Zum hundertjährigen Jubiläum der Gewandhaus-Concerte zu Leipzig

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Autor: Hermann Kretzschmar
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Titel: Zum hundertjährigen Jubiläum der Gewandhaus-Concerte zu Leipzig
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, 48, S. 789–792, 801–803
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Zum hundertjährigen Jubiläum der Gewandhaus-Concerte zu Leipzig.
Von Hermann Kretzschmar.

Einen sehr bedeutenden Platz nehmen die sächsischen Lande in der Geschichte der Tonkunst ein. Sie sind die Heimath der Schütz, Bach, Händel, Marschner, Schumann, Wagner und die Schaffensstätte einer erstaunlich großen Zahl von Männern, die sich in der Musik ausgezeichnet haben. Von den frühesten Zeiten an besaß Sachsen blühende Anstalten zur Pflege der Musik. Allberühmt sind die Dresdener Hofcapelle, die Sängerchöre der Kreuzschule und der Thomana. Jünger als diese Institute ist die Concertgesellschaft des Leipziger Gewandhauses, an Ansehen und Bedeutung ist sie jedoch eine der ersten Kunstanstalten Europas.

Am 25. November dieses Jahres sind hundert Jahre verflossen, seitdem das erste Gewandhaus-Concert stattfand, und man kann einen Jubilar nicht besser ehren, als indem man aus seinem Leben erzählt. Die Geschichte der Gewandhaus-Concerte ist der Ruhm aller Derer, welche an ihnen betheiligt sind, der Stadt, die von jeher mit Stolz dieses Institut in ihren Mauern sah, des Directoriums, welches die Einrichtungen dieser Concerte traf und überwachte, der Musiker, welche sie ausführten, und des Publicums, welches sie anhörte.

Sie Alle können sich die Gewandhaus-Concerte zur Ehre anrechnen; denn was hier durchgeführt wurde, ist in ganz Deutschland nur einmal gelungen. Was sagen wir, in Deutschland – in der ganzen Welt. Es giebt keine zweite Stadt, die jeden Winter zweiundzwanzig solche Concerte zu erwarten hat, wie sie in dem Leipziger Gewandhause nun seit einem Jahrhundert fast ohne Unterbrechung stattgefunden haben. Fragt man nach der Ursache dieser großen Zahl, so muß man zur Beantwortung dieser Frage noch eine Strecke hinter die Gründung der Leipziger Gewandhaus-Concerte zurückgreifen.

Wie bekannt, entstanden von der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts an wie in anderen Culturländern, so ganz besonders in Deutschland vielerlei sogenannte musikalische Collegien. Das waren Clubs, in denen sich die Musikfreunde eines Ortes vereinten, um mit einander zu musiciren – eine sehr heilsame Ergänzung der öffentlichen Musikpflege! Das Musiciren schloß anfänglich andere gesellschaftliche Bestrebungen nicht aus; denn neben der Musik hielt man wissenschaftliche Vorträge, tafelte und tanzte. Aber es liegt nun einmal im Wesen der Musik, daß sie eifersüchtig ist, dämonisch eifersüchtig. Sie verlangt den ganzen Menschen. So kam es, daß diese Collegien bald ausschließliche Musikabende wurden, die sich von den heutigen Concerten nur dadurch unterschieden, daß keine Proben abgehalten wurden. Ganz Deutschland war um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts voll solcher Musikinstitute mit wöchentlichen Concerten. Wo sind diese nun hin? Wer trägt die Schuld, daß sie verschwanden? Die bösen Proben. Die wachsenden Ansprüche der Orchesterpartien wuchsen allmählich den Dilettanten über die Köpfe, und damit war es mit den musikalischen Collegien aus. Die einzige Stadt, welche die Krisis überstand und die wöchentlichen Winterconcerte rettete, war Leipzig.

Actenmäßig zu constatiren ist allerdings die Existenz von Musikcollegien in Leipzig erst mit dem Jahre 1741, wo der berühmte Telemann, damals Cantor an der Neukirche, ein solches Collegium gründete und leitete, welches besonders von Studenten unterstützt wurde, aus deren Reihe er selbst hervorging. Auch der große Johann Sebastian Bach war in der ersten Zeit seines Thomascantorats Director eines collegium musices. Wir wissen, daß mit seiner Gesellschaft eine zweite rivalisirte, welche unter dem Organisten der Nicolaikirche, einem gewissen Görner, stand.

Der siebenjährige Krieg gebot eine Pause, aber nach seiner Beendigung stand das Musikcollegium in imposanter Gestalt wieder auf. Der Kaufmann Zehmisch, derselbe vornehme Handelsherr, welcher das noch jetzt vorhandene sogenannte alte Theater erbaute, eröffnete im Jahre 1763 das Collegium unter dem Titel „Großes Concert“ in den „Drei Schwanen“ auf dem Brühl. Das Local scheint den Beschreibungen nach ziemlich primitiv gewesen zu sein: ein düsterer Saal von der Größe einer mittelmäßigen Wohnstube mit einem engen Zugang, der durch eine gemeine Herberge führte. Gleichwohl versäumte das vornehme Publicum nicht, sich allwöchentlich dort einzufinden, und auch der Kurfürst von Sachsen beehrte das dortige Concert mit seinem Besuche, so oft er in Leipzig anwesend war. Später zog man in ein Haus am Markte.

Das Orchester war für jene Zeit reich besetzt.[1] Die meisten Solisten traten zugleich als Solospieler auf, und mehrere unter ihnen erwarben sich als Virtuosen einen berühmten Namen. Dirigent war Johann Adam Hiller, ein Musiker, den die allgemeine Geschichte der Kunst immer mit Ehren nennen wird. Ein Zögling sächsischer Alumnate von Bautzen und Dresden, schwankte er lange zwischen Tonkunst und Jurisprudenz, wandte sich aber seit 1760 ausschließlich der ersteren zu. Er schrieb komische Opern zu Texten von Weiße, die seiner Zeit Aufsehen erregten. Hiller selbst war, trotz seiner launigen Musik, ein schwerer Hypochonder und lange nicht zu vermögen, eines seiner Werke, die alle Welt zum Lachen reizten, selbst anzusehen. Ja, man erzählt, daß ihn sein Arzt mit Gewalt in das Theater schaffen mußte. Als Dirigent hat sich Hiller namentlich um Händel’s „Messias“ Verdienste erworben.

Er ging 1785 wieder in’s Ausland, kam jedoch 1789 als Thomas-Cantor nach Leipzig zurück. Sein eifrigstes Bestreben war nun, in dem großen Concerte den Gesang auf gleich hohe Stufe zu bringen, wie die Instrumentalmusik, und umsichtig und thätig, wie er war, gelang es ihm auch bald, dieses Ziel zu erreichen, besonders da ihn das Glück begünstigte, eine Corona Schröter – 1764 – dann eine Schmehling, nachherige Mara, auf längere Zeit – 1767 bis 1771 – für dieses Kunstinstitut zu gewinnen. Beide Sängerinnen waren schon zu jener Zeit höchst ausgezeichnet, wenn auch ihr Ruf erst später sich allgemein verbreitete. Tenor- und Baßpartien übernahmen vorzügliche Schüler von Hiller, und die Chöre wurden von Alumnen der Thomasschule besetzt.

Jedes Concert enthielt zwei Theile, zwischen welchen eine Pause zur Erholung stattfand. Der erste Theil wurde mit einer Symphonie eröffnet; hierauf folgte eine Arie, dann ein Concert für ein Instrument, nun ein Divertissement für mehrere Instrumente und endlich ein Quartett, Ensemble oder Chor aus einer Oper. Der zweite Theil begann wieder mit einer Symphonie, der eine Arie sich anreihte, und das Ganze endete gewöhnlich mit einer Partie für das volle Orchester.

Die dirigirende Vorsteherschaft bestand von dieser Zeit an aus neun, später aus zwölf, der angesehensten Concertmitglieder, und so ging Zehmisch’s Alleinherrschaft in eine Vielherrschaft über, zu der gehörten: drei Gelehrte, drei deutsche, zwei französische, ein italienischer Kauf- und Handelsherrn. Diese Einrichtungen des „Großen Concertes“ lagen auch den 1781 in’s Leben gerufenen Gewandhaus-Concerten zu Grunde und bestehen an diesem Institute noch in allem Wesentlichen. Deshalb schien es nöthig, bei denselben zu verweilen.

Zunächst war demnach der Einzug in den Saal des Gewandhauses, welcher am 25. November 1781 erfolgte, nichts als ein Localwechsel. Die „drei Schwanen“ konnten die immer mehr sich steigernde Zahl der Kunstfreunde nicht länger fassen. Da erwarb sich der damalige Bürgermeister und Kriegsrath Müller, dessen Gemeinsinn Leipzig die große Bürgerschule, die Promenaden und die Restauration der Nicolaikirche verdankt, das Verdienst, im Gewandhause auf der Universitätsstraße, einem alten für Militär- und sonstige Lagerzwecke gebrauchten Gebäude[2], einen Concertsaal herstellen zu lassen, der zwar hinsichtlich der Größe nicht zu den ersten in Deutschland gezählt werden kann – er faßt nach mancherlei Vergrößerungen heute schließlich gegen eintausend Personen – wohl aber seiner akustischen Vortrefflichkeit wegen noch jetzt zu den ausgezeichnetsten Sälen gezählt werden muß. Der Bau wurde von dem kurfürstlichen Architekten Dauthe ausgeführt, und der aus Goethe’s „Dichtung und Wahrheit“ bekannte Akademiedirector und Professor Oeser malte die Plafonds. Diese Gemälde stellten die alte griechische und die neue Musik dar. Die alte wird verjagt und dagegen die neue eingeführt. Unter der letzten Darstellung hält ein Genius ein fliegendes Blatt mit der Inschrift „Bach“. Diese seiner Zeit bewunderten und wiederholt beschriebenen Allegorien ließ man 1833 leider übertünchen.

[790] Am 25. November 1781 wurde der neue Saal unter Hiller’s Direction mit folgendem Concertprogramm eröffnet:

 Erster Theil.
Symphonie von Joseph Schmitt.[3]
Hymne an die Musik von Reichardt.[4]
Concert auf der Violine („Schönste Tochter des Himmels“), gespielt von Herrn Berger.
Quartett mit dem ganzen Orchester von Stamitz.[5]
 Zweiter Theil.
Symphonie von J. C. Bach.[6]
Arie von Sacchini, gesungen von Madem. T. Podleska.[7]
Symphonie von E. W. Wolff.[8]

Der Concertsaal des Leipziger Gewandhauses.
Nach der Natur gezeichnet von Martin Laemmel.

Drei Symphonien an einem Abend! Man begann um fünf Uhr Nachmittags; das Billet kostete zwölf Groschen, und die Leistungen waren so glänzende, daß Mozart in der Probe zu seinem Concerte am 12. Mai 1789 den Musikern zurufen konnte: „Wenn die Herren so zu spielen vermögen, brauche ich mein Concert nicht zu probiren – denn die Stimmen sind richtig. Sie spielen richtig und ich auch; was braucht’s mehr?“

Wer in Leipzig auftreten wollte, dem war der Gewandhaussaal eine Nothwendigkeit, und was außerhalb dieser Räume concertirt wurde, das zählte nicht mit. Um aber das Verdienst zu verstehen, welches daran die Direction der Gewandhaus-Concerte hat, muß man auf die allgemeinen Concertverhältnisse Deutschlands um die Wende des Jahrhunderts einen Blick werfen. Man kann sagen: die in der Entwickelung begriffene neue Instrumentalmusik rang um ihr junges Leben. Ihre gutwilligsten Stützen waren die musikalische Collegien, die Dilettantenclubs und Liebhaberconcerte, die in den mittleren und kleinen Städten zu Hause waren und auf schwachen Füßen standen, wogegen in den großen Städten und an den Höfen die Virtuosen dominirten. Im Vergleiche mit jenen Liebhaberorchestern repräsentirten sie die vollendete Kunst im Gegensatz zum unfertigen Versuch, und kein Zweifel kann darüber bestehen, auf wessen Seite sich das Publicum wenden mußte, wo es zu wählen hatte.

Dieser Concurrenz zwischen Virtuosen und Orchester zu begegnen, hatte nun das Leipziger Gewandhausinstitut ein unfehlbares Mittel in seinem Saale, und es bediente sich desselben geschickt. Es ist höchst interessant, die verschiedene Erlasse und Maßregeln zu verfolgen, durch welche es diesen Kampf führte, aber das würde hier zu weit führen. Genug: die Virtuosen, welche in Leipzig auftreten wollten, benutzten den Gewandhaussaal, und die Besitzer dieses Saales, die Directorien des Instituts, sorgten dafür, daß durch die Virtuosen nicht die Theilnahme des Publicums für die Leistungen des Orchesters und des vocalen Ensembles geschwächt wurde. Einmal wurde der Saal den fremden Künstlern überhaupt versagt, dann nur unter der Bedingung zugestanden, daß dieselben vorher im öffentlichen Concerte aufträten. Auf diese Weise wurde das Leipziger Gewandhaus ein „Hort“ der höheren Instrumentalmusik, wie es öfters genannt worden ist, an dem die ganze Kunstgattung während der beiden ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts sich hielt.

Während wir um diese Zeit in anderen deutschen Städten die Symphonien sehr vernachlässigt finden, bilden sie in Leipzig den Stamm des Programms; das Publicum lernte diese Werke lieben. „Und wenn darüber nichts gedruckt würde,“ schrieb Beethoven in Bezug auf die Concerte an einen Leipziger Freund, „als die dürren Register, ich würde es doch mit Vergnügen lesen; man sieht doch, es ist Verstand darin und guter Wille gegen Alle.“

Das Orchester zeigte ursprünglich noch seinen Zusammenhang mit den alten Liebhaberconcerten. Ein Dilettant, Notarius Hofmann, trat noch in den Jahren 1805 und 1806 als Fagottsolist auf. Allmählich aber wurde das Orchester durch die Bemühungen der Direction und das Entgegenkommen der städtischen Behörde zu einer Künstlercorporation, die heute siebenzig und etliche Köpfe zählt. Im Jahre 1843 verdankte die Stadt der Concertdirection auch ein Conservatorium, das noch heute blüht.

Nach Hiller’s Abgang vom Dirigentenposten – er starb 1804 – übernahm denselben Johann Gottfried Schicht. Dieser, im Jahre 1753 zu Reichenau in der Lausitz als Sohn eines armen Leinwebers geboren, hatte eine den älteren Musikern gewöhnliche Carrière gemacht. Er war Alumnus des Gymnasialchors in Zittau gewesen und hatte dann die Universität Leipzig bezogen, um Jurisprudenz zu studiren. In seinen ersten Semestern schon kam er mit Hiller in Berührung, der ihn in das große Concert zog, wo er das Violinspiel und namentlich das zu jener Zeit sehr wichtige Amt eines Flügelaccompagnateurs versah. Er führte die [791] Direction bis zu seinem Tode, der im Jahre 1828 erfolgte, in den letzten drei Jahren in Gemeinschaft mit Christian J. F. Schulz. Schicht war für das Musikleben von Leipzig, wo ihm im Jahre 1810 auch das Thomas-Cantorat übertragen wurde, von großem Einfluß, welcher sich in Folge seiner Lehrthätigkeit auch weit über die Grenzen der Stadt erstreckte. Eine große Anzahl nachher berühmter sächsischer Musiker, wie Anacker, Reißiger, Franz und Julius Otto waren Schüler von Schicht, wie er auch als schaffender Künstler durch seine Kirchenwerke zu den Ersten seiner Zeit zählte. Das Oratorium „Das Ende des Gerechten“, die Motetten: „Nach einer Prüfung kurzer Tage“ und „Meine Lebenszeit verstreicht“ trifft man zuweilen noch heute auf dem Repertoire. Im Gewandhause erzielte namentlich sein „Vater unser“ einen großen Eindruck. Als Componist steht er noch mit einem Fuße in der Zeit der Schnörkel und Zöpfe, aus seinen mehrstimmigen Sätzen spricht aber eine milde und schöne Persönlichkeit.

 C. J. P. Schulz. J. G. Schicht. C. A. Pohlenz. J. A. Hiller.
 Carl Reinecke. Felix Mendelssohn Bartholdy. Julius Rietz.
Die Dirigenten der Leipziger Gewandhaus-Concerte von 1781 bis 1881.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Schicht’s Directionszeit ist neben der späteren Mendelssohn’s die glänzendste Epoche des Leipziger Gewandhauses. Sie zeichnet sich durch die häufige Aufführung von Chorwerken aus; denn Messen, Motetten, Psalmen, Oratorien standen fortwährend auf dem Programm. Haydn’s „Stabat mater“, seine „Sieben Worte des Erlösers“, das „Tedeum“, „il Ritorno di Tobia“, seine Messen, „Schöpfung“ und „Jahreszeiten“, wurden unter Schicht dem Gewandhaus-Publicum vorgeführt, wie auch Händel’s „Messias“ damals zuerst zum Vortrag kam. Von der Bach’schen Familie ist nur der Hamburger, Philipp Emanuel, vertreten mit seinem zweichörigen „Heilig“ und der Londoner, Johann Christian, mit einem „Gloria“ in neun Sätzen, aber keineswegs war der alte Johann Sebastian in Leipzig vergessen; denn begegnen wir ihm auch nicht im Gewandhause, so war er um so häufiger mit seinen Motetten und auch einzelnen Cantaten in den Kirchenaufführungen der Thomaner zu finden. Von in neuerer Zeit weniger bekannten Chorcomponisten nennen wir aus der Schicht’schen Periode nur noch Bergt, Rolle und Rosetti; auch kam damals Romberg’s „Glocke“ zur Aufführung.

Von ganz besonderem Interesse ist die Periode der Schicht’schen Direction dadurch, daß in ihr fast sämmtliche großen Werke Beethoven’s ihren ersten Einzug in das Gewandhaus hielten. Die Aufnahme derselben durch das Gewandhaus-Publicum war eine durchaus entgegenkommende und auch da, wo man nicht sogleich klar sah, eine des Meisters würdige, zuweilen eine enthusiastische. Directorium und Orchester schienen von vornherein die Vorführung Beethoven’scher Werke als eine ernste Mission aufgefaßt zu haben.

Aeußerst wohlthuend stechen die Leipziger Urtheile über Beethoven’s Compositionen gegen die Berliner ab. Von der zweiten Symphonie, welche in beiden Städten gegen das Neujahr 1805 ziemlich gleichzeitig aufgeführt wurde, berichtet man aus Berlin: „Diese Symphonie erregte nicht solche Sensation als Mozart’sche und Haydn’sche.“ Aber aus Leipzig schrieb man: „Dies Werk eines Feuergeistes wird bleiben, wenn tausend jetzt gefeierte Modesachen längst zu Grabe getragen sind.“

Nur gegen den letzten Satz der neunten Symphonie sträubten [792] sich auch die Freunde Beethoven’s im Gewandhaus. Sie wurde hier 1827 – ebenfalls wieder zu derselben Zeit wie in Berlin – zum ersten Male aufgeführt, dann gleich darauf zweimal repetirt, einmal allerdings ohne Finale. Rochlitz, eine feine, durchaus Goethe’sche Natur, drückt das Fiasco in den Worten aus: „Der Meister aber bleibt, was er ist, ein Geisterbeschwörer, dem es diesmal gefallen hat, Uebermenschliches von uns zu verlangen.“ Wenn ein Jahr darauf, als Beethoven inzwischen gestorben, ein Anderer eben mit Bezug auf jenes Finale von „Gehörlosigkeit“ spricht, so ließ die Direction das Werk doch nicht fallen; denn es findet sich oft auf den Programmen.

Im Jahre 1850 widmete ein ungenannter Musikfreund bei Gelegenheit der Ausführung dieses Beethoven’schen Werkes eine Gratification von fünfzig Thalern, und später sicherte sogar ein hochherziger Förderer der Tonkunst die regelmäßige alljährliche Aufführung der neunten Symphonie durch eine besondere Stiftung. Bei ihrer Erwähnung wollen wir übrigens nicht vergessen zu bemerken, daß im Laufe der Zeit viel geschehen ist, die äußere Lage der Künstler im Orchester in ein entsprechendes Verhältniß zu ihren berühmten Leistungen zu setzen; denn von vornherein bestand ein Pensionsconcert, und später trat noch die Charfreitag-Aufführung zu einem ähnlichen Zwecke hinzu.

Unter den damals emporstrebenden Talenten sind Friedrich Schneider und Louis Spohr zu nennen, welche vom Anfang unseres Jahrhunderts an bis zu ihrem in den fünfziger Jahren erfolgten Tode dem Gewandhaus-Publicum stets willkommene Ehrengäste geblieben sind. Von den Ausländern faßte nur Cherubini festen Fuß; Spontini wurde mit seiner ersten Ouvertüre abgelehnt, ja, man verglich sie mit kaltem Wasser, das in gährendem Sprudel und mit schrecklichem Brausen verspritzt wird. Méhul, einer der wenigen Franzosen, welche früher überhaupt Symphonien schrieben, fiel im Gewandhaus fast regelmäßig durch, selbst noch als Mendelssohn für ihn in den historischen Concerten eintrat, dagegen erwarben seine Opern die verdiente Achtung.

Wenn die Gewandhausconcerte von Haus aus gegen das Virtuosenthum gerichtet waren, so schloß diese Tendenz doch die solistischen Leistungen nicht aus. Ja, später hörte das Gewandhaus-Publicum die berühmten Sänger und Spieler der Zeit fast alle. Von den großen Pianisten von Mozart an bis auf Karl Heymann fehlt fast Keiner. Dussek, Hummel, Moscheles, Kalkbrenner, Liszt, Thalberg, Döhler, Clara Schumann, Camilla Pleyel, Jaell, Bülow, Tausig und wie sie Alle heißen, sie haben sämmtlich im Gewandhaus gespielt, zum Theil sehr oft. Anton Rubinstein trat hier als dreizehnjähriger Knabe auf, auch Meyerbeer, der als Componist in diesen Räumen wenig zu suchen gehabt hat, zeigte sich als achtjähriges Wunderkind, und Karl Maria von Weber debütirte im Jahre 1811 hier vor dem Leipziger Publicum als Pianist in einem Privatconcert, das er mit seinem Freunde, dem Münchener Klarinettisten Bärmann, gab. Von den großen Geigern, die hier spielten, haben wir schon Spohr genannt, und Joachim, der Erste unter den jetzt lebenden Violinspielern, gehörte dem Orchester selbst im jugendlichen Alter längere Zeit an.

Unter den großen Sängern und Sängerinnen vermissen wir nur Henriette Sonntag. Die Schröder-Devrient, Pauline Viardot-Garcia, Jenny Lind traten sehr oft im Gewandhause auf. Von Sängern, die sich im Gewandhause hören ließen, sei noch der Wiener Wild genannt, der im Jahre 1815 als der Erste in diesen Räumen ein deutsches Lied erklingen ließ.

Aufsehen erregte das erste Posaunensolo: Der Berliner Kammervirtuos Belcke, von der Familie, die viele ausgezeichnete Musiker geliefert hat, führte es im Jahre 1815 aus, und später besaß das Leipziger Gewandhaus in dem vielseitigen Queisser selbst einen der berühmtesten Posaunenvirtuosen. Von heute nicht mehr gebräuchlichen Solo-Instrumenten nennen wir aus den älteren Gewandhaus-Concerten die Guitarre; sogar ein Symphoniestück mit Guitarre kommt einmal vor.

Von vornherein waren im Gewandhause die Einrichtungen so getroffen, daß man solistische Leistungen genießen konnte, ohne dabei von fremden Kräften abhängig zu sein. Die Mitglieder des Orchesters producirten sich mit Soli auf ihren Instrumenten, und etliche waren Virtuosen, die auch nach außen hin bekannt wurden; so Dotzauer, der Cellist, der obenan steht. Für den Gesang hatte man die Einrichtung getroffen, für ein oder mehrere Jahre eine Künstlerin fest zu engagiren, und unter diesen Concertsängerinnen des Leipziger Gewandhauses treffen wir einzelne hochberühmte Namen, die Mara, die Schröter, die Häser, die Neumann-Sessi, sehr beliebt und verdient in dieser Stellung war aber später Henriette Grabau.

Mit der Einführung der Eisenbahn erlosch der Brauch des festen Engagements einer ersten Concertsängerin. In der ersten Zeit wird der Posten von Angehörigen des Dirigenten und der Concertmeister bekleidet. Demoiselle Häser war die Tochter des Concertmeisters Häser; der Concertmeister Campagnoli sah seine beiden Töchter gleichfalls in dieser Stellung, und Schicht heirathete die Concertsängerin Valdesturla, die als Madame Schicht lange Zeit fast alle Arien vortrug. Später übernahm die Tochter Beider, Fräulein Schicht, diese Stelle. Sehr oft entnahm man die Kräfte für männliche Singpartien der Leipziger Oper, und auch Studenten traten hierfür ein; außerdem stand in jeder Stimme für die Soli auch noch ein Thomaner zu Gebote. Noch unter Mendelssohn singt das Concertsolo der neunten Symphonie der Thomaner Kurzwelly, und unter Schicht finden wir als Solo-Altisten den Thomaner Reißiger, den späteren Dresdener Hofcapellmeister.

Friedrich Schneider saß öfters am Flügel, später auch Riem, der nachmalige Bremer Musicdirector. Aber die Mehrzahl der bis zum Jahre 1809 vorkommenden Clavierconcerte, die Mozart’schen und Beethoven’schen zum großen Theile, spielt eine und dieselbe Künstlerin, Frau Müller. Sie war die Gattin des Musikdirectors, und ihr Weggang ward schmerzlich empfunden; denn es schien, als seien mit ihr auch die Mozart’schen Concerte weggegangen. Ihr Gatte, der Thomas-Cantor und Musikdirector C. F. Müller, ist als Componist nicht von Belang geworden, aber als ausübender Musiker war er unschätzbar; denn er spielte Orgel, Clavier, Violine und Flöte, und dieses letzte Instrument war es, welches er im Leipziger Gewandhause in ausgezeichneter Weise vertrat.

Als Müller Leipzig verließ, um das Capellmeisteramt in Weimar zu übernehmen, trat Schicht in seine Stelle als Thomas-Cantor. Am Gewandhause behielt Schicht nur noch die Direction von Chorwerken, die von da ab nicht mehr so regelmäßig und häufig gepflegt wurden. Den Haupttheil des Directionsdienstes übernahm mit der neuen Saison 1810 Christian (Johann Philipp) Schulz.

[801] Der nunmehrige Leiter der Gewandhaus-Concerte, Christian (Johann Philipp) Schulz, war zu Langensalza in Thüringen im Jahre 1773 geboren und zog als zehnjähriger Knabe mit seinen Eltern nach Leipzig. Auf der Thomas-Schule, die er bis zu seinem neunzehnten Lebensjahre besuchte, fand er Gelegenheit zur Ausbildung in der Musik, namentlich im Gesange. Er ward ein ausgezeichneter Sänger, und nachdem er die Universität bezogen, faßte er den Entschluß, sich ganz der Musik zu widmen. Schicht wurde sein Lehrer. Seit 1800 war Schulz Musikdirector der Seconda’schen Schauspielergesellschaft, und für sie schrieb er manche Chor- und Bühnenmusik. Wenn es die Verhältnisse gestattet hätten, würde er sicherlich auch als Componist Bleibendes geschaffen haben; denn was von ihm an Musikwerken vorhanden ist, zeigt ihn auch für diese Seite der Tonkunst hochbegabt und tüchtig; namentlich seine Chorlieder, die er für die mittlerweile entstandene und von ihm dirigirte Singakademie verfaßte, befriedigen noch heute das musikalisch gebildete Ohr. Schulz war streng gegen sich und Andere, aber durchaus bescheiden.

Während seiner Direction der Gewandhaus-Concerte mehrte sich die Aufführung von Opernfragmenten und Opern, einem Genre, dem heute die Concertinstitute ziemlich aus dem Wege gehen. In jenen Tagen lagen die Verhältnisse anders: mit den Theatern war es damals bekanntlich schwach bestellt, und man hörte viele der berühmtesten Opern von der Bühne herab entweder sehr spät oder gar nicht – meistens aber mangelhaft. Da verlangte man sie denn vom Concerte. Schulz führte auch einmal an einem Abende [802] eine vollständige Oper auf: Naumann’s dreiactigen „Amphion“. Für das Concert selbst schrieb er wenig. Bemerkenswerth ist aber seine Instrumentation der Zelter’schen Ballade „Joh. Sebus“. In dieser Form wurde der alte verdiente Professor und Dirigent der Berliner Singakademie für das Gewandhaus möglich.

In die Schulz’sche Zeit fällt die einzige längere Unterbrechung, welche die Gewandhaus-Concerte erfahren haben; sie trat im October 1813 nach der großen Völkerschlacht bei Leipzig ein, und wurde durch die Nothwendigkeit der Verwendung der Gewandhaussäle zu Lazarethzwecken herbeigeführt; die einzigen öffentlichen Musikaufführungen, welche damals stattfanden, bestanden in zwei Wohlthätigkeits-Concerten, welche im Theater und in der Nicolai-Kirche im April und Mai 1814 unter der ausschließlichen Mitwirkung von Dilettanten abgehalten wurden. Im Jahre 1806 hatte man – nebenbei bemerkt – nach der Schlacht von Jena die Concerte ebenfalls fallen lassen, aber nach zwei Monaten schon wurden sie auf ausdrücklichen Wunsch des französischen Gouverneurs wieder eröffnet. Auch im October 1814 begann man sie wieder mit einer Erinnerungsfeier an die große Schlacht. Der Krieg zeigte seine Wirkungen auf das Institut dadurch, daß ein Theil der besten Orchestermitglieder weggezogen war und das Publicum nicht mehr die alte Theilnahme zeigte. Bald aber richtete sich Alles wieder ein, und schon im nächsten Jahre, wo der König das Concert besuchte, mußten Maßregeln gegen zu großen Andrang des Publicums getroffen werden. In diese Zeit fällt eine Aufführung vom ersten Finale der Zauberflöte mit italienischem Text. Man darf sich über diesen Mangel an deutschen Sängern nicht wundern; hatte man doch in Dresden sogar die „Jahreszeiten“ von Haydn in’s Italienische übersetzen müssen. Auch Mozart’s Sohn präsentirte sich in dieser Periode im Gewandhause durch ein Extraconcert. „Der Vater“ – wird berichtet, „spielte bei leerem Saale – der Sohn hatte ihn voll.“

Im Jahre 1825 spielte ein Knabe vor dem Publicum, der zehn Jahre später schon eine Stütze des Instituts wurde. Dies war der junge Ferdinand David aus Hamburg, der mit seiner Schwester Louise – der späteren Frau Dulken – zweimal im Extraconcert und dann im Neujahrsconcert auftrat.

Schicht starb im Jahre 1823, und schon vier Jahre später folgte ihm Schulz. Nun wählte man zum Dirigenten Christian August Pohlenz (geb. 1790 zu Sallgast in der Niederlausitz), der, wie Schulz, vom Studium, dem er in Leipzig oblag, zur Musik übergetreten war. Er war einer der Ersten, der mit Dilettanten in Leipzig Choraufführungen veranstaltete. Bei dem ersten Debut der Aufführung der „Schöpfung“ sang sein Freund, der berühmte Tenorist Gerstäcker, Vater des bekannten Reisenden, der Wachtel seiner Zeit und nebenbei ein gründlich musikalischer Sänger, die Tenorsoli. Pohlenz, der ganz besonders als Gesanglehrer geschätzt und dessen berühmte Schülerin Livia Gerhard war, sah sich am Gewandhause nur wenig vom Glück begünstigt, und schon 1835 wurde er durch einen Anderen ersetzt. Bevor wir uns aber zu diesem Nachfolger wenden, ist noch einiger kleinen Ereignisse zu gedenken, welche unter seiner Direction vorfielen. Da ist zunächst das erste Auftreten einer neunjährigen Pianistin zu erwähnen, welche „große Hoffnungen erregte“. Ihr Name war Clara Wieck – nachmals Clara Schumann. Sie spielte im Jahre 1828 zum ersten Male, und fünfzig Jahre später bereitete das Gewandhaus-Directorium ihr eine erhebende Jubiläumsfeier. – In einem Extraconcert jener Zeit begegnen wir allem Anscheine nach zum ersten Male einem großen Meister, der damals schon todt war: Franz Schubert’s Forellenquintett. Trauernd registriren wir, daß es „nicht gefiel“.

Das Jahr 1831 war das Jubiläumsjahr des fünfzigjährigen Bestehens der Gewandhaus-Concerte. Dasselbe wurde auch in aller Form gefeiert durch ein Festprogramm, welches der hochverdiente Rochlitz aus den nach seiner Meinung beliebtesten Compositionen der verschiedenen Perioden zusammengesetzt hatte. Dieses Jubiläumsjahr brachte auch einen wichtigen Geburtstag – nämlich den einer Ouverture von Richard Wagner. Letzterer, bekanntlich ein geborener Leipziger, war damals achtzehn Jahre alt und machte seine Studien beim Thomascantor Weinlig. Die Ouverture gefiel. Noch mehr aber eine Symphonie Wagner’s, welche im nächstfolgenden Jahre zur Aufführung kam und laut und mit verdientem Beifall begrüßt wurde. Der Redacteur, Magister Fink, schrieb über den später so berühmt gewordenen jungen Künstler: „Etwas Eigenes lebt in seiner Seele.“ Wagner’s Wege führten in der Folge vom Concertsaale weitab. Soweit möglich, ist aber auch dem Gewandhaus-Publicum immer Gelegenheit gegeben worden, dieselben zu verfolgen. Nach jener Symphonie vergehen allerdings zehn Jahre, ehe wir dem großen Componisten wieder in diesem Saale begegnen; denn erst im Jahre 1842 sangen in einem Extraconcerte Tichatschek und Frau Schröder-Devrient Nummern aus dem für Leipzig neuen „Rienzi“. Später sind mehrfach die Ouvertüren der Wagner’schen Musikdramen im Gewandhause aufgeführt worden. Die freundlichste Aufnahme aber von allen Compositionen des Meisters fanden die Fragmente aus „Lohengrin“, welche Rietz im Jahre 1853 vorführte.

Der Ersatzmann für Pohlenz in der Direction, auf welchen wir hindeuteten, war Felix Mendelssohn-Bartholdy, damals schon ein Liebling des Gewandhaus-Publicums; denn unter all den Arbeiten neuer junger Talente, welche in diesem Saale debütirten, von denen wir Wilhelm Taubert, Fr. Lachner – der allerdings etwas früher einzuschalten ist –, Otto Nicolai nennen wollen, machten die Mendelssohn’schen Werke den reinsten und gewinnendsten Eindruck. Seine „Sommernachtstraum“-Ouvertüre, die bald nach der Wagner’schen Symphonie im Armenconcert 1832 gegeben wurde, hatte geradezu bezaubert, wie man auch fand, daß die „Hebriden“-Ouvertüre, welche bald folgte, ein „herrliches Werk“ sei. Die künstlerischen Tonangeber in Leipzig hatten wohl erkannt, daß der gebildetste Kunstgeist jener Zeit in diesen Werken lebte, und waren von dem Wunsche beseelt, diese phänomenale Kraft an Leipzig zu fesseln. Ein Arrangement mit der Universität kam nicht zu Stande, aber das bereits so blühende Gewandhaus bot Mendelssohn einen Boden für seine Neigungen, und so folgte er denn einem Rufe an dieses Institut. Mit Mendelssohn-Bartholdy’s Antritt im Herbste 1835 beginnt die eigentliche Glanzepoche des Leipziger Gewandhauses. Die Leipziger hielten schon längst sehr viel von ihrem Gewandhaus-Orchester, aber seit Mendelssohn an der Spitze desselben stand, war es doch noch ein ganz anderes. Er brachte einen neuen Geist mit und – was wir nicht vergessen wollen – eine neue Directionsmethode. Bisher nämlich hatte der nominelle Musikdirector der Gewandhaus-Concerte, hatten die Hiller, Schicht, Schulz, Pohlenz mit den eigentlichen Hauptwerken der Programme, mit den reinen Orchestercompositionen gar nichts zu thun gehabt. Diese dirigirte der Concertmeister an seinem Pulte ungefähr so, wie wir es jetzt noch in Gartenconcerten, bei Tanzmusiken sehen, wo der Führer der Capelle mitgeigt und nur beim Wechsel des Tempo, bei schwierigen Einsätzen einzelner Instrumente mit dem Bogen vorübergehend einige Winke giebt. Dieses Verfahren war sogar schon in London seit fünfzehn Jahren abgeschaftt worden, und wie es sich in Leipzig so lange erhalten konnte, ist schwer zu begreifen; ja, durchaus erstaunlich liest es sich, daß das Leipziger Gewandhaus-Orchester unter solcher Direction auch ganz neue und schwere Werke wie Beethoven’s Chorphantasie mit einer einzigen Probe erledigen konnte. Selbst unter einem geringeren Künstler als Mendelssohn hätte die neue Directionsweise auf die Leistungen des Orchesters Wunder wirken müssen. Und sie that es augenscheinlich. Das Orchester folgte Mendelssohn’s Worten, als wären es Orakelsprüche. Unbedingt war seine Autorität und noch größer seine Liebenswürdigkeit. Er gewann Jeden, der ihm nahe trat, und er gewann ihn für’s Leben. Als Mendelssohn todt war, schon lange Jahre todt, kam es vor, daß Einer aus der Gesellschaft aufstand und fortging, weil er es nicht hören mochte, daß von Mendelssohn so schlecht gesprochen wurde.

Bald nachdem Mendelssohn seine Stellung angetreten hatte, starb Matthäi, der langjährige Concertmeister des Instituts, dem hauptsächlich das Verdienst zugeschrieben werden muß, die Quartettunterhaltungen der Gesellschaft in’s Leben gerufen zu haben, welche im Jahre 1809 begannen und im kleinen Saale abgehalten wurden – zwölf im Jahre. Ihre Zahl unterlag im Laufe der Zeit mancherlei Modificationen, bestanden haben sie aber ohne Unterbrechung, und ihre Gemeinde ist mehr und mehr gewachsen, sodaß sie in den großen Saal übersiedeln mußten, wo seit einer Reihe von Jahren nun schon allwinterlich acht abgehalten werden.

Matthäi’s Nachfolger wurde Mendelssohn’s Freund, der junge Ferdinand David, den man später mit Recht den „Musterconcertmeister“ nannte. Die unvergleichliche Elasticität, die Einheit und Genauigkeit des Streichorchesters im Leipziger Gewandhaus ist hauptsächlich sein Verdienst, ein Verdienst, welches er sich Mühe [803] genug kosten ließ. Dieser feingebildete, auch in den höchsten Formen der Composition selbstgeübte und gewandte Musiker wurde Mendelssohn’s treuester Helfer. Schumann nannte ihn „die rechte Hand des Orchesters, einen Musiker, der über Berge hinüber hört.“ Neben ihm standen an den Pulten noch Queißer, Grenser, Ulrich, der Componist C. G. Müller, später Director der „Euterpe“, und eine andere Reihe außerordentlicher Musiker.

Auch den Programmen verstand Mendelssohn neues Leben einzuhauchen. Er veranstaltete historische Concerte, und dabei griff er auf den alten Johann Sebastian Bach zurück, dessen D-dur-Suite wie ein Riese unter die moderne Gesellschaft trat. „Bach wiegt uns sammt und sonders auf dem kleinen Finger,“ rief Robert Schumann aus. Damals war es, daß bei Gelegenheit des von Mendelssohn gespielten D-moll-Clavierconcerts von Bach derselbe Schumann eine Gesammtausgabe von Bach’s Werken in Anregung brachte, eine Idee, welche der Musikverleger Peters schon im Jahre 1800 – zur großen Freude Beethoven’s – gehegt hatte, welche aber erst in den fünfziger Jahren durch die „Bach-Gesellschaft“ zur Verwirklichung gelangte.

Es war, als sei mit Mendelssohn ein neuer Frühling in’s Gewandhaus gezogen; denn eine ganze Reihe neuer Componisten trat plötzlich auf. In allen Ländern begann es auf Mendelssohn’s Wink zu singen. Aus Holland kam Verhulst, aus Skandinavien Gade, aus England Bennett, und Alle mit frischen, blühenden Compositionen. Nennen wir bei dieser Gelegenheit auch gleich Berlioz mit, der in der Zeit von Mendelssohn’s Direction Frankreich im Gewandhaussaale vertrat und mit seinen phantastischen Werken die Meinungen lebhaft entfachte. Leipzig wurde jetzt zum Mekka aller Musiker.

Von den Mitstrebenden deutscher Nation, die ihre Opfer im Gewandhaussaale brachten, sei besonders Norbert Bergmüller genannt, der geniale Freund des unglücklichen Grabbe. Leider starb er, erst sechsundzwanzigjährig, im Jahre 1836. Seine Symphonie, die Mendelssohn im Winter von 1837 zu 1838 aufführte, war vielleicht das bedeutendste Werk, welches jene Zeit im Symphonienfache hervorgebracht; sie sollte nicht vergessen sein. Auch der den Lesern der „Gartenlaube“ speciell bekannte J. C. Lobe erschien in der Zeit von Mendelssohn’s Direction vor dem Leipziger Gewandhaus-Publicum als Componist; als Flötenvirtuos hatte er sich hier schon in seinem dreizehnten Lebensjahre vorgestellt, und es hieß damals: „er spielt wie ein Mann.“ Auf Gegenwart und Vergangenheit erstreckte sich Mendelssohn’s Macht, wie den alten Bach, so rief er einen anderen großen Unbekannten aus dem Grabe vor das Gewandhaus-Publicum. Das war Franz Schubert mit seiner C-dur-Symphonie, die Robert Schumann in Wien entdeckt und eingesandt hatte. Auch die vier „Leonoren“-Ouvertüren mit einander zu hören, glückte dem Gewandhaus-Publicum zum ersten Mal durch Mendelssohn, und unter seiner Direction wurde auch Robert Schumann, der große Zeitgenosse Mendelssohn’s, nun dem Publicum endlich bekannt. Wie man ihn in Wien blos als den „Mann der Clara Wieck“ ansah, so war er auch in Leipzig in seinem eigentlichen Werthe unbeachtet geblieben. Einzelne seiner Claviercompositionen waren vorgetragen worden und „gingen still vorüber“. Jetzt zeigte ihn Mendelssohn als den Symphoniker, und von da an war seine Position fertig. Heute zählt er, dank namentlich den Bemühungen des jetzigen Dirigenten, zu den erklärtesten Lieblingen des Gewandhauses, das er selbst liebte und zu preisen wußte, wie kein Zweiter. Auch der eben erwähnte gegenwärtige Dirigent des Gewandhauses, Karl Reinecke, allen musikalischen Lesern der „Gartenlaube“ eine liebe und vertraute Persönlichkeit, debütirte noch in der Mendelssohn’schen Zeit im Gewandhause als Pianist.

Es war eine herrliche Zeit für das Gewandhaus – die Zeit Mendelssohn’s, und noch heutigen Tages leuchten den alten Leipziger Musikfreunden die Augen, wenn sie von dieser Zeit sprechen. Die Stadt Leipzig machte Mendelssohn zum Ehrenbürger; die Universität verlieh im den Doctortitel honoris causa, aber leider wurde der geniale Mann seinem geliebten Wirkungskreise schon im Jahre 1847 entrissen. Das war eine große Trauer weit über die Mauern der Pleißenstadt hinaus.

Mendelssohn’s Freund, David, blieb dem Institut noch bis zum Jahre 1873 erhalten. Auch während Mendelssohn’s Lebzeit hat er diesen zeitweilig in der Direction vertreten. Ferdinand Hiller (geboren 1811 zu Frankfurt, Capellmeister in Köln) und Niels Gade (geboren 1817 zu Kopenhagen, daselbst Capellmeister) wurden substituirt.

Letzterer übernahm die Direction auch noch einmal auf anderthalb Jahre in der Periode 1848 bis 1860, als deren Repräsentant Julius Rietz anzuführen ist. In Berlin im Jahre 1812 geboren, also wenig jünger als Mendelssohn, war Rietz mit diesem von Jugend auf befreundet. Von ihm wurde er nach Düsseldorf gezogen und folgte ihm dort später im Amte. Auch in Leipzig wurde er Mendelssohn’s Nachfolger. Ein feiner Musiker, wie Rietz war, dazu ein geborener Dirigent, schon durch den Jupiter-Kopf, den scharfen Blick und das kurze Wort imponirend, hielt er das Institut mit leichter Mühe auf der Höhe, auf welche es sein großer Freund und Vorgänger gestellt. Zum allgemeinen Bedauern wurde er im Jahre 1860 als Hofcapellmeister nach Dresden berufen, wo er im Jahre 1877 als königlich sächsischer Generalmusikdirector starb. Ihm war es vergönnt, lange Zeit die Musikfreunde des Gewandhauses mit verborgenen Schätzen aus dem Nachlasse Mendelssohn’s zu erfreuen. Unter seiner Direction debütirten die Pauliner, seit länger als zwanzig Jahren nun Stützen des dem Institute zuständigen Chors und Lieblinge des Publicums. Unter den Virtuosen von Distinction, denen wir in der Rietz’schen Periode im Gewandhause begegnen, seien die Pianistin Wilhelmine Clauß-Szarvady und der Sänger Stockhausen genannt, unter den Componisten H. Ulrich, Reinthaler, Bargiel, Bruch, Reinecke, Veit, Wuerst, A. Dietrich und vor Allem Johannes Brahms.

Mit der neuesten Periode, der verdienstvollen Direction Karl Reinecke’s (geboren am 12. Juni 1824 zu Altona), betreten wir ein Terrain, das allen musikalischen Lesern der „Gartenlaube“ zu gut bekannt ist, als daß wir uns die weitere Fortsetzung des Ciceronenamtes gestatten dürften. Wir nehmen von dem Jubilar mit dem Bewußtsein Abschied, daß er trotz seiner hundert Jahre kein Greis ist. Wie bekannt, denken die Gewandhaus-Concerte an einen neuen Umzug; ihr zukünftiges Heim, welches ihnen Räumlichkeiten bieten soll, die den veränderten Größenverhältnissen der Stadt, den hochgesteigerten Ansprüchen der Chorbesetzung entsprechen, wird hoffentlich in nicht zu langer Zeit geschaffen sein. Die großen Mittel, welche die Errichtung fordert, zeichneten Leipzigs Musikfreunde hochherzig und schnell. Möge derselbe gute Sinn, dem das Gewandhaus seine Blüthe verdankt, immer fortleben, möge das Institut weiter und weiter gedeihen zum Heil der Kunst, zum Heil der Menschheit!



  1. Es bestand aus 16 Violinen, 3 Violen, 2 Cellos, 2 Violons, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotten, 2 Hörnern, einer Laute und einem Flügel.
  2. Dieses feiert am 25. November gleichfalls ein Jubiläum, und zwar das vierhundertjährige seiner Erbauung.
  3. Schmitt in Amsterdam, nachher Musikdirector in Frankfurt a. M.
  4. Reichardt, königl. preuß. Musikdirector, † in Halle an der Saale 1814.
  5. Wahrscheinlich Karl Stamitz in Mannheim, † 1801 in Jena.
  6. J. C. Bach, Sohn von Johann Sebastian Bach, der sogenannte Londoner Bach.
  7. Madem. Podleska war später in Prag als Frau Battka eine beliebte Sängerin und ließ mit ihrer Schwester dem wackern Hiller ein Monument in Leipzig errichten.
  8. Wolff starb 1792 als Capellmeister in Weimar.