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Die Gartenlaube (1882)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


5.

Es war wieder Sonntag, der Tag, an welchem in Waltershofen immer ein Gedeck mehr aufgelegt wurde, bestimmt für den regelmäßigen Gast, den alten Freund des Hauses. Zuweilen nahm Meinhard schon, wenn die Familie aus der Kirche zurückkehrte, seinen Platz in der Kutsche ein, zuweilen, wenn noch irgend eine dringende Arbeit ihn aufhielt, kam er auch später erst noch knapp vor der erst in den Nachmittag fallenden Tischstunde, wie es sich eben fügte. Selten aber blieb er ganz aus – dann mußte schon ein ernstes Hinderniß eingetreten sein. Das war seit Jahren eine feststehende Gewohnheit geworden, die eigentlich schon aus der Zeit datirte, wo der Sohn des Verwalters, der damals noch die ökonomische Leitung in Händen hatte, Spielgenosse der Kinder des Gutsherrn war. Man hatte es auch später so gehalten, wenn die heranwachsenden Jünglinge zu den Ferien nach Hause kamen, und es war eine selbstverständliche Einrichtung geblieben, als eines Tages der fleißige junge Mann in Amt und Stellung trat. Auch die Unterbrechung, welche dann durch seine Versetzung herbeigeführt wurde, brachte sie nicht in Vergessenheit.

Diesmal war die Trennung eine längere gewesen, aber nach Jahren kehrte er, sei’s in Folge einer günstigen Fügung, sei’s, wie manche wissen wollten, auf seine eigene Verwendung, als Leiter in das Amt zurück, bei welchem er seine bureaukratische Laufbahn begonnen, und seitdem hatte er diesen Platz behauptet; er war nicht avancirt; fast schien es, als sei er höchsten Orts vergessen worden, obgleich ihm manches Lob und manche Ehre, ja selbst ein höherer Titel im Verlauf der Zeit zu Theil geworden war.

Die bequeme Nachbarschaft hatte die alte Jugendfreundschaft immer warm erhalten, und es gehörte fast zu den undenkbaren Ereignissen, daß Meinhard’s Stelle am Sonntagstische leer geblieben wäre. Den ersten Sonntag nach der Ankunft des Ehepaares war dies doch der Fall gewesen, ohne daß eine zeitweilige Abwesenheit von dem Städtchen dieses Ausbleiben erklärt hätte. Franz hatte das in seiner barschen Weise für eine „beleidigende Delicatesse“ erklärt und dafür Sorge getragen, daß sich dieselbe nicht wiederhole. Er werde seinen Gast todt oder lebendig an die Tafel liefern, versicherte er, und so war denn diesmal die ohnehin schon ansehnlich vergrößerte Tafelrunde wieder voll.

Dennoch herrschte heute nicht der reine, behagliche Ton, der sonst diese Mahlzeit immer zu einem kleinen Familienfeste machte. Meinhard, der nicht seinen gewohnten Platz, sondern den zwischen der Hausfrau und ihrer Mutter angewiesen erhalten, wurde fast ganz von der letzteren in Anspruch genommen und warf nur zuweilen forschende Blicke zu Hilda hinüber. Zu andrer Zeit das belebende Element, schwieg sie heute, war zerstreut, ja manchmal völlig abwesend. Frau von Reinach gehörte gleich ihrem Gatten nicht zu der redseligen Menschensorte, und so wurde denn die Unterhaltung hauptsächlich von Edwin geführt, mit dem sich übrigens Mimi ganz gern in die Kosten derselben zu theilen schien.

Die beiden jungen Leute wußten sich auch, als man nach Tisch im Salon den Kaffee trank, zu isoliren. Eines jener kleinen Kinderbillards, auf dem Glaskugeln die Elfenbeinbälle ersetzen, bot die günstigste Gelegenheit dazu, und als nachher Meinhard von dem Hausherrn um seine Meinung über eine projectirte Vergrößerung des Stalles befragt wurde und sich die beiden Schwägerinnen den Herren anschlossen, um die Frage an Ort und Stelle zu erörtern, da dachte Mimi gar nicht daran, gleichfalls mitzugehen, obwohl neben dem Ponygespann auch für zwei neue Reitpferde Unterkunft geschaffen werden sollte, von denen eines von der Stiefmutter zum Geschenk für sie bestimmt war.

„Glauben Sie, daß ich schwer reiten lernen werde?“ hatte sie ihren Mitspieler gefragt. „Ich habe solche Passion dafür, aber auch ein wenig Furcht.“

„Wirkliche Lust und Neigung überwindet alle Hindernisse.“

„Sind Sie davon überzeugt?“ Sie sah ihn dabei ein wenig sinnend an, das schalkhafte Lächeln aber siegte. „Dann muß die Neigung wohl noch nicht recht im Spiele bei Ihnen gewesen sein; denn Ihre Mama meint, Sie schreckten so leicht vor jedem Hindernisse zurück.“

„Es kommt einzig und allein auf das Ziel an, das zu erreichen ist. Stellen Sie mir einmal eine Aufgabe!“

„O, ich!“ lachte sie leise und wandte sich, um seinem feurig sprechenden Blicke nicht begegnen zu müssen, zu einem Spieltischchen in der Fensternische. Flink begann sie die Karten zu mischen und schob Edwin, der seinen Queue gleichfalls fortgelegt, ein zweites Paket zu.

Sie hatten sich einander gegenüber gesetzt, und zwar Edwin mit dem Rücken gegen das Sopha, in welchem seine Mutter, ihr Hündchen auf dem Schoße, zwischen Schlafen und Wachen nickte. Die Karten flogen von beiden Seiten in einer gewissen Reihenfolge auf einander.

„Ich werde mit den meinen früher fertig sein,“ triumphirte die Kleine. Sie wußte selbst nicht, warum sie am liebsten in einem fort gelacht hätte. „Da sehen Sie, wie es sich mit der [90] Aufgabe verhält, Ihre Neigung macht Sie nicht einmal geschickter in dem Spiele, das Sie doch versprachen mir zu lehren.“

„Es ist ja eben meine Neigung, die mich ungeschickt macht.“

„Wie wäre das möglich? Rasch geben Sie doch zu!“

„Weil sie nicht den Karten gilt. Was kann ich dafür, wenn ich stets von diesen langweiligen Karten fort und anderswohin sehen muß?“

„Da haben Sie schon wieder vergeben. Wenn Sie nicht aufmerken –!“

„Ich merke viel lieber auf diese rosigen Händchen –“

„Ach, meine Hände sind so häßlich – das weiß ich recht gut. Es ist nicht recht, daß Sie spotten.“

Und ihre Karten fallen lassend, verbarg sie das verleumdete Paar rasch unter dem Tische.

„Nun, ich will nicht widersprechen,“ ergab er sich mit erkünsteltem Ernste, „aber Sie tragen selbst die Schuld – warum vernachlässigen Sie dieselben so? Immer sitzt ein Tintenfleck daran.“

„Das ist nicht wahr,“ rief sie feuerroth werdend und streckte ebenso rasch, wie sie sie verborgen, die kleinen Hände wieder vor.

„Zeigen Sie mir einen!“

„Da, da!“ Er beugte sich vor, wie um besser zu sehen und im Nu hatte er einen Kuß auf die Fingerspitzen gedrückt.

„Ah, das ist nicht erlaubt!“

„Um so besser! Ich übe mich im Besiegen von Hindernissen.“

„Ich dulde es aber nicht. Das ist ein tückischer Ueberfall.“

„Nicht so laut, sonst wecken Sie Mama und Fips!“

„Ich werde sie zu Hülfe rufen, wenn Sie meine Hände nicht loslassen. Pfui, ich bin böse.“

„Aber doch nicht ernstlich? Bitte, bitte! Versprechen Sie mir ein kleines Lösegeld für die Gefangenen?“

„Horch!“ Wie im Schreck war sie aufgefahren. Edwin horchte auf und hielt ihre Hände für einen Moment loser in den seinigen. Diese Gelegenheit klug benutzend befreite sich die schlaue Kleine vollends aus der Gewalt des Ueberlisteten. „Ich habe keine kleine Münze bei mir, aber zu Weihnachten sollen Sie einen Federwischer erhalten,“ rief sie triumphirend und huschte lachend davon.

„Ausbruch aus dem Gefängnisse! Das verschärft nur die Strafe,“ meinte Edwin.

Eifrig wollte er dem muthwilligen Kinde folgen, doch ehe er noch die Glasthür erreicht hatte, die auf den Rasengrund des kleinen Parkes hinausführte, rief die Stimme der Mutter:

„Edwin, Edwin!“

„Ich dächte, Du hättest geschlafen, Mutter,“ murrte er ein wenig übellaunig.

„Eine zärtliche Mutter wacht immer, wo es das Glück ihrer Kinder gilt, lieber Edwin.“

„Das muß eine recht aufreibende Beschäftigung sein. Wolltest Du die Sorge nicht mir überlassen, Mama?“

„Ich will Dir im Gegentheile jede Sorge fernhalten, weil ich erfahren habe, was Sorge ist. Du solltest mir im Herzen dankbar dafür sein.“

„Nun ja, wodurch muß ich meine Dankbarkeit beweisen? Befiehl! Dich auf meinen Schultern in Deine Wohnung hinauftragen? Fips durch den Reif springen lehren oder für ihn Zucker vom Kaffeetische unterschlagen und ihn damit zu Tode füttern?“

„Deine Tollheiten auf ein paar Minuten lassen und Dich auf ein vernünftiges Wort hier an meine Seite setzen.“

„Ich sitze. Mein Theil wäre gethan – das andere hängt nicht von mir ab.“

Frau Rohrwek ging über die Anzüglichkeit ihres Sohnes schweigend hinweg, war sie doch von ihrem Lieblinge durch besonders respektvolles Benehmen nicht verwöhnt. Ihr genügte der Anschein von Gehorsam, und sie hielt die Gelegenheit fest, ihre schwankende Autorität wieder zu befestigen.

„Denkst Du denn gar nicht ein Bischen nach?“ begann sie. „Was soll diese Neckerei und dieses ewige Herumspielen und Tollen mit dem kleinen Mädchen?“

„Ich unterhalte mich eben dabei.“

„Aber wohin soll das führen? frage ich.“

„Mama, da machst Du Dir wirklich recht unnöthige Mühe. Sieh, ich frage nicht und denke nicht daran.“

„Aber die Kleine denkt daran. Sie ist eine schlaue Kokette und giebt sich alle Mühe, Dich zu fangen. Glaube mir, ich weiß das zu unterscheiden. Du bist ein schöner Mann, ein Mann von Geist, von Adel – –“

„Aber, Mama, Du schmeichelst mir. Weißt Du, das dürfen Eltern ihren Kindern gegenüber nie thun; es ist eine fehlerhafte Erziehungsmethode. Nicht daß ich von meinem eigenen Werthe im Allgemeinen zu gering dächte –“ er sagte das mit einer Mischung von Humor und Selbstgefälligkeit, während er seinen zierlichen Schnurrbart zwischen den Fingerspitzen durchlaufen ließ. „Ich weiß meine persönlichen Eigenschaften wohl zu schätzen. Du solltest nicht beitragen, meine Eitelkeit zu erhöhen, da ich schon so ziemlich das Bewußtsein einer unerreichbaren Vollkommenheit in mir trage.“

„Und mit Recht,“ sagte die Mutter stolz und betrachtete ihn mit verzückten Blicken. „Aber eben deshalb darfst Du auch Ansprüche stellen; die Welt ist Dir eine Entschädigung schuldig –“

„Für das nicht vorhandene Erbe meines Vaters.“

„Du bist ein Herr von Tonner –“

„Zu meinem Bedauern – als Edwin Rohrwek würde ich das Vermögen meiner Schwester theilen – nicht daß ich es ihr nicht gönne –“

„Du darfst es ihr auch gönnen; es liegt ja ganz an Dir, Dich in dieselbe Lage zu versetzen. Du brauchst blos die Hand auszustrecken.“

Es schien fast, als beabsichtige er dem Rathe sofort zu folgen, wenigstens hob er die Hand und beugte sich horchend vor. Man vernahm aus der Ferne die Töne des Claviers.

„Siehst Du, und Hilda ist nicht etwa weiter nichts als ein wohlhabendes Mädchen, ein Mädchen, das außer ihrem Baarvermögen nichts besäße – sie hat auch Bildung und Talente. Und wie hübsch sie wieder spielt, viel hübscher als die Kleine!“

Edwin hütete sich wohl, die Mutter aus ihrem Irrthume zu reißen und ihr zu sagen, wer diese schottische Polka, die seine eigene Composition war, ihm abgelernt hatte.

Wie elektrisirt hob er sich nach dem Tacte und summte dazu in rascher Improvisation:

„Komm’ doch, komm’ doch, nimm mich gefangen!
Komm’ doch, komm doch, straf’ mich recht hart!“

„Und dann –“ fuhr Frau Rohrwek fort, „Ihr Männer habt zwar in Geschmackssachen Eure eignen Ansichten, aber ich glaube doch auch ein Bischen Urtheil darüber zu haben, was Frauenschönheit ist. Man hat mir in meiner Jugend zu oft aus einander gesetzt, was man an mir bewundert, und dann ist man ja auch nicht blind für seine eigenen Vorzüge – da ist der Spiegel – und man stellt so ein wenig seine Vergleiche an. Ich will nicht sagen, daß Hilda ganz meinem Ideale entspreche; dazu ist sie nicht groß und voll genug; sie erreicht Deine Schwester nicht, die ein Bild von mir ist, wie ich in meiner Jugend war, aber was wahr ist, muß man Hilda doch lassen: gut gewachsen ist sie, und ihr Teint – nun, so was wird nicht leicht zu finden sein – wie Alabaster; man könnte glauben, sie wäre erst heute achtzehn Jahre alt geworden und was nun gar ihre Augen betrifft – –!“

„Ja, Du hast Recht,“ erwärmte sich nun auch Edwin an dieser begeisterten Schilderung. „Ihre Augen könnten es einem wirklich anthun. Nixenaugen, hell und klar wie Wasser, meint man zuerst zu sehen, und dann ist’s, als ob man untertauche, immer tiefer und tiefer – wie in eine unergründliche, goldig schimmernde Dämmerung.“

„Nun also!“ rief die Matrone erfreut. „Du solltest ihr das doch in einem Deiner Gedichte sagen. Du dichtest so schön. Das ist unwiderstehlich! Probire es doch nur!“

„Das ist es ja eben,“ entgegnete er bedenklich. „Für ein Gedicht kann es keinen glücklicheren Vorwurf geben, aber man kann ja nicht in einemfort dichten, und so für’s Leben – – Sie ist mir doch eigentlich zu edel, zu ruhig, zu erhaben, zu – zu frauenhaft, möchte ich sagen. Ich bewundere diese hohe Weiblichkeit, aber ich amusire mich doch viel mehr mit einem lustig bewimpelten kleinen Kahn als mit einem stolz dahinsegelnden Linienschiffe. Ich liebe das Niedliche, das Pikante, siehst Du, das Prickelnde, den Champagner – das ist etwas ganz Anderes.“

„Ja, aber gerade der Champagner gehört nicht zu den Genüssen, die man an jedem ländlichen Röhrbrunnen haben kann.“

„Du sprichst wie ein Buch, Mama,“ seufzte er.

„Und um Dir ein Beispiel zu geben: wenn ich das nicht bedacht hätte, als die Frage an mich herantrat, so wäre ich – so [91] hättest Du,“ verbesserte sie sich schnell, „eine traurige Jugend gehabt und nicht die Erziehung genossen, die ich Dir verschaffen konnte, indem ich weniger auf die Stimme des Herzens als auf die des Verstandes hörte und mich entschloß, in eine niedere Region herabzusteigen. Ich will nicht sagen, daß mein zweiter Gatte nicht einer ganz guten alten Partricier –“

„‚Patricierfamilie‘ heißt es, Mama, aber, bitte, laß den seligen quiescirten Bäckermeister diesmal ruhig in seinem Grabe bis zur nächsten Citation – bei mir verfehlt sie ja doch den Eindruck.“

Frau Rohrwek räusperte sich und fuhr sich mit dem Tuche über die Augen – sie war ja gewohnt, ihre Gemüthsbewegung an dieser Stelle ihrer Lieblingserzählung derartig anzudeuten – dann bequemte sie sich aber doch den pietätlosen Unterbrechungen und hielt sich an eine mehr praktische Begründung ihres Vorschlags.

„Du weißt, daß Rohrwek alles seiner Tochter vermacht hat, und daß mir nur die Nutznießung des Hauses in Schönau auf Lebenszeit verbleibt. So lange ich da bin, kann ich Dir unter die Arme greifen; ich werde von nun an den größten Theil des Jahres in Waltershofen bleiben, um zu sparen, aber wenn ich sterbe –“

„Aber, Mama! Solche Rühreffecte werden nicht geduldet.“

„Meine Krämpfe – ich kann von heut’ auf morgen –“

„All die Leiden los werden, Mama, wenn Du nur den Willen dazu hast. Erkläre Dich selbst für gesund! Nein, nicht weinen, Mama! Ich verspreche Dir, mein Möglichstes zu thun. Schnell die Thränen weg, ehe die Andern sie sehen!“

Er sprang auf und trat mit einem heiteren Wort den Zurückkehrenden entgegen. Franz war noch in eifrigen Erläuterungen seiner Pläne begriffen, und Meinhard hörte ihm aufmerksam zu, die Damen aber hatten sich längst aus dem gar zu tief in’s Technische gerathenen Gespräche gezogen.

„Du hier, Mama?“ fragte die junge Frau erstaunt, „ich vermuthete Dich zu Deiner gewohnten Siesta auf Deinem Zimmer.“

„Ach, das Treppensteigen! Es strengt mich wirklich zu sehr an. Für eine alte Frau ist das eine zu harte Zumuthung.“

„Dann hättest Du mein Anerbieten annehmen sollen, als ich mich als Sänftenträger verdingen wollte,“ scherzte Edwin, doch Franz, der die Bemerkung seiner Schwiegermutter nicht überhört hatte, unterbrach seine an Meinhard gerichteten Auseinandersetzungen und trat mit einer Entschuldigung zu Frau Rohrwek.

So konnte sich Meinhard endlich Hilda nähern, welche damit beschäftigt war, um einige kaum erblühte Herbstrosen einen Seidenfaden zu schlingen. Edwin hatte sie eben gefragt, für welchen Glücklichen die Göttin Flora denn ihre heiteren Kinder bestimmt habe, und von Hilda’s sanft lächelnden Lippen die Antwort erhalten, sie habe von der Himmlischen darüber keine bestimmte Anweisung erhalten; darauf nannte er sie in einem nicht viel originelleren Complimente grausam, weil sie ihre eigenen Schwestern fessele, und rief schließlich Meinhard zum Zeugen der Richtigkeit des ebenso ruhig abgewiesenen Vergleiches auf.

„Ich finde ihn vollkommen – unzutreffend,“ erklärte Meinhard mit einer ihm sonst fremden Schroffheit. „Diese Rosen sind frisch; Sie selbst nannten sie heitere Kinder Flora’s, Eigenschaften, die ich bei Fräulein Hilda heute vermisse.“

„Wie ungalant!“ entsetzte sich Edwin. Hilda dagegen schien diese Aufrichtigkeit durchaus nicht übel zu nehmen. Sie wehrte sich dagegen nicht, wie gegen die Schmeichelei Edwin’s, und hob ihren Blick ernst zu dem alten Freunde empor, der in ihren Augen aufmerksam zu lesen suchte.

„Sind Sie krank?“ fragte er.

„Ich will Ihnen sagen, Onkel Meinhard, was Tantchen hat,“ machte sich Mimi, die ihre Polka abgebrochen hatte, plötzlich lachend in die Unterhaltung. „Sie ist müde, weil sie nicht ausgeschlafen hat.“

„Mimi!“

„O, ich lasse mir den Mund nicht verbieten, Tantchen. Vertraut man mir etwas, schweige ich. Aber mache ich meine Entdeckungen, kann ich verrathen, so viel ich will. O, ich habe es heute früh ganz genau gehört, wie es in Deinem Schlafzimmer huschte und raschelte. Es war noch ganz dämmerig, ich denke nicht einmal halb Sechs, und im ersten Moment hatte ich solche Furcht, daß ich mit dem Kopfe schnell wieder unter die Decke fuhr. Ich fürchte mich nicht vor Gespenstern – aber es war zu unheimlich; dann habe ich mich doch besonnen, und als ich zu Dir hinüberschlich, da fand ich Dein Bett leer und das Schränkchen, in welchem Du Deine Hausapotheke hast – offen. Siehst Du, Tantchen, so kommt man hinter Deine Geheimnisse!“ Sie umschlang Hilda und legte ihr das Kinn auf die Schulter. „Aber es ist kein Wunder: wenn man so früh aufsteht, ist man den ganzen Tag schläfrig. Ich – ich habe dann bis zum Frühstück noch prächtig geträumt. O, so prächtig!“

Es blieb unentschieden, ob der Kuß, den sie flüchtig auf Hilda’s Wange drückte, mit dieser abgebrochenen Schilderung in Zusammenhang stand oder nur eine Abbitte für die Indiscretion sein sollte, die eine tiefere Verlegenheit hervorgerufen hatte, als der kleine Schalk hätte voraus sagen können.

Hilda war wie vom Schreck gelähmt. Zum Glück war der Farbenwechsel auf ihren Wangen Allen entgangen, außer der jungen Frau, und diese deutete die Zeichen anders.

„Du schämst Dich doch nicht Deines Samariterganges?“ sagte sie freundlich. „Wir sind es, die Du beschämst. Du mußt mich in Zukunft an Deinen Krankenbesuchen theilnehmen lassen.“

„Ist die alte Kolbenhäuslerin wieder bettlägerig geworden?“ fragte der Hausherr, aber es war Hilda unmöglich, zu antworten. Nun entspann sich eine Erörterung der Frage des Laienbesuchs in Lazarethen oder in den Hütten der Armuth, welche den Fall in’s Allgemeine zog. Herr von Reinach bestritt den Nutzen solchen Eindrängens in eine fremde Sphäre, in die man nur Störung bringe. Dagegen trat Edwin als Vertheidiger Hilda’s auf, die sich selbst nicht an der Debatte betheiligte. Er führte alsbald das große Wort wie immer.

„Gern will ich zugeben,“ fuhr er fort zu reden, „daß da die Individualität nicht übersehen werden darf; oft ist es ein rein körperlicher Widerwille, der gerade manche feiner organisirte Natur für solche Annäherung an die Häßlichleit des menschlichen Gebrechens unfähig macht – denn häßlich ist es – sage selbst, Franz! – und auch die Damen werden es sicherlich zugeben.“

„Man könnte vielleicht –“ warf Meinhard ein, brach aber sofort kurz ab, da Edwin bereits wieder fortfuhr:

„Ein hohes Verdienst,“ sagte er, „gewiß! ein unschätzbares Verdienst – die Privatkrankenpflege! Es giebt noch viel des Elends in der Welt, und schön muß es sein, als ein Bote des Erbarmens und der Liebe an den verwahrlosten Stätten des Unglücks einzukehren. Sagen Sie selbst, Herr Statthaltereirath, ob das nicht eine beseligende Empfindung sein muß! Wer empfände den edlen Drang nicht in sich selbst! Glücklich, wer ihm ungehindert folgen darf! Aber Sie antworten ja gar nicht! Ich glaube, Sie wollten etwas einwenden.“

„Nicht doch!“ entgegnete Meinhard ruhig, aber verstimmt. „Ich möchte höchstens bemerken, daß man nur fragen soll, wenn man auch die Antwort zu hören geneigt ist.“

„Das ist auch meine Ansicht. Man soll die fremde Ueberzeugung anhören, um sich ihr zu beugen oder sie zu widerlegen.“

„O, man kann sie auch überschreien; das ist in unserer Zeit sogar ein sehr probates Mittel,“ versetzte Meinhard, diesmal in leichterem, mehr scherzhaft–ironischem Tone. Aber dies verwischte nicht ganz den Eindruck seiner früheren Worte. – –

„Sind Sie nicht ein Bischen ungerecht gewesen?“ fragte ihn später Hilda. Die scharfe Zurechtweisung Edwin’s hatte in dem kleinen Kreise ein momentanes Verstummen herbeigeführt, über das erst der Hausherr wieder hinweghalf.




6.

Frühzeitiger, als der alte Sonntagsbrauch feststellte, kam es zur Verabschiedung. Meinhard schützte Arbeit vor, und da er zu Fuß zur Stadt zurückkehren wollte und der Abend schön war, erbot sich Franz ihn zu begleiten; auch die Andern schlossen sich auf seine Aufforderung an; nur seine Frau blieb diesmal bei ihrer Mutter zurück. Da er ihr aber noch etwas zu sagen hatte, zögerte er ein wenig mit Edwin und Mimi, die ihn am Thore erwarteten, während Hilda, in ihren Capuchon gehüllt, mit Meinhard vorausgegangen war.

Sie waren schon eine ganze Weile in dem stillen Abenddunkel dahingeschritten, die zarte Sichel des Mondes wie einen freundlichen Begleiter zur Seite, als Meinhard die auf seinem Arme ruhende kleine Hand faßte und, statt das zuvor entschlummerte Gespräch wieder aufzunehmen, sich näher zu Hilda herabneigte und fragte, was ihr sei.

[92] „Soll auch ich glauben, daß es nur ein Bischen Frühaufstehen ist, ein Bischen Schläfrigkeit und weiter nichts?“

Er fühlte wohl ein leises Zucken der Finger, die er festhielt, die Entgegnung aber klang ganz ruhig und fast ungeduldig: „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Ich habe es Ihnen schon früher gesagt,“ erwiderte Meinhard, „ich vermisse an Ihnen die gewohnte Frische und Heiterkeit. Sie sind anders als sonst; das ist mir nicht erst heute aufgefallen, nur heute mehr als in den letzten Tagen. Sie sind matt und doch unruhig, wie in heimlicher Aufregung; Sie sind ernst und von einem Gedanken ganz hingenommen. Glauben Sie, daß mir, der ich der Vertraute Ihrer Seele bin und in ihr zu lesen meine, wie in der eigenen – glauben Sie, daß mir solche Zeichen entgehen? Es bedrückt Sie etwas, Hilda.“

„Es ist nichts,“ flüsterte sie, aber jedes Wort des Freundes ließ sie im Innersten erbeben. Es war ihr, als stünde ihr Geheimniß in großen Buchstaben auf ihrer Stirn geschrieben – und noch war nichts gethan, der drohenden Entdeckung zu begegnen. Der arme Kranke lag noch immer im Jägerhause; sein Fuß genas zwar, aber die Besorgniß erregende Schwäche und Mattigkeit wollte nicht schwinden, und Schöpf’s Ueberwachung – wenn auch, wie er cynisch erklärte, im gemeinsamen Interesse und zu gemeinsamer Sicherheit ebenso nach außen, als nach innen gerichtet – vermochte Hilda nicht zu beruhigen.

Immer wieder in dieser Bedrängniß war ihr Geist zu Meinhard zurückgekehrt. Es schien ihr unsäglich hart, gerade diesmal die bange Frage nach seiner Ansicht zurückzuhalten. Das hatte ihr alle Sicherheit, Meinhard gegenüber, geraubt. Instinctiv suchte sie seine Nähe, um ihm dann wieder erschrocken auszuweichen. Ihr war, als müsse sie sich an seiner Hand halten, und jetzt wurde sie ihr ja auch geboten voll Herzlichkeit und zarter Theilnahme – und doch durfte sie dieselbe nicht ergreifen; denn was konnte diese Hand ihr bieten? Statt Rettung nur Verderben! Sie sah in dem besorgt prüfenden, treuen Auge des Freundes nur den mißtrauischen Forscherblick des Staatsbeamten.

„Warum wollen Sie mich täuschen?“ fragte Meinhard warm. „Es sieht Ihrem tapferen Herzen ganz ähnlich, das, was Sie bedrückt, allein tragen zu wollen, aber werden Sie das auf die Dauer vermögen, Hilda?“

Sie schwieg. Ein sanfter Wind hatte sich erhoben und strich leise durch den Jungwald, der an der einen Seite des Weges hinlief. Das Flüstern des Windes klang wie ein stöhnendes: „Du verräthst mich, Du verräthst mich, Schwester!“

Und dort – dort – stand dort drüben an der linken Seite der Straße nicht eine derbe, untersetzte Gestalt, wie plötzlich aus dem sumpfigen Graben aufgetaucht, und winkte sie nicht mit drohend emporgestreckten Armen ihr zu? War das nicht Schöpf? Hatte man sie hier erwartet? Aber was wollte er nur? Ein paar Schritte weiter – und das breite, freche Gesicht, das sie zu sehen gewähnt, zerrann. Nichts blieb von der unheimlichen Erscheinung, als ein knorpeliger Weidenstamm; sie eilte scheu daran vorüber, und ihr Herz pochte so stark, daß es ihr war, als müßte ihr Begleiter es schlagen hören. Und doch zog sie die Hand nicht von seinem stützenden Arm; nein, ja eben erst hatte sie in unwillkürlicher Angst sich noch dichter an den schützenden Mann gelehnt.

„Sehen Sie,“ sägte Meinhard, der diese Bewegung falsch gedeutet hatte, „es ist also doch, wie ich es mir gedacht. Ihre Stellung im Hause hat sich verändert. Das mußte so kommen, aber es hat Sie nun doch unvorbereitet getroffen. Sie fühlen sich zur Seite geschoben, beinahe – überflüssig. Ist es das, Hilda?“

Sie blieb auch diesmal die Antwort schuldig.

„Sollten Sie wirklich darüber noch nicht nachgedacht haben?“ fuhr er fort. „Ich habe bemerkt, wie alles in Waltershofen auf einen anderen Fuß gestellt wird, der wohl den neuen Verhältnissen entsprechen mag, mit dem Sie sich aber in Ihren bescheidenen Gewohnheiten schwer abfinden werden. Was mir auffiel, kann Ihnen ja nicht entgangen sein. Sie haben bisher ein so schönes einfaches und thätiges Familienleben geführt, daß ich mir nicht denken kann, Sie fühlten den Unterschied gar nicht. Es ist nur ein Zeichen von bewundernswerther Selbstbeherrschung, wenn Sie sich darüber bisher noch nicht geäußert haben. Darf auch ich nicht in Ihre Gedanken eingeweiht werden, Hilda? Habe ich je Ihr Vertrauen mißbraucht?“

Ein Druck ihrer Hand brachte ihn zu lebhafterem Sprechen.

„Haben Sie noch keinen Blick in die Zukunft gethan?“ fragte er mit dem Tone innerlichster Bewegung. „Werden Sie sich jemals daran gewöhnen können, in dem Hause, das Sie bisher geleitet, blos zuzusehen, nicht selbst einzugreifen, wo es Ihnen noth dünkt? Ihre thätige Natur muß sich regen. Sie werden daran denken müssen, sich einen Wirkungskreis zu schaffen, Hilda. Vielleicht wissen Sie es selbst nicht, daß Sie nur glücklich sein können, wo Sie glücklich machen. Unmöglich können Sie einzig und allein als barmherzige Schwester den ganzen Fonds von Liebe verbrauchen, aus dem Sie bisher für das Glück Anderer schöpften. Ich bin heute, als über die Krankenpflege disputirt wurde, nicht dazu gekommen, auszusprechen, was ich hierüber denke, aber ich möchte Sie fragen, ob die Krankenpflege das ganze Dasein einer geistig regen Frau auszufüllen vermag, den einen Fall ausgenommen, wo all die Opfer an Selbstverleugnung gar keine Opfer mehr sind, weil sie einem theuren Angehörigen, einem Gatten, einem Kinde, einem Bruder gebracht werden –“

Ihre Hand schlüpfte aus der seinen. So wußte er doch –?

(Fortsetzung folgt.




Am alten Schloß.

Jung trag’ ich es noch in den Sinnen,
0 Ob grau mir der Bart auch sproß –
Mit Brücken und Erkern und Zinnen
0 Das gartenumduftete Schloß.

In den Hallen die Wappenschilder,
0 In den Sälen manch prunkender Schrein,
Der Satyr, die Götterbilder
0 Im quellendurchrieselten Hain!

Wo Sphinx und Marmorsibylle
0 Sich spiegeln am rauschenden Wehr,
Da kam in des Abends Hülle
0 Mein schlankes Mädchen daher.

Ich wollte, ich’ wäre gestorben,
0 Als heiß mich ihr Odem umfloß – –
Mein Mädchen, das ist verdorben;
0 In Trümmern liegt das Schloß.

Und Satyr und Sphinx und Sibylle
0 Umwuchert nun Epheu und Moos;
Darüber schläft heimliche Stille,
0 Schwermüthig und schweigend und groß.

Die rieselnden Quellen verronnen,
0 Verödet der Gärten Kranz –
Im Hofe der gothische Bronnen
0 Verlernte sein Plätschern ganz.

Ein Dornbusch steht daneben;
0 Dran hangen, so weiß wie Schnee,
Unter knospenden Rankengeweben
0 Die wilden Rosen wie eh’.

Ich pflück’ aus dem Knospengetriebe
0 Eine Rose vom schwanken Zweig –
Die blickt, wie die todte Liebe,
0 So weh mich an und so bleich.

Mich faßt ein unendliches Trauern,
0 Daß Jugend und Liebe vorbei –
Hoch über zerborstenen Mauern
0 Durchschreit’ ich die öde Bastei.

Da rauscht aus den Mauerringen
0 Ein Adler über das Land
Und schüttet den Schutt aus den Schwingen
0 Auf die Rose in meiner Hand.

 Ernst Ziel.




[93]

Altes Schloß. Nach dem Oelgemälde von Professor W. Schuch.

[94]

Zum Abbruch verurtheilt!

Ein letzter Besuch im Kerker von Newgate.
Londoner Skizze von Leopold Katscher.
(Schluß.)

Unsern Gang durch das Gefängniß fortsetzend, erlangen wir endlich Zutritt in den Zellenraum, in welchem die Häftlinge den Schlußverhandlungen und der damit verbundenen Freisprechung oder Verurtheilung entgegen sehen. Dieser Raum besteht aus drei Stockwerken und enthält alle Zellen, die es in Newgate giebt, etwa zweihundert. Jede Zelle ist sechs Schritt lang und zwei Schritt breit, und in der oberen Hälfte der der Thür gegenüberliegenden Wand befindet sich ein vergittertes Fenster, das Licht und Luft spendet; unter demselben stehen das Waschbecken und ein Gefäß zum Ausleeren des unreinen Wassers nach dem Waschen. Neben der Thür sehen wir ein Gestell, auf dem das Eßgeschirr, das Bettzeug und einige Bücher frommer Natur Platz finden. Der Häftling darf lesen, was er will, auch schreiben und sonstige Arbeiten verrichten, falls dabei keine Stich-, Hieb- oder Schneidewerkzeuge zur Verwendung kommen, also nichts, was zum Selbstmord reizen könnte. In keiner Zelle darf länger als bis acht Uhr Abends Licht sein; denn die Gefängnißdisciplin erfordert, daß zu dieser Stunde jeder Häftling sich schlafen lege; zu diesem Behufe breitet er das übrigens recht warme Bettzeug über die Breitseite der Zelle in der Nähe der Thür auf die Erde, von der er sich um sechs Uhr Morgens wieder erhebt. Ein Tischchen, ein Stuhl ohne Lehne, ein Thermometer und ein Glockenzug vervollständigen die Einrichtung der Zelle.

Es steht dem Gefangenen frei, von zehn bis zwölf Uhr Vormittags und von zwei bis vier Uhr Nachmittags auf dem Spazierhofe zu promeniren.

Wird ein Gefangener eingebracht, so muß er vor Allem ein Bad nehmen, und er hat die Wahl zwischen kalt und warm. Während des Bades untersucht ein Wärter seine Kleider, nimmt aus denselben alles Reglementswidrige heraus und trägt sie dann in eine der zu ebener Erde belegenen Zellen, in der der Ankömmling bleibt, bis ihn der Hausarzt am nächsten Morgen untersucht; ist er krank, so kommt er in’s Hospital, andernfalls in eine Zelle der oberen Stockwerke, und dort bleibt er, bis er entweder freigesprochen oder verurtheilt wird. Führt er sich gut auf, so hat er sich nicht mehr wie einst über schlechte Behandlung zu beklagen, auch nicht über Mangel an Licht und Reinlichkeit. Die Zellen machen, wie das ganze Innere dieses Gebäudes, den Eindruck der Freundlichkeit und strengsten Reinlichkeit. Beträgt er sich widersetzlich, so können verschiedene Disciplinarstrafen über ihn verhängt werden; in der Regel entzieht man ihm die Gefängnißkost und reicht ihm nur Wasser und Brod, oder man verkleinert ihm seine Portionen. In manchen Fällen schließt man ihn in Eisen; doch darf der Gouverneur dies nur auf einen Tag thun; für eine längere Fesselung bedarf er eines schriftlichen Befehles des Untersuchungsrichters des Betreffenden. Die härteste Strafe ist das Einsperren in eine dunkle Zelle, doch kommt dieselbe, wie man uns mittheilte, seit vielen Jahren fast nie mehr zur Anwendung, und so benützt man denn die Vorhalle des Dunkelzellenraumes einstweilen als Tischlerwerkstätte.

Wer bei einer Schlußverhandlung zu einer Kerkerstrafe verurtheilt wird, den überführt man alsbald in eines der Strafgefängnisse Londons oder der Provinz. Wird aber ein Insasse von Newgate zum Tode verurtheilt, so weist man ihm sofort nach der Verhandlung eine der beiden „Condemned Cells“ (Zellen der zum Tode Verurtheilten) an, wo er die Zeit bis zu seiner Hinrichtung verbringt. Diese Zellen haben fast dieselbe Einrichtung wie die anderen; nur sind sie doppelt so groß und enthalten zwei Fenster, zwei Sitzbänke und ein hölzernes Bettgestell.

Seit 1868 finden die Hinrichtungen im Gebäude selbst statt. Die jetzige Generation erinnert sich noch der Scenen, zu denen die öffentlichen Hinrichtungen vor Schaffung des 1868er Gesetzes Anlaß gaben. Dieselben fanden auf dem Platze vor Old Baily am Montagmorgen statt. Sonntags um Mitternacht begann vor dem Richtplatz ein Pöbelhaufe sich zu versammeln – hauptsächlich das gefährliche Gesindel, das die schmutzigen, übelriechenden, verrufenen Seitengäßchen („slums“) bewohnt.

Die Menge schlenderte anfänglich lachend, jodelnd und scherzend umher und tummelte sich in den Schenken, welche die ganze Nacht hindurch offen blieben. Später kauerten die Weiber und Kinder sich in Winkeln und Thorwegen und auf Stiegen nieder, um ein wenig zu schlummern. Der rohe, gemeine, betrunkene Mob wuchs immer mehr an, und die Wirthe machten glänzende Geschäfte, indem sie in die oberen Fenster ihrer Häuser Sessel stellten und dieselben um zweiundeinhalb bis einundzwanzig Schilling an „feine Herrschaften“ vermietheten. Etwa um drei Uhr Morgens öffnete sich die Thür des Schuldengefängnisses, und die Basis des Gerüstes wurde auf Rädern in die Straße gefahren. Jetzt rissen sich die Schlummernden aus Morpheus’ Armen los und beobachteten mit den Uebrigen die Errichtung des Galgens. Während die Zimmerleute ihre Hämmer schwangen – die Insassen der condemned cells konnten es hören – wurden sie vom Volke gehänselt; dieses fluchte und schimpfte in fürchterlicher Weise und erging sich in den rohesten, gemeinsten Späßen. Endlich war der fertige Galgen in der Morgendämmerung deutlich zu erkennen – ein Gespenst bei anbrechendem Tage.

Bald ertönte im Glockenthurme der gegenüberliegenden Kirche zum „Heiligen Grabe“ Todtengeläute, und der Hausgeistliche erschien, von den Sheriffs, dem Henker, den Kerkermeistern und dem armen Sünder gefolgt, in der „Schuldenthür“. Die Zuschauermenge konnte den Gottesdienst hören, konnte bemerken, wie der Henker dem Delinquenten die Mütze über das Gesicht zog, konnte ihn aufknüpfen und sterben sehen. Schreckliche Neugierde!

Der Henker pflegte abergläubischen Zuschauern das benützte Seil nach der Hinrichtung um einen Schilling per Zoll zu verkaufen; aber er hatte Concurrenten, die in dem Gedränge umhergingen und falsche Galgenreliquien um einen Penny bis sechs Pence feilboten. Ein gewisser Catnach, der in dem berüchtigten Stadttheil Seven Dials wohnte, besoldete einen „Dichter“, der die Bekenntnisse und den Schwanengesang jedes Hinzurichtenden in Verse bringen mußte, die dann, mit einem rohen Holzschnitt des Galgens illustrirt, gedruckt und sofort nach dem Fallen des Seiles in Umlauf gesetzt und verkauft wurden.

Seit 1868 sind die Hinrichtungen glücklicher Weise nicht mehr öffentlich. Sie finden in einem Holzverschlage statt, der in einem Hofe von Newgate steht und in welchem der Galgen permanent aufgerichtet ist. Der Verschlag ist so klein, daß nur etwa zwanzig Personen darin Platz haben. Unser Führer theilte uns mit, daß er zu seinem Leidwesen jeder Justificirung beiwohnen müsse; außerdem müssen der Hausgeistliche und der Untersuchungsrichter des betreffenden Unglücklichen dabei sein, früher auch ein City-Sheriff. Während der traurigen Arbeit wird die obere Hälfte des Holzverschlages geöffnet, damit die Vertreter der Presse, welche noch immer Zutritt haben, den Vorgang beobachten können; leider bringen viele Blätter über jede Hinrichtung widerlich ausführliche Berichte.

Unter dem Galgen befindet sich eine aus zwei langen Brettern bestehende Fallthür, auf die der arme Sünder zu stehen kommt. Dieser wird mittels des von Wetherett erfundenen Riemens, den wir im „Fesseln-Museum“ gesehen haben, gebunden; sodann vollbringt der Henker sein kurzes, aber gräßliches Werk, und in demselben Augenblick wird ein Hebel in Bewegung gesetzt, der die Fallthür öffnet, durch die der Gehenkte mit gebrochenem Genick in die darunter befindliche Grube stürzt. Alsbald steigt ein Henkersknecht eine an der Seite des Galgens liegende Treppe hinab, legt die Leiche in einen mit Aetzkalk gefüllten Sarg und trägt denselben nach dem Begräbnißhofe, wo so viele „große“ Verbrecher den ewigen Schlaf schlafen.

Während der Hinrichtung – deren Zeit sich nach der Uhr der Kirche „Zum heiligen Grabe“ richtet – werden noch immer die Glocken dieses Gotteshauses geläutet, wahrscheinlich weil es das nächste ist. In früheren Zeiten, als die Todesstrafe noch in Tyburn vollzogen wurde, erhielt jeder Delinquent auf dem Wege nach dem Richtplatze in dieser Kirche einen Blumenstrauß. Um Mitternacht vor dem Hinrichtungsmorgen ging der Meßner der Kirche „Zum [95] heiligen Grabe“ um die Gefängnißmauern herum, seine Glocke läutend und dabei ein Lied singend, das in deutscher Uebersetzung etwa Folgendes besagt:

„Die Ihr in dem Haus der Verurtheilten seid,
Nun macht Euch für morgen zum Sterben bereit!
Und betet; denn nahe die Stunde ist,
In der vor der Allmacht erscheinen Ihr müßt!
Erforschet Eu’r Inn’res, bereuet bei Zeiten,
Daß die Höll’ Euch nicht fesselt für Ewigkeiten!
Wenn morgen die Glock’ uns’rer Kirche Euch Armen
Ertönt, habe Gott mit Euch Erbarmen!
Es hat zwölf geschlagen.“

Zu den Celebritäten im guten und schlechten Sinne, die in Newgate saßen, zählen die berühmten Dichter Crabbe, Wither und Sackville, welche hier wegen Schulden eingesperrt wurden, ferner William Penn, welcher wegen des Predigens auf der Straße eine Strafe verbüßte, sowie Daniel Defoe, der Verfasser des „Robinson Crusoe“, wegen der Herausgabe seiner Broschüre „The shortest way with dissenters“. Der populäre Räuber Jack Sheppard, den sowohl Defoe als auch der soeben verstorbene bekannte Belletrist William Harrison Ainsworth zum Helden von Romanen gemacht haben, gehörte gleichfalls zu den unfreiwilligen Einwohnern des düsteren Hauses am „Neuen Thor“.

Unser Rundgang ist beendet. Wir werden in das Vorzimmer zurückgeführt, müssen dort unseren Namen in das Buch der Besichtiger eintragen und treten durch das Bureau des Directors, der uns noch einige auf den Kerker bezügliche Aufschlüsse giebt, den Rückweg an. Wie uns der Gouverneur sagte, wird das Gebäude zwar vorläufig noch nicht niedergerissen, sondern soll vor der Hand die Bestimmung erhalten, die Gefangenen am Tage ihrer Schlußverhandlung aufzunehmen, aber es kann nicht mehr lange dauern, und das aus dem zwölften Jahrhundert stammende Gefängniß von Newgate wird der Vergangenheit angehören. Die Citywelt erwartet die Demolirung schon mit Ungeduld; denn auf dem Grund des berüchtigten Kerkers sollen Comptoire und Magazine errichtet werden, und Grund und Boden sind in der City bekanntlich gar kostbar.


Der Reis im deutschen Volkshaushalt.

Ein neues volksthümliches Gericht wäre heute unzweifelhaft eine Wohlthat; denn es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß in dem Maße, wie Bildung und Gesittung zunehmen, wie demgemäß das Nervenleben mehr in den Vordergrund tritt, Abwechselung in den Speisen zu den Erfordernissen eines wirklich guten Mittagstisches gehört – gerade wie Abwechselung der Beschäftigungen gesund und frisch und kräftig erhält.

Aus diesem Gesichtspunkt muß man es ansehen, nicht aber als eine Verdrängung der Kartoffeln oder irgend eines anderen hergebrachten Volksnahrungsmittels, wenn der Reis in der Volksküche neuerdings eine breitere Stelle einzunehmen trachtet als bisher. Die Kartoffel herrscht wohl vielerwärts thatsächlich auf dem Tische der Armen, aber doch nicht von Rechtswegen und für alle Zeit uneingeschränkt. An dem Alters-Maßstabe der Nationen gemessen, ist sie ja selber noch ein Emporkömmling; denn erst gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts brachte der berühmte englische Seefahrer Franz Drake sie von ihrer Heimath, den Höhenzügen des westlichen Süd-Amerika, nach Europa mit, und erst im Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts gelangte sie nach Deutschland, wo man sie keineswegs sofort zu würdigen wußte.

Die beiden großen preußischen Könige Friedrich Wilhelm der Erste und Friedrich der Zweite haben sich lange vergeblich bemüht, die Kartoffel in ihren Staaten allgemein einzuführen. Die Hungersnoth von 1745, die Theuerungen von 1771 und 1772 mußten ihnen dafür zu Hülfe komme. Seitdem freilich ist die Kartoffel in Deutschland wie anderswo zu einer Nahrungspflanze ersten Ranges geworden, und wenn eine mittellose Familie ihr Auge auf Grunderwerb richtet, so geschieht dies eigentlich nur, weil sie sich nach dem Anbau der Kartoffel sehnt. Heute noch ermöglicht in der deutschen Reichshauptstadt die Armenverwaltung einigen hundert oder tausend dürftigen Leuten, sich selbst Kartoffeln zu bauen, indem sie Land im Großen pachtet und im Kleinen etwas billiger wieder verpachtet.

Die Kartoffel lohnt den auf sie verwendeten Fleiß durch hohe Erträge und ist ein gutes Nahrungsmittel. Aber der Reis ist mindestens kein schlechteres. Wie würden sonst auch Hunderte von Millionen Menschen – man pflegt in Bausch und Bogen zu sagen: die Hälfte der lebenden Menschheit – hauptsächlich oder fast ausschließlich von Reis leben? Seiner Zusammensetzung[WS 1] nach hat er vor der Kartoffel voraus, daß er nur etwa ein Sechstel seines Gewichtes Wasser enthält, letztere aber drei Viertel. Von der Kartoffel kann der Mensch nach den sehr geschätzten Untersuchungen des Professor Voit im Physiologischen Institut zu München fast ein Zehntel nicht verwenden und scheidet es ungenützt wieder aus, vom Reis kaum ein Fünfundzwanzigstel. In dieser Hinsicht kommt Reis gleich nach dem Fleische und vor allen Bodenfrüchten. Er belästigt und spannt folglich die Verdauungskraft am wenigsten. Es giebt wohl Kartoffelbäuche, aber keine Reisbäuche. Die Massen von Reis, welche Chinesen und Hindus tagtäglich zu sich nehmen, erscheinen dem Europäer unglaublich, weil von keinem seiner heimischen Volksnahrungsmittel gleich große Beträge dem Nahrungswerthe nach fortgesetzt ohne Beeinträchtigung des Körpers genossen werden könnten. Denn das freilich ist eine Fabel, daß angestrengt arbeitende Völker oder Volksclassen irgendwo in der Welt sich mit geringer Nahrung kräftig und gesund erhielten. Sie leben auch vom Reis schwerlich irgendwo ganz allein: Fische, Bohnen oder Erbsen pflegen überall hinzuzukommen, aber der Reis kann wegen seiner ausgezeichneten Eignung für unsere Nahrungszwecke massenhafter ohne Schaden gegessen werden, als irgend ein anderes Erzeugniß des Pflanzenreiches.

Das gilt – wohlgemerkt! – vom Reis, aber darum noch nicht gerade von den Reisgerichten, welche bei uns in Deutschland hergebracht sind. Mit Milch, Zucker und Zimmt kann man ihn kaum alle Wochen, geschweige denn täglich essen; ebenso wenig mit Aepfeln oder Pflaumen gemischt. Diese Zuthaten sind es, welche bewirken, daß das Reisgericht bei allzu häufiger Wiederholung dem Geschmacke widersteht, die Verdauungsorgane angreift und für den schmaleren Beutel die Mahlzeit auch zu sehr vertheuert.

Im fernen Osten bereitet man den Reis ganz anders, einfacher, billiger, auf die Dauer zusagender und bekömmlicher zugleich. Man setzt ihn, wie Kartoffeln, lediglich mit Salz auf’s Feuer, und nach der ersten Viertelstunde läßt man ihn nicht in Wasser, sondern trocken in Wasserdämpfen garkochen. Dabei wird nicht ein weicher Brei aus ihm, wie wir ihn auf unserer Tafel zu sehen gewöhnt sind, sondern die Körner bleiben gesondert und ganz erhalten, werden nicht ausgelaugt und haben jenen kräftigeren, ich möchte sagen männlicheren und ernsteren Geschmack, der nicht so bald widersteht. Sie schmecken Einem dann, wie Brod und gute Kartoffeln, Tag für Tag. Man kann sie zu jeder Art von Fleisch als Zugabe essen, gerade wie dies gegenwärtig mit den Kartoffeln geschieht. Das specifisch orientalische Fleischgericht zum Reis ist Curry, ein Ragout von allen vorhandenen Resten Fleisch und Sauce, welches, mit etwas Curry-Paste oder -Pulver, einer feingeschnittenen Zwiebel und einer geriebenen, rohen Kartoffel angemacht, äußerst wohlschmeckend ist.

In unseren Seestädten ist dieses Gericht schon vielfach ein beliebter Table d’hôte-Gang geworden.

Wie man den zuerst mit Wasser angesetzten Reis nachher trocken weiter kocht, braucht Hausfrauen natürlich nicht erläutert zu werden. Es giebt dafür im Handel schon sogenannte Reiskocher, blaue Töpfe, in denen ein feines Sieb angebracht ist, auf welchem der Reis liegt, während darunter das Wasser sich in Dampf auflöst. Nach einer Stunde etwa wird das Sieb herausgehoben, das Wasser abgegossen und der Reis noch eine Weile zum Trocknen auf dem Herde gelassen.

Im Gegensatz zu den bei uns üblichen Reisgerichten wird der so zubereitete Reis anfänglich vielleicht dem verwöhnten Gaumen nüchtern und geschmacklos vorkommen, gerade wie Brod sich zu Kuchen verhält, oder Kartoffeln zu feineren Gemüsen. Aber bald wird man seine gesunde Wirkung spüren und ihn sich gern gefallen lassen. Wir haben dann ein stets und zu Allem passendes Gericht mehr. Die sparsam wirthschaftende Hausfrau weiß, was das [96] bedeutet. Sie wird es besonders in der ersten Hälfte des Kalenderjahres schätzen, wenn die Kartoffeln in ihrem Keller anfangen zu verderben oder auszugehen und neue entweder theuer zu kaufen oder ebenfalls nur in schlechter Qualität zu haben sind. Reis hingegen ist jahraus jahrein zu festem Preise in immer gleicher Güte vom nächsten Krämer (oder Consumverein) zu beziehen.

Er ist aber allerdings beim Krämer immer wohl noch ziemlich theuer. Dr. J.[WS 2] König in Münster, der „die Chemie der Nahrungs- und Genußmittel“ auf Grund sorgfältigen Studiums in zwei 1879 und 1880 erschienenen Bänden behandelt hat, setzt vierzig Pfennig für das Pfund als den Marktpreis seines Wohnortes an. Dabei behauptet die Kartoffel offenbar noch einen beträchtlichen Vorsprung; denn das Pfund wird in demselben Buche, von zeitlichen und örtlichen Preisschwankungen abgesehen, zu drei Pfennig Durchschnittspreis angesetzt. Allein ein Pfund Reis hat den vier- bis fünffachen Nährwerth eines Pfundes Kartoffeln, und im „Bremer Handelsblatte“ ist unlängst nach den Großhandelspreisen berechnet worden, daß es verzollt im Binnenlande kaum irgendwo mehr als fünfzehn oder sechszehn Pfennig zu kosten brauchte. Dann genügte schon eine geringe Erhöhung des Kartoffelpreises oder eine geringe Abnahme in dem Nährwerthe der Kartoffeln, um Reis ebenso wohlfeil zu machen.

Die Tabellen des Dr. König über den in Geld anzuschlagenden Nährwerth der verschiedenen gangbaren Lebensmittel belegen, was man sich ohnehin denken kann: daß der Preis eines Artikels im Kleinverkaufe sich seinem Preise im Groß- und Welthandel desto genauer anschmiegt, je regelmäßiger und massenhafter er gekauft wird, je mehr er zur Lebensnothdurft des Volks gehört. So lange er ein Ausnahmegericht bleibt, weicht der Preis, den die Haushaltungen zahlen müssen, oft weit von demjenigen ab, welchen der Krämer gezahlt hat, zumal wenn letzterer im Sinken ist. Das ist aber in ausgeprägter Weise beim Reis der Fall, und daher ist hier noch eine sehr umfassende Möglichkeit zu wohlfeilerer Lieferung in die Küche, sobald die Küche ihn nur erst häufiger, regelmäßiger begehrt.

Vor vierzig Jahren war Reis in Deutschland selbst noch für die wohlhabenderen Mittelklassen eine Art Luxusspeise. Man kannte kaum andere Sorten, als Carolina- und Java-Reis, die durchschnittlich fünfundzwanzig Mark der Centner kosteten.

Heute beträgt der Preis, für welchen geschälter Reis in Bremen im Großen zu kaufen ist, kaum noch zwei Drittel desjenigen Preises, der bei der ersten Einführung der billigeren Sorten Hinter-Indiens galt, nämlich rund ungefähr zehn Mark der Centner, und er ist noch fortwährend im Sinken. Die Einfuhr hat dabei gewaltig zugenommen, und was früher werthloser oder wenig werther Abfall war, wird jetzt hoch verkauft und kann kaum genug geliefert werden.

Amerika und England hatten schon geraume Zeit hindurch gelernt, aus Reis eine bessere Stärke zu gewinnen, als Weizen oder Kartoffeln geben können, ehe Deutschland ihnen darin nachfolgte. Auf der vierten Versammlung des Vereins deutscher Stärkefabrikanten, welche am 11. Februar 1870 zu Berlin stattfand, machte man sich bereits die Ueberlegenheit der Reisstärke klar: 100 Pfund derselben leisteten soviel wie 115 Pfund Weizenstärke; sie sei durch das bei ihr übliche Schlemmen sandfrei, worauf für die Appretur von Zeug außerordentlich viel ankomme; sie klebe nicht, wie Weizenstärke häufig. Nur der Preis war ihrer ausgedehnteren Benutzung damals noch im Wege; denn er betrug 11 Thaler für den Centner, während Weizenstärke 7 Thaler kostete. Die Versammlung sah indessen voraus, daß dies sich bald ändern werde, und sie hat sich darin nicht getäuscht. In Deutschland, wie in Frankreich und Belgien nehmen die großen Reisstärkefabriken seit einigen Jahren rasch zu. Ihr Bedarf an Bruchreis kann von den Reisschälmühlen kaum noch gedeckt werden, sodaß sie schon öfter zu dem werthvolleren und für sie eigentlich nicht nöthigen Stückreis gegriffen haben.

Noch eine andere Verwerthung für den Abfall der Reisschälmühlen hat sich herausgestellt in dem Futtermehl, das aus der sogenannten Silberhaut, welche unter der Hülse steckt und beim Schälen beseitigt wird, entsteht. Chemische Untersuchungen, darunter namentlich die des Dr. M. Fleischer, von der Versuchsstation der Central-Moor-Commission in Bremen, haben den Landwirthen für gewisse Sorten dieses Futterstoffes eine Bürgschaft gewährt, die sie für Vieh und Geflügel eifrig nach demselben greifen läßt.

Es ist auf diese Weise dahingekommen, daß die jüngste gewaltige Zunahme der Reiseinfuhr aus Ostindien fast mehr durch die Nachfrage nach den früher verachteten Abfällen bedingt erscheint, als nach dem zur menschlichen Nahrung dienenden Tafelreis. Nicht minder aber muß die Folge so leichter Anbringung der Abfälle zu guten Preisen, die Folge einer Steigerung der Einfuhr vornehmlich der Abfälle wegen die sein, daß der Preis von Eßreis stetig sinkt. Je mehr von den Kosten der Herüberschaffung durch die Stärkefabrikation und die Futtermehlbereitung getragen wird, desto weniger braucht der importirende Kaufmann oder der Reismüller durch den Verkauf des geschälten Reises zum menschlichen Consum zu decken. Der Fall der Preise in den letzten Jahren bestätigt diese Annahme durchaus. Mittelgesiebter Rangunreis kostet heute 91/2 bis 93/4 Mark. Rechnet man hiernach das Pfund zu 10 Pfennig, dazu 2 Pfennig Zoll, 1 Pfennig Fracht, 2 Pfennig Unkosten und Verkaufsaufschlag, so müßte es fast allenthalben für 15, höchstens 16 Pfennig im Laden zu kaufen sein. Damit kommt Reis dem Kartoffelpreise schon augenscheinlich sehr nahe.

Diese Bewegung könnte nur dann zurückgehalten werden, wenn die Hervorbringung von Reis in den Ländern, aus denen wir ihn beziehen, auf unübersteigliche Schranken stieße. Aber das ist in keiner Weise vorauszusehen. Von dem ungeheuren Verbrauch der dichtbevölkerten Gebiete Südostasiens macht die europäische Nachfrage selbst bei der denkbar stärksten Erhöhung einen so verschwindenden Bruchtheil aus, diese Nachfrage ist durch das sie vertretende Capital wirthschaftlich so stark und die bestellbare Fläche wie das verfügbare Arbeitspersonal, praktisch genommen, so grenzenlos, daß von dieser Seite gewiß kein beschränkender Einfluß kommen wird. In den letzten Jahren ist angefangen worden, den Reis auf Dampfern zu beziehen. Auch die zunehmende Verdrängung der Segelschifffahrt vom Ocean wird ihn nicht theurer machen.

Grübeleien über die Frage, was aus dem heutigen Kartoffellande werden soll, wenn der ferne Osten uns ein nahezu oder gleich billiges, in mancher Hinsicht gesunderes, seiner Güte nach unveränderliches Volksnahrungsmittel liefert, brauche wir noch nicht anzustellen. Von vier Pfund jährlichen Reisverbrauchs auf den Kopf – so stellt er sich heute bei uns – bis zu einer fühlbaren Einschränkung des so viel massenhafteren Kartoffelverbrauchs ist noch ein weiter Weg, dessen langsame Zurücklegung Allen Zeit gönnen wird, sich darauf einzurichten. Wahrscheinlich ist sogar, daß überhaupt kein empfindlicher Einfluß auf den Kartoffelbau sich ergeben wird. Wir werden fortfahren, Kartoffeln zu essen und Reis in zunehmendem Maße daneben. So machen es in unseren Seestädten gegenwärtig schon manche Familien, auf deren Tische der Reis täglich erscheint; der Eine nimmt ihn zur Suppe, der Andere zum Fleisch; für die Kinder wird mit etwas gekochtem Obst ein Nachtisch daraus, der bei weitem gesunder und ihnen selbst auf die Länge lieber ist, als ein schwerer, fetter, süßer Pudding oder Auflauf. Unsere Volksernährung ist ja, dank den im Allgemeinen ziemlich stetig steigenden Löhnen und Arbeitsverdiensten, im Aufsteigen begriffen; sie wird sich den billiger werdenden Reis mit Freuden aneignen, sobald nur die rechte Zubereitung durchgehends bekannt ist.

Hierfür aber können verschiedene Stellen allerhand thun, vorab die Volksküchen, die ja Muster von guten Speisezetteln für die Küchen des Volkes aufstellen, zumal wenn sie ihre wohlthätige Wirksamkeit auf einer neuen höheren Stufe ihrer Entwickelung dadurch erweitern, daß sie jungen Mädchen aus dem Arbeiterstande, von deren Küchen- und Haushaltsführung später das ganze Wohl der Arbeiterfamilien so wesentlich abhängt, das Kochen mit den geringsten Mitteln beizubringen suchen. Ferner die Consumvereine, wenn sie sich der Conjunctur des sinkenden Reispreises mit einer gewissen Werbung für einen so nützlichen Consumartikel bemächtigen, oder ihre Concurrenten, die Krämer, die ebenfalls durch mündliche oder gedruckte Gebrauchsanweisung leicht dem Reis mehr Absatz verschaffen könnten. Auch die Aerzte werden voraussichtlich gern mitwirken. Gegen allzu ausschließliche Kartoffelnahrung müssen sie beschränkende Ersatzmittel willkommen heißen, zumal wenn die Verdauungskraft unter jener schon gelitten hat oder die wässerigmachende Wirkung auf Blut und Muskeln eingetreten ist. Auch die beste Naturgabe kann, im Uebermaß benutzt, nachtheilig wirken, und nicht um die Kartoffel zu verdrängen, sondern um ihrem Gebrauch die dem Menschen heilsamste Grenze zu ziehen, kündigt sich der Reis jetzt immer einleuchtender als ein wahres Volksnahrungsmittel auch für Deutschland an. A. Lammers.     




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Zusammensetzuug
  2. Vorlage: T. Gemeint ist Joseph König
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Friedrich von Sallet, ein Sänger der Freiheit.

Zeitgemäße Betrachtung von Dr. Kalthoff

Neben der großen Schaar stolzer Namen, welche die erste Hälfte unseres Jahrhunderts geziert und die geistige Richtung desselben bestimmt haben, hat der Name Friedrich von Sallet’s den Ehrenplatz, der ihm gebührt, in weiteren Kreisen noch nicht gefunden. Die Menschen pflegen die Thaten und den Erfolg schneller zu würdigen, als das Sein und die Gesinnung. Es ist das tragische Verhängniß des lautersten Strebens, daß es von der großen Menge nur schwer verstanden, im lauten Lärm des Lebens nur schwer gewürdigt wird. Dafür aber sichert ihm die ewige Gerechtigkeit eine um so nachhaltigere Wirksamkeit in den verborgenen Tiefen liebender Jüngerseelen, welche weniger geräuschvoll bewundernd als thätig nacheifernd sich dem gleichen Streben weihen.

Friedrich von Sallet.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Sallet’s Leben, das nur die kurze Spanne Zeit vom 12. April 1812 bis zum 21. Februar 1843 umfaßt, hat an äußeren Erfolgen nichts Glänzendes aufzuweisen. In seinem Lebensberufe als preußischer Officier hat er keine Gelegenheit gehabt, seine Tüchtigkeit zu erproben. Und wäre ihm diese Gelegenheit geboten worden, er wäre wohl mehr ein muthiger Krieger, als ein namhafter Stratege geworden

Sallet war Dichter. Aber seine Verse sind oft nichts weniger als correct, geschweige denn classisch. Der Dichter war Philosoph. Aber seine Philosophie bestand fast lediglich in der Aneignung einzelner Gedanken des Hegel’schen Systems, und selbst in der Kenntniß dieses Systems blieb er, nach dem Maßstabe strenger Wissenschaft gemessen, immerhin Dilettant. Der Philosoph war endlich auch Theologe. Aber mit seiner Theologie würde er vor einer Glaubensbehörde seiner Kirche schlecht bestanden haben. So liegt Sallet’s Bedeutung nicht in dem, was er gethan, sondern in dem, was er gewollt hat.

Der größte Theil seines Lebens fällt in eine Zeit, in der es im preußischen und im gesammten deutschen Vaterlande trübe genug aussah. Das nationale Selbstbewußtsein, das in den Freiheitskriegen so mächtig aufgelodert war, fing bald an, den politischen Gewalthabern unheimlich zu werden. Es galt, den neu [98] erwachten Volksgeist rechtzeitig wieder in die alten bureaukratischen Ketten zu schlagen, damit er nicht die Cirkel der privilegirten Kasten zerstöre. Dem Volke, das mit seinem Herzblute das Vaterland aus der tiefsten Schmach gerettet, wurde der Dank, daß seine idealen Hoffnungen als kindische Thorheiten, seine aufwallenden Wünsche als Verbrechen behandelt wurden.

Sallet, der die Zeit von seinem zwölften bis zu seinem siebenzehnten Jahre im Cadetten-Corps zu Potsdam und Berlin zubrachte, gerieth in den Lebensjahren, in denen das eigene Urtheil noch unentwickelt ist und die äußere Umgebung am leichtesten den Charakter beeinflußt, mitten hinein in die drückende Atmosphäre der politischen Reaction. Aber seinem gesunden Geiste konnte diese Atmosphäre nichts anhaben. Im Gegentheil, als Sallet 1829 als Seconde-Lieutenant in das 36. Infanterie-Regiment eintrat, brachte er, der kaum Achtzehnjährige, einen ausgesprochenen Widerwillen gegen alles Hohle und Unwahre, das er in seiner Umgebung reichlich zu beobachten Gelegenheit gehabt haben mochte, in seine neue Lebensstellung mit hinüber. Nicht als ob er mit seinem Berufe an sich unzufrieden gewesen wäre. Er spricht vielmehr auch später noch mit großer Hochachtung von demselben. Er verachtete nur das eitle, gehaltlose Treiben seiner Berufsgenossen, den militärischen Kastengeist mit allen seinen Vorurtheilen, der zu Sallet’s Zeit noch in ungebrochener Kraft herrschte.

Im Jahre 1831 wurde er wegen einer Satire, in der er die Schwächen des Officierstandes einer launigen, aber durchaus unschuldigen Kritik unterzogen hatte, zur Cassation und zehn Jahren Festungsarrest verurtheilt. Als Sallet diesen drakonischen Urtheilsspruch erfuhr, schrieb er, wie sein Freund Theodor Paur erzählt, folgende charakteristische Stelle in sein Tagebuch:

„Mich durchfuhr ein kleiner Schreck, ich mußte aber doch lachen. Wenn mir mein Leben mehr solcher Erfahrungen bietet, werd’ ich noch Satiriker von Profession, und zwar ein recht bitterer werden. Mein Schicksal ist mir übrigens ziemlich gleichgültig. Würde ich cassirt, so könnte ich mich auf der Festung genugsam mit Kenntnissen bereichern, um einen andern Unterhalt zu finden, wobei ich mich vielleicht glücklicher fühlen würde, als jetzt. Kränkend könnte dann mein Schicksal nur im Punkte der Ehre sein, aber was achte ich die Ehre, die von der Meinung einer Welt abhängt, in der es so niederträchtig und nichtswürdig zugeht, daß die Unbesonnenheit eines jungen, gutdenkenden Menschen als ein Verbrechen, ja als eine Ehrlosigkeit angesehen wird. Ich kann mich nicht enthalten, die Herren, in deren Köpfen und Herzen es so öde und kalt aussieht, recht herzlich zu verachten.“

Das Urtheil kam nicht zur Vollstreckung, weil der König die Cassation verwarf, Sallet nach Trier versetzte und den Arrest auf zwei Monate ermäßigte.

Ueber die Einförmigkeit des Festungsarrestes half dem Dichter die Poesie der Liebe hinweg, die ihm in jenen Tagen zum ersten Male aufging. Freilich sollte diese Liebe, die von Seiten Sallet’s mit der ganzen Innigkeit seines Wesens empfunden wurde, ihm eine Enttäuschung bringen. Er schreibt hierüber zehn Jahre nach jenem Vorfall an seinen Freund Paur:

„Ich war schon zu Gnaden aufgenommen und wurde dann, weil die Sache langweilig aussah, entlassen. Damals gedachte ich ein Hagestolz zu werden. Heut aber habe ich ein Weib, und Du hast selbst beobachten können, wie ich zu ihr stehe. Ich kann Dir betheuern, daß jenes frühere Ereigniß meines Lebens den heiteren Himmel meines jetzigen Glückes auch nicht als kleinstes Wölkchen trübt, daß in meiner Seele kein Tropfen Bitterkeit zurückgeblieben ist, daß Geist und Gemüth nicht das Mindeste an ihrer Spannkraft verloren haben.“

Diese Worte versetzen uns schon in die letzten Lebensjahre Sallet’s. Er war 1835 nach Berlin auf die Kriegsschule gegangen und hatte dort drei schöne Jahre verlebt, die er seiner wissenschaftlichen Ausbildung, hauptsächlich dem Studium der Geschichte und der Hegel’schen Philosophie, widmen konnte. Als er dann in den activen Dienst zurücktrat, war ihm das damalige „Lieutenantamentalische Knechtschaftsverhältniß“ doppelt unerträglich geworden. Er nahm seinen Abschied, um auf eine Professur hinzuarbeiten. Im Jahre 1840 verlobte er sich mit seiner Cousine Karoline von Burgdorf. Wohl meinte er, es habe zu allen Zeiten für den tüchtigen, geistig gereiften Mann Wichtigeres und Größeres zu thun gegeben, als ein Weib zu nehmen. Aber er wußte auch, daß im Familienleben jegliche Gesinnung und Gesittung wurzele.

Es waren nur zwei kurze, glückliche Jahre, die ihm an der Seite seines Weibes zu verleben vergönnt waren. Eine Erbschaft hatte ihn ökonomisch unabhängig gemacht. Auf seinem Herde hatte er nach seinem eigenen Zeugniß zwar kein Feuerwerk, dafür aber die einfache Flamme häuslichen Glückes. Ein Sohn wurde ihm geboren, aber bald nachdem ihm dieser Lieblingswunsch erfüllt war, erlag er der Krankheit, die schon seit Jahren heimtückisch an seinem Leben gezehrt hatte.

So war Sallet’s Leben kurz und äußerlich wenig bewegt. Aber welche Fülle des Größten und Schönsten, was jemals eines Menschen Brust bewegt hat, umfaßte dieses Leben! Sallet’s Gedichte sind keine Dichtungen – sie sind Wahrheit. In ihnen spiegelt sich das ganze geistige Sein des Dichters ungeschminkt und treu wieder; sie geben uns deshalb auch den besten Schlüssel zum Verständnisse des inneren Fortschritts in der Entwickelung Sallet’s. Zuerst haben wir eine Gruppe von Gedichten, der er die Ueberschrift „Naturleben und junge Liebe“ gegeben hat. Der Dichter lebt, noch unentzweit mit der ihn umgebenden Welt, in kindlicher Unschuld und Seligkeit. Er kann noch volle Stunden lang den Blumen in’s Antlitz schauen, auf des Baches Klang und der Käfer Summen lauschen; er kann im Grase liegen und müßig in’s Blaue blicken, kann wonnig schwärmen und träumen und verlangt Leser, die das Gleiche vermögen:

„Bist du nicht ein närrischer Wicht,
So lies auch meine Gedichte nicht!“

so schließt die Widmung an die Leser. Was die Gedichte dieser Gruppe charakterisirt, ist deshalb das überall durchbrechende Bewußtsein einer ursprünglichen Einheit zwischen dem Menschen und der Natur.

Doch je mehr der Geist sich seiner selbst bewußt wird, desto mehr tritt ihm, dem Ich, die Natur als Nichtich gegenüber. Prometheus hat’s gewagt, an dem beseligenden Strahl der Sterne seine Fackel anzuzünden – dafür liegt er gebannt auf dunklem Felsen, und der nimmersatte Geier frißt ihm täglich an dem ewig frischen Herzen. Noch schaut der blaue, heitere Himmel so mild wie sonst auf den Dichter hernieder, aber sein Auge strahlt nicht mehr die Milde wieder; denn sein Blick ist, wie seine Seele, trübe. Aus der Weltseligkeit ist Weltschmerz geworden. Zerrissen ist das Band, das Geist und Natur zu unbewußter Einheit ursprünglich verbunden hatte.

Aber diese Zerrissenheit ist nur der nothwendige Durchgangspunkt zu wirklicher Versöhnung. Wohl hat der Mensch in titanenhaftem Drange die Harmonie der Welten eigenwillig zerstört. Aber wo er zu zerstören wähnte, hat er, einer höheren Weltordnung folgend, nur neue Lebenskraft geweckt. Der Geist hat im Zwiespalte mit der Welt sich selbst als das Wahre, Göttliche erkannt und findet nun in der Natur sein eigenes göttliches Leben wieder. Das Gähren und Wogen im Schooße der Erde, der Kampf der tausend Kräfte, die an’s Licht dringen wollen, ist nichts als die Offenbarung des ewigen Wesens Gottes. So feiert denn der Dichter seinen Frühlingsgottesdienst:

„An’s Grün lehnt eure Wange! Ihr lehnt an seiner Brust.
In’s Blau schaut sonder Bange; Ihn grüßt ihr, tiefbewußt.

Ihr seid in seinem Herzen, wenn ihr nur in der Welt;
Sie ist ein Saal voll Kerzen, von seinem Sein erhellt.

O, flieht aus dumpfen Schranken in’s off’ne Gottesmeer!
Aufathmen die Gedanken; denn sie sind Er, nur Er!

Der Vorhang ist zerrissen, o seliges Geschick!
Des Weisen tiefstes Wissen ist nur ein Kindesblick,

Ein Blick in den Uralten der noch urjugendlich.
Ihn hab’ ich im Allwalten, und auch im Punkt, im Ich.

Im eigensten Gemüthe ruh ich ihm unverwandt,
Wie eine stille Blüthe in eines Kindes Hand.“


Wo der Mensch so den Geist als das Bleibende in allem Wechsel, als das Ewige in jeder Erscheinung gefunden hat, da sind die schneidendsten Gegensätze des Lebens versöhnt.

Wenn der Dichter diese Weltanschauung selbst als Pantheismus bezeichnet, so kann man das Zutreffende dieser Bezeichnung bestreiten. Eine Weltanschauung, bei der so entschieden, wie es bei Sallet geschieht, die Absolutheit des Geistes betont wird, ist keine pantheistische im wissenschaftlichen Sinne des Wortes. Doch mag uns diese Frage wenig kümmern.

Der Kernpunkt dieser Weltanschauung – das ist klar – ist der [99] entschiedene Protest gegen einen außerweltlichen Gott, gegen einen Gott, von dem Goethe sagt, „daß er nur von außen stieße, im Kreis das All am Finger laufen ließe“. Gott ist die die Welt in ihrer Unendlichkeit durchdringende, allwirkende und allgegenwärtige Kraft, die in ihren Gesetzen erkennbar und deshalb Geist ist. Gott ist nicht eine Persönlichkeit neben anderen Persönlichkeiten, überlegend und beschließend, was er in jedem Augenblicke thun soll. „Er ist der Becher aller Fülle, und seine That ist, daß er schäumt.“

Wie aber der Geist der allgegenwärtige Grund der Welt ist, so ist er auch das Ziel aller Weltentwickelung. Die wahre Aufgabe der Menschheit besteht darin, den Geist zum bewußten Lebensprincip aller Verhältnisse zu machen. Die Geschichte der Menschheit ist die ewige Menschwerdung Gottes. Erst als Gottmensch hat der Mensch seine Bestimmung erfüllt.

Von der Höhe dieser Welt- und Lebensbetrachtung schaut nun Sallet in den „Ernsthaften Gedichten“ hernieder auf das Treiben der Menschen um ihn her. Aber was er da gewahrt, treibt ihm die Röthe der Scham und des Zornes in’s Gesicht. Vor dem grauen Riesendom und dem festen Königsschloß stehen die Menschen zerknirscht und anbetend, ohne zu bedenken, daß Dom und Palast vor der Zeiten Sturm wie Spreu zerstäuben werden, während die Menschheit einzig und allein das Unverwüstliche ist. So lassen sich die Menschen, sie, die freien Geisteswesen, zu willenlosen Werkzeugen herabwürdigen. Die Selbstsucht der Großen läßt die Menschheit nicht zur wirklichen Einheit und Freiheit kommen. Die geistesträge Masse steigt zum Vieh hernieder und nimmt willig die Schläge an, wenn ihr nur Futter geboten wird. Damit das Volk nicht zum Bewußtsein des frevlen Spieles, das mit ihm getrieben wird, komme, bietet man ihm allerlei Spielzeug – Sterne, bunte Kreuze und pomphafte Titel.

„Was aber soll dem Mann solch Zeug,
Das nur dem Kind zum Danke?“

Dazu kommen die zahmen Propheten, die über allem Hoffen und Harren zum Narren werden, servile und kriechende Zeitungslaffen, die das Krumme grade und das Grade krumm machen.

Mit furchtbaren Keulenschlägen wendet sich deshalb Sallet an das Gewissen seiner Zeit. Er bekämpft die Reaction, nicht weil sie neue Steuern bringt, sondern weil sie sich am Heiligsten, was der Mensch hat, an der Freiheit und dem Geiste, versündigt und den Menschen nicht zum Bewußtsein seiner göttlichen Würde kommen läßt. Daneben hält ihn sein Glaube aufrecht, daß, wenn auch die weite Erde in Verknechtung stöhnt, doch der Schlachtruf der Freiheit nicht vergeblich erschallen wird. In der „Fernsicht“ erblickt er eine Zukunft, wo nicht mehr Herren und Knechte, sondern nur freie Götter sich zum Feste gesellen.

Dieselben Grundgedanken wie die „Ernsthaften Gedichte“ vertritt das „Laienevangelium“. Hier zeigt Sallet, wie er bei allem Radicalismus der Principien sich den klaren besonnenen Blick für die Bedingungen eines gesunden geschichtlichen Fortschritts bewahrt hat. Dadurch unterscheidet er sich nach seinem eigenen Urtheil von Feuerbach, dessen Begabung und sittlichem Muth er selbstverständlich alle Achtung zollt.

Feuerbach, so schreibt er an seinen Bruder, habe den geschichtlichen Faden ganz und gar abgebrochen und den Menschen blos als Menschen plötzlich auf eigene Füße stellen wollen. Der reine Mensch existire aber nicht, sondern alles wurzele in früheren Bildungen. Eine weltgeschichtliche Thatsache, wie das Christenthum und die christliche Bildung, lasse sich nun einmal nicht ausstreichen aus der Geschichte der Menschheit. – Sallet weiß auch diesem Theile der religiösen Ueberlieferung sein Recht zu wahren.

„Die fromme Sage gleicht dem gold’nen Ei,
Das blickt geheimnißvoll aus weichem Neste.“

In dem Ei gähren lebendige Kräfte, die als goldener Wundervogel aus demselben hervorgehen, wenn der Gedanke die Schale gesprengt hat.

„Nur wenn man sie uns aufzwingt als Geschichte,
Dann macht man sie zum Märchen, zwecklos, toll,
Und den lebend’gen Geist in ihr zu nichte.“

So betrachtet Sallet die ganze evangelische Geschichte als ein großes Gleichniß, dessen Sinn die gedankenlose Buchstabentheologie nicht gefaßt, sondern kläglich entstellt hat.

Der „Christus“, der „Gottmensch“, den die Orthodoxie irrthümlich als eine einzelne historische Persönlichkeit aufgefaßt, wodurch sie sich in tausend Widersprüche verwickelt hat, ist in Wahrheit die ideale Menschheit, wie sie geistverklärt und geistdurchdrungen Eins ist mit Gott, und die Bedeutung des Stifters der christlichen Religion besteht darin, daß er „mit kühnem Blicke des Vaters Wesen in sich selbst erkannt hat“.

Zweifellos ist in diesem „Laienevangelium“ mehr Verständniß für das innerste Wesen des Christenthums, als in tausenden von den gelehrten dogmatischen Compendien und Katechismen, die von gläubiger Professorenweisheit strotzen. Daneben läßt es sich Sallet nicht nehmen, seinen „christlichen“ Zeitgenossen gelegentlich ihr Bild im Spiegel der von ihnen so oft im Munde geführten neutestamentlichen Ueberlieferung zu zeigen. Dann aber trifft er auch jedes Mal die Krebsschäden seiner Zeit mit erschütterndem Ernste. Seine sittlichen Ansprüche sind unerbittlich, wenn sie auch die denkbar höchsten sind. Er verfolgt die Selbstsucht, die Gemeinheit bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel; er reißt der Heuchelei die Maske vom Gesicht, wo er nur immer sie findet. Eines der großartigsten Gedichte ist in dieser Hinsicht die „Politik der Pharisäer“. Wie zermalmend trifft Sallet mit prophetischer Gewalt die Grundsätze, oder besser gesagt die Grundsatzlosigkeit der Reactionsmänner!

„Paßt nicht genau auf euch das Fratzenbild
Der saubern Obersten und Pharisäer?

Steht Rede! Sperrt ihr euch nicht sorgsam ein
Rath haltend und Gericht, vom Volke ferne?
Schleicht ihr nicht durch die Nacht in’s Haus hinein,
Um den zu haschen, den ihr hättet gerne?

Macht ihr zu Staates Wohl und Sicherheit
Gemeine Sache nicht mit Schächern, Schächer?
War eure Hand und Casse nie bereit
Zu dingen für Verbrecher den Verbrecher?“

Wenn dann der Spitzbubendialect der Diplomaten sich entschuldigen will, daß das allgemeine Wohl ein schlechtes Werkzeug auch zu guten Zwecken erfordere, so erwidert Sallet, was schlecht sei, bleibe ewig schlecht:

„Wer allen Guten sich zur That vereint,
Braucht nicht zu schleichen durch der Nacht Verstummen.
Wer es mit allen Guten ehrlich meint,
Braucht nicht im Lügenpelz sich zu vermummen.

Der Staat wird keusch und frei, wird sittlich sein,
Wo alle ehrlich an der Menschheit hängen.
Sorgt man dort oben nur für sich allein –
Dann ist’s ein Fuchsbau mit geheimen Gängen.“

Wir schlagen ein anders Gedicht auf: „Wisset ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?“

Diesen Spruch legt der Dichter als Maßstab an die Thaten der Kirche, an die Vertilgung der Albigenser, an die Mißhandlung Galilei’s, der es nicht fassen konnte, daß Fortbewegung Sünde sei, an die zahllosen Scheiterhaufen und die Mordscenen der Bartholomäusnacht. Da haben die Päpste gezeigt, weß Geistes Kinder sie seien.

„Und du vernahmst die Mähr auf Petri Stuhle
Und ließest lächelnd deinen Bannstrahl ruhn,
Und ging die Welt noch heut in deine Schule,
Du würdest heute noch ein Gleiches thun.“

Dann erinnert sich der Dichter, daß auch seine Ahnen einst als flüchtige Hugenotten dem Ketzerhaß haben weichen müssen. Er dankt dem Geschick, das ihn dadurch zum Kind des deutschen Geistes gemacht hat, und ruft:

„Ihr meine Brüder, alle, deutsche Männer,
Weß Geistes Kinder ihr, vergeßt es nicht!
Noch schleicht die Brut der Tilger und Verbrenner
Um euch mit Schmeichelrede, die besticht.

O blicket hinter lächelnd fromme Züge!
Da nistet, tief versteckt, Verrath und Tod,
Erkennt das Riesenscheusal ew’ger Lüge,
Das noch die Geister zu verschlingen droht!

Da, wo des Menschen Wort fand Anerkennung,
Wo der Gedank’ auf große Zukunft weist,
Auf Siege sinnend wohl, nicht auf Verbrennung –
Da wacht und waltet eures Meisters Geist.

Bewußt und muthig schreitet mit den Besten
Fort zu der Menschheit höchstem Liebesziel!
Laßt mit der Barbarei verschollnen Resten
Den Blödsinn treiben fort sein Kinderspiel!“

[100] Man sollte denken, eine solche Sprache sei deutlich. Und doch fand Sallet, daß es noch einer bündigeren Auseinandersetzung mit seiner Zeit bedürfe. „Wenn die Leute Verse lesen, meinen sie immer, es sei blos Spaß, wenn sie aber Prosa sehen, da merken sie, daß sie es mit vollem trockenem Ernste zu thun haben.“ So entstand das letzte größere Vermächtniß Sallet’s, „Die Atheisten“, eine Abhandlung, in der die Gedanken der „Ernsthaften Gedichte“ und des „Laienevangeliums“ in zusammenhängender Prosa erörtert werden. Es handelt sich darum nachzuweisen, wie verschieden sich die hauptsächlichsten sittlichen Erscheinungen, die Ehe, die Familie, der Staat und die Geschichte, gestalten, je nachdem Gott als außerhalb der Welt oder als der Welt innewohnend gedacht wird. Die erstere Denkweise führt zur eigentlichen praktischen Gottlosigkeit. Sie läßt Gott nicht zur Bethätigung seines Geistes im echten sittlichen Wollen kommen. Despotische Staaten, Ehen und Familien ohne volle, ganze Liebe sind deshalb recht eigentliche Erzeugnisse des Atheismus.

Wenn Sallet heute lebte, wie viel von dieser Art „Atheismus“ würde sich seinem Auge wieder darbieten, gerade von Seiten derer, welche aus der Gottseligkeit nur ein Gewerbe gemacht haben und so leicht bereit sind, das Streben nach wahrhaft geisterfülltem, freiem Dasein als gottlos zu brandmarken! Unsere Zeit hat ja eine erschreckende Aehnlichkeit mit derjenigen Sallet’s. Es ist ein Geschlecht herangewachsen, welches sich wieder „für das Schlechte in Begeisterung zu setzen versteht“, das, in eklem Krämersinn der Ideale spottend, die Parole ausgiebt: „Wer euch bezahlen kann, sei euer Meister! Brod haben ist die heiligste der Pflichten!“ Und doch zeigt die Erscheinung Sallet’s, daß die dunkelsten und verworrensten Zeiten die reinsten und größten Charaktere hervorzubringen vermögen. Möchte Sallet’s Geist auch in unserem Geschlechte lebendig werden!




Zur Bedeutung Stralsunds im Dreißigjährigen Kriege.

Von Dr. Georg Winter.


Mit Recht betrachten wir den Dreißigjährigen Krieg als eine der trübsten und traurigsten Epochen unserer vaterländischen Geschichte. Und doch werden nicht nur die großen Ideen, um welche er entbrannt war, für alle Zukunft ein hohes Interesse bei der Nachwelt in Anspruch nehmen, sondern der Kampf selbst ist auch reich an erhebenden und großartigen Momenten, an Ereignissen, welche einen dauernden Platz in den Annalen der Weltgeschichte verdienen.

An zwei ganz verschiedenen Stellen des europäischen Staatensystems und mit ganz verschiedenem Erfolge ist im Jahre 1628 um die Existenz des Protestantismus gekämpft worden. In Frankreich gelang es dem Cardinal Richelieu, die Hugenotten in ihrer letzten Burg La Rochelle mit solcher Energie und Umsicht einzuschließen, daß sie die Stadt trotz der tapfersten Gegenwehr übergeben mußten, in Deutschland aber mißlang dem allgewaltigen Generalissimus des Kaisers, Wallenstein, sein Angriff auf Stralsund, welches er herunterzureißen gedacht hatte, und wenn es mit Ketten am Himmel befestigt wäre, vollkommen. Es schien, als ob sich die gesammte Widerstandskraft des in seiner Existenz bedrohten Protestantismus in den Mauern dieser kriegsmuthigen Stadt concentrirt hätte, die mit mannhafter Ausdauer den Angriffen eines der größten Kriegshelden des Dreißigjährigen Krieges widerstand. Man kann recht eigentlich sagen, daß dieser mißglückte Angriff den Punkt bezeichnet, an welchem das bisherige Glück der kaiserlichen Waffen in Deutschland sich seinem Niedergange zuneigte.

Noch im Jahre 1627 konnte es scheinen, als wenn dem Kaiser durch die Hülfe Wallenstein’s der lange gehegte Plan einer vollkommenen Niederwerfung des Protestantismus glücken würde. Der König Christian von Dänemark, an dem die norddeutschen Protestanten einen mächtigen Beschützer zu finden gehofft hatten, war den vereinigten Anstrengungen des Feldherrn der Liga, Tilly, und des kaiserlichen Generalissimus Wallenstein erlegen und hatte sich in sein Stammland zurückgezogen.

Mit ihm war anscheinend der letzte Hort, an den sich die bedrängten protestantischen Fürsten anschließen konnten, dahin. Und noch schienen die Pläne des Kaisers mit der Besiegung des Dänenkönigs nicht erschöpft zu sein.

Wer wollte wissen, welche Gedanken der räthselhafte und geheimnißvolle Mann, dem der Kaiser damals sein volles Vertrauen schenkte, hinter seiner verschlossenen Stirn hegte? Schon war er vom einfachen Edelmanne zum Herzog von Friedland emporgestiegen. Der Kaiser hatte ihm das Recht, welches sonst nur geborenen Fürsten zustand, eingeräumt, sein Haupt in der Gegenwart des Kaisers zu bedecken. Und eben jetzt hatte er ihm durch die Uebertragung der mecklenburger Herzogthümer ein neues Zeichen seiner Gnade gegeben. Man sprach davon, daß er ihn sogar zum Könige von Dänemark zu erheben gedenke. In der That hatte sich eben Wallenstein die wesentlichsten Verdienste um den Kaiser erworben; ja er schien in seinen Gedanken über die Wiederherstellung der kaiserlichen Autorität noch weiter zu gehen; als der Inhaber derselben. Man ersieht aus seinen damaligen Correspondenzen, daß er es auf nichts Geringeres abgesehen hatte, als auf die Einführung einer absoluten Monarchie in Deutschland, deren Träger der Kaiser sein sollte, während der Einfluß der Fürsten und Stände des Reiches auf ein Minimum zu reduciren wäre.

Neben diesen Ideen, welche nur auf die Vergrößerung der Macht und des Ansehens der kaiserlichen Gewalt hinausgingen, vergaß aber Wallenstein auch seine eigenen Interessen nicht. Und eben diese territorialen Beziehungen, welche ihm aus dem Erwerbe des Herzogthums Mecklenburg erwuchsen, brachten ihn in Conflict mit dem benachbarten Herzog von Pommern. Wollte er des Besitzes seiner nordischen Herzogthümer dem dänischen Königreiche gegenüber sicher sein, so mußte er sich in Besitz wenigstens eines Theiles der Ostseeküste setzen, und eben hierauf war auch der Gedanke des Kaisers gerichtet. Dieser nahm die schon von einem seiner Vorfahren gehegten Pläne der Gründung einer deutschen Seemacht wieder auf, zu deren Admiral er Wallenstein zu ernennen gedachte. Eben die pommersche Küste schien als Grundlage für eine solche am geeignetsten zu sein.

Man war zur Verwirklichung dieses Gedankens mit den Hansestädten der Ostseeküste in Unterhandlung getreten, fand aber bei diesen eine ablehnende Haltung. In Folge dessen suchte nun Wallenstein seinen Plan auf anderem Wege zu erreichen. Nach Wismar war bereits eine kaiserliche Besatzung gelegt worden, und gegen Ausgang des Jahres 1627 trat er an den Herzog von Pommern mit dem Ansinnen heran, eine Einquartierung in sein Land aufzunehmen, welche er dann in eine ständige Besatzung der Plätze an der Ostseeküste zu verwandeln gedachte. Der Herzog, welcher dem Uebermächtigen fast wehrlos gegenüberstand, mußte sich in das Unabänderliche fügen. Da aber fanden er selbst und Wallenstein einen unerwartet heftigen Widerstand bei der Stadt, auf deren Besetzung es dem Letzteren vor Allem ankam, bei Stralsund. Die Stadt weigerte sich, auf ihre alten Privilegien gestützt, eine kaiserliche Besatzung aufzunehmen, und schloß mit ihrem Landesherrn, dem Herzoge von Pommern, welchem die Vertheilung der Einquartierung von dem Unterbefehlshaber Wallenstein’s, von Arnim, überlassen worden war, einen Vergleich, laut welchem sie gegen Zahlung einer bestimmten Summe von der Einquartierung befreit sein sollte. Gleichwohl besetzten die kaiserlichen Obersten, Arnim, Sparre und Götze, das kleine Eiland, welches den Hafen der Stadt beherrschte, den Dänholm, und forderten auch ihrerseits eine bedeutende Summe (150,000 Thaler), wenn die Stadt selbst von Einquartierung frei bleiben sollte.

In der That verstand sich die Stadt zur Zahlung eines Theiles der geforderten Summe (30,000 Thaler), keinesfalls aber wollte sie die Besetzung des Dänholms gestatten, vielmehr schloß sie die auf die Insel gelegte Besatzung mit ihren Schiffen ein, schnitt ihr jede Zufuhr ab und nöthigte sie so im Anfange des März zu capituliren. Schon hatte aber Arnim am 27. Februar ein Schreiben von Wallenstein erhalten, in welchem er angewiesen wurde, Stralsund anzugreifen und nicht wegzuziehen, bis die Stadt eine starke Garnison in ihre Mauern aufgenommen hätte. Noch einmal versuchte Arnim die Stadt durch Verhandlungen hierzu zu bewegen. War aber Wallenstein fest gewillt, die Stadt seinem Machtgebote zu unterwerfen, so war doch auch die Bürgerschaft nicht geneigt nachzugeben. Sie traf mit mannhafter Umsicht die Vorbereitungen

[101]

Episode aus der Belagerung von Stralsund.
Oelgemälde von Professor Haeberlin. Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von H. Genter.

[102] zu einer Vertheidigung und setzte zu diesem Behufe einen Kriegsrath ein, in welchem neben dem rechtskundigen und staatsklugen Bürgermeister Dr. Steinwich die angesehensten Vertreter der Bürgerschaft, unter ihnen namentlich der „Worthalter“ Justinian Koch, saßen.

So begann die langwierige Belagerung und die heldenmüthige Vertheidigung von Stralsund, deren Geschichte die „Gartenlaube“ ihren Lesern schon früher, gelegentlich des zweihundertfünfzigjährigen Jubiläums des Abzugs der Wallenstein’schen Belagerungsarmee, ausführlich berichtet hat. (Vergl. Jahrg. 1878, S. 514 u. f.)

Der am 24. Juli 1628 erfolgte Rückzug nach der mecklenburgischen Hauptstadt Güstrow mag ein harter Entschluß für den unbeugsamen Friedländer gewesen sein, aber er war nothwendig: zum ersten Mal hatte ihn der Widerstand einer für ihre politische und religiöse Freiheit begeisterten Bürgerschaft die Grenzen seiner Macht erkennen lassen.

Ist es nicht eine ähnliche Unterschätzung der im Innersten der Menschenbrust waltenden sittlichen Kräfte gewesen, welche wenige Jahre später seinen Untergang herbeiführte? Dem Kampfe gegen das „ewig Gestrige“ ist auch diese gewaltige Titanennatur erlegen. Der Stadt Stralsund und ihren muthigen und umsichtigen Führern aber gebührt das Verdienst, dem Ehrgeize des stolzen Mannes zum ersten Mal Schranken gesetzt zu haben. Die Väter der Stadt, welche dem Abgesandten des kaiserlichen Generalissimus eine abschlägige Antwort ertheilten – die Scene, welche der Künstler in dem diesem Artikel beigegebenen Bilde veranschaulicht hat – haben zur Rettung des protestantischen Glaubens, zur Aufrechterhaltung der politischen und der Gewissensfreiheit in Deutschland ein Wesentliches beigetragen. Und eben darum bildet die Belagerung von Stralsund eine erhebende Erscheinung in der sonst so trüben Zeit.




Die Mutter.

Charakterstudie von M. Corvus.[1]

„Ich kann es nicht allein mit mir tragen; ich muß es Dir, und vor allen Anderen Dir zuerst sagen: Mutter, theuere Mutter: Er liebt mich. Wie wunderherrlich mich diese Worte anblicken, nun sie geschrieben vor mir stehen – mit zitternden Buchstaben zwar geschrieben; denn meine Hand bebt unter dem seligen Klopfen meines Herzens – und doch, wie viel herrlicher, süßer klang es noch, da er mir es sagte! O liebe Mutter, denke zurück an die Stunde, als mein guter Vater Deine Hand nahm und Dir in’s Auge sah, um Dir zu sagen. ‚Ich liebe dich‘, wohl ganz so, wie Reinhard es soeben mit Deiner Käthe gethan – und in der Erinnerung an jene Seligkeit fühle voll das Glück Deines Kindes und freue Dich mit ihm! Es ist eine Himmelsgabe, daß er mich liebt, mich zu lieben vermag, er, der so gut, so klug und bedeutend ist, mich, die ich so gar wenig bin. Meine ganze Seele mit allen ihren Mängeln liegt vor ihm, und doch zieht er mich an sich und bittet, daß ich ihm angehören wolle. Ist das nicht ein Gnadengeschenk des Höchsten? Wie konnte ich da anders, als ‚Ja‘ sagen? Und nun wirst auch Du, meine Mutter, kein ‚Nein‘ ihm antworten, so wenig, wie der Vater, wenn Reinhard kommt, Euch zu bitten, daß Ihr mich ihm gebt. Wer in sein ernstes, klares Auge sieht, der muß ihm ja vertrauen, und so wie er aussieht, spricht und denkt er auch; es ist alles so wahr und zuverlässig an ihm, und vor allem darum liebe ich ihn von ganzem Herzen.“ –

Das Briefbillet sank mit der Hand, die es hielt, in den Schooß und die Leserin sah bestürzt und verwirrt zu dem Manne auf, der ihr gegenüber am Frühstückstische saß.

Es war ein anmuthender Platz hier vor dem Gutshause, unter dem dichten, kühlen Schatten der Lindenbäume. Von dem rückwärts gelegenen Wirthschaftshofe tönte reges Leben herüber, das Geräusch abfahrender Wagen, das Bellen des Hofhundes, der klirrend an seiner Kette riß, und das Geschrei aufgescheuchten Federviehs – das alles erhöhete nur um so mehr die tiefe, behagliche Ruhe im Schatten der Lindenbäume.

„Was hast Du, Constanze? Du siehst ja ganz erschrocken aus – es ist doch Käthe nichts zugestoßen?“ fragte jetzt der Herr, aus seiner Ruhe geschreckt.

„Bewahre, Robert, es ist ihr nichts Schlimmes geschehen – und dennoch! – Nun, lies selbst ihren Brief! Ach, wenn ich sie doch nicht von mir gelassen hätte!“ seufzte sie und reichte ihm den Brief hin.

Er las hastig.

„Ja,“ sagte er nach einer Weile, „es wäre allerdings gescheidter gewesen, wir hätten die Einladung zu dem ganzen Schwindel von Hochzeitsspectakel und Brautjungfernschaft kurzweg abgeschlagen. Mir wollte gleich die ganze Geschichte nicht in den Sinn. Da wird man aber von allen Seiten beschwatzt, bis man zugeben muß. Wenn durchaus Käthe dabei sein mußte, konnte da Pastor Kunze die Hochzeit seiner Tochter nicht noch hier feiern, ehe er in seine neue Stellung nach Frankfurt übersiedelte? Kaum zwei Monate sind seitdem vergangen, und da war gegen die Reise mit keinem Nein aufzukommen, weil die Mädchen wie Schwestern an einander hingen. Was hat man nun von seiner Güte? Ein trefflicher Gebrauch, den das Mädel von der ersten Freiheit macht, welche wir ihr zugestehen! Sie muß rein toll sein, mir nichts dir nichts sich zu verlieben und zu verloben, und obendrein sich einzubilden, wir werden auch gleich Ja und Amen zu dieser Tollheit sagen. Aber daraus wird nichts. Jungfer Uebermuth soll sich wundern. Und einen solchen Brief zu schreiben, aus dem kein vernünftiger Mensch klug werden kann. Wer und was ist dieser Er? Man erfährt nicht einmal, ob Reinhard Vor- oder Familienname ist. Weißt Du es etwa?“

„Der Vorname, denke ich – wie sollte ich es wissen, Robert?“ erwiderte seine Frau bekümmert. „Sie hat ja den Namen noch in keinem ihrer Briefe genannt, überhaupt von keiner Herrenbekanntschaft geschrieben, nur des Brautführers erwähnt, der ihr zugetheilt sei – ein Kaufmann und Freund von Minna’s Bräutigam – ich vermuthe, daß Jener der so plötzlich Geliebte ist. Das voreilige, hitzige Kind – in welche Verhältnisse hat sie sich da kopfüber gestürzt!“

„Sie muß zurück – muß den ganzen Unsinn vergessen – eine Siebenzehnjährige sollte noch gar nicht an solche Dinge denken,“ brauste er wieder auf. „Ich fürchte, wir haben sie verzogen, ihr zu viel den Willen gelassen – –“

„Sie ist ja unser einziges Kind,“ schaltete seine Frau begütigend ein.

„Und nun macht sie, was sie will,“ fuhr er, unbeirrt von ihrer Zwischenrede, fort. „Muß auch gerade die Ernte sein, sodaß man vom Gute nicht weg kann! Sonst reiste ich noch diese Stunde fort nach Frankfurt, sie zu holen und Pastor Kunze meine Meinung darüber zu sagen, was er da in seinem Hause, ohne unser Wissen, für Dinge vor sich gehen läßt.“

„Aber Robert, nimm es nur nicht so schlimm auf! Der Pastor wird von der Sache gar nichts ahnen, und überdies, wenn Käthe den Mann liebt und er sie, er auch ehrenhaft und gut ist, wie dürften wir da ihr Glück vernichten oder stören, den schönsten Jugendtraum ihr trüben wollen? Greifen wir doch nicht hart hinein, ehe wir wissen, ob es nöthig ist!“

„Aber nach Hause muß sie kommen, und das sofort,“ beharrte er; „dann wollen wir hören, wer dieser Reinhard ist. Schreibe es ihr gleich, Constanze, und treibe dann Jemand auf, der hier abkommen und den Brief noch heute zur Stadt schaffen kann! Ich muß nun auf dem Felde nach den Leuten sehen.“

Er stand auf und wendete sich zum Gehen. Plötzlich aber hemmte er nachdenklich den Schritt, und sich wieder umkehrend, sah er seine Frau mit einem sonderbaren Ausdruck von Mitleid an.

„Reinhard – –? Constanze, wenn das sein Familienname wäre!“ sagte er in einem leisen, gedrückten Tone. „Es laufen zwar der Reinhard’s viele in der Welt umher – der tückische Zufall spielt aber manchmal sonderbare Weisen und führt lange getrennte Menschen einander wieder zu.“

[103] Sie war, als er sich zum Fortgehen erhob, gleichfalls aufgestanden und stellte das Frühstücksgeschirr in einander. Bei seinen Worten fuhr sie heftig zusammen, wurde leichenblaß und setzte klirrend die Tassen nieder.

„Nun, erschrick nur nicht, liebe Frau!“ sagte er begütigend und trat wieder zu ihr. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog ihren Kopf liebevoll an sich. „Aber das mußt Du doch einsehen: immer verborgen kann es nicht bleiben, und wenn Käthe zum Beispiel heirathet, sei es, wer es wolle, so wird sie die Wahrheit erfahren – weder vor dem Standesamt noch vor dem Altar läßt sich das verbergen.“

Sie seufzte und sah ihn mit schmerzlichem Blicke an.

„Ja, einmal muß es geschehen – ich weiß das. Aber laß’ es so spät wie möglich sein, liebster Mann!“ bat sie dringend und leidenschaftlich.

„Es war eine große Schwachheit von mir, daß ich darin Deinen Bitten nachgegeben habe, Constanze, nun es aber einmal geschehen ist, bangt mir selbst vor der Nothwendigkeit einer Enthüllung,“ entgegnete er.

Er strich mit der Hand über ihr glänzend schwarzes Haar, und, sich zu ihr herabbeugend, drückte er zärtlich einen Kuß auf ihre Lippen.

Sie war noch immer eine schöne Erscheinung. Dunkle, heiße Augen blickten zu den seinigen auf, und eine schlanke, biegsame Figur schmiegte sich an seine breite, hohe Gestalt; in der Art, wie er leidenschaftlich zu ihr herniedersah, sprach es sich deutlich aus, wie sehr er sie liebe und wie ihre Schönheit ihn beherrsche.

Endlich trennten sie sich; Constanze eilte in das Haus, den besprochenen Brief in aller Hast zu schreiben, während Robert seinen Geschäften bei dem Einfahren der Ernte nachging.

Robert Heine’s Gut Schönhaide war eine große, einträgliche Besitzung im Hessischen, deren Bewirthschaftung er selbst führte. Seitdem er das Gut vor ungefähr sechszehn Jahren käuflich übernommen, hatte er es mit seiner Familie im Winter wie im Sommer unausgesetzt bewohnt und sein einziges Kind nie von sich gelassen; Käthe wurde daheim unter seinen Augen erzogen und unterrichtet. Dabei war es den Eltern bei ihrer großen, nachsichtigen Liebe nicht aufgefallen, wie das lebhafte Kind ihnen allmählich über den Kopf wuchs, und sie erschraken nun, als jetzt plötzlich diese Wahrnehmung sich ihnen aufdrängen wollte.

Constanze war heute den ganzen Tag über still und in sich gekehrt; auch Heine’s sonst so lebhaftes Wesen hatte etwas Nachdenkliches, was er auch nicht ganz überwinden konnte, als er seiner Frau gegenüber beim Abendbrod saß, wo er sich doch sonst nach vollbrachtem Tagewerk einer behaglichen, jovialen Stimmung erfreute. Er aß zerstreut und starrte meistens schweigend vor sich hin. Plötzlich fuhr er überrascht auf und blickte gespannt durch das ihm gegenüber befindliche Fenster auf den Gutshof hinaus.

Der Telegraphenbote von der Eisenbahnstation Breitenstein schritt soeben auf das Haus zu.

„Was kommt nun da wieder?“ rief er. „Meldet Käthe etwa, daß sie sich ebenso schnell wie verlobt nun auch verheirathet hat?“ versuchte er seinen Schreck hinwegzuscherzen.

„Ich komme morgen früh zehn Uhr – Vater mag mich allein abholen. Käthe –“ lautete das Telegramm.

„Nun,“ meinte Heine sehr zufrieden und wie befreit aufathmend, als er diese kurze Meldung gelesen hatte, „sie scheint von selbst zu dem Einsehen ihrer Voreiligkeit gekommen zu sein, ohne daß es dazu Deines Briefes bedurfte, Constanze, der doch vor morgen früh nicht in ihre Hände gelangt wäre. Schlagen wir uns die Sorgen aus dem Kopf, liebe Frau! Ich hoffe, die ganze Geschichte war nur ein Strohfeuer, das uns unnöthiger Weise erschreckt hat.“ Er umarmte sein Weib.




Pünktlich um zehn Uhr am andern Morgen hielt Heine mit dem Jagdwagen auf dem Bahnhofe der Station Breitenstein, gerade in dem Moment, als der ankommende Zug an dem Perron vorfuhr. Die Zügel der Pferde einem dastehenden Dienstmanne zuwerfend, kam er eiligen Schrittes gerade noch rechtzeitig, als aus der kaum geöffneten Waggonthüre auch schon eine schlanke Mädchengestalt heraus- und dem Vater in die Arme sprang.

„Da bist Du ja, Wildfang!“ rief er gutgelaunt und küßte das Töchterchen zärtlich.

Sie war eine reizende, zarte Erscheinung, aber weder Vater noch Mutter ähnlich. Hellblondes Haar ringelte sich um Stirn und Schläfe, und große, tiefblaue Augen blickten darunter hervor. Doch so jugendfrisch und kaum entwickelt die ganze Erscheinung des Mädchens auch war, es lag doch in dem Feuer dieser großen tiefblauen Augen und um den kleinen festen Mund ungewöhnlich viel Charakter und Willensstärke ausgeprägt, vielleicht auch Eigenwille – wer konnte hier urtheilen? Es athmete noch so viel Werdendes aus dieser Mädchenknospe. Aber sonderbar – auf Käthe’s Gesicht leuchtete jetzt keine Freude dem frohen Willkommensgruß des Vaters entgegen, sie sah vielmehr so ernst aus, daß Heine sich im Stillen sagte: „Aha, das hat einen Liebesbruch gegeben, und der Trotzkopf ist dem Liebsten davon geflogen. Sehr gut! Wir wollen ihr schon die Kindereien vollends austreiben.“

Dann ließ er sie aus seinen Armen und griff helfend nach ihrem zahlreichen Handgepäck.

„Ich danke Dir, Vater,“ sagte sie, „daß Du gekommen bist, um mich zu holen – aber allein?“

Er sah sie lachend an.

„Dachtest Du wirklich, Käthe, jetzt in der Ernte habe Christian Zeit, die Mutter und mich in dem Landauer spazieren zu fahren, oder auf dem Jagdwagen sei außer für Dich und mich und Deine Siebensachen noch Platz für eine dritte Person? Deine Rücksicht auf die Mama war diesmal überflüssig, Gelbschnabel! Aber komm’! Ich habe Eile wieder nach Hause zu gelangen.“

Das Reisegepäck war sehr bald auf dem Wagen untergebracht, die Beiden stiegen auf, und die Pferde griffen zu schneller Fahrt aus.

Heine war heiter und gesprächig; er berichtete seiner Tochter von der Mutter, von Haus und Hof; er gab sich alle Mühe, seine Käthe aufzumuntern, indem er sich den Anschein gab, als bemerke er ihr verstimmtes Wesen nicht. Sie aber ging auf nichts von alledem ein und blieb still und einsilbig.

Jetzt führte die Straße eine Anhöhe hinan und zwang die Pferde zu langsamerer Gangart; da legte das Mädchen plötzlich ihre Hand auf des Vaters Arm und wendete ihm voll ihr Gesicht zu. Ein Zug von Bitterkeit lag um den kleinen Mund, und die großen Augen loderten in heftigem Feuer auf.

„Laß’ die Braunen gehen, Vater, und höre mich an!“ sagte sie, und nach augenblicklicher Pause fügte sie in sehr erregtem Tone hinzu: „Ich habe meine Großmutter gesehen.“

Er fuhr erschrocken zusammen. Erwartete er doch alles Andere eher, als diese Worte aus dem Munde seiner Tochter.

„Deine Großmutter?“ stammelte er bestürzt.

„Ja, Vater, die Mutter meiner armen Mutter, und von ihr habe ich erfahren müssen, wie sie, die Andere, all mein Lebenlang mich – betrogen hat!“

„Halt ein, Käthe!“ herrschte er sie heftig an. „Brauche nicht solche Worte, welche Deine Mutter, die Dich so innig liebt, nicht verdient hat!“

„Vater, nenne sie nicht meine Mutter! Ich kann das niemals wieder hören. Ich hatte eine Mutter, die ist aber längst todt, und in meine Kindesliebe, die doch ihr gehören sollte, hat Jene unter falschem Namen sich hinein gestohlen. Ist es recht, mich so zu betrügen? Ich kann Alles eher, nur nicht Lug und Trug ertragen.“

„Kind, mäßige Dich! Vor allen Dingen, ehe ich etwas darauf erwidere, verlangt mich zu wissen, was sich dort in Frankfurt zugetragen hat. Du überschüttest mich mit erstaunlichen Neuigkeiten – erst Dein Brief und nun Deine Reden!“

Bei der Erinnerung an das, was sie geschrieben, füllten sich ihre Augen plötzlich mit Thränen und ihr Mund zuckte unter dem Zwange, jene zurückzudrängen. Alle Härte war auf einmal aus ihren Zügen verschwunden; sie war plötzlich wieder ein liebendes Kind, das sich hülflos und zärtlich an des Vaters Arm schmiegte.

„O Vater, ich ahnte noch nichts von Alledem und war so glücklich, als ich an – – an Euch schrieb, daß Max Reinhard mich – mich liebe. Er ist Buchhändler und hat sein eigenes Geschäft, und er war der mir zuertheilte Brautführer an Minna’s Hochzeit. Er kam öfter in das Haus, auch nach der Hochzeit – Alle, die ihn kennen, ehren ihn und halten ihn hoch, und auch Du, Vater, wirst das thun, wenn Du ihn kennst. Er wird sich für einige Tage frei machen und morgen kommen, um Dich zu bitten, daß Du Deine Käthe ihm giebst. Bester Vater, ich liebe ihn so warm und war so glücklich – es ist nicht zu sagen wie sehr – und jetzt! – [104] ach, jetzt könnte ich fast meines Glückes vergessen über all das Leid, das über mich gekommen ist. Ach, warum habt Ihr mir das gethan?“

Er schloß sein Kind in den Arm und küßte es tief bewegt. Käthe weinte jetzt an seinem Herzen, und er störte sie mit keinem Worte in dem, was ihr Erleichterung sein mußte.

Endlich hob sie wieder den Kopf und trocknete die Thränen.

„Sieh, Vater,“ begann sie wieder, und je länger sie sprach, um so mehr trat die frühere Herbigkeit auf ihrem Gesicht und in dem Ton ihrer Stimme wieder hervor. „Max wußte es erst selbst nicht, daß ich seine Cousine bin. Seine Eltern leben in Berlin, und er hatte ihnen nichts von mir geschrieben; es geschah ja erst vorgestern, daß wir unsere Liebe uns gestanden. Da, gestern Nachmittag, eilt er zu mir und sagt, daß ihn am Morgen seine Großmutter, von Wildbad kommend, wo sie zur Cur gewesen, auf der Durchreise besucht habe, daß er ihr von seiner Liebe zu mir erzählt, und als er Katharina Heine genannt, habe sie stürmisch verlangt, mich zu sehen, da ich ihre Enkelin sein müsse. Ich war sehr verwundert über das, was ich hörte, und bezweifelte die Richtigkeit dieser Annahme; denn ich wußte ja von keiner Großmutter, die mir noch lebe, und die ich bisher für meine Mutter gehalten, hieß ja Constanze Dorn und nicht Luise Reinhard, wie er mir sagte. Aber ich ging mit ihm, um seine Großmutter zu begrüßen, und da erfuhr ich von der guten alten Frau, die mich leidenschaftlich und mit tausend heißen Thränen empfing, daß ihre jüngste Tochter, der ich wunderbar ähnele, meine Mutter gewesen sei, die gestorben, als sie mir das Leben gegeben, und daß sie stets vor mir verleugnet worden sei, damit ich nur jene Andere als meine Mutter liebe. So sehr die Großmutter darnach verlangt habe, ihre Enkelin zu sehen, sei es ihr doch nicht gewährt worden, und ich habe nie von ihr wissen dürfen, damit nur Jene mich allein besitzen konne. O Vater, ist das nicht grausam, nicht schlecht an mir gehandelt? Und da hat, ob dieser Lüge und Ungerechtigkeit, alle Liebe in mir sich in Zorn und Haß gegen Jene gewandelt, und ich wollte, ich brauchte sie nie, nie wieder zu sehen.“

Ihr zartes Gesicht hatte sich beim Sprechen lebhaft geröthet, und die feinen Augenbrauen zogen sich finster zusammen. Es lag eine so gewaltige Erregung, eine so zornige Empörung in jeder ihrer Mienen, in dem trotzigen Zucken der Lippen und in dem tiefen bebenden Klange ihrer Stimme, daß Heine erschrocken sein Kind betrachtete, das er niemals so erregt gesehen.

Wenn er auch immer sich vor dem Moment gefürchtet, der einmal die an ihr begangene Täuschung offenbaren müsse, so tief, so furchtbar hatte er sich den Eindruck nicht gedacht, welchen die schmerzliche Entdeckung auf Katharina üben könne; denn er hatte auf die große Liebe gebaut, die sie stets für seine Frau empfunden. Dabei that ihm seine Frau so leid wie seine Tochter, ja Erstere fast noch mehr; denn sie, die Kinderlose, liebte Käthchen so zärtlich wie ihr eigenes Kind und hatte sich ihr in nie mangelnder Aufopferung und treuer Liebe stets als echte Mutter bewiesen.

Er raffte sich endlich gewaltsam auf von der tiefen Erschütterung, um zu versuchen, in seiner Tochter ein versöhnliches Empfinden zu wecken, bevor sie mit der Stiefmutter wieder zusammen traf.

„Käthe, liebes Kind, es ist nicht zu leugnen, daß es ein Unrecht war, Dich bis jetzt in dieser Täuschung zu lassen,“ sagte er in begütigendem Tone. „Aber höre zuvor die Gründe, weshalb es so geschehen, ehe Du in dieser harten Weise darüber urtheilst. Sieh, Kind, als der Himmel Dich uns geschenkt hatte, da war zur Pflege Deiner Mutter deren liebste Freundin, Constanze Dorn, zu uns geeilt. Ich besaß damals noch kein eigenes Gut, sondern hatte in Schlesien eins in Pacht genommen, das ich bewirthschaftete. Deine gute Mutter starb wenige Tage nach Deiner Geburt – sie ließ mich in Verzweiflung zurück; ich liebte sie so innig und stand nun einsam, unglücklich, rathlos da mit Dir, einem zarten hinfälligen Kindchen. Kein Verwandter, der mir in meiner Vereinsamung hätte beistehen können! Aber auch von Deiner Mutter Seite konnte Niemand mir helfen; sie hatte nur noch einen viel älteren Bruder, der verheirathet war – Du weißt: den Vater dessen, der Dir soeben näher getreten ist. Deine Großmutter aber war immer leidend und konnte weder ihren Mann verlassen, um zu mir zu kommen, noch Dich zu sich nehmen. Zu letzterem hätte ich mich auch nie entschlossen, Du warst ja Alles, was mir von Deiner Mutter geblieben, und ich konnte Dich nicht lassen."

Er schwieg einen Augenblick in tiefer Bewegung, um dann gefaßt fortzufahren. „Aber wie sollte ich nun für Dich sorgen? Im Anfang war zum Glück Constanze da und pflegte Dich von Deinem ersten Athemzuge an. Auf mein Bitten blieb sie eine Zeit lang bei mir, obgleich ihre Mutter drängte, sie solle nun heimkehren. Als sie gegangen war, reihte sich Elend an Elend. Du warst ein flackerndes Lebensflämmchen, schwächlich und kränklich, und der Arzt erklärte, daß nur die sorgsamste Pflege Dich, mein Einziges, uns erhalten könne – o Kind, es war schwer für einen einsamen Mann.“

„Armer Vater!“ unterbrach ihn Käthe und drückte ihm zärtlich die Hand.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Für die Wittwe Friedrich Fröbel’s! Ueberall, wo für eine gesunde Erziehung der Jugend freier Sinn und warme Liebe vorhanden sind, werden heute Vorbereitungen getroffen, um das nahende hundertjährige Jubiläum der Geburt Friedrich Fröbel’s in würdigster Weise zu feiern.

Bei solchen Festen, welche in dem lautersten Dankbarkeitsgefühle ihren Ursprung finden, ist es eine schöne Sitte, nicht nur den Todten zu rühmen, sondern auch Derer zu gedenken, die der Gefeierte lieb hatte und die ihm bei Erfüllung seiner schwierigen Plichten treu und aufopferungsvoll zur Seite standen. In diesem Sinne muß auch der nahende Jubeltag der Fröbel’schen Idee begangen werden.

Der Mann, welcher der deutschen Jugend gelebt und für diese mit so vieler Aufopferung gewirkt hat, starb ohne ein Vermögen zu hinterlassen. Der Lehrer der künftigen deutschen Geschlechter starb, ohne eine Pensionsberechtigung für seine Wittwe bei irgend einer der vielen Regierungen Deutschlands erlangt zu haben.

Und die Wittwe Fröbel’s weilt noch unter den Lebenden.

Viele Jahre nach dem Tode seiner ersten Gemahlin, schon am Abend seines thatenreichen Lebens suchte Fröbel nach einer treuen Gefährtin, mit deren Hülfe er den Samen seiner Lehren in die Gemüther der ihm immer zahlreicher zuströmenden weiblichen Zöglinge auszustreuen vermöchte. Diese ersehnte Gehülfin fand er in einer seiner eifrigsten und treuesten Schülerinnen, Fräulein Louise Levin. Nach dem Tode Fröbel’s wirkte Louise Fröbel unter Middendorf’s Leitung eine kurze Zeit in Keilhau und wandte sich, als auch dieser aus dem Leben schied, erst nach Dresden und dann nach Hamburg. Hier ist sie seit 1854 unausgesetzt für die Fröbel’sche Sache thätig, gegenwärtig in dem hohen Alter von siebenundsechszig Jahren stehend.

Es ist gerecht und billig, daß der Staat sich der Hinterlassenen des einfachsten Dorfschullehrers annimmt. Um so auffallender aber muß es erscheinen, daß die Wittwe des Lehrers Friedrich Fröbel diese gerechte Vergünstigung nicht genießt – oder sollen wir sagen: es ist leicht erklärlich, da Fröbel nicht im Dienste einer Regierung, sondern in dem mühevolleren des deutschen Volkes stand. Das deutsche Volk hat daher die Pflicht, sich der Wittwe eines seiner verdientesten Beamten anzunehmen; es hat hier eine lange vergessene, aber nicht verjährte Schuld abzutragen.

Wir wollen mit einer Theilzahlung den Anfang machen. Es ist uns von Freunden und Schülern Fröbel’s, vor Allem aber von dem hervorragendsten Vertreter der Fröbel’schen Idee, Wichard Lange, die ehrende Anerkennung zu Theil geworden, daß unter allen bisher an die Oeffentlichkeit gedrungenen Bildnissen Fröbel’s das in Nr. 1. dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ erschienene das gelungenste sei und die Züge des großen Kinderfreundes am getreuesten wiedergebe.

Die Verlagshandlung der „Gartenlaube“ hat daher beschlossen, von diesem Portrait Separatabzüge auf feinem Papier anfertigen zu lassen, dieselben, auf Cartonpapier aufgezogen, zu dem billigen Preise von 75 Pfennig für das Stück zu verkaufen und den aus diesem Verkaufe sich ergebenden Reinertrag Frau Louise Fröbel zu überlassen. Jede Buchhandlung ist in der Lage, dieses Portrait zu liefern, während directe Bestellungen von der Firma Ernst Keil erst von sechs Exemplaren an ausgeführt werden können.

Wir wenden uns an unsere Leser mit der herzlichsten Bitte, uns in diesem Unternehmen unterstützen zu wollen. Wie geringfügig auch dasselbe auf den ersten Blick erscheinen mag, so kann es doch durch eine möglichst starke Betheiligung von Seiten des deutschen Publicums einen durchschlagenden Erfolg erzielen. Wir wenden uns an Alle, ohne Unterschied der Partei und Confession; denn Friedrich Fröbel muß in jedem deutschen Hause ein gern gesehener Gast bleiben, ist doch jeder Familienherd ihm zu dem größten Danke verpflichtet. D. Red.     


Kleiner Briefkasten.

Ch. N. in R. Den Artikel „Zum hundertjährigen Jubiläum der Gewandhaus-Concerte in Leipzig“ finden Sie in Nr. 47, denjenigen über den großen Rechtslehrer Bluntschli in Nr. 49 des vorigen Jahrgangs.

Ferdinand F. in Triest. Wir werden in der nächsten Zeit auf den Gegenstand zurückkommen.

O. L. Zu derartigen Allotrien fehlt uns alle Zeit. Die Menschheit wird weder klüger noch besser durch Beantwortung der von Ihnen gestellten Frage.

Abonnent in St. Petersburg. Sehr willkommen!

M. B. in New-York. Nein!


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Verf. von „Schwester Carmen“ (vergl. Jahrgang 1880, Nr. 40 u. f.), welche mit so vielem Beifall aufgenommene Erzählung soeben in Buchform (Leipzig, Schlicke) erschienen ist und die wir in dieser ihrer neuen Form der allgemeinen Beachtung hiermit warm empfehlen. D. Red. 

Anmerkungen (Wikisource)