dieses ölige Experiment scheint übrigens unserem Vogte nicht gut bekommen zu sein. Wenigstens datirt sich von seiner Rückkehr ab der Ausfall der Haare, sowie die Zerstörung von Nase und Augen.

Was sagt nun die Wissenschaft zu dem „Wunder“?

Bekannt ist, daß die alten Aegypter durch Anwendung von gerbstoffhaltigen und balsamischen oder auch nur salzigen Stoffen ihre Todten, welche nach Entfernung der Eingeweide meist mit einer Mischung aromatischer Harze oder Asphalt angefüllt wurden, künstlich zu mumificiren verstanden.

In nicht seltenen Fällen übernimmt aber auch die Natur ohne weiteres Hinzuthun die Mumificirung von Leichen, indem sie ihnen unter besonders günstigen Umständen die erste Bedingung, durch welche ein Fäulnißproceß überhaupt möglich ist, nämlich die Feuchtigkeit, rasch entzieht. Je trockner die Luft ist, besonders wenn noch regelmäßig anhaltende starke Strömungen derselben dazu kommen, desto häufiger lassen sich Fälle von natürlicher Mumificirung beobachten. Beispielsweise werden Menschen- oder Thierleichen in den Sandwüsten Afrikas und Arabiens, wenn sie durch eine Sandschicht gegen Raubthiere geschützt werden, in verhältnißmäßig kurzer Zeit zu Mumien ausgedörrt, welche nicht mehr der Verwesung anheimfallen. Auf den canarischen Inseln, in Mexico und Peru, wo scharfe Winde, besonders in den Gebirgen, die rasche Austrocknung der Leichen veranlassen, sind natürliche, mehr oder weniger gut erhaltene Mumien durchaus nichts Seltenes.

Aber auch in weniger heißen Klimaten kommen, allerdings ziemlich vereinzelt, Fälle von natürlicher Mumienbildung vor. Bekannt ist z. B., daß in einem Gewölbe des Kapuzinerklosters zu Palermo (vergl. „Gartenlaube“ 1879, Nr. 4), im Kloster auf dem großen St. Bernhard, sowie in dem sogenannten Bleikeller der Domkirche zu Bremen in Folge von Austrocknung Leichen erhalten bleiben. Das lehrreichste Beispiel für den vorliegenden Fall bieten jedoch die in der Mönchsgruft oder eigentlich Unterkirche der Capelle auf dem Kreuzberge bei Bonn aufbewahrten Mumien ehemaliger Mönche des Medikantenordens.

Bis zur Ankunft der Franzosen im Jahre 1794 befanden sich daselbst vierhundert wohlerhaltene Leichen, welche meist schon mehrere Jahrhunderte der Verwesung trotzten. Die meisten derselben wurden begraben, nachdem die Franzosen die Särge geraubt hatten. Gegenwärtig sind noch etwa ein Viertelhundert Mumien vorhanden, welche, in düstere Ordensgewänder gehüllt, mit ihren fromm gefalteten Händen oder über der Brust gekreuzten Armen auf den Beschauer einen ergreifenden Eindruck machen.

Ganz genau dieselben Bedingungen finden wir in dem Gotteshause zu Sinzig; denn auch jenes liegt, wie die Kirche auf dem Kreuzberge, auf der Spitze eines Hügels und besaß früher eine nunmehr verschüttete Unterkirche, welche dem einen oder andern der benachbarten adeligen Geschlechter als Begräbnißstätte diente. Durch die angebrachten Oeffnungen fand lebhafter Luftzug statt, welcher die allmähliche Austrocknung der Leichen verursachte. Als weiteres begünstigendes Moment trat noch hinzu, daß der Untergrund des Hügels aus porösem, trockenem Gestein besteht, das durch Absorption von Feuchtigkeit den Vertrocknungsproceß beschleunigen half. Eine Bestätigung der Annahme, daß die Mumie mit solchem Gestein in Berührung gekommen, ergab die chemische Analyse einiger der Haut anhaftenden Partikelchen einer grauweißen Masse, welche sich als kohlensaurer Kalk von tuffsteinartiger Structur herausstellte.

Bis zu welchem Grade die Austrocknung fortgeschritten ist, ist aus der Thatsache ersichtlich, daß die ganze Mumie nur ein Gewicht von dreizehneinhalb Pfund aufweist.

Für die Richtigkeit unserer auch von Professor Dr. Schaafhausen in Bonn getheilten Annahme, daß die Mumificirung der Leiche sich durch beschleunigte Austrocknung vollzogen habe, spricht unter Anderem auch der Umstand, daß, wie oben erwähnt, Augen und Nasentheile in zunehmender Verwesung begriffen sind. Während nämlich früher die Mumie in einem trockenen und luftigen Gelasse aufbewahrt war, ist sie seit Restaurirung der Kirche in einen dumpfen, feuchten Raum untergebracht worden. Die Feuchtigkeit begünstigte die Verwesung und hatte zunächst die Zerstörung der nicht mit der schützenden pergamentartigen Haut bedeckten Körpertheile zur Folge; sie dürfte, allmählich fortschreitend, in nicht zu ferner Zeit den zweiten Tod des guten Vogtes herbeiführen.

Ob damit wohl die Wundergläubigkeit der Menge etwas erschüttert werden wird?

M. L.




Maritime Briefe an eine Dame.[1]
I.

Verehrte Freundin! Ihr Abschiedswort: „Schreiben Sie!“ war mir Befehl. Der im wohldisciplinirten Dienste Seiner Majestät am Bord groß und im kaum minder ergebenen Dienste der Schönheit am Lande alt Gewordene kann nur – gehorchen. Ich schreibe. Ueber Sie, meine Gnädige, aber die Folgen! Möge nicht Goethe’s Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht wieder los wurde, zu spät als drohendes Schreckgespenst Ihnen erscheinen! Einmal entfesselt, sind wir Seeleute gefährlich wie das Element, das uns trägt, und unberechenbar, wie die versiegelte Segelordre in der Tasche des Commandanten. Sorglos lichten wir die Anker, unbekümmert, wohin unser Kiel uns führt, ob zu Freud’ oder Leid, ob in lachende Gefilde oder an unwirthsame

[251] Gestade, ob zu Ruhm und Ehre oder zu Kampf und Untergang. Vogue la galère!

Wollen Sie es darauf hin wagen und sich meiner Leitung anvertrauen? Unterschätzen Sie die Ihrer vielleicht harrende Gefahr nicht, auch wenn Ihr ahnender Geist Ihnen wohl längst gesagt, daß der Kiel, der sich Ihrem Dienste weiht, nur einer harmlosen – Gans entstammen dürfte. Wer weiß, ob ich Sie nicht besser und sicherer auf einem guten Schiffe durch Wind und Wellen geführt hätte, als durch den Tintenocean einer Reisebeschreibung, zu dem ich kein kritisches Senkblei besitze und für den jedes journalistische Seezeichen mir fehlt. In diesem Fahrwasser, mit mir als Lootsen am Bord, müssen Sie jeden Augenblick gewärtigen, auf der ödesten aller Sandbänke, „Langeweile“ genannt, zu stranden.

Was kann ich wenigstens Ihnen, der viel Gereisten, der viel Belesenen erzählen, das Ihnen neu und darum merkwürdig wäre? Giebt es noch Gegenden der von uns bewohnten Erdenhälfte, die Ihr schönes Auge nicht geschaut? Giebt es von der andern, uns abgewendeten, noch Beschreibungen in Buch- oder Journalform, in die Ihr kaum minder schönes Näschen sich noch nicht gesteckt? Ich möchte zweifeln und damit zugleich an der Lösung meiner Aufgabe verzweifeln, wenn mir nicht zur rechten Zeit Rabbi Ben Akiba’s weises Wort einfiele, der da behauptet, es gäbe überhaupt nichts Neues unter der Sonne. Hat er Recht (und ich traue es dem klugen alten Herrn zu), warum sollte dann ich, der freilich stümperhaft Anfangende, aber, weil auf hohe Ordre handelnd, jeder moralischen Verantwortung Enthobene, mich scheuen, schon Dagewesenes noch einmal, und zwar mit dem eigenen kleinen Lichtchen zu beleuchten?

Blättere ich nun in meinen Aufzeichnungen und ist die Erinnerung geschäftig, vorhandene Lücken auszufüllen und zu ergänzen, dann zieht das Erlebte in bunter Reihenfolge vor meinem geistigen Auge vorüber, und wünschte ich mir den glühenden Pinsel eines Tintoretto, um die farbenprächtigste Leinwand vor Ihnen als „Bilder ohne Worte“ entrollen zu können. Will ich aber wählen, was ich Ihnen, der ich nur das Beste gönne, eigentlich vorführen soll, dann bin ich in Verlegenheit. Ich entdecke nämlich, daß ich die meisten Länder mehrere Male, einige in einem Zeitzwischenraume von einem Jahrzehnt und darüber gesehen, und daß ich sie jedesmal anders gesehen. Wann sie nun am eigenartigsten, am anziehendsten und also am würdigsten waren, von Ihnen geschaut zu werden, das ist eben die große Frage. Sinke ich in Ihrer, der dem geistigen Fortschritte so bedingungslos Huldigenden, Schätzung gar zu tief, wenn ich offen bekenne, daß ich mir Länder und Völkchen lobe, wie sie waren, ehe sie die Cultur beleckte? Frack und Cylinder mögen, als Gipfelpunkte einer vollendeten gesellschaftlichen Bildung, achtungswerth, als höchste Errungenschaften eines geläuterten Kunstsinnes sogar anmuthig und kleidsam sein, an die Körper und auf die Köpfe meiner lieben Japaner aber passen sie z. B. sicher nicht. Sie sind doch insgesammt recht komische Erscheinungen, diese in’s Gewand der europäischen Mode gekleideten Wilden und Halbwilden – die freigewordene und sich in ihrer Caricatur einer Lady noch freier dünkende Negerin ebenso wie der Südsee-Insulaner, der den gegen seine köstlichen Landesproducte eingetauschten Vatermörder stolz als Lendenschmuck trägt, der Japaner, der, nicht wissend, daß man Kinder anders kleiden könne, als Erwachsene, schon seine kleinsten Rangen in den Frack zwängt und sie „süß“ darin findet, nicht minder als die Majestät von Siam, die an hohen, officiellen Galatagen in Höchstihren nackten Beinen prangend sich sehen, in gewöhnlichen, nicht officiösen Stunden dagegen mit Schuh und Strümpfen bekleidet sich modisch gehen läßt.

Und hierbei – stopp! Die Mode hat mich in logischem Gedankengange bis zu dem dunkeln Piedestal des Beherrschers von Siam geführt. Und da wollen wir vorläufig auch bleiben. Wohlverstanden – in Siam nämlich!

Das Wunderland steigt, wie mit dem Zauberstabe berührt, vor mir empor. Die große Audienz unseres Gesandten, der wir in seinem Gefolge beiwohnten, entfaltet sich wieder in ihrem ganzen fremdländischen Glanze, mit all ihren barocken Seltsamkeiten vor meinen geistigen Augen. Ich habe gefunden, was ich für Sie suchte. Jene Tage in Bangkok sind es werth, vor Ihnen aus dem Meere der Vergessenheit emporzutauchen.

Zuvörderst aber muß ich, um es zu ermöglichen, dem Urgreis Chronos ein wenig in’s Handwerk pfuschen, indem ich dem Rade der Zeit einen kleinen Schwung nach rückwärts gebe und Sie, meine Gnädige, ersuche, sich in Zeiten zurückzuversetzen, wo Sie noch ein so junges Fräulein waren, daß Sie Ihrem schon damals getreuen Verehrer noch geruhsam Ihre nicht ganz orthographisch geschriebenen Briefchen und Ihre Küßchen senden und sich dafür en revanche die schönste Puppe der alten und neuen Welt bestellen konnten. Ueber achtzehn Jahre führe ich Sie zurück, bis in das Jahr 1861, in dessen letzten Monat, den December, jene mir denkwürdig scheinenden Tage fallen.

Wir lagen mit Seiner Majestät Schiff „Arcona“ auf der Rhede von Bangkok zur Disposition unseres Gesandten, des Grafen Eulenburg, desselben, der nachmals als Minister des Innern so viel von sich reden machte und dessen glänzende Laufbahn mit jener Expedition begann. Das Schiff befand sich auf der Rückreise von Japan und China, wohin hauptsächlich der diplomatische Auftrag gelautet, und nachgerade (es war im dritten Jahre unserer Abwesenheit von Hause) warteten wir mit einiger Ungeduld auf weitere Befehle, namentlich auf die Rückberufungsordre, die jeden Tag eintreffen konnte. Der Gesandte war an Land in ein Gebäude gezogen, das ihm die siamesische Regierung eingeräumt, und wir Anderen an Bord vertrieben uns die Zeit, so gut oder so schlecht wie es eben gehen wollte.

Sonderlich günstig sah es mit der Unterhaltung aber just nicht aus. Wir lagen acht bis neun Seemeilen vom Lande ab, das uns nur durch einen grünen Streifen über dem Horizont angedeutet wurde. Die Hitze war sehr groß und erschien uns doppelt drückend nach der verhältnißmäßig kühlen Witterung, die wir noch vor Kurzem in China gehabt. Zudem war gerade die Zeit der jährlich wiederkehrenden Ueberschwemmungen, und Pachnam, der Hafenort von Bangkok, der einzige für uns zu Boot erreichbare Ort, lag fast vollständig unter Wasser. Demungeachtet entschlossen sich v. B…, der Schwager unseres Commandanten, der Gesandtschaftsarzt und ich zu einer Entdeckungsreise, und fuhren wir eines Morgens in unserer kleinen Jolle dem Ausfluß des Menam, an dem sechsunddreißig Seemeilen stromauf Bangkok und zwei Seemeilen von der Mündung entfernt Pachnam liegen, zu. Die Sonne ging gerade auf, als wir in den Fluß einfuhren, und beleuchtete ein seltsames Bild. Von den Ufern des Flusses war nichts zu sehen, und nur die üppige, jetzt aus dem Wasser hervorragende Vegetation deutete ihr Vorhandensein an. Da, wo die Bäume nicht zu dicht standen, konnten wir mit unserem Boot im Urwalde umherfahren, aber nirgends fanden wir eine Stelle, auf die wir unseren Fuß hätten setzen können; denn selbst da, wo der Schlamm einmal über dem Wasser emporragte, war er so weich, daß wir rettungslos darin versunken wären. Außerdem aber pflegen solche trocken gefallene Stellen von Alligatoren und giftigen Reptilen zu wimmeln und sind schon aus dem Grunde keine einladende Landungsstellen. Gegen acht Uhr erreichten wir Pachnam und legten bei einem halb im Wasser begrabenen Tempel an, in der Hoffnung, von ihm aus endlich eine trockene Stelle zum Spaziergang oder gar zu der ersehnten Jagd zu finden. Wir manövrirten uns durch den nassen Hof des Tempels und folgten einem endlich aufgestöberten Siamesen, der uns nach einem Hause leitete und uns einzutreten nöthigte. Auch hier fanden wir den Hof überschwemmt und konnten nur über eine Bretterbrücke in das auf Pfählen stehende, überall offene Gebäude gelangen. Im Inneren desselbe stießen wir auf einen alten, dicken Herrn in ungemein leichter Bekleidung, der uns nicht wenig verwundert entgegenstierte und uns schließlich als der gebietende Gouverneur von Pachnam vorgestellt wurde. Obgleich wir natürlich keine Ahnung von der Existenz einer solchen Standesperson hatten, faßte ich mich, als gewandter Europäer, doch rasch und ließ dem alten Herrn durch einen Siamesen, der etwas Englisch verstand und deshalb dolmetschte, bedeuten, wir seien eigens gekommen, um Seiner Excellenz unsere Aufwartung zu machen. Diese Artigkeit schien dem mangelhaft toilettirten Dicken nicht wenig zu gefallen und zu schmeicheln. Er schmunzelte äußerst gnädig und ließ sofort eine kleine Collation von Thee, englischen Biscuits und wundervollen Bananen auftragen, eine Erfrischung, die uns, die wir ohne etwas genossen zu haben von Bord gefahren waren, hochwillkommen war. Nachdem wir uns erquickt und in Erfahrung gebracht hatten, daß des Wasserstandes wegen von Jagd keine Rede hier sein könnte, der Fluß dagegen reichlich von Alligatoren und Schlangen wimmele, erklärten wir unseren officiösen Besuch für beendet, nahmen Abschied und bestiegen wieder unsere Jolle, um auf gut Glück weiter zu fahren.

[252] Bei einem mitten im Fluß auf einer kleinen Insel belegenen Fort machten wir Halt. In Ermangelung irgend eines anderen comfortableren Eingangs landeten wir bei einer Schießscharte, welche fast den Wasserspiegel berührte, und drangen durch dieselbe in das Innere des Forts, das wir durch etwa fünfundzwanzig gar nicht so übel gehaltene Kanonen armirt und von einigen alten Männern und Weibern bewohnt fanden. Hier war endlich eine trockene Stelle und Schatten, und beide Vortheile nutzten wir aus, um nach – Cocosnüssen zu schießen, die wir als einzige Jagdausbeute an Bord brachten, woselbst wir spät Abends, abgehetzt und halb geröstet, wieder anlangten. Daß wir zu unserer Bewirthung nichts vorfanden, als einige Früchte und ranziges Schweineschmalz, kann wohl nicht gerade opulent oder gar lucullisch genannt werden, mußte aber in Geduld und möglichstem Humor hingenommen werden.

Der große Verbrennungsplatz Bat-Si-Het in Bangkok.

Die in Folge der noch immer nicht erledigten Vertragsbedingungen uns aufgenöthigte Ruhezeit benutzte ich nach Möglichkeit zu meiner Belehrung. Ich sammelte so viel Material über Land und Leute, wie ich irgend erlangen konnte, und wurde dabei vom Glück begünstigt, indem ich auf Leute stieß, die eine vollkommene Einsicht haben konnten und gefällig genug waren, mir jede Frage zu beantworten, ja mir Gelegenheit gaben, mich selbst zu informiren.

Zunächst wird es Sie, die eifrige Politikerin, interessiren zu hören, was ich über die Regierungsform in Erfahrung gebracht. Darnach war Siam, und ich kann bei der Conservativheit der Eingeborenen wohl dreist sagen: ist Siam eine absolute Monarchie in des Wortes weitester Bedeutung. Es regieren stets zwei Könige. Der erste steht an der Spitze des ganzen Staates, leitet seine Politik und ist unumschränkter Gebieter und Herr, zieht auch nur in schwierigen Fällen den zweiten König zu Rath. Ueber Leben und Eigenthum seiner Unterthanen herrscht er bedingungslos. Gefällt ihm z. B. ein Grundstück, so nimmt er es dem bisherigen Besitzer einfach fort und entschädigt ihn nach eigenem Ermessen. Grundeigenthum giebt es deshalb in Siam wenig; das Land wird dem jeweiligen Inhaber immer wieder auf ein Jahr verliehen – eine Art feudalen Lehnsrechts also. Zeichnet sich irgend ein Handwerker durch besondere Geschicklichkeit aus, so muß er in den Dienst des Königs treten, das heißt: der Mann darf nur für Seine Majestät arbeiten und wird dafür unterhalten. Das Streben nach dem „Hoflieferanten“ soll in Folge dieser Einrichtung in Siam lange nicht so lebhaft sein, wie bei uns zu Lande.

Die Thronfolge ist erblich, doch nicht nach dem Rechte der Erstgeburt, vielmehr steht es dem König frei, sich seinen Nachfolger unter seinen Söhnen auszusuchen. Der zweite König (vangua) ist nicht an Macht, doch an Rang dem ersten beinahe ebenbürtig. Er führt, wie jener, den siebenfachen Sonnenschirm, das Zeichen königlicher Würde, grüßt den andern, vor dem sich Jeder sonst in [253] den Staub werfen muß – oder wenigstens damals mußte – nur durch Aufheben der Hände und nimmt seinen Sitz neben ihm ein. Wichtige Verträge dürfen nur mit seiner Genehmigung abgeschlossen werden, aber im Uebrigen ist sein einziges Amt die Anführung im Kriege. Beiden Königen, namentlich dem ersten, werden beinahe göttliche Ehren erwiesen.

Von den Prinzen sind immer drei die Leiter des Hofstaats und Beaufsichtiger der obersten Beamten, welche letztere aus fünf Rangclassen bestehen, deren erste die Minister bilden. Ob diese Eliteclassen unter einander sehr harmoniren, vermag ich nicht zu sagen, in einem Punkte jedenfalls sind sie merkwürdig einig: das Volk zu knechten und auszusaugen. Das große Heer schmarotzender Würdenträger und übermüthiger Beamten ist ein schwerer Druck für sämmtliche niederen Classen.

Schwimmendes Haus in Bangkok.

Ich bedaure überhaupt innigst, Ihnen, der für alle Menschenrechte so warm Plaidirenden, melden zu müssen, daß mir, des gewissenhaftesten Forschens ungeachtet, es nicht hat gelingen wollen, irgend welche Rechte des Volkes feststellen zu können, sondern daß ich einzig und allein von Pflichten desselben gehört. Derer aber schien mir Legion zu sein und darunter recht seltsame und drückende. Was sagen Sie z. B. zu der Verpflichtung, die jeder Siamese hat, dem Staat eine bestimmte Zeit als Sclave und eine andere als – Priester zu dienen?

Trotz dieses Druckes von oben herunter ist der Siamese im Allgemeinen gutmüthig, gehorsam und respectvoll, nicht allein gegen Höhergestellte, sondern auch gegen das Alter. Auch ist er von Natur ehrlich. Diebstähle sollen zu den Seltenheiten gehören und Mordthaten noch vereinzelter vorkommen. Neugierig und naiv wie ein Kind, will er alles haben, was er sieht, ist aber auch zu jedem Gegengeschenk bereit. Leidenschaftlich ist er nur beim Spiel. Dieses besteht, so viel ich es verstehen konnte, aus einer Art „Paar oder Unpaar“. Die Spieler sitzen um eine große, fast wie ein Roulette aussehende Matte herum, auf welcher sternartig einige schwarze Streifen gemalt sind. Zwischen diese deponiren nun die Spieler ihre Sätze; der Bankhalter zählt aus einem vor ihm liegenden Haufen kleiner weißer Muscheln zwanzig ab, und je nachdem der Rest paar oder unpaar ist, zieht er die Einsätze ein oder zahlt die Gewinne aus. Die Spielwuth ist eine außerordentliche. Es soll nicht selten vorkommen, daß leidenschaftliche Pointeure Hab und Gut und zuletzt sich selbst und ihre ganze Familie verspielen. Und wie die Species „Mensch“ sich überall gleich ist! Auch hier sind die allerleidenschaftlichsten und diejenigen, die das zahlreichste, das ausdauerndste und das wagehalsigste Contingent stellen, die – Damen!

Wie das Spiel die größte Passion der Siamesen ist, so ist die Musik ihre höchste Lust, obgleich die große Kostbarkeit der Instrumente die Ausübung dieser Kunst nur Wenigen möglich macht. Die hauptsächlichen Instrumente sind die Laosflöte und das Glockenspiel, außerdem noch Handtrommel, Pauke und kupferne Hörner. Eigenartig sind nur die beiden erstgenannten. Die Laosflöte besteht aus einer Anzahl von verschieden langen, regelrecht an einander befestigten Rohrstäben, welche unten mit einem Mundstück und Fingerlöchern versehen sind. Ihre Form erinnert an die alte, [254] classische der Panflöten und ihre Töne sind sehr rein, weich und angenehm. Fast schön aber klingt das Glockenspiel, das aus einer Scala aufgereihter Metallglocken, die auf einem kleinen kahnartigen Kasten als Resonanzboden ruhn, besteht und das mit zwei Klöppeln geschlagen wird. Die Klänge dieses Glockenspiels sind voll und sehr melodisch, dringen auch ungewöhnlich weit in die Ferne. Von den übrigen Instrumenten, meist schlechten Nachahmungen europäischer, läßt sich kaum etwas Interessantes sagen.

Die Kleidung des Volks ist eine überaus einfache und dem Klima angemessen. Die Siamesen tragen den Kopf, bis auf eine Krone über der Stirn, ganz kahl geschoren und zwar bei beiden Geschlechtern gleichmäßig. Da auch die übrige Kleidung, eine leichte Jacke und der „Sarong“, ein um die Lenden geschlungenes Tuch, genau denselben Schnitt haben, so ist es oft äußerst schwierig, den Siamesen von seiner Siamesin zu unterscheiden. Die Priester haben, wie alle Buddha-Priester, den Kopf ganz kahl geschoren, und ihre Sarongs und Shawls sind hellgelb.

Der in Siam herrschende Gebrauch, die Todten zu bestatten, ist uns so oft in die Augen gefallen, daß ich das Bild, obgleich es kein allzu geeignetes für Damenaugen ist, Ihnen doch mit einigen Strichen skizziren muß. Ich verspreche aber, sie so schonend als möglich ziehen zu wollen. Die Angehörigen der höchsten Rangclassen, welche die nicht unerheblichen Kosten nicht zu scheuen brauchen, verbrennen die Leichen der Ihren. Der Hauptverbrennungsort Bangkoks ist der Wat-Si-Het. Für die genannten vornehmen Reichen befindet sich hier ein viereckiges, auf Säulen ruhendes und von einer Kuppel mit langer Spitze bedecktes offenes Gebäude und in diesem eine steinerne Erhöhung von etwa sechs Fuß Länge und vier Fuß Breite. Auf dieser Erhöhung wird nun ein Gestell von vergoldetem Blech, das, in einer Höhe von zehn Fuß, von einem offenen Baldachin überdacht ist, errichtet, und auf ihm ruht der Todte. Der hohle Raum unter dem Gestell ist mit brennbaren Stoffen angefüllt, welche mittelst eines Leitfeuers angezündet werden, worauf die Verbrennung vor sich geht, ohne daß man mehr als einen leichten Rauch wahrnimmt. Diese Art der Bestattung hat nichts Abschreckendes.

Weniger vermögende Leute werden in Siam zwar auch verbrannt, aber nicht auf die gleiche kostbare und auch auf eine weniger ceremoniöse Art. Ihre Leiche kommt in einen rothen Kasten, Hände und Füße auf dem Rücken befestigt und mit dem Gesichte nach unten gelegt. Dieser Kasten wird dann auf einen richtigen Holzscheiterhaufen gestellt und mit Stäben abgestützt. Nachdem die Gebete in näselndem Ton abgeleiert sind, werfen die Umstehenden ein zusammengewickeltes Tuch sich gegenseitig, zweimal kreuzweise, über dem Scheiterhaufen zu, und dann wird dieser angezündet. Während er brennt, wird fortwährend Wasser über den Kasten gegossen, sodaß dieser möglichst lange der Zerstörung widersteht und von innen heraus brennt. Ich sah so ein Kind von zwölf Jahren verbrennen und mußte die Geschicklichkeit der Leute, die das traurige Geschäft leiteten, bewundern. Sie erhielten den Kasten so lange, bis die Leiche gänzlich zerstört war; dann erst fiel die eine Seite ein und zeigte durch die entstandene Lücke das glühende Gerippe des Kindes.

Die Art, wie die Armen Siams ihre Todten – wie soll ich sagen? „beseitigen“ ist wohl der schonendste Ausdruck, möchte ich am liebsten verschweigen und gehe auch, versprochenermaßen, so rasch wie möglich darüber hinweg. Da die Kosten einer Verbrennung unerschwinglich für sie sind, werfen sie die Leichen ihrer Angehörigen einfach den Raubthieren und den Vögeln unter dem Himmel zum Abnagen vor. Man findet nur zu häufig gefräßige, fette Hunde und gierig krächzende Geier bei ihrem ekeln Schmause. So empörend uns diese Sitte oder Unsitte erscheinen mag, der Siamese muß nichts sein Gefühl Verletzendes darin finden; denn es soll nicht selten vorkommen, daß auch leidlich Vermögende, die aber ihren Angehörigen alle Bestattungsausgaben zu ersparen wünschen, ihren todten Leib rechtskräftig den – Geiern vermachen.

Doch fort mit diesen unschönen Bildern!

Um aber den Uebergang zu andern, Ihnen, meine Gnädige, hoffentlich mehr zusagenden Schilderungen zu finden, will ich eines kleinen Jagdabenteuers erwähnen. Die beachtenswerthe Geschicklichkeit eines unserer Officiere hatte nämlich dabei Gelegenheit, sich im günstigsten Lichte zu zeigen, und erwarb unserm tapferen Freunde im siegreichen Kampf mit einem Meerungeheuer den glorreichen Namen des „großen Haitödters“. Verschiedene Haie, die herausfordernd unser Schiff umkreisten, hatten uns zuerst geärgert, dann aufgeregt und zuletzt zum höchsten Jagdeifer angefeuert. Mit den stärksten Angelhaken gingen wir den Ungeheuern zu Leibe, freilich lange ohne jeden Erfolg, da die ungewöhnlich starken Burschen auch die massivsten, größten Haken gerade bogen. Unser Freund ließ nun eine mächtige Harpune zurecht legen und, als ein Hai einmal wieder an der Angel saß, ihn langsam und vorsichtig an die Meeresoberfläche ziehen. Dann warf er ihm die schwere Harpune durch den Leib und schoß ihm zur Sicherheit noch ein paar Spitzkugeln in den Kopf. Das Wüthen und Schlagen des todtwunden Thieres war unglaublich; die doppelten Angelhaken zermalmte er und nur die Harpune saß, und an dieser holten wir ihn endlich auch an Deck. Das Ungethüm war über zehn Fuß lang bei einem Umfang von fünf Fuß acht Zoll in der Mitte des Leibes; das herausgeschnittene Gebiß aber erwies sich als so groß, daß ein Mann bequem zwischen den Zähnen durchkriechen konnte.

Von sonstigen Jagdresultaten ist nur Eines zu vermelden. Ich hatte Gelegenheit gehabt, die Bekanntschaft des Gouverneurs von Bang-Sa-Mung zu machen, und dieser hatte mich aufgefordert, bei ihm in Bang-Pra zu jagen, mir auch jede Unterstützung zugesagt.

In Begleitung zweier, gleich mir, mordlustiger Kadetten und ausgerüstet mit zehn Flaschen Champagner, meinem Gastgeschenk, war ich denn auch zu ihm aufgebrochen. Ich fand den hohen Würdenträger, umlagert von allen seinen Frauen, seinen Beamten und Dienern in der offenen Veranda seines Hauses sitzen. Er empfing uns sehr freundlich und nahm mein bescheidenes „Mitbringsel“ sichtlich angenehm berührt auf, entsetzte sich aber mit seiner gesammten Umgebung nicht wenig, als wir später ihm zu Ehren einen Pfropfen knallen ließen. Unsere Unterhaltung war keine sonderlich eingehende oder gar geistreiche, da es sich herausstellte, daß der von uns mitgenommene Dolmetscher, ein Malaye, fast gar kein Englisch verstand und auch nicht Witz genug besaß, etwas Gesagtes zu errathen. So beschränkte sich unsere Annäherung auf gemeinschaftliches Thee- und Champagnertrinken, Bananenessen und sich dabei ab und zu Anlächeln und Zunicken. Trotzdem wage ich zu behaupten, daß wir einen günstigen Eindruck hinterließen, namentlich bei den Damen. Kein voreiliges, spöttisches Lächeln, Gnädigste! Die bescheidene Aufklärung folgt. Ich war nämlich so umsichtig gewesen, meine Taschen mit allerlei mir von befreundeten Damen daheim mitgegebenen Herrlichkeiten, als da waren Perlenhalsbänder, imitirte Granatbracelets etc., anzufüllen. Mit diesen rückte ich denn in’s Treffen und machte erstaunliches Glück damit. Die braunen Schönen rissen ihre vom Betelkauen gefärbten Mäulchen sperrangelweit vor Entzücken auf und warfen mir so feurig dankbare Blicke zu, daß ich es für die häusliche Ruhe meines gütigen Gastgebers gerathen fand, mich zurückzuziehen, zumal auch meine Taschen leer waren. Wir verabschiedeten uns also unter allgemeinen Freundschaftsgrüßen.

Kaum in unser Boot zurückgekehrt, empfing ich dort den höflichen Gegenbesuch des Gouverneurs. Wir tranken, nickten und lächelten uns wieder zu und trennten uns endlich aufathmend. Zuvor aber nahm mich der Dolmetscher bei Seite und wußte mir, trotz seines mangelhaften Englisch, klar zu machen, daß Seine Excellenz mich um ein paar meiner weißen – Schuhe ersuchen ließe, da hochseine gerade zufällig zerrissen seien. Ich mußte gute Miene zum bösen Spiel machen und erkaufte mir, durch bereitwillige Vergabe meiner netten, neuen Schuhe noch ein ganz absonderlich anerkennendes Abschiedsschmunzeln.

Am andern Morgen ganz früh brachen wir zu der verabredeten Jagdpartie auf – eine stattliche Schaar, da außer uns Jägern noch zwei von unsern Bootsleuten und eine große Anzahl Kulis mit uns waren. Viel Jagdbares aber trafen wir, leider, nicht an. Ein großer Maraboustorch, ein Affe und allerlei kleines Gethier war speciell meine ganze Beute. Um elf Uhr etwa machten wir bei einem Cocoswäldchen Halt und hier, in der drückenden Hitze, ist mir zum ersten Male der volle Werth der Cocosnüsse, dieser unübertrefflichen Frucht, welche über Nacht die ganze Frische und Kühle des Thaus annimmt und bewahrt, klar geworden. Wir schwelgten geradezu in ihrem aromatischen Kern und in ihrer köstlichen, labenden Milch.

Der Platz, den wir zu unserem ersten Ruhepunkt gewählt, war überaus malerisch. Vor uns lag das Wäldchen mit seinen hohen, vielkronigen, unter der Last ihrer Früchte sich neigenden [255] Palmen, hinter uns dichtes Gebüsch von wildem blühendem Jasmin und rings umher die mit Tamarinden, Teak und Bambusholz bewachsenen Höhen. Die Vegetation war eine so echt tropische, daß ich mir nachher oft mit meinem Hirschfänger, als wir in den Urwald eindrangen, Bahn brechen mußte. Bald geriethen wir in Gras, das über uns zusammenschlug; bald rannten wir gegen Mauern von Dornen und Gestrüpp, und bald fanden wir uns in einem Bambusdickicht, in dem die niedergebogenen Stämme regelrechte Bogengänge bildeten, während die vertrockneten und im tollsten Wirrwarr umherliegenden fast undurchdringbare Barrièren herstellten. Auch auf eine heiße Quelle, die, unter Gras versteckt, hinfloß und eine sehr hohe Temperatur aufwies, stießen wir. Spuren von Tigern begegneten wir mehrere Male, fanden sogar ihre Lagerstätte und Reste ihrer Mahlzeiten, aber nicht einer von ihnen war so höflich, sich unsern Büchsen zu stellen.

Um diesem an sich nicht uninteressanten, in seiner Grundidee aber ziemlich verfehlten Jagdausflug die Krone aufzusetzen, mußte ich zuletzt noch die übrige Gesellschaft verlieren, im Dschungel (diesen Morästen unter urweltlichem Gestrüpp) mich verirren und mich erst nach drei Tagen und drei Nächten des Umherirrens an Bord zurückfinden. Von den ausgestandenen Mühseligkeiten und durchlebten schweren Stunden lassen Sie mich schweigen! Auch davon, wie mich ein glücklicher Zufall, nein, geben wir dem die Ehre, dem sie gebührt, wie Gottes gnädige Hand mich auf den rechten Weg geleitet. Auch von diesem Extrajagdausflug brachte ich keine einzige Tigerklaue als Jagdtrophäe mit, dagegen eine andere Beute, an der ich nachmals noch Monate lang zu zehren hatte oder die vielmehr an mir zehrte – das regulärste, elendeste Dschungelfieber nämlich.

Sehr wohl und behaglich fühlte sich übrigens kaum Einer an Bord. Die starke Hitze lastete immer drückender auf uns Allen, die mangelhafte Verpflegung war auch nicht dazu angethan, die gesunkenen Kräfte zu heben; hohläugig und abgemagert schlichen die Meisten umher, und mit wahrem Jubel wurde der Dampfer begrüßt, der endlich den Brief des Gesandten an unsern Commandanten, Commodor Sundewall, brachte, mit der Benachrichtigung, daß die Empfangsaudienz beim König für den nächsten Tag anberaumt sei. Gleichzeitig erfolgte eine Aufforderung an das Officiercorps, sich an dem officiellen Acte betheiligen zu wollen, sowie das Ersuchen, dreißig Mann Seesoldaten zur Disposition zu stellen.

Am andern Morgen, Punkt sieben Uhr, bestiegen wir sämmtliche dienstfreien Officiere denn auch den Siamesischen Dampfer, Eigenthum des zweiten Königs, der uns abzuholen kam und uns den Fluß hinauf nach dem Hause des Gesandten führte.

Die Fahrt auf dem Menam war heiß und anfangs wenig lohnend. Die ganz überschwemmten Ufer, oder vielmehr Nichtufer – denn aus der weiten Wasserfläche hob sich kein Streifen Land, den man mit diesem Namen hätte beehren können – boten überall denselben schon beschriebenen Anblick einer aus den Fluthen emporragenden, überraschend üppigen Tropenvegetation mit keiner anderen Abwechselung als gelegentlich einigen auf Pfählen gebauten Häusern oder eben solchen Tempelchen.

Recht eigenthümlich dagegen ist der erste Eindruck, den, beim Einlaufen, die Haupt- und Residenzstadt Bangkok selber macht. Wie überall im Fluß sieht man auch hier vom festen Lande wenig. Das Ufer wird nur durch die an beiden Seiten des Flusses stehenden Häuser bezeichnet. Außer diesen vorgeschobenen Gebäuden bildet aber noch eine zweite Häuserreihe, die auf dem Flusse schwimmt, eine breite Straße. Diese natürlich nur kleinen, einstöckigen Baulichkeiten, die aber immerhin groß genug sind, eine Familie zu beherbergen, ja, den Meisten noch gestatten, einen Laden zu eröffnen, sind auf Flößen von Bambusrohr errichtet und werden von Pfählen, welche in den Grund gerammt sind, an der Stelle, die sie einmal einnehmen, im reißenden Strome festgehalten. Gedenkt nun ein pfahlgesessner Siamese auszuziehen, gefällt ihm sein Nachbar oder seines Nachbarn Weib nicht mehr, oder haben sich gefährliche Concurrenzgeschäfte in seiner Nähe aufgethan, kurz, wünscht er aus einem beliebigen Grunde sich zu verändern, so zieht er einfach sein Haus aus der Reihe der übrigen und läßt sich mit ihm den Strom hinab, bis zu der ihm passenden Stelle treiben – eine Einfachheit des Verfahrens, wie geschaffen für einen Umzugswüthigen und zudem als höchstes Muster einer jeden „Freizügigkeit“ nicht warm genug zu empfehlen! Mich selber hat die Erinnerung an diese „abschwimmenden“ Siamesen noch nachträglich manch liebes Mal mit blassen Neid erfüllt, als ich in spätern Jahren mir selbst ein Haus gegründet hatte und clavierklimpernde, violinkratzende oder Zukunftsarien donnernde Virtuosen den Penaten desselben gefährlich wurden, oder gar, als ich, selbst pfahlgesessen im gesegneten Wilhelmshaven, den dortigen zähen Schlick nicht Miene machen sah, seine in ihn gerammte Beute „auf Wunsch“ in bessere Gefilde forttreiben zu lassen.

(Schluß folgt.)




Zum Trost.

Wem einmal in die Seele, lenzerschlossen,
Der höchste Sonnenglanz des Daseins drang,
Dem wird tiefinnen reicher Frühling sprossen
Und leuchtend blühen all sein Leben lang.

5
Nicht fürchtet er die Nacht mit ihren Wettern:

Aus tausend Sternen seine Sonne spricht.
Sie künden ihm in goldnen Riesenlettern:
Unsterblich ist die Liebe wie das Licht!

Ernst Scherenberg.




Blätter und Blüthen.


Zwei Stunden aus der Zeit der Petersburger Trauerfeierlichkeiten. Die Petersburger Festungskirche, diese große Grabstätte der russischen Herrscherfamilie seit Peter dem Großen, bot, so lange die kaiserliche Leiche noch auf dem Paradebette lag, für den Beschauer einen eigenthümlichen Gegensatz irdischer Herrlichkeit und irdischer Hinfälligkeit; sie zeigte uns Scenen äußeren Glanzes, wenn der gesammte Hofstaat zur Seelenmesse für den gemordeten Kaiser versammelt war, aber sie entrollte ein Bild anspruchsloser Einfachheit, verbunden mit inniger, tief zu Herzen gehender Trauer, wenn in der späten Nachtstunde das niedere russische Volk sich dem Kaisersarge näherte, um dem, der sie aus Sclaven zu freien Menschen gemacht, die letzte Ehre zu erweisen. Diese beiden Gegensätze möchte ich versuchen, Ihren Lesern vor die Augen zu führen.

Auf höchsten Befehl war bekanntlich für jeden Mittag 12 Uhr Seelenmesse für den todten Kaiser Alexander den Zweiten angesagt, und bereits um 11 Uhr sah man die elegantesten Equipagen und Schlitten, Kutscher und Diener in tiefer Trauerlivrée, die an den Wagen befindlichen Wappen und Laternen mit schwarzem Tuch verhangen, sich über die zugefrorene Newa nach der Festungskirche hinüberbewegen. Aus den zahlreichen Fuhrwerken stiegen, am Thor der Kirche angelangt, ihre Insassen aus, hochgestellte Generäle und Minister, die glänzenden Uniformen in Flor gehüllt, auf der Brust ein Meer von Sternen, Staats- und Hofdamen im langen schwarzen Trauergewande, genau nach der vorgeschriebenen Form, und zwar je höher der Rang, je länger die Schleppe, Garde-Officiere aller Waffengattungen, Kammerherrn und Kammerjunker, kurzum Alles, was irgendwie in näherer Beziehung zum Kaiserhofe steht. Sie traten in die Kirche und schlugen der Gewohnheit gemäß das Kreuzeszeichen. Hier und da bildeten sich Gruppen, welche in selbstverständlich leise geführtem Gespräch – der richtige Hofmann kennt ja kaum ein anderes – die Ankunft der kaiserlichen Familie erwarteten.

In der Mitte der Kirche auf hohem Postament, zu welchem breite Stufen hinaufführen, stand der prachtvolle goldene Sarg, der die sterbliche Hülle desjenigen trug, auf dessen Wink die jetzt im Gotteshaus Versammelten erhöht oder erniedrigt wurden. Ueber der letzten Behausung des Herrschers, der das größte Reich der Erde regierte, breitete sich der kaiserliche Hermelin-Baldachin, geschmückt mit der Kaiserkrone, aus. Den Sarg umgaben die Ehrenposten, Generale, Garde-Officiere, Vertreter anderer Truppentheile, Träger der höchsten Hofchargen, alle in mit Trauer verhüllter Gala-Uniform. Nahe an hundert Orden und Medaillen des hohen Verstorbenen lagen auf goldenen Tabourets zu Füßen des Sarges, zu Häupten desselben die neun Kronen, welche dereinst sein Haupt schmückten, die kostbaren Reichsinsignien, Fahne, Scepter und Reichsschwert. Tausende von Wachskerzen erleuchteten den Raum taghell; denn die Bogenfenster der Kirche waren mit schwarzem Tuch verhängt.

Eben naht sich die gesammte hohe Geistlichkeit in ihren von Gold und Edelsteinen strotzenden Gewändern, und kaum haben die drei höchsten Kirchenfürsten, die Metropoliten von Petersburg, Moskau und Kiew neben dem Sarge Aufstellung genommen, so öffnen sich auch schon die Flügelthüren der Kirche; Herolde treten ein, in altdeutsche Tracht gekleidet, das schwarze Sammetwamms reich mit Silber gestickt; das ebenfalls [256] schwarze Barett mit den weißen Straußenfedern in der Hand, verkünden sie das Nahen des kaiserlichen Zuges, welchen Alexander der Dritte, seine Gemahlin am Arme, eröffnet. Diese Trauer zeigt sich auf dem ernsten Antlitze des Kaisers. Ihm folgt der endlose Zug einheimischer und fremder Fürstlichkeiten, unter welch Letzteren die hohe Gestalt des deutschen Kronprinzen hervorragt, der neben seinem Schwager, dem künftigen Könige von England und Kaiser von Indien, einherschreitet.

Nun beginnt der Gottesdienst mit seinen so mannigfaltigen, für den Laien völlig unverständlichen religiösen Ceremonien; ihn begleitet der Gesang der kaiserlichen Hofsänger, ein Sängerchor, wie solchen wohl kein anderer Staat der Welt besitzt. Endlich ertönen die Sterbelieder, und während derselben fallen alle Anwesenden auf die Kniee. In diesem Moment tritt der Kaiser an den Sarg seines Vaters heran, kniet dort nieder und küßt hierauf die erkaltete Stirn und Hand des Verstorbenen; sämmtliche Fürstlichkeiten folgen seinem Beispiel, und sobald dies vorüber, verläßt der kaiserliche Zug die Kirche in derselben Ordnung, in welcher er eingetreten, und ihm nach schreiten die übrigen Anwesenden. Eine Zeit lang hört man noch die Rufe der Lakaien: „Wagen Seiner Excellenz des Generaladjutanten A.!“ oder des „Ministers B.!“ – doch auch diese Rufe verstummen nach und nach. Die Betreffenden haben in ihrem Wagen Platz genommen und rollen nach Hause in ihre Palais. Die Kirche liegt so stumm da, wie zwei Stunden vorher.

So feiert die hohe und höchste Gesellschaft von St. Petersburg den todten Kaiser.

Und das Volk der trauernden Hauptstadt? Wie ehrt es seinen Befreier im Tode?

Es ist Abend geworden; die Nacht ist hereingebrochen, und auf dem hohen Thurme der Festungskirche, von dem herab die lange schwarze Trauerfahne weht, verkündet der eherne Glockenmund die Mitternachtsstunde. Wir betreten die Festungskirche, nachdem wir uns durch eine lange Reihe von Polizisten und Gensd’armen durchgewunden und unsere polizeiliche Legitimationskarte wohl ein Dutzend Mal vorgezeigt haben.

Im Gotteshaus herrscht tiefe Stille. Nur die eintönige Stimme eines Priesters, welcher an einem zu Häupten des Sarges befindlichen Betpulte aus der aufgeschlagenen Bibel die Evangelien liest, tönt durch den weiten Raum, der nur durch einige in der Nähe der Leiche brennende Kerzen erhellt ist. Aus der Dämmerung der Kirche leuchten düster die weißen Marmorsarkophage über den letzten Ruhestätten der Romanows. Ueber manchem derselben brennt unter dem Heiligenbild eine kleine Oellampe, deren matter Schimmer uns die Dunkelheit nur noch mehr empfinden läßt. Allmählich gewöhnt sich aber unser Auge an das schwache Licht, und nun erblicken wir die stummen Ehrenposten, welche selbst in der Nachtzeit den Sarg umstehen. Unser Auge hängt an dem kaiserlichen Todten selbst; mit einem leichten Gazeschleier ist das erhöhte Haupt der Leiche bedeckt, und manchmal glauben wir bei dem flackernden Lichtschein die vornehmen Züge Alexander’s des Zweiten zu erkennen.

Und jetzt – dunkle Gestalten, je zwei und zwei neben einander, nahen sich langsamen Schrittes; sie schreiten von beiden Seiten auf den Sarg zu. Das ist das russische Volk, das Volk in Trauer. Um diese Stunde ist es ihm gestattet, noch einmal – zum letzten Mal! – seinen Herrscher zu schauen, und auf diesen Augenblick haben die Tausende da draußen stundenlang, trotz der bitteren Kälte, geduldig gewartet. Bauern in ihren langen, dunklen Gewändern oft ehrwürdige Gestalten mit lang herabfallendem Vollbart, einfache Handwerker und Arbeiter in ihren häufig zerrissenen Pelzen, alte Mütterchen, die sich mühsam dahinschleppen, weinende Frauen, ihre kleinen Kinder an der Hand, haben den Weg nicht gescheut; sie tragen keine Trauerkleider, aber auf ihrem Antlitz prägt sich tiefe Trauer und bitterer Schmerz aus. Lautlos treten sie an den Sarg heran – Alle knieen nieder; innige Gebete steigen von ihren Lippen zum Himmel auf. Nun richten sie sich auf, führen unter Bekreuzigungen das auf der Leiche befindliche Heiligenbild an ihre Lippen, werfen noch einen letzten Blick auf den bleichen Czar und treten dann traurig und stumm den Rückweg an, stumm und traurig, wie sie gekommen. Und so geht es Stunde für Stunde, Nacht für Nacht, bis zum heranbrechenden Morgen. – –

Das war, so lange Alexander, der Befreier, noch auf dem Paradebette lag, die Petersburger Festungskirche um die Mittagsstunde und um Mitternacht.

Petersburg, im März 1881.

Leon Alexandrowitsch.




Das Wappen des russischen „Kaiserretters“. Am 16. April 1865 eröffnete bekanntlich der Student Karakasow die Reihe von Attentaten auf das Leben des Kaisers Alexander des Zweiten, deren letztem dieser nunmehr, nach sechszehn Jahren, zum Opfer gefallen ist. Unter der Menge, die den lustwandelnden Kaiser angaffte, hatte sich damals auch ein eben erst vom Lande nach der Hauptstadt gekommener Mützenmachergeselle Ossip Iwanowitsch Kommissarow befunden, der vor Schreck über den dicht neben ihm abgegebenen Schuß des Meuchelmörders ohnmächtig zu Boden gesunken war. Erst einige Minuten nachher bemerkte der bekannte General Totleben den noch immer betäubt am Boden Liegenden, und es bildete sich schnell die Legende, Kommissarow habe den Arm des Meuchelmörders bei Seite geschlagen und so den Kaiser gerettet.

Als Kommissarow, der Spielball eines launenhaftesten Glückszufalls, einigermaßen zur Besinnung gekommen, stand er in einem glänzenden Saal des Winterpalais, wurde vom Kaiser umarmt, von Generalen geküßt und erfuhr, daß er nunmehr ein Edelmann sei und von nun an Kommissarow-Kostromsky, weil aus dem Gouvernement Kostroma gebürtig, heiße. Die nächsten Monate vergingen dem glücklichen Unglücklichen wie in einem wüsten Traume. Er lebte in einer prachtvollen Wohnung, und wenn er sich auch Vormittags die nothwendigste Dressur im Lesen- und Schreibenlernen gefallen lassen mußte – sobald diese Folterstunde vorüber war, wurde er von einem Dinner zum andern, von diesem Balle zu jenem geschleppt und überall überschwenglich gefeiert, beschenkt und hofirt.

* РУКО Ю * ПеО * ВИΔЉНIЯ

Das Bewußtsein seines Unwerths und das niederdrückende Gefühl, daß alle diese Ehren ihm völlig unverdient zu Theil geworden, lagen indessen wie ein Alp auf dem Aermsten, bis endlich eine nüchterne Untersuchung den ganzen Mummenschanz aufdeckte. Darauf wurde der neue Edelmann als Officier in eine entfernte Garnison geschickt; er war dort bis zum August 1878 Stabsrittmeister und trägt noch heute eine für ihn allein geprägte goldene Medaille am Wladimir-Ordensband und eine Reihe fremdherrlicher Orden und Ehrenzeichen. – Kommissarow ist am 4. April 1839 in Molvitino als Sohn eines Sträflings geboren, der übrigens später auch begnadigt und anständig versorgt worden ist. Das ihm durch Ukas vom 21. April 1865 verliehene, hier wiedergegebene Wappen zeigt in goldenem Felde einen blaubekleideten Arm, der eine vielköpfige schwarze Hydra erwürgt, im Schildeshaupt aber eine goldene Galeere in blauem Felde. Die Helmzier besteht aus einem Engel, der eine Scheibe mit der gekrönten kaiserlichen Initiale hält, und die Wappendevise in russischer Schrift lautet zu deutsch: „Durch die Hand der Vorsehung.“ Das Wappen ist heutzutage eine heraldische Curiosität: selbst wenn Kommissarow das Mordgeschoß Karakasow’s abgewendet hätte – die scheußliche Hydra des Meuchelmords hat er nicht erstickt.




Der Herzog von Reichstadt. (Vergl. Abbildung, S. 249.) In dem jähen Sturze, welcher die beiden corsischen Kaiser auf dem französischen Throne ereilte, hat man wohl nicht mit Unrecht eine Strafe für die von ihnen verübte Vergewaltigung an der Freiheit der Völker erblickt, und auch in dem tragischen Ende der beiden einzigen Söhne dieser Machthaber lebt etwas von der Nemesis der Geschichte: sie gingen frühzeitig und ruhmlos zu Grunde, weil sie die schuldbeladene Erbschaft ihrer Väter angetreten hatten. Um sich als zukünftiger Kaiser in der Kriegskunst auszubilden, zog Prinz Louis Bonaparte mit englischen Eroberern gegen die Wilden Afrikas – in sein Verderben, und an gebrochenem Ehrgeiz, da er keine Aussicht auf den Kaiserthron hatte, welkte der Sprosse Napoleon’s des Ersten in früher Jugend dahin. Seine kurze Lebens- und Leidensgeschichte ist bekannt (vergl. „Gartenlaube“ 1859, Nr. 52), und nur als geschichtliche Curiosität führen wir unseren Lesern heute sein Portrait vor.

Man hat allgemein behauptet, der Sohn Napoleon’s sei ein schönes Kind mit blonden Haaren und blauen Augen gewesen, der seinem Großoheim, Joseph dem Zweiten, ähnlich gesehen habe; um diese augenscheinlich irrthümliche Meinung zu widerlegen, veröffentlichen wir heute das bisher wenig bekannte Portrait des Herzogs von Reichstadt. In der „Historischen Portraits-Ausstellung“, welche am Ende des vorigen Jahres in Wien stattfand, sah man auch eine interessante Stiftzeichnung Moritz Michael Daffinger’s (geboren zu Wien den 25. Januar 1790, gestorben daselbst den 22. August 1849), eines der hervorragendsten Portraitmaler Wiens, welche den nach dem Leben gezeichneten Herzog von Reichstadt darstellt und die unser heutiger Holzschnitt in verkleinertem Maßstabe wiedergiebt.

Auf den ersten Blick erkennt man in dem anmuthigen Knabenkopfe die charakteristischen Züge Napoleon Bonaparte’s, von welchem der Sohn auch den Geist, den unstillbaren Ehrgeiz, geerbt hat. Die Größe der Originalstiftzeichnung Daffinger’s beträgt 34,2 zu 23,4 Centimeter, und das Bild ist Eigenthum des Herrn J. Schwerdtner, Graveur in Wien.




Hülfe für bedrängte Deutsche in London verspricht ein Unternehmen zu gewähren, welches im Mai dieses Jahres von der „Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Ausländer“ („Society of Friends of Foreigners in Distress“) in London in’s Leben gerufen werden soll. Die genannte wohlthätige Genossenschaft rettet jährlich Tausende von nothleidenden Ausländern, unter welchen den bei weitem größten Theil (etwa 7/8) unsere Landsleute bilden, vor dem Untergange in der Fremde. Um die Gesellschaft nun in dieser menschenfreundlichen Aufgabe thatkräftig zu unterstützen, wurde von einigen hervorragenden Vertretern der Londoner deutschen Einwohnerschaft der Gedanke angeregt, während der Saison des Jahres 1881 einen großen Bazar in London zu veranstalten, dessen Ertrag der genannten Gesellschaft zu besserer Ausübung ihrer humanen Functionen zufließen soll.

Da der Erlös des Bazars zu einem großen Theile den bedrängten Deutschen in London zukommen wird, halten wir es für unsere Pflicht, die Leser unseres Blattes auf dieses dankenswerthe Unternehmen aufmerksam zu machen und ihnen die thatkräftigste Unterstützung des Werkes warm an’s Herz zu legen. Möge Keiner hier seine Gabe zurückhalten, wo es gilt, durch die Hand einer seit Jahren bewährten Gesellschaft das Elend unserer Landsleute in der Fremde zu lindern! Geschenke jeglicher Art werden für den Bazar, dessen zum Theil höchst werthvolle Waaren ohne Frage zahlreiche Käufer finden werden, dankbar angenommen, so besonders Gemälde, Kupferstiche, Sculpturen, Holzschnitzereien, Porcellan-Malereien und andere Kunstwerke, ferner Glaswaaren, Schmucksachen, Stickereien, Bücher, musikalische Instrumente etc. Alle Briefe und Sendungen bittet man an den Secretär der Society of Friends of Foreigners in Distress, Herrn W. C. Laurie, 10, Finsbury Chambers, London Wall, E. C. zu senden.

Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mit dieser Rubrik eröffnen wir eine Reihe von höchst fesselnden Artikeln, in denen ein früherer preußischer Seeofficier Erlebtes und Ueberliefertes niederlegt. D. Red.