Die Gartenlaube (1883)/Heft 7

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Lily begann sich jetzt ihres Aberglaubens zu schämen. Der junge Baron sah nicht aus, als ob er sich so ohne Weiteres der seltsamen Manie seines Onkels fügen werde, die bekanntlich darin bestand, den Leuten den Hals umzudrehen. Sie war einigermaßen beruhigt über sein Schicksal; deshalb faßte sie vorsichtig die Zipfel ihres Taschentuches zusammen, das die Nüsse barg, und erklärte, daß sie in das Dorf zurückkehren müsse.

„Ich gehe gleichfalls dorthin,“ sagte Paul. „Ich beabsichtige dem Herrn Pfarrer einen Besuch zu machen.“

„Meinem Vetter Gregor?“

„Ah, Sie sind eine Verwandte des geistlichen Herrn? Dann wohnen Sie vermuthlich auch im Pfarrhause?“

„Nein, ich wohne in Rosenberg; ich bin nur heute mit meiner Schwester zum Besuche in Werdenfels.“

Paul blieb plötzlich stehen, und sein Gesicht verklärte sich förmlich.

„Mit Ihrer Schwester, der Frau von Hertenstein?“

„Ja – Sie kennen ihren Namen?“

„Gewiß! Ich hatte das Glück, ihr Reisegefährte zu sein. Hat die gnädige Frau nichts davon gegen Sie erwähnt?“

„Keine Silbe!“ versicherte Lily, die nicht begriff, wie man eine derartige Bekanntschaft verschweigen konnte.

Paul sah etwas enttäuscht aus. Also nicht einmal sein Name war genannt worden, aber er wußte jetzt, was ihm in den Zügen des jungen Mädchens schon damals bei der ersten flüchtigen Begegnung aufgefallen war. Es war die Aehnlichkeit mit der Schwester gewesen; nur der Name Vilmut hatte ihm fremd geklungen. Aber Lily gewann jetzt, wo er entdeckte, daß sie dem Ideal seiner Träume so nahe stand, eine ganz andere Bedeutung für ihn.

Er erzählte ihr von dem Zusammentreffen in Venedig und fand es ungemein merkwürdig, daß der Zufall ihn hier mit der Frau von Hertenstein wieder zusammenführte. Lily, die nicht wissen konnte, daß er eine halbe Stunde im schärfsten Galopp geritten war, um diesen Zufall in Scene zu setzen, fand das gleichfalls merkwürdig und hatte nichts dagegen, daß er sich ihr anschloß, und so langten sie denn gemeinschaftlich und mit den Haselnüssen im Pfarrhause an.

Der Pfarrer und Anna befanden sich im Studirzimmer des Ersteren, und Lily führte ihre neue Bekanntschaft dort ein. Unter anderen Umständen hätte sie wohl eine Strafpredigt des gestrengen Vetters gefürchtet, der es sicher sehr unpassend fand, daß sie in Begleitung eines fremden jungen Mannes erschien. Da es sich aber hier um einen Bekannten ihrer Schwester handelte, so glaubte sie sich hinreichend entschuldigt und stellte den Herrn Baron von Werdenfels vor, der dem Pfarrer einen Besuch machen wollte und dem sie am Schloßberge begegnet sei. Die Geschichte mit den Nüssen wurde dabei selbstverständlich verschwiegen.

Paul trat näher; er bemerkte nicht das eisige Befremden des Geistlichen bei der Nennung seines Namens, bemerkte nicht einmal die peinliche Ueberraschung der Frau von Hertenstein bei seinem Erscheinen; er sah nur das Antlitz, das ihm in der letzten Zeit auch nicht einen Augenblick aus der Erinnerung gewichen war, und seine Augen strahlten bei diesem Wiedersehen in so unverkennbarer Glückseligkeit, daß die kleine Lily sehr verwundert dreinschaute und sich ihre eigenen Gedanken über diese Reisebekanntschaft zu machen begann.

Vilmut hatte sich erhoben und war dem Gaste einen Schritt entgegen gegangen, aber er sprach nicht ein einziges Wort der Begrüßung oder des Willkommens und überließ es dem jungen Manne, sich selbst einzuführen. Dieser wiederholte, was er schon Lily erzählt hatte, daß er im Schlosse gewesen sei und sich das Vergnügen nicht habe versagen wollen, bei dieser Gelegenheit auch den Herrn Pfarrer von Werdenfels kennen zu lernen, welchem er durch seine nahe Verwandtschaft mit dem Gutsherrn ja kein Fremder sei.

Vilmut hörte das alles an, ohne eine Miene zu verziehen; dann wiegte er das Haupt und sagte frostig:

„Gewiß, Herr Baron!“

Aber in seinem Gesicht stand deutlich die Frage, welche seine Lippen allerdings nicht aussprachen, was der Besuch denn eigentlich bei ihm wolle?

Paul achtete anfangs nicht auf diesen seltsamen Empfang, weil er ganz andere Dinge im Kopfe hatte. Er fand den geistlichen Herrn sehr steif und über alle Maßen unliebenswürdig, übrigens aber war ihm derselbe höchst gleichgültig. Er wandte sich daher ausschließlich an Frau von Hertenstein und sprach ihr seine Freude aus, sie wiederzusehen. Er hatte natürlich keine Ahnung von ihrem Hiersein gehabt, aber er hoffte, sie werde ihm erlauben, die nur allzu flüchtige Bekanntschaft zu erneuern, und damit war er im vollen Fahrwasser seiner Liebenswürdigkeit und zog alle Schleusen derselben auf, ohne sich weiter um den langweiligen Geistlichen zu kümmern.

Aber Gregor Vilmut war nicht der Mann, der sich so ohne Weiteres ignoriren ließ. Einige Minuten lang beobachtete er [106] scharf und schweigend den jungen Mann, dann unterbrach er dessen lebhafte Unterhaltung ebenso plötzlich wie rücksichtslos mit der Frage:

„Sie sind wohl erst sehr kurze Zeit in Felseneck, Herr Baron?“

„Erst seit acht Tagen,“ sagte Paul leicht hin und wandte sich wieder an die junge Frau. Jetzt aber trat Vilmut an den Stuhl derselben, stützte den Arm auf die Lehne und bemächtigte sich vollständig des Gespräches.

„Sie haben also wohl noch nicht Gelegenheit gehabt, sich mit den Verhältnissen der Umgegend vertraut zu machen?“ fragte er weiter.

„Nein, ich bin ja noch ganz fremd hier, aber eben deshalb suche ich mich einigermaßen zu orientiren.“

„Das ist sehr natürlich! – Weiß der Freiherr, daß Sie mir die Ehre Ihres Besuches zu Theil werden lassen?“

„Nein, er weiß nicht einmal, daß ich in Werdenfels bin,“ entgegnete der junge Mann, ungeduldig und ärgerlich, daß man ein förmliches Examen mit ihm anstellte.

„Das dachte ich mir!“ sagte Vilmut kalt.

Diese Bemerkung machte Paul doch stutzig; er begann endlich in der eisigen Zurückhaltung des Pfarrers eine Absicht zu fühlen und nahm nun auch seinerseits eine kalte Miene an.

„Mein Besuch scheint Sie zu befremden, Hochwürden,“ sagte er. „Ich glaubte eine Höflichkeit zu erfüllen, wenn ich Sie aufsuchte, da ja auch Schloß Werdenfels zu Ihrer Pfarre gehört, ich sehe aber, daß ich mich im Irrthum befunden habe, und bedaure sehr, ein unwillkommener Gast zu sein.“

„Bitte, Herr Baron, Sie sind mir willkommen!“ unterbrach ihn Vilmut mit scharfer Betonung. „Ich fragte nur Ihretwegen; denn ich fürchte, Sie werden diesen Besuch in Felseneck vertreten müssen.“

Paul sah erst den Pfarrer, dann Frau von Hertenstein an, als erwarte er von einer Seite wenigstens eine Aufkärung, aber das Gesicht Vilmut’s blieb unbeweglich, und Anna schwieg beharrlich, während ihre junge Schwester, die freilich auch erst seit wenigen Wochen in Rosenberg war, mit höchster Neugierde zuhörte, aber offenbar nicht das Geringste von der Sache begriff. Die Spannung hatte den höchsten Grad erreicht, als zum Glück gemeldet wurde, daß der Postbote dem Herrn Pfarrer einen wichtigen Brief persönlich zu übergeben wünsche. Vilmut entschuldigte sich für einige Minuten und ging hinaus. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, so wandte sich Paul an die junge Frau.

„Gnädige Frau, ich bitte Sie dringend, mir zu erklären, was dies Alles bedeutet.“

Anna warf einen Blick auf das Nebenzimmer: dann entgegnete sie rasch und leise:

„Die Frage gebe ich Ihnen zurück, Herr von Werdenfels. Was bedeutet Ihr Erscheinen in diesem Hause? Wie kommen Sie hierher?“

„Ich habe es Ihnen ja bereits mitgetheilt – auf die einfachste Weise in der Welt. Ich sehe jetzt freilich, daß hier ganz besondere Verhältnisse obwalten, die meinen Besuch seltsam erscheinen lassen, aber – mein Wort darauf! – ich hatte keine Ahnung davon. Was um Gotteswillen liegt denn zwischen meinem Onkel und Ihrem Verwandten?“

„Das werden Sie jedenfalls in Felseneck erfahren. Ich stehe all diesen Verhältnissen gänzlich fern.“

Das war wieder der kalte, zurückweisende Ton, den Paul nicht zum ersten Male von diesen Lippen hörte; diesmal aber ließ er sich dadurch nicht zurückschrecken; denn er glaubte jetzt zu wissen, daß diese Kälte nicht ihm galt, sondern dem Namen, den er trug.

„Sie zürnen mir, gnädige Frau?“ sagte er mit leiser, inniger Bitte.

„Ich? Nein. Weshalb sollte ich Ihnen zürnen?“

„Weil Sie mir nicht einmal ein Wiedersehen erlauben wollen! Sie kannten das Ziel meiner Reise und doch verrieth mir auch nicht eine Silbe, daß Sie in Rosenberg lebten. Es war ein Zufall, der mich vor einigen Tagen Ihre Nähe entdecken ließ. Wollten Sie mir wirklich ein Geheimniß daraus machen?“

„Nein, denn ich konnte mir sagen, daß Sie es früher oder später doch entdecken würden, aber –“

„Also darf ich nach Rosenberg kommen? Darf ich?“ unterbrach sie Paul mit leidenschaftlichem Aufflammen. Er kümmerte sich nicht darum, daß Lily dabei saß und mit großen Augen zuhörte; es fiel ihm überhaupt nicht ein, ein Geheimniß aus seinen Gefühlen zu machen. Die junge Frau dagegen schien peinlich dadurch berührt zu werden, ehe sie aber noch antworten konnte, trat Vilmut wieder ein.

Paul erhob sich sofort; er fühlte, daß er diesen improvisirten Besuch auch nicht eine Minute länger ausdehnen dürfe. Er verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung von Frau von Hertenstein, mit einer zweiten von Lily und ging dann. Vilmut machte nicht den geringsten Versuch, ihn zurückzuhalten; er begleitete und entließ ihn mit derselben frostigen Höflichkeit, wie beim Empfange. Dem jungen Manne ging es wie Lily; auch er athmete auf, als er nicht mehr unter dem Banne dieser kalten, strengen Augen war.

Drinnen im Zimmer machte Lily inzwischen ihrer Verwunderung Luft. Sie fand, daß der junge Baron ihre Schwester in ganz besonderer Weise angesehen habe und daß sein Ton ebenfalls ein ganz besonderer gewesen sei, als er um die Erlaubniß bat, nach Rosenberg kommen zu dürfen; kurz, sie fand, daß die Sache höchst verfänglich sei. Aber die arme Kleine hatte kein Glück mit ihren klugen Beobachtungen; sie wurde auch diesmal ernst zurückgewiesen und man erklärte ihr, daß sie solche Dinge noch gar nicht verstehe, also auch nicht darüber sprechen dürfe. Lily begriff durchaus nicht, warum ihr mit sechszehn Jahren noch jedes Verständniß für dergleichen fehlen sollte. Sie ergriff schmollend ihre Haselnüsse und lief damit in das Nebenzimmer, weil sie den Vetter Gregor zurückkehren sah, der in der nächsten Minute eintrat.

„Das war ein seltsamer Besuch!“ sagte er mit einem beinahe hohnvollen Ausdruck. „Was hältst Du eigentlich davon?“

„Ich glaube, daß die Sache sich wirklich so verhält, wie der junge Baron sie schildert,“ entgegnete Anna. „Er ist im Schlosse gewesen und hat nur eine Pflicht der Höflichkeit erfüllen wollen, als er Dich aufsuchte.“

Gregor’s Augen ruhten wieder durchdringend auf ihrem Antlitz.

„Möglich!“ entgegnete er herbe, „aber ich fürchte, daß diese Höflichkeit mir am wenigsten galt. Deine Augen haben wieder einmal Unheil angerichtet, Anna! Ich sah es gleich im ersten Moment. Doch ich brauche Dich wohl nicht erst zu warnen, um den jungen Menschen fern zu halten. Er ist ja ein Werdenfels – das schließt ihn von Deiner Nähe aus!“




Es waren keine sehr angenehmen Empfindungen, mit denen der junge Baron Werdenfels nach Felseneck zurückkehrte; denn er konnte sich nicht verhehlen, daß dieses so heiß ersehnte Wiedersehen sich einigermaßen peinlich gestaltet hatte, und daß sein Besuch im Pfarrhause eine Uebereilung gewesen war. So wenig er auch die Verhältnisse kannte, es war ihm doch klar geworden, daß zwischen seinem Onkel und diesem Pfarrer Vilmut irgend etwas Feindseliges lag. Er glaubte jetzt den Grund jener kalten Zurückhaltung entdeckt zu haben, welche die schöne Frau ihm gegenüber zeigte. Sie galt nicht ihm persönlich, sondern lediglich seinem Namen, aber darüber setzte er sich mit dem ganzen glücklichen Leichtsinn der Jugend hinweg – das war keine Schranke für seine Hoffnungen. Die Erlaubniß, nach Rosenberg zu kommen, war ihm zwar nicht ausdrücklich gewährt, aber auch nicht versagt worden; er nahm sie also ohne Weiteres als bestehend an und ließ sich in seinen Zukunftsträumen nicht im geringsten stören.

Bei seiner Ankunft in Felseneck empfing ihn Arnold mit der Nachricht, daß der „gnädige Herr Onkel“ ihn zu sehen wünsche. Paul liebte diese Audienzen nicht besonders, so kurz und flüchtig sie auch meistens waren. Seine warme Natur fühlte sich bei jedem solchen Zusammensein von der eisigen Gleichgültigkeit des Freiherrn mehr und mehr abgestoßen, aber ein Wunsch von dessen Seite war natürlich ein Befehl für ihn, dem er sofort nachkam. Er erkundigte sich daher nur, welche Zeit für den Besuch festgesetzt sei.

„Fünf Uhr!“ sagte Arnold mit großer Feierlichkeit. „Und ich werde Sie diesmal begleiten, Herr Paul.“

Paul sah ihn erstaunt an.

[107] „Was fällt Dir ein? Du weißt ja, daß Niemand dem Freiherrn nahen darf, der nicht eigens gerufen worden ist.“

„Ich bin aber gerufen worden,“ erklärte Arnold mit höchster Genugthuung. „Der gnädige Herr haben mir ausdrücklichen Befehl gesandt, mich heute vorzustellen.“

„Hat er das wirklich gethan?“ rief Paul. „Ich habe ihm allerdings bei dem letzten Zusammensein von Deiner Verzweiflung gesprochen, daß Du den Chef des Hauses noch nicht einmal zu Gesicht bekommen habest, ich glaubte aber nicht, daß es helfen würde; denn er schwieg darauf, und ich wagte natürlich keinen directen Wunsch zu äußern.“

„Sie wagen gar nichts, Herr Paul,“ sagte Arnold geringschätzig. „Sie verstehen überhaupt gar nicht, den Herrn Onkel zu behandeln, und doch sind Sie der Einzige, mit dem er bisweilen verkehrt. Es ist ja eine wahre Sünde, so dahinzuleben und wie ein Nachtgespenst vor den Menschen und dem Tage zu fliehen, wenn man so und so viele Güter und Schlösser besitzt und selbst nicht einmal weiß, wie reich man ist. Der Herr Onkel brauchen entschieden Jemand, der ihm in aller Unterthänigkeit den Kopf zurechtsetzt, und da Sie das nicht wagen –“

„So willst Du es thun,“ ergänzte Paul sehr belustigt. „Nimm Dich in Acht, Arnold! Die Sache könnte schlimm ablaufen, wenn der Freiherr zufällig übler Laune ist.“

„Er ist doch nicht etwa gefährlich?“ fragte Arnold, dessen alte Besorgniß sich wieder regte. „Kann man denn überhaupt vernünftig mit ihm sprechen, oder –“ er griff mit bezeichnender Geberde an seine Stirn.

Paul lachte laut auf.

„Nein, in dieser Beziehung brauchst Du keine Besorgniß zu hegen. Er ist ganz vernünftig, aber ich zweifle sehr, ob er für Deine Predigten zugänglich sein wird. Es ist nicht Jeder ein so geduldiges Opferlamm wie ich.“

Arnold schien über diese Lammesgeduld seines jungen Herrn durchaus anderer Meinung zu sein, im Uebrigen aber hatte er sich wirklich vorgenommen, dem Freiherrn von Werdenfels den Kopf zurechtzusetzen. Daß dies bisher noch Niemand gewagt hatte, war ihm ebenso unerklärlich, wie die tiefe, ehrfurchtsvolle Scheu, welche die gesammte Dienerschaft von Felseneck vor ihrem Herrn hegte; denn Arnold, der stets den allertiefsten Respect im Munde führte, besaß davon in Wirklichkeit nicht das Mindeste. Er hing mit Leib und Seele an seiner Herrschaft und hätte sich im Nothfall für dieselbe todtschlagen lassen, aber das hatte ihn nie gehindert, diese Herrschaft mit dem allertiefsten Respect zu tyrannisiren.

Schon der verstorbene Herr von Werdenfels hatte ihm auf seine Treue und Anhänglichkeit hin alles Mögliche hingehen lassen; die selige Frau Baronin stand nun vollends ganz unter seinem Scepter, und bei dem Junker Paul war er Kammerdiener und Mentor in einer Person.

Er fühlte sich deshalb tief beleidigt, daß der Chef der Familie so gar keine Notiz von seinem Dasein nahm, und hatte seinem jungen Herrn so lange zugesetzt, bis dieser ihm den Willen that, und im Gespräch mit dem Onkel jene Aeußerung fallen ließ. Jetzt war der große Moment der Vorstellung da, und der alte Diener schritt, ganz erfüllt davon, hinter Paul her und nach der Wohnung des Schloßherrn, wo er einstweilen im Vorgemach warten mußte.

Paul trat inzwischen in das Zimmer des Freiherrn, der an seinem Schreibtische saß und den Eintretenden, wie gewöhnlich, mit kühler Freundlichkeit begrüßte.

„Du hast studirt?“ fragte der junge Mann, dessen Blick über die Papiere und Bücher hinglitt und dabei den Titel eines der letzteren auffing. „Ah, Du treibst Naturwissenschaften, wie ich sehe.“

„Hexenkünste!“ sagte Werdenfels, indem er sich in den Sessel zurücklehnte. „So glauben wenigstens die Leute dort unten im Thale. Lächle nicht, Paul! Ich spreche im Ernste; es gilt ihnen für ausgemacht, daß ich mich mit der schwarzen Kunst abgebe, und selbst meine Dienerschaft ist fest davon überzeugt, daß meine Experimente Teufelswerk sind.“

„Ist man hier zu Lande wirklich noch so abergläubisch?“ fragte Paul erstaunt. „Mein Gott, wofür ist denn die Aufkärung, wofür sind die Schulen da?“

„Für die nächste Generation vielleicht! In der jetzigen ist der Priester noch allmächtig – bei uns wenigstens – und für den ist der Teufelsglaube ein zu nützliches Zucht- und Schreckmittel, als daß er ihn bannen sollte. Aber,“ hier schob Raimund mit dem Ausdruck des Widerwillens die Bücher und Manuscripte von sich, „ich finde auch kein Interesse mehr an diesen Studien, welche ich früher mit Vorliebe getrieben habe. Ich frage mich schließlich: Wozu das alles, da ich es ja doch nie verwerthe? Freilich – wozu das ganze Leben überhaupt?“

Die Frage klang nicht bitter, nur müde, aber Paul war gerade jetzt am wenigsten in der Stimmung, auf pessimistische Ideen einzugehen. Er hatte Kopf und Herz voll von rosigen Zukunftsträumen; deshalb überging er die letzte Bemerkung und sagte leichthin:

„Ich habe leider nie eine besondere Neigung für das Studiren gehabt. Ich und die Bücher, wir standen stets auf etwas gespanntem Fuße.“

„Das sehe ich – Du hast die Bibliothek noch nicht einmal betreten. Das soll kein Vorwurf für Dich sein,“ unterbrach sich der Freiherr, als der junge Mann antworten wollte. „In Deinem Alter zieht man andere Beschäftigungen vor, und es ist Deine Sache, wie Du Dir den Aufenthalt in Felseneck erträglich machst. Wie ich höre, jagst und reitest Du viel – das ist immerhin eine Unterhaltung.“

„Eine Unterhaltung, ja, aber keine Thätigkeit.“

„Vermissest Du diese?“ fragte Raimund mit leiser Ironie.

„Offen gestanden: ja! Ich meine überhaupt, daß es jetzt Zeit für mich ist, an einen bestimmten Beruf zu denken.“

„Das meine ich auch, aber ich glaubte kaum, daß Du darauf dringen würdest.“

„Doch, Raimund!“ sagte Paul lebhaft. Er hatte nach dem Wunsche des Freiherrn seit jener ersten Zusammenkunft den „Onkel“ fallen lassen. „Ich habe Dich schon längst fragen wollen, was Du über meine Zukunft beschlossen hast.“

Raimund streifte mit einem halb verwunderten Blick den jungen Mann, der auf einmal ein so dringendes Verlangen nach Thätigkeit kund gab.

„Das hängt von Deiner eigenen Neigung ab. Ich werde Dir darin nichts vorschreiben. Willst Du in den Staatsdienst treten?“

„Ich – ich würde das Landleben vorziehen,“ erklärte Paul nach einigem Zögern. „Ich kenne es zwar bis jetzt nur wenig, aber ich habe ja hier auf Deinen Besitzungen die beste Gelegenheit, mich damit vertraut zu machen, und ich gestehe, daß es mich ungemein anzieht.“

„Die Einsamkeit von Felseneck scheint ja Wunder gethan zu haben!“ sagte Raimund, diesmal mit unverhehltem Spott. „Ich habe von dem achttägigen Aufenthalt wirklich noch nicht ein derartiges Resultat erwartet. Du willst das Landleben erwählen? Ich habe nichts dagegen, aber ich fürchte, es wird Dir sehr bald einförmig und langweilig erscheinen.“

„O gewiß nicht!“ rief Paul und begann nun mit einer gewissen Feierlichkeit aus einander zu setzen, daß er den wilden Streichen ein für alle Mal den Abschied gegeben habe, daß er ein ganz neues Leben anfangen wolle, daß er sich nach einer Heimath, einer Häuslichkeit sehne, und floß förmlich über von den allervortrefflichsten Plänen und Vorsätzen. Er hatte sich während des zweistündigen Rittes das alles sehr ausführlich einstudirt, um es bei nächster Gelegenheit dem Onkel vorzutragen, und da es ihm wirklich Ernst damit war, so kam die Rede auch sehr überzeugend von seinen Lippen, aber der erwartete Effect blieb aus. Raimund hörte mit gewohnter Gleichgültigkeit zu, ohne ihn zu unterbrechen, und als der Vortrag zu Ende war, sagte er ruhig:

„Paul – Du bist wohl verliebt?“

Paul wurde dunkelroth bei dieser unerwarteten Frage. Er hatte vorläufig noch ein Geheimniß aus seiner Neigung machen wollen, aber der halb mitleidige, halb verächtliche Ton rief seinen ganzen Stolz wach, und ohne sich zu besinnen, antwortete er mit Nachdruck:

„Nein – ich liebe!“

„Machst Du einen so erheblichen Unterschied zwischen den beiden Worten?“

„Glaubst Du nicht, daß ein solcher Unterschied existirt?“

„Gewiß, aber ich bezweifle, daß Du ihn kennen gelernt hast im Kreise Deiner italienischen Freunde.“

[108] Der junge Mann verstand nur zu gut die Hindeutung und den Vorwurf, welcher darin lag, aber er antwortete mit voller Offenheit:

„Ich habe die Liebe damals noch nicht gekannt; sonst hätte sie mich sicher bewahrt vor jenem wilden Leben. Es war erst in den letzten Tagen meines Aufenthaltes in Venedig, wo ich sie erblickte.“

Er hielt inne; denn er sah zum ersten Male eine Regung von Interesse in dem Gesichte Raimund’s, dessen Augen sich groß und fragend auf ihn richteten. In diesen dunklen, sonst immer verschleierten Augen schien etwas aufzublitzen, wie ein helles flüchtiges Leuchten, während er wiederholte:

„In Venedig? – Dort also?“

„Du kennst vermuthlich die Stadt?“

„Ob ich Venedig kenne – o ja!“

Die Worte klangen träumerisch, wie in Erinnerung verloren, und das nahm auch dem jungen Manne die Scheu, mit der er sonst in Gegenwart des Freiherrn jedes wärmere Gefühl zurückdrängte; er brach in leidenschaftlicher Empfindung aus:

„Mir wird Venedig unvergeßlich bleiben; denn dort ist mir der Stern meines Lebens aufgegangen.“

„Sterne versinken!“ sagte Raimund plötzlich in eiskaltem Tone. „Trau’ ihnen nicht, Paul! Sie lügen Dir nur mit ihrem verheißenden Schimmer und lassen Dich alsdann in der Nacht allein.“

(Fortsetzung folgt.)




Christoph der Erste von Württemberg.

Von Arthur Kleinschmidt.

„In schönen Sommertagen, wann lau die Lüfte wehn,
Die Wälder lustig grünen, die Gärten blühend stehn,
Da ritt aus Stuttgarts Thoren ein Held von stolzer Art.“


Ja, es war wohl einer der glänzendsten Fürsten, welche die an kräftigen und kühnen Gestalten so reiche Geschichte des schönen Württemberger Landes aufzuweisen hat, ein Mann, berühmt und bewundert in ganz Europa, ein wahrer Friedensfürst, der weise Vater und Berather seines geliebten Volkes, der, wie sein Ahne, sein müdes Haupt sorglos jedem Unterthanen in den Schooß legen konnte. Christoph war zwar am kaiserlichen Hofe in Wien aufgewachsen, 1532 jedoch entflohen, hatte sich unter baierischen Schutz gestellt und nicht gerastet, bis der heiligste Wunsch seines Herzens erfüllt und sein von Oesterreich des Landes beraubter Vater, jener wilde Herzog Ulrich der Erste, den wir alle aus Hauff’s herrlicher Dichtung „Lichtenstein“ kennen, 1534 wieder in Besitz seines Erbes getreten war.

Durch das Unglück geläutert, hatte der restaurirte Herzog gut regiert, Land und Volk wehrhaft gemacht und ihm das köstlichste Geschenk gegeben, welches in seiner Macht lag: durch Schnepf und Blarer ward die Reformation in Württemberg eingeführt; ein Kirchenrath begann zu amten; nach und nach und mit viel Schonung wurden die geistlichen Güter eingezogen und ihre Einkünfte großentheils zur Verbesserung der Schulen und zur Besoldung der protestantischen Geistlichen verwendet; das evangelische Seminar in Tübingen, wo die Universität bereits den Kampf mit den Dunkelmännern muthvoll eröffnet hatte, trat in’s Leben; Licht strahlte auf allen Pfaden, die das beglückte Volk wandelte.

Da brach am Abende von Ulrich’s bewegtem Dasein nochmals schweres Unglück über ihn und sein Land herein; er mußte für seine Theilnahme am Schmalkaldischen Bunde büßen: der finstere Kaiser Karl der Fünfte ließ wiederum ganz Württemberg besetzen; sein Bruder, König Ferdinand, der nicht vergaß, daß er vor Kurzem Herzog in Stuttgart gewesen, leitete einen Proceß auf Felonie (Lehnsuntreue) ein, und Ulrich drohte die Entthronung seiner Dynastie. Ihm blieb nichts übrig, als demuthsvolle Unterwerfung; in Heilbronn bat er den spanischen Gewaltherrn kniefällig um Verzeihung, mußte die härtesten Bedingungen unterzeichnen, und die Spanier schalteten in seinen Festungen. Selbst sein Gewissen blieb nicht Ulrich’s Eigenthum; obwohl ein großer Theil des Clerus damit unzufrieden, war der alte Herr gezwungen, das verhaßte Interim[1] „mit dem Teufel hinter ihm“ anzunehmen, und unter dem Eindrucke, daß sein Volk unter ihm gar viele Trübsal erlitten, schloß er am 6. November 1550 die müden Augen, mit seinem Sohne, dem er einst gegrollt, längst ausgesöhnt.

Waren das nicht traurige Jugenderlebnisse für Christoph? Gewiß, aber im Feuer der Leiden härtete sich der Charakter des Prinzen, welcher jetzt mit fünfunddreißig Jahren den Thron seines Vaters bestieg. Durch den Schmalkaldischen Krieg belehrt, blieb Herzog Christoph 1552 im Fürstenkampfe gegen Karl den Fünften neutral und befreite dadurch sein Land von der österreichischen Afterlehnsherrschaft, seine Festungen von den spanischen Garnisonen, die Kirche und die Seelen seines Volkes wie das eigene Herz vom Drucke des Interim. Niemand hatte einen so hervorragenden Antheil wie er am Zustandekommen des Augsburger Religionsfriedens; er verkündete den Frankfurter Receß vom 18. März 1558, der seiner milden Gesinnung und echten Frömmigkeit entsprach, seinem Volke; er erließ 1559 die große Kirchenordnung; er ging zum Naumburger Fürstentage und vollendete das von seinem Vater ererbte Werk der Reformation, mit den unermüdlichen Johann Brenz und Jacob Andreae, den bestgehaßten Gegnern der süddeutschen Katholiken, unablässig thätig. Er verfaßte Landesordnung und Landrecht, erweiterte die Rechte der zu Landtagen zusammentretenden Prälaten und Abgeordneten der Städte und Aemter, richtete ständische Ausschüsse ein, hielt den Adel in Ohnmacht und erwarb sich um Verfassung, Verwaltung, Rechtspflege und Gesetzgebung die größten Verdienste. Auf dem Landtage von 1565 stellte er Kirchenlehre, Kirchengut und Kirchenordnung unter die Garantie der Stände, durch die er auf dem Landtage des folgenden Jahres sein Testament zum Gesetze erheben ließ.

Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa hatte Christoph’s Name Vollklang und große Autorität. Der Kaiser stand mit dem Herzoge in den nächsten Beziehungen; Königin Elisabeth von England trat mit ihm in Verkehr, und die Königin-Mutter, Katharina von Medicis, bot ihm im März 1563 die Stellung eines Oberstatthalters in Frankreich mit unbeschränkten Vollmachten an, damit er die Unruhen dämpfe, ein Anerbieten, welches der kluge Fürst ablehnte; er gierte nicht nach dem unsicheren Erfolge der Einmischung in fremde Staaten; ihn lockte nur der Lorbeer des treuen Landesvaters. Sein Volk liebte ihn aufrichtig und sah ihm freundlich manche Schwäche, wie seine große Baulust und die leidenschaftliche Pflege des Waidwerks, nach, und noch heute spricht der Unterthan seines Enkels ehrfürchtig und liebreich von dem Manne, bei dessen Tode Kaiser Maximilian der Zweite, der reformationsfreundliche Habsburger, klagend ausrief, das ganze Reich sei seiner im Interesse gemeiner Wohlfahrt noch lange im höchsten Grade bedürftig gewesen.

Der Herzog that außerordentlich viel für die Volksschule, in der er die beste Erzieherin zu guten und zuverlässigen Unterthanen erblickte; andererseits traf er wesentliche Verbesserungen an der Universität in Tübingen. Ganz allmählich und ohne jeden schroffen Eingriff verschwanden die katholischen Aebte und machten protestantischen Platz; denn Christoph zog die mit den Klöstern vielfach verbundenen Kirchenpatronate ein, entfernte die Meßpriester, ließ sich von den evangelischen Aebten huldigen und wurde so im Frieden der unumschränkte Herr der Klöster; nur sehr selten kam es zu Widersetzlichkeit gegen die neue Ordnung.

Nach dem Ableben der katholischen Pröbste wurden in Stuttgart und Tübingen protestantische Pröbste eingesetzt, eine Neuordnung, welcher besonders die Nonnen Hindernisse in den Weg zu legen suchten; während Christoph ihnen erlaubte, bis zum Tode im Kloster zu bleiben oder mit ihrem Eingebrachten dasselbe zu verlassen oder endlich eine Abfindungssumme zu beziehen, erklärten sich viele gegen die Confession des Landes und nahmen heimlich Novizen auf; so blieb dem Herzoge trotz seiner Friedensliebe nichts übrig als die unbotmäßigen Dominikanerinnen zu Steinheim an der

[109]

Christoph der Erste von Württemberg besucht ein zur Schule umgewandeltes Kloster.
Nach dem Oelgemälde von Professor Wilhelm Lindenschmit.

[110] Murr 1564 durch Hakenschützen zur Huldigung zu zwingen. Aus Beguinenhäusern machte er Lateinschulen oder Spitäler, und waren die Zöglinge der Klosterschule bisher sehr verwahrlost worden, so schufen Christoph und der Reformator Brenz hier ganz neue Verhältnisse.

Von Klosterpräceptoren wurden von nun an die zu Geistlichen bestimmten Knaben in der Bibel, der christlichen Glaubenslehre, der Dialektik und Rhetorik, den Classikern etc. unterwiesen, und nur Latein durfte von Lehrern und Schülern im Verkehre gesprochen werden. So durchgreifend wie in Württemberg wirkten diese Lateinschulen nirgends im Reiche, nicht nur auf die ganze theologische Richtung, sondern auch auf das gesammte Geistesleben ein. Verfassungsgemäß wurden aus dem Kirchengute vierthalbhundert klösterlich gekleidete Jünglinge unterhalten, und auch die großen Einkünfte, welche dem Herzoge aus den aufgehobenen Klöstern zuflossen, verwendete er auf das Gewissenhafteste zu Zwecken der Kirche und Schule; so verdankten ihm die Gelehrten- wie die Volksschulen Leben, Licht und Liebe.

Der große Maler der Reformationszeit, Professor Wilhelm Lindenschmit in München, führt uns den edlen Christoph in einem farbenprächtigen Bilde, dessen Wiedergabe in Holzschnitt die gegenwärtige Nummer der „Gartenlaube“ schmückt, vor Augen, wie er auf einer seiner beliebten Jagdstreifereien ein zur Schule umgewandeltes Kloster betritt, um sich von den Fortschritten seines ganz Württemberg umfassenden Erziehungswerks zu überzeugen. In seinem Gefolge bemerken wir zwei von den acht Töchtern, welche ihm Anna Maria von Brandenburg in glücklicher Ehe schenkte und die selbst in der lateinischen Sprache gut bewandert waren; außerdem treten uns auf dem Bilde mehrere Cavaliere, von denen der alte im Vordergrunde besonders treffend und ausdrucksvoll gezeichnet ist, Geistliche, Lehrer und Schüler der Anstalt entgegen. Ein echter Duft und Reiz ist über die ganze Scene, die sich im Banne des gewaltigen Baumes abspielt, ausgegossen; Alles athmet Frische und trägt den Stempel eigenster Charakteristik.

Leider war dem großen Herzoge kein langes Leben, Württemberg keine lange Dauer seines segensreichen Regiments beschieden. Podagra und andere Beschwerden peinigten ihn, und wenn er trotzdem auch nicht in seinem unermüdlichen Wirken zum Wohle seines Volkes erlahmte, so wußte er doch, daß sein Stündlein bald schlagen werde; er gab „auf das Flickwerk an einem alten Hause“ nicht viel und antwortete der besorgten Herzogin: „Ein kühl Erdreich wird mein Doctor sein.“ An ihrem Geburtstage, dem 28. December 1568, verschied er sanft. Seine Leiche ruht in der Tübinger Gruft; sein Gedächtniß lebt im Herzen aller Württemberger und sicher auch aller dankbaren Deutschen für und für.




Der Augenspiegel.

Kurze Darstellung seiner Geschichte und Anwendung.
Von Dr. J. Hermann Baas.

Die culturgeschichtliche Abgrenzung des Zeitalters der weltumgestaltenden Entdeckungen ist uns Allen geläufig; nicht so diejenige eines Säculums weltbewegender Erfindungen. Aber späteren Geschlechtern wird unser Jahrhundert ohne Zweifel als das der Erfindungen gelten. Geht doch die bekannte Forderung, welche Baco von Verulam vor zwei Jahrhunderten aufstellte, das Wissen müßte zu Erfindungen und diese müßten dann zur Erhöhung der Macht des Menschen führen, heute fast wunderbar in Erfüllung. Das „Hohe Lied“ des Sophokles auf die letztere:

„Vieles Gewaltige lebt und nichts,
Was gewaltiger, als der Mensch …
Mit klugen Erfindungen
So über Verhoffen begabt,
Neigt bald er zum Guten, bald zum Bösen“

hat erst heute seine volle, von allen Früheren kaum geahnte Geltung zum Theile errungen und scheint dieselbe noch mehr in Zukunft erringen zu sollen. Das darf man ohne Uebertreibung sagen.

Im Fluge fahren wir mit dem Dampfe über Länder und durch Meere; wir schreiben in Augenblicksgeschwindigkeit mit der Kraft des Blitzes, welche bei den Alten nur als das Zeichen der Macht des höchsten Gottes galt, heute aber nach dem Gebote des Menschen unsere Nächte erhellt. Und bald dürfte diese Naturgewalt uns auch noch die bisherigen Dienste des Dampfes leisten und dieser dann nur ihr Diener sein; denn heutzutage erleben selbst die Naturkräfte ihre jähen Schicksalswechsel. Wenn jemals Wunder geschehen, so geschehen sie unter unseren Augen!

Ist es nicht ein solches, daß wir aus ungemessenen Fernen des Raums, über die uns nur auf mühsamen Umwegen eine unvollkommene Vorstellung möglich wird, die chemischen Bestandtheile der Fixsterne und der entferntesten Nebelflecke, ja der bisher wesenlosen Kometen festzustellen vermögen? Ist es nicht eine ähnliche Erweiterung unserer Kenntnisse in Bezug auf den Menschen selbst, daß wir in das Innerste seines Auges hineinsehen können? Und doch – wie Viele finden noch etwas Großes darin? Wir Heutigen sind für die Wunder, die uns umgeben, fast blind geworden, weil sich uns fast täglich neue Wunder erschließen.

Erst zweiunddreißig Jahre sind verflossen, seit die wissenschaftliche Welt mit Staunen und die Krankenwelt mit hellem Frohlocken das bis dahin Unmögliche verwirklicht sah: das Dunkel, welches seither undurchdringlich das Innere gerade unseres Lichtorgans umschloß und verhüllte, war völlig erhellt und damit der Heilkunst eine neue Bahn erobert worden.

Zwar sangen und sagten von jeher die Dichter und glaubten die klugen Alten sammt den unerfahrenen Jungen, daß man Jedermann und vor Allem Jedermännin „tief in’s Auge“ zu schauen vermöge! Und doch war das immer nur eitel Dichtung oder hinkendes Gleichniß und arge Selbsttäuschung: nur vier bis fünf Millimeter tief konnten sie Jemandem in die Augen sehen, also nur bis zur Tiefe der farbigen Regenbogenhaut (vergl. Fig. 1). Das war aber gewiß nicht tief! Nicht einmal die kurze Reststrecke von etwa zwei Centimeter Länge, von da bis zum Grunde des Augapfels, an dem der Sehnerv vom Gehirn her in diesen eintritt, um sich als Seh- oder Netzhäutchen, wie es gewöhnlich genannt wird, auszubreiten, konnte man sehend durchdringen; durch das, mit Ausnahme der Kakerlaken, bei allen gesunden Menschen bekanntlich tiefschwarze Dunkel der Pupille drang nie zuvor ein Blick!

Nur selten sah einmal des Abends Jemand zufällig das Auge von Thieren, noch seltener das des Menschen „unheimlich“ leuchten, bei jenen in grünem, bei diesem in rothem Schein. Den Grund jenes Dunkels und dieses Leuchtens wußte man nicht zu deuten, obwohl schon seit dem Jahre 1704 an den physikalischen Bedingungen, besonders des letzteren, vielfach von bedeutenden Naturforschern herumgeklügelt worden war.

Es fehlte vor Allem, um zu dieser Erklärung zu gelangen, an der richtigen naturwissenschaftlichen Fragestellung, welche von jeher bis heute die halbe, in unserem Falle sogar die ganze Erfindung in sich barg.

Jene gelang erst, und zwar in geradezu verblüffender Einfachheit, einem jungen Königsberger Professor, der sich damit erstmals als ein würdiger Jünger Kant’s erwies, und lautete: Warum erscheint die Pupille bei allen Menschen schwarz? Weshalb sehen wir vom Augeninnern nichts?

Die Antwort, ihres streng physikalischen Gewandes entkleidet, lautete folgendermaßen: Die Pupille erscheint in allen gesunden Augen schwarz, weil vermöge des optischen Baues unseres Auges von dem „Meer von Licht“, das durch jene in dieses dringt, einestheils vieles allda aufgesaugt (absorbirt) wird, anderntheils der nach außen zurückkehrende kleine Rest wieder direct zu seinem Ausgangspunkte geht.

Wenn wir die Pupille eines Anderen betrachten, sehen wir also nichts, als das Bild unseres eigenen dunklen Augeninnern, unserer eigenen schwarzen Pupille. Darin lag das Ei des Columbus für diesen Fall. Jedoch auch selbst bei erhellter Pupille, also beim Augenleuchten, sehen wir von den inneren Theilen eines fremden Auges nichts, weil die von diesem ausgehenden Strahlen vermöge der optischen Wirkung desselben als einer mit Sammellinse versehenen Camera obscura, den Beobachter nur zusammengehend, das ist convergent, treffen. Wir vermögen aber unter gewöhnlichen [111] Verhältnissen nur solche Strahlen zu einem Bilde in unserem Auge zu vereinigen, welche unter sich gleich laufen oder aus einander gehen.

Um in’s Innere eines Auges hineinschauen zu können, mußten daher alle diese natürlichen Hindernisse erst beseitigt und aufgehoben werden.

Dies ward in’s Werk gesetzt, indem mittelst spiegelnder, schräggestellter und durchsichtiger Glasplatten im verdunkelten Zimmer die Strahlen eines seitwärts in gleicher Höhe mit diesem stehenden Lichtes in das zu beobachtende Auge hineingeleitet wurden, wodurch dessen Inneres erleuchtet, dessen Pupille zum „Leuchten“ gebracht ward. Darauf wurden die aus letzterer convergent zurückkehrenden Strahlen durch eine hinter den spiegelnden Scheiben angebrachte Zerstreuungs-, also hohlgeschliffene Glaslinse divergent, aus einander gehend, gemacht, und zwar so, daß das durch die Glasplatten und die Linse hindurchsehende Auge des Beobachters die von dem fremden Auge zurückkommenden Strahlen genau auf seiner lichtempfindenden Netzhaut zu einem Bilde vereinigen konnte.[2]

So hatte jener junge Königsberger Professor sich die Sache gedacht, und siehe da, die inneren Augentheile erschienen nunmehr in zauberhafter Klarheit und Deutlichkeit dem beobachtenden Blicke!

Mehrere auf beiden Seiten ganz ebene, polirte Glasplättchen, im Winkel von sechsundfünfzig Graden zur Lichtquelle geneigt und das fremde Auge beleuchtend, bildeten im Verein mit dem dahinter angebrachten Zerstreuungsglase ein neues Auge für das Auge: den Augenspiegel.

Der in diesem Falle „mit kluger Erfindung über Verhoffen Begabte“ war Hermann Helmholtz, jetzt in Berlin, dessen Name inzwischen ein Weltname geworden ist.

War der Augenspiegel ursprünglich nur zu physiologischen Zwecken, also für die Beobachtung des gesunden Zustandes unseres Auges geschaffen, so hatte doch der Erfinder schon angedeutet, daß derselbe auch sehr wohl zur Erkennung der seither so geheimnißvollen inneren Augenkrankheiten dienen könne.

Das ging denn auch sehr rasch in glänzende Erfüllung, und zwar durch den berühmten, 1870 verstorbenen Berliner Augenarzt Albrecht von Gräfe, welcher die Tragweite des „neuen Auges“ sofort mit dem Scharfblick und Feuereifer des Genies erfaßte, und neben diesem durch den noch lebenden Augenarzt Ed. von Jäger, der alsbald einen classischen Atlas der inneren Augenkrankheiten lieferte. Durch diese Männer, sammt ihren gleichstrebenden Genossen und Jüngern, Liebreich, jetzt in London, Otto Becker in Heidelberg, Mauthner in Wien und Andere, ward die deutsche Augenheilkunde zu dem, was sie heute ist: zur Lehrmeisterin und zum Muster für die Bestrebungen der übrigen Culturvöker auf gleichem Gebiet! Sind doch noch bis heute in Paris, London, New-York und in anderen Weltstädten deutsche Augenärzte die anerkanntesten und gesuchtesten!

Der Helmholtz’sche Augenspiegel erforderte jedoch große Uebung in der Handhabung und in jedem Falle zeitraubende Untersuchung, da man immer nur sehr keine Bezirke des Augeninnern mit dessen Hülfe übersehen konnte, weshalb er sich für die alltägliche ärztliche Praxis nur bedingungsweise bewährte. Auch war die durch denselben bewirkte Beleuchtung nur schwach. Doch sah man mittelst desselben die Theile in ihrer natürlichen Lage oder, wie man zu sagen pflegt, im aufrechten Bilde, d. h. was man nach unten sieht, ist auch unten; was man nach außen findet, ist auch außen etc.

Einen leichter zu benutzenden Spiegel, der zugleich eine stärkere Beleuchtung zuließ, erfand alsbald der Leipziger Augenarzt Rüte. Er verwendete einen das Licht zurückstrahlenden, in der Mitte mit einer Oeffnung zum Durchblicken versehenen Hohlspiegel zur Einleitung des Lampenlichtes in das fremde Auge und eine starke Vergrößerungslinse zum Vorhalten vor dieses. Damit sah man Alles zwar jetzt im umgekehrten Bilde – was unten sichtbar ist, liegt in Wirklichkeit oben etc. – man mußte also Alles in Gedanken umkehren, dafür übersah man aber eine viel größere Fläche des Augengrundes mit einem Blick und unter stärkerer Beleuchtung. Man erhielt somit einen raschen Gesammtüberblick, was für die praktische Orientirung des Arztes von Wichtigkeit ist.

Beide Formen aber bilden bis heute die Modelle für all die zahlreichen Arten von Augenspiegeln, die wir jetzt haben. Auch die Grundsätze der Verwendung beider sind geblieben: man untersucht im aufrechten Bilde, wenn es sich um große Genauigkeit der Resultate handelt,[3] im umgekehrten, wenn man einen für die Zwecke der alltäglichen Praxis immerhin ausreichenden Ueberblick haben will.

Sieht man nun mittelst eines Augenspiegels in das gesunde Auge hinein, so erhält man ein zwar einfaches, aber überraschend schönes Bild.

An die Stelle der Pupillenschwärze tritt eine leuchtende Hohkugelfläche, die prachtvoll gelbroth oder rosa zurückstrahlt, und den Glanz des Seidensammets mit der feinen Körnung eines lithographischen Steines verbindet. Sie ist zunächst von zahlreichen, baumförmig verästelten, dunkel- und hellrothen, zum Theil äußerst zarten Blut- und Schlagaderstämmchen durchzogen – in Fig. 2 sind solche schematisch eingezeichnet – wie man sie sonst nirgends im Körper findet. Verfolgt man aber diese Zweige in der Richtung ihres zunehmenden Durchmessers oder, was dasselbe sagt, in der Richtung ihres Ursprungs, so gewahrt man mit einem Male eine runde, durchscheinende, mattglänzende, weißröthliche Scheibe, in deren Mitte jene Gefäße ein- und austreten (s. F. 2). Es ist dies der aus dem Gehirn kommende Sehnerv, welcher sich im Augeninnern als Netzhaut ausbreitet und als solche zum eigentlich sehenden Gebilde wird. Dieses spinnwebendünne Sehhäutchen ist jedoch so durchsichtig, daß es für gewöhnlich nur einen matten, fettartig glänzenden Widerschein giebt, während die farbige Aderhaut (Fig. 1), das Nährhäutchen des Auges, wie man sie nennen kann, welche dicht hinter jenem liegt, deutlich sichtbar ist. Die hinter ihnen sich befindende Lederhaut des Auges, welche das sogenannte Weiße in diesem bildet, ist dagegen von innen her im gesunden Zustande nicht zu sehen.

Jenes so äußerst dünne, mikroskopisch aber sehr zusammengesetzte Sehhäutchen hat neuerdings erhöhtes Interesse gewonnen. [112] Es ist nämlich durch den in Rom vor nicht langer Zeit verstorbenen Physiologen Boll nachgewiesen worden, daß das sogenannte Sehroth desselben eine fortwährend sich erneuernde chemische Substanz birgt, auf der das Licht, so oft wir einen Gegenstand betrachten, nach Art der Silberplatte des Photographen, eine Abbildung liefert, die eine kurze Zeit lang bleibt, um als Augenblicksbild zum Bewußtsein des sehenden Wesens zu kommen. Unser Auge ist also ein höchst vollkommener photographischer Apparat, dessen zu beleuchtende Platte aber nicht erst jedesmal in eine Silberlösung eingetaucht zu werden braucht, sondern sich ungemein rasch selbstthätig durch neu entstehendes Sehroth zur Aufnahme einer neuen Photographie geschickt macht, und zwar jedesmal unter Auslöschung der momentan vorher aufgenommenen. Jener photographische Apparat liefert also im Laufe unseres Lebens Milliarden von schärfsten Bildern und zeigt sich dennoch, selbst im höchsten Alter, wenig abgenutzt!

Fig. 1. Schematischer horizontaler Durchschnitt durch das menschliche Auge.
Zwei Mal vergrößert.
a Hornhaut. b Vordere Augenkammer. c Regenbogenhaut. d Linse. e Hintere Augenkammer. f Harte Haut (sog. Weißes des Auges). g Netzhaut. h Aderhaut. i Sehnervenscheibe. k Aderstämme, mitten durch den Sehnerven in das Augeninnere tretend. l Sehnerv. p Pupille.

Ein Punkt des mit dem Augenspiegel sichtbaren Augenhintergrundes ist es besonders, der sogenannte gelbe Fleck, an dem jene Photographien mit größter Deutlichkeit und Vollkommenheit entstehen, und zwar jene kleine Stelle der Netzhaut, auf welche das Ende der Augenaxe trifft. Gewöhnlich zeichnet sich derselbe nicht als etwas Besonderes ab, manchmal aber kann man ihn als einen dunkleren Fleck mit einer kleinen Vertiefung in der Mitte sehen.

Wird diese nur millimetergroße Stelle der Netzhaut von Krankheiten ergriffen, so führen gerade sie in der Regel zu den schwersten Fällen von Erblindungen, während, wenn andere Theile jenes Häutchens erkrankt sind, die genannte Stelle aber gesund bleibt, das Sehvermögen nicht sehr beeinträchtigt wird. Und gerade in dieser Eigenthümlichkeit unseres Auges liegt ohne Zweifel ein mächtiger Schutz desselben; denn in einer großen Zahl sonst schwerer Krankheiten seines Innern bleibt dieser Centralpunkt unbehelligt oder wird doch nur wenig in Mitleidenschaft gezogen.

Das ist vor Allem in den so überaus häufigen Erkrankungsfällen bei Kurzsichtigen der Fall. Ueberhaupt muß man sagen, daß das Auge, mit den anderen wichtigen Organen, z. B. mit der Lunge, dem Herzen etc., verglichen, trotz seines unvergleichlich feineren Baues, eine außerordentliche Widerstandsfähigkeit besitzt, gleichsam als wollte die Natur das edelste ihrer Gebilde auch auf’s Höchste schützen! Doch es muß leider auch gesagt werden, daß gar viele Erkrankungen des so wunderbar von ihr in Schutz genommenen vollkommensten Sinnesorgans durch Schuld der Menschen, durch Sorglosigkeit und Nachlässigkeit häufiger traurig enden, als die Natur es will.

Die Krankheiten des inneren Auges aber, so schwer sie auch sein mögen, bieten oft bei der Augenspiegeluntersuchung einen wundervollen Anblick; ja man kann fast sagen: je bedenklicher sie sind, desto schöner präsentirt sich oft ihr Bild, sodaß man beim ersten Betrachten desselben leicht in Versuchung geräth, über dem schönen Scheine dessen Gefährlichkeit zu vergessen.

Fig. 2. Der Augengrund durch den Augenspiegel gesehen.
a Sehnervenscheibe. b Gelber Fleck. c Schlagadern der Netzhaut. d Blutadern der Netzhaut.

Einzelne aus der Reihe derselben zu beschreiben, ist hier nicht möglich: nur anführen wollen wir noch, daß sie das ganze große Gebiet des früher sogenannten schwarzen Staars umfassen und daß gar manche Fälle des letzteren heutzutage in Folge der Augenspiegel-Untersuchung im Entstehen erkannt und deshalb zu gutem Ende geführt werden können.

Welch ein Lohn für den Erfinder des Augenspiegels!

Und wenn Helmholtz auch bei der Einweihung des Gräfe-Denkmals in Berlin aus übergroßer Bescheidenheit sagte. „Wenn ich den Augenspiegel vor zweiunddreißig Jahren nicht erfunden hätte, dann hätte ohne Zweifel bald ein Anderer ihn erfunden,“ so mag er mit diesem Ausspruche vielleicht Recht gehabt haben, aber er hat ihn nun doch einmal erfunden, und damit hat er sich für alle Zeiten den Ruhm und – was uns noch größer dünkt – so lange es Augenkranke und eine Cultur geben wird, einen nimmer endenden Dank gesichert; denn oft genug wurde durch den Augenspiegel jenes vielleicht tragischste aller menschlichen Schicksale, dem Sophokles im „Oedipus“ und Shakespeare im „Lear“ so ergreifende Töne geliehen haben, der Verlust des Gesichtes, mittelbar verhütet. Der Augenspiegel ist ohne Zweifel unter allen ärztlichen Erfindungen eine der schönsten und segensreichsten, wenngleich er für die Heilung der schwersten Augenübel nicht alles hielt und halten konnte, was man sich in der ersten Begeisterung von ihm versprochen hatte.




Die Pogge-Wißmann’sche Expedition quer durch Südafrika.

Was in letzter Zeit durch muthige Forscher auf dem Gebiete der Afrikaforschung erreicht wurde, das hat die „Gartenlaube“ schon früher ihren Lesern berichtet. Wir brauchen heute nur an die Namen Livingstone, Stanley, Cameron und Savorgnan de Brazza zu erinnern, und das Bild der Afrikaforschung lebt wieder auf in dem Gedächtnisse Aller, welche die Culturfortschritte der Neuzeit mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt haben.

Heute sei es uns gestattet, unsern Lesern von der jüngsten Großthat auf diesem schwierigen Plane menschlichen Ringens und Strebens zu erzählen! Wenn Stanley und Cameron vor Jahren den dunklen Welttheil in der Richtung von Ost nach West durchquert haben, so ist es ein Deutscher, welcher jetzt das kühne Wagstück zum dritten Male vollbracht, Lieutenaut Wißmann, der Erste, der mit vielen Mühsalen die ungeheuren Landstrecken von Südafrika in umgekehrter Richtung von der Westküste bis zu den östlichen Gestaden durchreiste.

Schon seit Jahren waren deutsche Forscher thätig, das von Engländern, Amerikanern und Franzosen begonnene Werk zu vollenden, aber ihre Expeditionen scheiterten zum Theil an dem Widerstande, welchen ihnen das mörderische Klima und die Feindseligkeit der wilden Stämme entgegensetzte. So blieb die Lösung der Hauptaufgabe, welche sich die deutsche Forschung im südlichen Congobecken gestellt hatte, einem Manne vorbehalten, der schon unter den Sendlingen der ersten deutschen Afrikanischen Gesellschaft einen bahnbrechenden Erfolg davongetragen.

Dr. Paul Pogge (geboren am 24. December 1838 zu Ziersdorf in Mecklenburg-Schwerin) widmete sich anfangs nach Beendigung seiner Studien in Heidelberg der Landwirthschaft. Als Afrikaforscher zeichnete er sich im Jahre 1878 durch die Ueberschreitung des Kuangostromes, eines Nebenflusses des Congo, und durch seine Streifzüge in dem Reiche des Negerfürsten Muata Yamwo aus.

[113] Ende 1879 hatte sich Dr. Pogge erboten, die Führung einer neuen Expedition zu übernehmen, und der Afrikanischen Gesellschaft einen diesbezüglichen Plan unterbreitet. Er wollte abermals nach der Mussumba gehen, dort eine Station in der Reihe der vonder „Internationalen Association“ geplanten Kette von Stationen quer durch Afrika begründen und hoffte bestimmt, alsdann dem ihm beizuordnenden Begleiter die Erlaubniß zur Fortsetzung der Reise nach Norden erwirken zu können. Gern ging die Gesellschaft auf diese Vorschläge des erfahrenen Reisenden ein und wählte zum Begleiter desselben den hierfür wohl vorbereiteten Lieutenant Wißmann, dem die wissenschaftlichen, vor allem die topographischen Arbeiten obliegen sollten. Ende 1880 verließ die Expedition die Heimath und begab sich von Loanda sofort nach dem letzten portugiesischen Orte Malange, um dort die Vorbereitungen für die Reise in’s Innere zu treffen.

Dr. Paul Pogge.  Lieutenant Wißmann.
Nach Photographien auf Holz übertragen von Adolf Neumann.

Ende Mai 1881 waren endlich die erforderlichen Tauschwaaren angekauft, eine Trägerkarawane von gegen 100 Mann und 6 Reitstiere zusammengebracht, ein erfahrener Dolmetsch in der Person desselben Germano engagirt, der Pogge schon auf seiner ersten Reise und dann auch Schütt begleitet hatte. So erfolgte am 2. Juni der Aufbruch. Bis Kimbundo, welches am 20. Juli erreicht wurde, bot die Reise auf oft zuvor begangenen Wegen nichts Bemerkenswerthes. Hier aber erfuhren die Reisenden, daß kriegerische Verwickelungen zwischen den umwohnenden Kioko und ihrem nominellen Oberhaupt, dem Muata Yamwo, ausgebrochen und daß beide Wege zur Mussumba dadurch schwierig, wenn nicht ganz unpassirbar seien. Dieser Umstand in Verbindung mit Buchner’s ungünstigen Erfahrungen, endlich aber höchst verführerische Nachrichten über den von Kimbundo nach Norden führenden Weg bewogen Pogge unter freudiger Zustimmung seines Begleiters zu einer wesentlichen Umänderung des Reiseplanes, zu einem Versuche, eben auf diesem nördlichen Wege, auf dem Schütt gescheitert war, direct einzudringen in das Centrum der unerforschten Südhälfte des Congobeckens.

Diese nördliche Straße wird von Händlerkarawanen seit einer Reihe von Jahren häufig begangen, nachdem Lunda an den Hauptgegenständen des dortigen Handels, Sclaven, Elfenbein und Kautschuk, immer weniger ergiebig geworden. Sie führt in die noch unerschöpften Gebiete zwischen Kassai und Lulua, besonders in das Land der Tussilange, deren Häuptlinge in angenehmem Gegensatz zu dem gewaltthätigen Wesen des erwähnten Muata Yamwo den fremden Händlern die günstigste Behandlung zu Theil werden lassen. Anfangs soll das Entgegenkommen der Tussilange soweit gegangen sein, daß die Händler während ihres Aufenthalts durchaus unentgeltlich verpflegt wurden, in Folge wovon diesem gelobten Lande der Name „Lubuku“ (das heißt in der Sprache der Tussilange „Freundschaft“) beigelegt wurde.

Entscheidend für Pogge’s Entschluß war die zuverlässige Nachricht, daß der angesehenste der Tussilangehäuptlinge, Mukenge, der nahe am Lulua seinen Sitz hat, den bei ihm weilenden Fremden keinerlei Freiheitsbeschränkungen nach Art des Muata Yamwo auferlegt, sondern ihnen gestattet, Excursionen in beliebiger Richtung zu machen.

So brachen denn Pogge und Wißmann, nachdem sich die Mehrzahl ihrer Träger mit dem veränderten Ziel einverstanden erklärt hatte, am 31. Juli nach Norden auf; einige Tagereisen weiter fanden sie Gelegenheit, einen schwarzen Händler, Namens Biserra, als Führer zu engagiren, der bereits einmal zwei Jahre beim Mukenge zugebracht hatte und mit Sprache und Sitten des Landes durchaus vertraut war. Trotz des Widerstrebens der Kioko, die das von ihnen beanspruchte Monopol im Handel mit den Tussilange bedroht glaubten, wußte Pogge die Expedition ungefährdet durch ihr Gebiet zu führen, ebenso durch den nördlichen Theil von Lunda, wo ernste Schwierigkeiten zu gewärtigen waren, da die Unterhäuptlinge des Muata Yamwo strenge Weisung haben, alle zu ihnen kommenden Händler an der Ueberschreitung der Reichsgrenzen zu hindern und sie an den Hof des Oberhäuptlings zu dirigiren.

Nach vierundvierzig Marschtagen wurde am 2. October der Kassai bei Kikassa im Lande der Pende bereits unterhalb der großen Fälle erreicht. In acht Canoes wurde am folgenden Tage die Ueberfahrt der Karawane über den hier in beträchtlicher Tiefe [114] und einer Breite von gegen 350 Meter dahinströmenden Fluß bewerkstelligt und damit das ersehnte Ziel, das Land der Tussilange, erreicht. Gleich am anderen Ufer trafen die Reisenden einen zufällig in Handelsgeschäften anwesenden Häuptling, den Kingenge, der sie sofort zu sich einlud und versprach, sie zu dem im äußersten Osten des Landes gelegenen See Mukamba zu geleiten.

Um auch diese Chance des Gelingens wahrzunehmen, wurde eine vorläufige Trennung beschlossen: Wißmann sollte den Kingenge begleiten, der nur drei Meilen südöstlich vom großen Häuptling Mukenge wohnt, während Pogge, dem ursprünglichen Plane treu, diesen aufsuchen sollte. So geschah es, und am 30. October, nach zweiundsechszig Marschtagen von Kimbundo aus, traf Pogge beim Mukenge ein, der ihn mit vieler Freude empfing und noch an demselben Tage erklärte, daß er schon von dem Anerbieten des Kingenge gehört habe. „Dieser sei aber nur ein abtrünniger Vasall; er sei der mächtigere und legitime Häuptling (Kalamba) und werde selbst seine Gäste, wenn sie wollten, nach dem Mukamba und wohin sie sonst verlangten, bringen.“

Auch im Uebrigen gestalteten sich die Verhältnisse bei den liebenswürdigen, übrigens noch über und über tätowirten Tussilange und die Aussichten für die Weiterreise überaus günstig. Der Häuptling und sein Volk überboten sich, den fremden Gästen Freundschaft (Lubuku) zu erweisen; vor Allem aber erklärte sich auch ein ausreichender Theil der nur bis Mukenge engagirten Malange-Träger, einige dreißig, bereit, die Weiterreise mitzumachen, die nach Pogge’s letztem, vom 27. November 1881 datirten (und am 28. Juli 1882 in Berlin eingetroffenen) Schreiben am 29. November angetreten werden sollte.

Ueber den Weg zum Lualaba, wie der obere Lauf des Congo von den Eingeborenen genannt wird, wußten die Tussilange selbst nur etwa zwanzig Tagereisen weit Bescheid. Gleich östlich von Mukenge sollte der Lulua überschritten werden und am andern Ufer die Wiedervereinigung mit Wißmann stattfinden. Weiter sollte der Weg zehn Tage in nordöstlicher Richtung durch Tussilangeland führen bis zum Mukamba, der entgegen den Erkundigungen Schütt’s nur ein unbeträchtliches Seebecken zu sein scheint; dann sollte im Gebiete der bisher nicht einmal dem Namen nach bekannten Mobondi der Lubilaschfluß überschritten werden. Mukenge selbst wollte die deutsche Expedition begleiten und hatte ursprünglich die Absicht, unter Anderem seine sämmtlichen vierzig bis fünfzig Weiber mit auf die Reise zu nehmen, wogegen Pogge indessen entschieden protestirte; höchstens wolle er zwei bis vier zugestehen, und auch das männliche Gefolge dürfe nicht über vierzig bis fünfzig Köpfe zählen. Der Häuptling gab denn auch nach und ließ sagen, nur so lange die Reise durch sein eigenes Gebiet gehe (wo nämlich die Verpflegung requirirt wird!), werde er ein größeres Gefolge haben.

Nach glücklicher Erreichung des Lualaba und der damit erfolgten Beendigung der eigentlichen Entdeckungsreise beabsichtigte Pogge die Weiterreise zur Ostküste Wißmann allein zu überlassen, selbst aber mit der Karawane zum Mukenge zurückzukehren, um bis Ende 1882 in dem nach seinem Urtheile zu einer Stationsanlage vorzüglich geeigneten, fruchtbaren und von den Tussilange, geschickten Ackerbauern, wohl cultivirten Lande zu verweilen, dann aber die Rückreise zur Westküste anzutreten.

„Ob die Reise zum Lualaba gelingen wird, können wir mit Sicherheit natürlich nicht wissen, aber wenn wir nicht wagen, können wir auch nicht gewinnen –“ das war das einfache Urtheil, welches Pogge über seine Aussichten in dem letzten Briefe abgab.

Einen Ueberblick über den Verlauf des zweiten, wichtigeren Theils der Reise geben wir auf Grund des ersten, ausführlicheren Berichts, welcher soeben der „Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland“ von Seiten Wißmann’s zugegangen ist. Freilich deutet dieser erste Bericht manchen wichtigen Punkt nur flüchtig an, da sich der Reisende, der zwei Jahre lang in dem tückischen Klima Südafrikas seine Gesundheit bewahrt hatte, auf der Fahrt im Rothen Meer eine Erkältung zugezogen, die ihn in Kairo an’s Bett fesselte und ihn zwang, seinen Bericht sehr knapp zu fassen.

Mit dem Verlassen des Tussilangelandes nimmt die Reise einen ganz neuen Charakter an.

Hier hat noch nicht der länderverbindende Handel vorgearbeitet; die Kenntniß der Tussilange selbst von den Völkern im Osten reichte nur wenige Tagereisen über die eigenen Grenzen hinaus; weiterhin ersetzten allerlei fabelhafte Schreckensgeschichten von den dort hausenden Menschenfressern und wunderbare Märchen von wilden Zwergvölkern die fehlenden Kenntnisse und wirken nicht gerade belebend auf den Muth und die Reiselust der Begleiter unserer deutschen Forscher. Von dem Ziele selbst, welches diese sich gesteckt hatten, von dem großen Strom und den Niederlassungen arabischer Händler an seinen Ufern war keine Kunde zu den Tussilange gelangt, und – was erfahrungsmäßig immer am meisten erschwerend bei größeren afrikanischen Entdeckungsreisen gewirkt hat – es fehlte hier naturgemäß allen Betheiligten, den Trägern wie den Tussilange, an jedem Verständniß für den eigentlichen Zweck eines solchen Zuges in’s Blaue. Unter diesen Umständen ist es in hohem Grade merkwürdig und bewundernswerth, daß es Pogge gelang, den Mukenge zu dem für einen Negerfürsten ganz außerordentlichen Wagstück zu bestimmen, ihm mit den eigenen Leuten zu diesen unbekannten Ländern das Geleit zu geben. Und diese Begleitung war, wie wir gleich sehen werden, entscheidend für das Gelingen des ganzen Werkes, da die eigenen von Malange mitgebrachten Träger um so viel früher den Muth verloren, wie ihre Heimath weiter zurücklag als die der Tussilange.

Anfang December brachen beide Reisende, die sich, wie wir erwähnt haben, im Tussilangeland getrennt hatten, auf Verabredung gleichzeitig von den Sitzen ihrer respectiven Gastfreunde, der Häuptlinge Mukenge und Kingenge, auf, überschritten den nahen Lulua und vereinigten sich am rechten Ufer dieses Flusses. Die Zahl der von Mukenge als Bedeckung mitgenommenen Tussilange betrug gegen 200.

Gleich mit Ueberschreitung des Lulua nahm die Landschaft einen ganz veränderten Charakter an: während bis dahin der für Westafrika typische lichte Savannenwald auf den Landrücken zwischen den Flußthälern vorgeherrscht hatte, begannen nun weite, über alle Erwartung stark bevölkerte Prairien. Zunächst, Mitte December, wurde der Mukambasee erreicht, ein verhältnißmäßig unbedeutendes Seebecken, welches den durch Schütt’s Erkundigungen sehr hochgespannten Erwartungen nicht entspricht. Schon hier, noch im Machtbereich der Tussilange, sank den Malange-Trägern der Muth, sodaß nichts übrig blieb, als den größten Theil dieser unzuverlässigen Genossen auszumustern. Hätte man nicht ihre Lasten auf die Tussilange vertheilen können, so wäre schon hier ein vorzeitiges Ende der Expedition kaum zu vermeiden gewesen.

Durch das Land der prachtvoll wild bemalten Baschilange, die übrigens wie alle Völker vom Kassaï an bis weit östlich vom Sankuru zu dem großen Stamme der Luba gehören, gelangten die Reisenden am 5. Januar 1882 an den im Schmucke herrlichster Tropenvegetation dahinfließenden Lubi, einen Nebenfluß des Lubilasch. Mit der Ueberschreitung des Lubi hörte jede sichtbare Spur einer durch den Handel vermittelten Einwirkung der Cultur auf; die Reisenden hatten die heute auf der ganzen Erde nur noch so überaus selten gebotene Gelegenheit, durchaus ursprünglich entwickelte Zustände kennen zu lernen; sie fanden die dortigen Stämme, zunächst die Bassonge, obgleich sie wirklich großentheils Cannibalen sind, in einem ganz überraschend hohen Culturzustande, ganz ebenso wie seiner Zeit Georg Schweinfurth die damals noch fast unberührten, übrigens gleichfalls cannibalischen Monbuttu, südlich von Welle. In schönen, reinlichen Dörfern, deren geräumige, nette Häuser, von eingezäunten Gärtchen umgeben, sich in schnurgeraden Straßen an einander reihen, überschattet von Oelpalmen und Bananen, leben die Bassonge, ein zahlreicher, schöner und kräftiger Menschenschlag, reich an allen Bedürfnissen des Lebens, nicht nur durch den üppigen, natürlichen Reichthum ihres Landes, sondern auch durch eigene Kunstfertigkeit. Sie sind gewandt in Bearbeitung des Eisens, Kupfers, Thones, Holzes, in Herstellung eigenthümlicher Kleiderstoffe und hübscher Korbflechtereien.

Schon dieser Stamm gehört, wenigstens nominell, zu dem Reiche Kotto, welches von dem uralten, blinden, geheimnißvollen König Katschitsch beherrscht wird. Ehe seine unter 5° 7’ südlicher Breite am Lubilasch gelegene Residenz am 14. Januar erreicht wurde, hatten die Reisenden in zwei Gewaltmärschen einen unbewohnten, nur von Elephanten, Büffeln und Warzenschweinen belebten Urwald zu passiren.

Es fehlte nicht viel, so wäre bei Katschitsch die deutsche Expedition zum Scheitern gekommen. Der alte Häuptling wollte nämlich die mächtigen Fremdlinge gar zu gern seinen politischen Zwecken dienstbar machen und sie zur Theilnahme an einem Rachezug [115] gegen seine Nachbarn im Norden, die dem Fürsten Lukengo gehorchenden Bakuba, bewegen. Er verweigerte daher die Erlaubniß zum Passiren seines Flusses, des Lubilasch. Zugleich ließ er im Lager der Reisenden die entsetzlichsten Menschenfressergeschichten verbreiten, sodaß nicht nur der Rest der Träger, sondern auch die Tussilange muthlos wurden. Bis auf fünf Getreue verweigerten alle Träger die Weiterreise; die Tussilange verlangten ebenfalls zurück, und selbst Mukenge wurde schwankend. Bei so schlimmer Lage der Dinge gingen die Reisenden gegen die eigenen Begleiter mit der größten Strenge vor: den Trägern wurden die Waffen abgenommen und alle Existenzmittel für die Rückreise verweigert; Mukenge wurde bedroht, daß, falls er seinem Versprechen zuwider jetzt schmachvoll umkehren wolle, die Reisenden sich unter den Schutz seines gefürchteten Rivalen, des jungen Königs Kingenge stellen würden, von dem er ja wisse, wie sehr derselbe für sich die Ehre gewünscht habe, die deutschen Reisenden zu geleiten. Als auch dies noch nicht zu wirken schien, wurde ihm bestimmt erklärt, daß, falls er auf der Rückkehr bestehe, die Deutschen ihn allein ziehen lassen würden; Wißmann werde dann versuchen, allein die Reise fortzusetzen, Pogge aber werde mit allen Waaren beim Katschitsch[WS 1] verbleiben.

Diese Drohung schlug durch. Noch schwieriger aber war die Behandlung des alten Katschitsch. Durch einen Gewaltstreich sich seinem Machtbereich zu entziehen, war ganz unmöglich. Alle Leute, die Träger sowohl wie die Tussilange, würden dann sofort entflohen sein, da der Alte im Rufe eines großen Zauberers stand. So verfielen die Reisenden auf den Gedanken, dem Fürsten ihre Gegenwart möglichst unheimlich zu machen, und erreichten wirklich durch häufiges nächtliches Schießen, Abbrennen von Feuerwerk und dergleichen, daß der Alte in dem Wunsche, so gefährliche Nachbarn los zu werden, endlich in ihre Abreise willigte.

So durften sie am 20. Januar den Lubilasch überschreiten, der, hier 150 Meter breit, ruhig strömend seine hellgelben Gewässer zwischen senkrechten Sandsteinwänden oder, wo sich das Thal erweitert, zwischen undurchdringlichen Urwäldern nach Norden zum Congo wälzt. Hier erst erfuhren sie, daß sie damit zugleich den bisher nur dem Namen nach bekannten Sankuru überschritten hatten, denn dies ist der nur im Osten übliche Name des im Westen Lubilasch genannten großen Nebenflusses des Congo.

Den ganzen Februar hindurch ging es nun weiter durch reich bewässerte Prairien, dicht bewohnt von verschiedenen, zum Theil kriegerischen Stämmen, unter Anderen den durch die Länge ihrer Dörfer (bis zu 17 Kilometer!) merkwürdigen Benecki. Bei dem nächsten Volke, den Kalebue, war leider schon wieder die Berührung mit Culturvölkern wahrnehmbar, noch dazu in ihrer allertraurigsten Form; denn bis hierher dehnen die am Lualaba angesiedelten arabischen Händler ihre grausamen und schmachvollen Raubzüge und Menschenjagden aus. So war es denn nicht zu verwundern, daß die armen Leute beim Eintreffen der friedlichen deutschen Reisenden in ihren Dörfern, gleiches von ihnen befürchtend wie von den arabischen Sclavenhändlern, meist sofort die Flucht ergriffen. Hierdurch und durch die vielen internen Feindseligkeiten der Dörfer unter einander, durch den Mangel an zuverlässigen Führern, wurde dieser Theil der Reise äußerst beschwerlich.

Höchst bemerkenswerth ist die Entdeckung eines Volksstammes, dessen eigenartige Existenz offenbar zur Entstehung der zahlreichen Märchen von Zwergvölkern Innerafrikas das meiste beigetragen hat: Vom Lubi bis zum Tanganika fanden sich überall, eingesprengt in die herrschende Bevölkerung, Ueberreste des Volkes der Batua, muthmaßlich der Urbewohner dieser reichen Landschaften. Klein und häßlich gewachsen, mager und schmutzig und von wildem Aussehen, wohnen diese auf niedrigster Culturstufe stehenden Leute in einzelnen Gehöften oder Dörfern in kleinen liederlichen Strohhütten, zerstreut und verachtet, eine eigene Sprache sprechend, unter den überlegenen Lubavölkern. Ackerbau betreiben sie gar nicht; an Hausthieren haben sie außer Hühnern nur eine gute Rasse windhundähnlicher Jagdhunde, keine Ziegen, keine Schweine; so leben sie nur von dem Ertrage der Jagd und wildwachsenden Früchten. Ihre Waffen und Werkzeuge stehen auf niedrigster Stufe; nur eiserne Pfeilspitzen sieht man hier und da.

Am 8. März wurde der durch Cameron bekannte Lomamifluß erreicht und unter 5° 42’ südlicher Breite überschritten, Es war die höchste Zeit, daß man eine arabische Niederlassung erreichte; denn die Tauschartikel waren völlig zu Ende. War, was ja nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit lag, die arabische Station in Njangwe nicht mehr vorhanden, so konnten die Reisenden hier, gerade im Centrum Südafrikas, abgeschnitten von aller Verbindung mit der civilisirten Welt, in die bitterste Verlegenheit gerathen. So wurde denn die directe Richtung auf Njangwe eingeschlagen. Doch gerade dieser letzte Abschnitt der eigentlichen Entdeckungsreise war noch eine schwere Geduldsprobe, da fürchterliche Regengüsse die ganze Gegend überschwemmt und versumpft hatten. Der Grasbestand (man muß an die von Stanley in Manjema beschriebenen 8’ hohen und zolldicken Grasstengel denken!) war in Folge dessen so verfilzt, daß oft Schritt für Schritt der Weg erst passirbar gemacht werden mußte. Noch führte der am 2. April erreichte, weithin ausgetretene Lufubufluß einen längeren Aufenthalt herbei, da die Expedition sich erst selbst zwei Canoes bauen mußte, mit denen endlich am 11. April die Karawane übergesetzt werden konnte. Endlich, am 16. April, hatten die Reisenden die Genugthuung, den mächtigen Lualaba, als die ersten vom Westen kommenden Europäer zu begrüßen, und am folgenden Tage trafen sie in Njangwe ein, wo sie bei dem alten arabischen Scheich Abed-bin-Salim, der auch Stanley beherbergt hatte, gastfreundliche Aufnahme, manchen langentbehrten Genuß, vor Allem aber den zur Fortsetzung der Reise erforderlichen Credit fanden.

Die eigentliche Entdeckungsreise war mit dem Eintreffen in Njangwe beendet, und nach dem schon beim Mukenge festgestellten Plan sollten sich hier die Gefährten trennen. Nach dreiwöchentlichem gemeinsamem Aufenthalte auf dieser Insel arabischer Halbcivilisation inmitten der Wildniß schieden denn am 5. Mai die treuen Reisegenossen von einander, beide in bester Gesundheit. Pogge mit Mukenge, seinen Tussilange und dem Gros der treugebliebenen Träger tauchte wieder unter in die Nacht der centralafrikanischen Barbarei, um zunächst zu den Tussilange zurückzukehren und ihr Land, das als Ausgangspunkt weiterer Forschung in der Südhälfte des Congobeckens wichtig ist, durch längeren Aufenthalt genauer kennen zu lernen, namentlich auch im Hinblicke auf eine dort etwa zu begründende deutsche Station.

Hoffen wir, daß dem hochverdienten Reisenden, dem die deutsche Afrikaforschung der letzten Jahre ihre glänzendsten Erfolge verdankt, vergönnt sein möge, gesund und wohlbehalten in’s Vaterland zurückzukehren und den wohlverdienten Dank für seine vorzüglichen Leistungen entgegenzunehmen, die um so größeres Lob verdienen, als sie stets auf friedlichem Wege erreicht wurden.

Wißmann blieb mit nur vier Leuten von der Westküste und mit im Ganzen fünf Gewehren bei den Arabern unter recht schwierigen Verhältnissen zurück, da er sich weder mit diesen selbst noch mit den Eingeborenen der Gegend verständigen konnte. Nachdem er den ganzen Mai hindurch vergeblich auf den Abgang einer Karawane nach der Ostküste gewartet hatte, der er sich hätte anschließen können, riß ihm die Geduld, und er wagte es, am 1. Juni mit seiner Handvoll Leute und zwanzig Sclaven die weite Reise anzutreten. Seine Bewaffnung bestand aus zehn Gewehren, die ihm sein Gastfreund Abed-bin-Salim geliehen hatte. Obgleich er schon in den ersten Tagen an seiner zügellosen, überall plündernden neuen Gefolgschaft die übelsten Erfahrungen machen mußte und ihn erfahrene Araber auf der nächsten Station, Kasongo, dringend warnten, nicht mit so geringer und unzuverlässiger Mannschaft die Reise fortzusetzen, konnte er sich doch nicht zu längerem Warten entschließen. Nachdem ihn Abed-bin-Salim nachträglich autorisirt hatte, jeden Ungehorsamen unter seinen Sclaven sofort niederzuschießen, gelang es Wißmann durch spartanische Strenge, einige Ordnung und Disciplin herzustellen. Er wich auf dem Wege zum Tanganika verschiedentlich beträchtlich von den Wegen seiner drei Vorgänger ab, hatte kurz vor dem Erreichen des Sees noch eine ernsthafte Differenz mit räuberischen Eingeborenen, die ihm ein Gewehr entwendet hatten, und wurde, am See angelangt, in der englischen Missionsstation Ruanda von dem dort stationirten Reverend Griffith auf das liebenswürdigste aufgenommen und vierzehn Tage hindurch verpflegt.

Nachdem Wißmann an Stelle der nach Njangwe zurückgeschickten Sclaven Abed’s in Udjidji zwanzig Waniamnesi-Träger engagirt hatte, trat er die Weiterreise zur Ostküste an. Diese Reise ist in den letzten fünfundzwanzig Jahren so oft gemacht und beschrieben worden, daß wir uns ein näheres Eingehen auf dieselbe ersparen können. Bei der geringen Macht, über die Wißmann verfügte, [116] war freilich auch dieser letzte Abschnitt der Reise nicht ohne ernste Schwierigkeiten und Gefahren, zumal der Reisende bald von der gewöhnlichen Karawanenstraße nordwärts abbog, um noch dem mächtigsten Häuptling dieser Gegend, dem kriegerischen Mirambo, dem Napoleon der Waniammesi, wie ihn Stanley genannt hat, einen Besuch abzustatten.

Am 5. September traf er wohlbehalten in Tabora ein, dem Hauptsitz der Araber im Inneren Ostafrikas, machte in den nächsten Tagen noch einen Abstecher nach der benachbarten deutschen Station Gonda, wo er die Herren Dr. Böhm und Reichard in bester Gesundheit antraf, und beschloß hier, wo er den Anschluß an die von der Ostküste ausgehenden geographischen Arbeiten des Dr. Kaiser erreicht hatte, seine Aufnahmethätigkeit.

Am 15. November begrüßte er frohen Herzens, nach fast zweijährigem Aufenthalte im Inneren des Continents, den Indischen Ocean und traf am 17. dieses Monats in Zanzibar ein, wo er in dem Hamburger Hause Oswald die freundlichste Aufnahme fand.

Abgesehen von den hochbedeutenden geographischen Ergebnissen der Reise, versprechen auch die ethnologischen Beobachtungen und Sammlungen, die Wißmann mitbringt, eine ganz hervorragende Bereicherung der großen Berliner ethnographischen Sammlung zu werden, weil sie eben zum Theil aus Gebieten mit ganz ursprünglichen Zuständen stammen. Die Sammlungen werden durch ein Oswald’sches Segelschiff nach Europa gebracht, und auf demselben Wege werden auch die vier treu gebliebenen Träger von der Westküste in ihre Heimath zurückbefördert.

Möchte dieser schöne und ruhmvolle Erfolg der Pogge-Wißmann’schen Expedition der deutschen Afrikaforschung viel neue Freunde und Gönner zuführen! Trotz der in liberaler Weise Seitens des deutschen Reiches alljährlich bewilligten Unterstützung wird es der „Afrikanischen Gesellschaft“ nicht leicht, die mit der vermehrten Häufigkeit der Expeditionen immer höher sich stellenden Kosten ihrer verschiedenen jetzt durchweg in gutem Fortgang befindlichen Unternehmungen zu bestreiten. Im Vergleich mit den fast unbeschränkten Mitteln, die dem verdienstvollen Stanley, den belgischen Reisenden und neuerdings auch dem Franzosen Savorgnan de Brazza zu Gebote stehen, sind die Mittel, mit denen die deutschen Expeditionen arbeiten müssen, äußerst bescheiden.

Möchten daher recht zahlreiche Landsleute durch ihren Beitritt zur „Afrikanischen Gesellschaft“ die Mittel vermehren zu weiterer erfolgreicher Concurrenz der deutschen Forschung in der Erschließung und Zugänglichmachung des jetzt so viel umworbenen, gesegneten und zukunftsreichen Congobeckens![4]




Vor zwölf Jahren in Paris.

Eine Kriegserinnerung von Friedrich Hofmann.
2.00Am 8. Februar 1871.

Es war noch finstere Nacht, als ich am 8. Februar erwachte. Die Freude hatte mich aufgeweckt, die Freude, in Paris zu sein und heute in sicherer Führung dieses scenenreichste Theater alter Dynasten- und neuer Völkergeschichten zu durchwandeln. – Ich kroch in meine noch feuchten Kleider, erwärmte mich an einer Cigarre und schrieb bei Licht noch einige Briefe. Zur bestimmten Zeit trat Jules P. mit einem fröhlichen „Bonjour!“ herein, und die Wanderung ging los.

Mein erster Blick galt jetzt dem Hôpital de la Salpetrière, nach welchem die Straße, die ich gestern zuerst betreten, Boulevard de l’Hôpital heißt. Auch dort wehte, wie ich gestern Nachts vermuthet hatte, die Fahne mit dem rothen Kreuz. Aber wie freundlich erschien mir heute, trotz des trüben Himmels, hier Alles, und gleich der Anfang des Tages war heiter. Er führte uns zu einem so komischen Auftritt, wie er nur im damaligen Paris möglich war.

Wir gingen in ein Café. Der dicke Herr des Geschäfts würdigte uns nicht der geringsten Beachtung, sondern rannte die Diagonale seines kleinen Zimmervierecks heftig mit einem Papier auf und ab und fluchte dabei mörderlich über die preußischen Filous. Jules P. brachte ihn endlich zum Stehen und Erklären. Der Mann hatte eine der damals vorgeschriebenen Legitimationen zu einer Reise nach Corbeil. Dieselben mußten in französischer und deutscher Sprache ausgestellt sein. „Das Französische,“ grollte er, „ist wohl richtig, aber ob die verdammte preußische Schreiberei, und ob der ganze Paß richtig ist, soll der Teufel wissen.“ – P. wußte sofort Rath. Er sagte dem Mann: ich, sein Onkel, sei lange in Oesterreich gewesen, wo man auch die preußische Sprache verstehe. Sofort ward mir der Paß überreicht, und ich prüfte das Schriftstück, mußte aber die Zähne fest zusammenhalten, um nicht laut aufzulachen; die deutsche Uebersetzung war köstlich. Gleich das erste Wort „rentier“ war wiedergegeben mit: „welcher lebt von seine Sachen“, und so ging’s weiter. Ich aber pries die preußische „traduction“ als völlig richtig. Wir erhielten einen trefflichen Kaffee, natürlich mit Cognac.

Und nun begann das Tagewerk. Am Ende unseres Boulevard begrüßte ich wieder im Tageslicht den „Gare d’Orléans“; dann wandten wir uns links am Eingang zur Rue de Buffon vorüber und hatten nun zur Rechten die Seine mit der Brücke von Austerlitz, vor uns den Quai St. Bernard, und zu unserer Linken dehnte sich ein niederschlagendes Bild der Verwüstung aus, einst ein Stolz der Wissenschaft, jetzt eine zertretene Oede – der Jardin des Plantes mit dem Zoologischen Garten. Nur einzelnes Strauchwerk erhob sich noch über den Boden, den unzählige Räderspuren zerwühlt hatten. Von den wohlgepflegten Geschöpfen des Thierreichs aller Zonen, den zahmen und wilden, den Kriechern und Fliegern, war der größte Theil ein Opfer der Belagerung geworden. Es war urkomisch, wie Jules P. erst auf den Zoologischen Garten und dann mit dem gekrümmten Finger in den geöffneten Mund deutete – und kopfschüttelnd vorüberging.

Die Rue Cuvier trennt den Jardin des Plantes von der Weinhalle (Halle aux vins), dem seit 1806 bestehenden Hauptweinmarkt von Paris. Hier genoß ich einen Anblick, der so denkwürdig war, wie der der Pariser Straßen ohne Pferde, und den ebenso wenig, wie diesen, wohl je ein Mensch wieder erleben wird. In fünf Reihen waren hier alle während der Zeit der Belagerung in Paris leer getrunkenen Weinfässer zu einer Höhe aufgethürmt, daß man nur mit Staunen und Grauen hinaufsehen konnte. Als geschickte Baumeister hatten die Franzosen sich auch hier bewährt: so fest waren diese Fässermauern gefügt, daß sie ruhig bis zu der schwindelnden Höhe emporsteigen konnten, auf der nun kühne Kletterer beschäftigt waren, mit Leitern und Tauen ausgerüstet, vorsichtig die fünf Berge wieder abzutragen.

Ich ging von dem ersten dieser Berge bis zur Cuvierstraße zurück, um, an die Quaimauer gelehnt, noch einmal vor dem interessantesten Doppelbilde zu stehen: dort die Stätte der aufgegessenen Menagerie – und hier das Merkzeichen des dazu vertilgten Weins – treffender konnte das belagerte Paris nicht illustrirt werden.

Die Seine zeigte hier mehr Leben als die Straße. Die vielen kleinen Dampfer des Stromes waren wieder flott und dienten zum Theil schweren Frachtbooten als Schlepper. Offenbar suchte man zu Wasser der Verproviantirung, die zu Lande so ungenügend vor sich ging, nachzuhelfen; denn es waren fruchtbeladene Boote darunter, denen am Ufer eine rasch anwachsende Menge nachlief, deren Landung erwartend.

Der Straße fehlte es zwar nicht an beweglichem Leben, aber – Paris war es nicht, was man sah. Die Gesellschaft, welche die Straßen und Plätze bevölkerte, paßte nicht zu den Pracht-Palästen hinter ihr; die Staffage war falsch: der architektonische Theil des Bildes war allein noch richtig. Die Hauptschuld an dem veränderten Bilde des öffentlichen Lebens war nicht der Mangel an Pferden allein, es war der Mangel an vornehmer Welt, die eben ohne Pferde nicht öffentlich zu haben ist.

Dagegen drohte uns der Anblick eines Bildes, das diesem Tage angehörte. Ein wildes Schreien, ja Brüllen, schallte von

[117]

„Du Spitzbub’!“
Originalzeichnung von Ludwig Beckmann.

[118] einer breiten Straße her (es war wohl der Boulevard St. Germain), und bald sahen wir ein Gewoge von Soldaten, ohne jede Ordnung, die reitenden Officiere mitten im Haufen, daherziehen. P. riß mich hastig fort: ich sollte nicht sehen, was da vorging. Ich wußte es ja schon: es war eine Abtheilung der heute entwaffneten Pariser Linientruppen, die durch den Waffenstillstandsvertrag zu Kriegsgefangenen erklärt worden waren. Ich hörte noch das Toben, als schon ein neuer Anblick mich fesselte: ich sah die Thürme von Notre-Dame; die Geschichte erhob ihre Riesenstimme, und wo sie spricht, da schweigt selbst eine Gegenwart wie die damalige. Bald war die Brücke über den schmalen Seine-Arm erreicht und überschritten, und da stand ich vor dem weltberühmten Gotteshaus.

Zu welchen Ereignissen haben die Glocken dieser Thürme schon geläutet! Aber die Geschichte ist unerbittlich auch in ihrer Satire. Kaum im Inneren des Domes – und mein erster Blick auf den Hochaltar läßt mich aus fürchterlichster Vergangenheit dort die Göttin der Vernunft als ungebetete Gottheit schauen. Ströme von Thränen haben jene Entweihung gesühnt, – und die Tage dieser Belagerung haben nicht wenig dazu beigetragen. Nur in den Kirchen waren jetzt die hohen vornehmen Frauengestalten zu finden, schwarz umhüllt vom Haupt bis zu den Füßen. Hier weinten Mütter, Bräute, Schwestern ihr bitteres Leid aus. So sah ich’s in Orleans, und so hier. Weder Orgelklänge noch Gesang oder Priesterworte vernahm ich. Hier predigte das Schicksal allein und so eindringlich, daß man das Gotteshaus nur in tieferregter Stimmung verlassen konnte.

Draußen erwartete uns der grellste Contrast. Hinter der Notre-Dame hatte man eine große Anzahl Feldgeschütze zur Uebergabe an die Deutschen bereit gestellt und durch einen Lattenverschlag abgesperrt. Hier tobte abermals der Preußenhaß sich aus. Wir eilten davon, wieder über eine Brücke, und wieder stand die Geschichte vor uns da, aber diesmal mit blutrother Fackel. Vor uns dehnte zur Rechten der Prachtbau des „Hôtel de Ville“, des Rathhauses von Paris, und vor ihm der schreckliche Grèveplatz sich aus.

Das Blut konnte Mühlen treiben, das auf diesem Platze vergossen worden ist, und was Könige und Priester durch die feile Justiz hier gemordet, ist haarsträubend. Selbst die Guillotine der Revolution versuchte hier ihre ersten Leistungen, bis sie auf den Concordienplatz übersiedelte. Das Hôtel de Ville ist ein alter Revolutionsherd, den Louis Napoleon und Herr Haußmann durch die schußgerecht regulirten Boulevards und Avenuen und die Nachbarschaft zweier starker Casernen glaubten erstickt zu haben. Trotz alledem ist von diesem Hause die Absetzung des Kaisers und die Einsetzung der Republik ausgegangen, und selbst die Republik hatte bereits eine Revolte hier auszuhalten, deren Merkmale, die zerschossenen Fensterscheiben rechts in der Beletage, ich an diesem 8. Februar noch gesehen habe.

Vom Grèveplatze aus betraten wir die Rue de Rivoli, die in etwa dreiviertel Stunden Länge bekanntlich eine das Auge entzückende Schönheit entfaltet. Heute überraschte uns hier ein anderes Bild: eine Viehheerde wurde vom nächsten Bahnhofe her vorbeigetrieben und nicht blos von den Gamins, sondern auch von Alt und Jung mit einem Jubel begrüßt, als hielte ein Triumphator seinen Siegeseinzug.

Wir verfolgten die Rue de Rivoli in westlicher Richtung und gelangten so zum „Square Saint Jacques“ mit dem prächtigen alten isolirten Thurme, den reizenden Anlagen und – eine wahre Herzensfreude – mehreren Gruppen spielender Kinder. Unwillkürlich und nur mit der Vorsicht, sie nicht zu stören, näherte ich mich der lieblichen Schaar, die mit Ringelreihen, ganz wie bei uns, mit Fangen und Ballwerfen, Lachen und Singen sich erlustigte. Gar zu gern hätte ich die Spielreime, die sie sangen, erlauscht, aber P. mahnte ab. „Mein Freund,“ sagte er, „wir dürfen nicht auffällig werden, und Ihr Hindrängen zu den Kindern fällt auf.“ So mußte ich denn fort von dem herzerfrischenden Bilde, blickte aber so lange wie möglich zu ihm zurück.

Wir wandten uns nun rechts in den Boulevard de Sebastopol und von da unserm nächsten Ziele zu: den Halles centrales. Die Berühmtheit dieser großen Markthallen ging aus der Pariser Volks- in die Weltgeschichte über durch die Tapfersten der gesammten Pariser Volksfrauenwelt, – die Damen der Halle! Der dritte Napoleon schuf ihnen die zwölf prächtigen, aus Eisenrippen zusammengefügten und mit Glas bedeckten Hallen, die sich von Punkt zwölf Uhr an jede Nacht zu füllen begannen aus den Zufuhren der acht Bahnhöfe und der vielen Thore der Stadt, um jeden Morgen mit frischen Genüssen die zwei Millionen Mägen und Gaumen von Paris zu versorgen. Der arme Napoleon! Jetzt nannte ihn kein Damenmund in diesen Hallen anders, als Badinguet, Coquin, Prussien – und „beim höllischen Element, es giebt nichts Aergeres, daß sie’s schimpfen könnt’!“ –

Die Hallen waren erst Tags zuvor wieder eröffnet, die Zufuhren aber noch lange nicht genügend, um solche Räume auszustatten. Das Gedränge war ziemlich stark, doch kamen mir viele der Anwesenden mehr wie traurige Zuschauer als wie flotte Käufer vor. Manche der Verkäufer hatten ihr ganzes Krämchen auf ihrem reinlichen Taschentuche am Wege ausgebreitet; das war der Kleinhandel in seiner äußersten Entfaltung. Die Damen der Halle zerfallen bekanntlich in zwei Rangstufen: die angesessenen unter dem Glasdache und die ihren Tisch und Stuhl bei sich tragenden an den Verbindungsstraßen der Hallen. Die Belagerung hatte beide ein wenig niedergedrückt, aber doch standen verschiedenen die weißen Hauben so herausfordernd auf den Häuptern, daß gewiß wenig dazu gehört hätte, sie zu einem Ausbruche ihrer historischen Mission emporzuschnellen.

Aus den Hallen begaben wir uns an der Kirche St. Eustache, bei deren Gliederbau Gothik und Renaissance sich vereinigt haben, vorüber in die Rue J. J. Rousseau, wo im Hôtel des Postes das Central-Bureau derselben war. Für dieses Institut war soeben die luftige Wirthschaft der Ballonposten zu Ende gegangen und das irdische Treiben noch nicht recht im Zuge. Die Briefe mußten – „das ist der Krieg“ – unverschlossen übergeben werden.

Nachdem wir im Vorbeigehen zwei Tempel des Mammon, die Bank und den Börsenpalast, betrachtet, führte P. mich durch eine „Rue du quatre Septembre“ (der Geburtstag der jüngsten Republik hatte bereits seine Straße erhalten) und über den Boulevard des Capucines vor das große neue Opernhaus, dessen Fenster, Dächer und Ornamente noch zum Theil mit den Sandsäcken verdeckt waren, die sie gegen die deutschen Bomben beschützen sollten.

Auf den Boulevards des Capucines und de la Madeleine war man für die Wahl zum Parlament in Bordeaux (nicht in Tours, wie ich im vorigen Artikel, Seite 100, irrig angab) in voller Thätigkeit. Jedem Vorübergehenden wurden von allen Parteien Wahlzettel überreicht, auch mir, und es freute P. ganz besonders, daß ich von diesen Menschenkennern der Straße für einen alten Pariser Citoyen angesehen wurde.

Eines der schönsten Bauwerke von Paris ist die Kirche St. Madeleine, nach welcher der hier beginnende Boulevard benannt ist. Ihr „säulengetragenes herrliches Dach“ winkte nicht vergebens; lockte zu ihr doch auch ein schöner Gesang, von einer äußerst wohlklingenden Orgel begleitet, und Weihrauchduft quoll uns am Portal entgegen. Der weite Raum konnte Einem wie ein Zufluchtsort der verwundeten und kranken Soldaten der Linie erscheinen. Vor allen Altären knieeten in Menge die armen Rothhosen. Vor dem Portale auf der hohen Freitreppe eröffnet sich ein imponirender Blick auf den Eintrachtsplatz und den Invalidendom mit seiner stolzen Kuppel. P. aber ließ sich nicht schon jetzt dorthin verführen. Wir kehrten zu den beiden genannten Boulevards zurück und gingen von da durch eine „Friedensstraße“ (Rue de la Pair) zum Vendômeplatz und der hochragenden Säule, die drei Monate später umgestürzt und dann doch wieder aufgerichtet wurde. Auch auf diesem Platze war die Wahlbewegung rege. Während ich meinem Halse die Qual anthat, die Säule zu betrachten, zog ein Leichenbegängniß daher – und es ward merklich stiller. Ich sah wirklich die Männer zur Linken und Rechten der Straße die Häupter entblößen und den Zug stehend und schweigend vorüberlassen. Der Sarg wurde unbedeckt getragen; statt unseres schwarzen Leichentuchs schwebte ein heller, fransenverzierter Baldachin darüber. Dem Sarge folgten viele Männer und Frauen des Mittelstandes. Also keine „vornehme“ Leiche, und doch die Theilnahme! Jules P. erklärte mir’s: „Die Belagerung und das gemeinsame Unglück hat, wie es uns auf einander anwies, uns Pariser auch einander näher geführt. Man liebt sich mehr, als im Glück; mit der allgemeinen Noth wird das leider auch wieder vergehen.“

Durch die „Rue neuve des petits Champs“ gelangten wir um die Mittagsstunde zum Palais royal, der Riesenwiege der [119] großen Revolution. Wenn die Erbauer wüßten, was die Nachkommen aus ihren Schöpfungen machen, es würde schon Vieles ungebaut geblieben sein.

Ein Tisch im Garten dieses Palastes war es, auf welchem Camille Desmoulins die bewaffneten Volksversammlungen einer neuen Zeit erfand, die schon zwei Tage später die Bastille zertrümmerten. Der Palast hieß, auch nachdem sein damaliger Besitzer, der Herzog von Orleans, guillotinirt worden war, „Palais Egalité“. Seit dem vierten September 1870 sieht man wieder die Orleans, Bonapartes und Bourbons wie verscheuchte Raubvogel um ihr altes Nest herumflattern.

In einer Restauration „à John Bull“, in der Rue de Rivoli, gönnten wir uns die Rast zu einem „Dejeuner“. Es war nicht besser und nicht schlechter, als gestern mein „Diner“ gewesen, aber ich genoß es, auch das Belagerungsbrod, ohne Umstände.

Als wir beim Kaffee saßen, tönte das Unerwartetste für unser Ohr plötzlich von draußen her: gewaltiges Pferdegetrappel. Zwischen zwei- und dreihundert vollständig aufgeschirrte Pferdepaare wurden dahergeführt, und der Jubel war ganz außerordentlich, der aus der Straße, aus den Thüren und bis hinauf zu den höchsten Fenstern der Häuser und Paläste diese neuen Nachkömmlinge ihrer verzehrten Vorgänger mit Mund und Hand begrüßte. Wir erfuhren, daß dieselben zur Vervollständigung der Omnibuslinien, vor Allem auf den großen Boulevards bestimmt seien, was auch für uns eine gute Aussicht eröffnete.

Mehr als zu allen bisher besuchten Gegenständen hatte der Genius der Geschichte Ursache, uns zum nun folgenden voranzuschreiten: zu dem vereinigten Doppelpalast des Louvre und der Tuilerien. Beide waren aus kaiserlichen in Volkspaläste umgewandelt worden, und auf beiden wehte die weiße Fahne mit dem rothen Kreuz. Wir durchwandelten alle Höfe, den Napoleons- und den Carousselplatz, und schritten um die ausgedehnten Riesenglieder des ganzen Baues; das mußte auch hier genügen; denn in’s Innere war nicht zu kommen. So weit die Kunstsammlungen des Louvre und der Gallerien reichten, sah ich auch hier die hohen Fenster noch theilweise mit Sandsäcken verrammelt. Der Flügel der Tuilerien, welchen die Kaiserfamilie bewohnt hatte, war ebenfalls zu Lazarethen verwendet; an den Fenstern, aus welchen Napoleon und Eugenie auf ihr getreues Paris geschaut, standen jetzt Soldaten mit verbundenen Köpfen und anderen Wunden und Gebresten. Den traurigsten Anblick bot der wahrhaft entsetzlich zerfahrene und zerstampfte Tuileriengarten. Um den häßlichen Eindruck, den der Anblick der Verwüstung edelster Naturpracht immer zurückläßt, rasch los zu werden, bat ich P., mir nun einen versöhnenden Genuß zu verschaffen.

„Diesen gewährt immer die Umschau von einer unserer schönen Brücken,“ erwiderte er, und so gingen wir wieder Tuilerien und Louvre entlang bis zum „Pont des Arts“. Er hatte Recht. Der Blick auf die uns umgebende Pracht war nach jeder Seite hin entzückend, malerisch am imponirendsten nach Osten zu den Gebäudemassen der Cité-Inseln.

„Dreierlei möchte ich noch sehen, ehe ich von Paris scheide, lieber Freund,“ sagte ich nun: „den Dom der Invaliden mit Napoleon’s Grabstätte, den Concordienplatz und den Platz der Bastille! Ist das noch möglich?“

„Das wird gerade die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges ausfüllen,“ sprach er. „Gehen wir ohne Verweilen daran!“

Wir schritten zum Quai d’Orsay hinüber, eilten ohne Aufenthalt an allen Pracht- und Staatspalästen dieser Straße vorbei und standen nach kurzer Zeit vor der „Esplanade der Invaliden“. Hier war wieder Belagerungs-Paris: beide Seiten des großen Platzes nahm eine bedeutende Anzahl zeltartiger Holzbaracken ein, welche für die Besatzungstruppen errichtet worden waren und mit deren Beseitigung man soeben begann. Dazwischen aber war ein so bodenloser Schmutz, daß ich die Hosenbeine bis über die Stiefelschäfte hinauszog und, mit großen Schritten vorwärts steigend, im schönsten Sächsisch „Ach Hercheses, Hercheses!“ ausrief. P. wollte wissen, was ich gesagt habe; ich konnte es ihm nur als einen Ausdruck der Freude über die schöne Gegend erklären. Endlich hatten wir das Gitterthor des Gartens erreicht; P. öffnete, und wir traten ein, beide ohne eine Ahnung davon, welch gefährlichen Gang wir wagten.

Ohne viel umzuschauen – nur einen Blick warf ich auf die Batterie der großen Triumphkanonen der Invaliden zur Rechten – schritten wir dem Portal zu, vor dem mehrere der alten Schnauzbärte saßen und standen, aber alle mit Gesichtern, aus denen ein böser Grimm grollte. P. zog den Hut tief herab; ich folgte seinem Beispiel. Dann fragte er ehrerbietigst, ob es gestattet werde, wenigstens in den unteren Gängen des Hauses sich ein wenig umzusehen. Der Alte, an den er sich gewendet, knurrte etwas in den Bart, das ich für „Non“ hielt. P. aber hatte „Oui“ herausgehört; und mit Recht, denn wir durften eintreten. P. führte mich durch mehrere Gänge, in denen nichts Besonderes zu sehen war, aber er tröstete mich damit, daß wir durch sie in einen Hof kämen, wo ein Eingang zum Dome sei. Wir fanden auch diesen Hof, aber hier stand ein Schilderhaus, das einem großen Beichtstuhl glich, und darin befand sich ein wachhaltender Invalide. Als P. nun diesen fragte, ob der Eintritt in die Kirche erlaubt sei, glaubte ich „Oui“ zu hören, aber diesmal war’s „Non“: denn P. erkundigte sich höflichst nach dem „Warum?“, erhielt jedoch die barsche Weisung: „Es dürfe Niemand aus Paris den Dom betreten, weil darin gebaut werde.“ Darauf empfahl sich P. mit tiefer Verbeugung – ich auch.

Während wir zurückgingen, äußerte ich mein Bedauern, gerade diesen Dom nicht scheu zu können, der allein eine Reise nach Paris werth sei. Da winkte er mir, zu schweigen, und führte mich in einen langen, gewölbten Gang, an dessen linker Wand ich sechs bis acht Thüren sah. Er lauschte nach allen Seiten, ging hart an den Thüren hin und probirte die Drücker. Bei der dritten Thür stand er still, lauschte noch einmal, öffnete sie, schob mich hinein, folgte rasch nach und schloß die Thür wieder. Dann gab er mir seinen Rockflügel in die Hand, und nun schlichen wir in der Stockfinsterniß langsam und leise, immer lauschend, vorwärts. Endlich stand P. still, und wieder lauschten wir, und als sich durchaus kein Laut regte, öffnete P. auch hier eine Thür mit größter Vorsicht ein wenig, und schon durch den schmalen Spalt drang eine Fülle von Licht- und Goldstrahlen.

Als wir uns nach langem Horchen und Lauschen überzeugt hatten, daß die Kirche offenbar leer, keine Seele darinnen war, öffnete P. die Thür ganz, und wir traten ein; wir waren im Dom. Der Eindruck von Licht und Gold war betäubend. Und doch entsann ich mich sofort, gelesen zu haben, daß die Kirche mit vielen eroberten Fahnen ausgeschmückt sei: ich sah keine einzige. P. schien dies nicht beachtet zu haben. Er lugte einen Augenblick nach allen Seiten um; dann flog er förmlich über den Boden hin zur Oeffnung der Krypta, durch welche man auf Napoleon’s Sarg blicken kann. Eben hatte ich mich ausgemacht, ihm, freilich viel schwerfälliger, zu folgen, da eilte er schon, nach nur einem Blick in die Gruft, kreideweiß zurück und flüsterte mir zu: „Höchste Gefahr!“ Sofort standen wir wieder in dem finsteren Gang und schlichen, wie früher und angestrengt horchend, denn Ausgange zu.

Draußen nahten Schritte. Ich fühlte, wie P. am ganzen Leibe zitterte. Die Schritte gingen vorüber. Aus der Ferne hörten wir rasches Laufen mehrerer Personen; es kam bis in die Halle, verschwand aber wieder. Wir schwitzten alle beide in dieser herrlichen Situation, und ich machte mir die bittersten Vorwürfe, uns durch meinen dringend ausgesprochenen Wunsch in diese Gefahr gebracht zu haben. Endlich blieb lange Zeit Alles ruhig. Da öffnete P. rasch die Thür, schloß sie leise – und nun suchten wir eiligst aus dem langen Gange fort zu kommen. Dank der Localkunde P’s gelangten wir abseits des Portals wieder in den Garten, machten den Herren Invaliden unser Compliment aus der Ferne und athmeten wieder aus, als das Gitterthor hinter uns zufiel. Aber erst jenseits der Concordienbrücke, die wir im Sturm überschritten hatten, kam P. zur Erklärung.

„Die Invaliden,“ sprach er, „sind die treuesten Bonapartisten. Der Kaiser hat allen Schmuck aus Napoleon’s Gruft entfernt, Krone, Degen, Fahnen, Nichts ist mehr da, und die Invaliden sind die Wächter des großen Geheimnisses. Was, glauben Sie, wäre die Folge gewesen, wenn sie uns im Dome erwischt hätten? Wir wären aus dem Invaliden-Hôtel schwerlich, wenigstens nicht so bald, wieder herausgekonnnen.“[5]

[120] Ich mußte die ganze Größe der Gefahr anerkennen; wir hatten alle Ursache, uns gegenseitig zu diesem Ausgange des Wagnisses zu gratuliren, und thaten es mit aller Herzlichkeit.

Es war dabei viel Zeit verloren worden, und uns drängte es zum Abmarsch. Auch hatte ich im finsteren Gange des Invalidendoms doch ein wenig von meiner Lust am historischen Gruseln verloren, das auf dem Concordienplatz, vor dem Obelisken von Luxor, der genau die einstige Stätte der Guillotine bedeckt, ganz am Platze gewesen wäre. Dagegen arbeitete allerdings auch eine tragikomische Scene. Von den acht Städtestatuen, welche die vier Ecken des Concordienplatzes schmücken, waren sieben noch mit festen Holzgerüsten (gegen die deutschen Bomben) umgeben, eine aber enthüllt und mit Fahnen, beflorten Kränzen aus Papierblumen und Zeitungsausschnitten mit Versen von oben bis unten ausgeputzt: es war die Statue von Straßburg. Gern hätte ich mir ein Andenken von den Herrlichkeiten mitgenommen, aber P. warnte ernstlich. „Sie sind unverbesserlich,“ meinte er. „Wollen Sie denn noch kurz vor der Abreise erwischt werden?“

Um jeder weiteren Versuchung vorzubeugen, eilten wir durch die Rue royale, wo wir wieder mit mehreren Wahlzetteln bedacht wurden, die ich dankend zu den anderen steckte, zu der Omnibusstation bei der Madeleinekirche, erstiegen sofort die Imperiale eines zur Abfahrt fertigen Wagens – und nun begann eine der schönsten Straßenfahrten der Welt, die Fahrt durch die großen Boulevards, von dem der Madeleine bis zum Bastilleplatz. Vor der Julisäule hielt der Omnibus. Wir stiegen ab, um diesem Ehrendenkmal der Freiheit einen Augenblick zu widmen. An die böse Gegenwart mahnte ein großer schwarzbeflorter Kranz, der auf einer hohen Stange an die Säule gelehnt war. Ein kurzer Gang führte uns von da über die Brücke von Austerlitz und in die Einsteige-Abtheilung des Bahnhofs von Orleans.

Es war noch eine Viertelstunde Zeit bis zur Abfahrt. Wir gingen Arm in Arm im Hof auf und ab; mir wurde es doch nun wahrhaft leid um das Scheiden.

„Wie schwer geht man von Ihrem herrlichen Paris fort, und wie gern kehrte man wieder!“ sprach ich. „Ich werde oft an Sie denken, mein theurer treuer Jules P.! Freunde feiern ihre Feste gern gemeinsam, sagen Sie mir: Wann ist Ihr Geburtstag?“

Er nannte mir Tag und Jahr.

„Was?“ rief ich hocherfreut. „Da sind Sie gerade zwanzig Jahre und einen Tag jünger als ich? Herrlich! Wir werden diese Tage stets im Geiste mit einander feiern!“

Auch P. war freudig überrascht von dem freundlichen Spiele des Zufalls und bat mich: „In das Paris des Friedens kommen Sie wieder, vielleicht in zwei Jahren, nicht wahr? Zu meinem vierzigsten Geburtstage?“

Ich versprach das Mögliche. Er erzählte dann noch viel von seinem Vater, seinem Weibe und Kinde, bis die Glocke uns trennte. „Auf Wiedersehen im Paris des Friedens!“ So schieden wir von einander.

Ich will gleich über meinen Freund weiter berichten. Als der Kampf der Commune begann, war ich in größter Besorgniß um ihn. Ich fragte in vier Briefen nach seinem Schicksal in dieser schrecklichen Zeit, aber ohne Antwort zu erhalten. Erst Anfangs Juni kam ein mit seiner Photographie beschwerter Brief von ihm, aber mit welchen Nachrichten!

Weil er sich nicht in die Reihen der Kämpfer gestellt, wie die Commune decretirt hatte, wurde er von einem Haufen des „Corps der Rächer“ am 18. Mai in seiner Wohnung überfallen und an die Wand seines eigenen Hauses gestellt, um füsilirt zu werden. Nur das Flehen seiner Frau und besonders das Jammern des Kindes rettete ihn vor dem Tode, – „des Kindes,“ setzte der überdankbare Freund hinzu, „dem Sie das Leben gerettet haben.“

Für die Deutschen giebt’s noch immer kein wahres „Paris de la paix“. Zwölf Jahre sind vergangen; wir haben uns fleißig Briefe geschrieben und unsere Feste gegenseitig gefeiert. Nun steht er in diesem Jahre vor seinem fünfzigsten Geburtstage, ich vor meinem siebenzigsten, – da ist’s mit der Hoffnung auf Wiedersehen vorüber.

Meiner Abfahrt aus Paris stand kein Hinderniß entgegen. Man prüfte dort keine Pässe, da man ja nicht an Fremde in Paris glauben konnte. In der Abfahrtshalle herrschte allgemein Besorgniß wegen der Pässe, und wirklich wurden in Vitry Viele vom Zuge ausgewiesen. Ich kam glücklich nach Orleans zurück, und die Heimfahrt von da durch das neugewonnene in’s alte Deutschland habe ich in Nr. 15 der „Gartenlaube“ von 1871 geschildert.




Blätter und Blüthen.


Elektrisch armirte Schauspieler und Tänzerinnen. Bisher war man schon vollkommen zufrieden, wenn die Primadonnen und Primaballerinen das Publicum elektrisirten, aber die Neuzeit schreitet auch darin fort: Jupiter soll den Theaterdamen seinen Blitz leihen, damit sie ihr Licht so strahlend wie möglich leuchten lassen und die „Sterne erster Größe“, die sie sonst selbst darstellen mußten, in blendender Wirklichkeit auf ihrem Haupte tragen können. In jener phantastischen Welt unserer Kinderträume, die in den Opern, Ballets und Ausstattungsstücken neu auflebt, suchten wir bisher vergeblich nach jenem Abglanz einer andern Welt, den die Poesie und Kunst ihren überirdischen und unterirdischen Mächten zuerkannt hatten; die Maschinenmeister wußten nicht, wie sie ihren Darstellern den Stern oder die Flamme über dem Haupte, den glühenden Karfunkel im Diadem, den Schein um’s Haupt oder die glühenden Augen und den feurigen Mund verleihen sollten, ohne die Schauspieler auf den ohnehin schon so feuergefährlichen Bühnen in noch größere Gefahr zu bringen. Wir haben ja in früheren Ausstattungsstücken bereits Sylphen mit gefärbten Spiritusflammen auf den Häuptern, Gnomen und Diener Lucifer’s mit von innen erleuchteten Larvenköpfen gesehen, sodaß ihnen in Wahrheit oft der „Kopf rauchte“, aber das waren recht bedenkliche Spielereien, die noch dazu eines wirklich blendenden Effectes entbehrten, und außerdem mußten die Träger jener illuminirten Köpfe ganz auf jene Beweglichkeit verzichten, welche die Dichtung solchen Wesen zuschreibt.

In neuerer Zeit ist man nun, wie gesagt, auf die Idee gekommen, für derartige blendende Effecte das elektrische Licht zu verwenden, und schon vor mehreren Jahren konnte man auf dem Pariser Châtelet-Theater Tänzerinnen mit elektrischen Sternen auf dem Haupte bewundern, die sich aber ebenfalls nur ziemlich ungeschickt bewegten, weil sie hinter sich, um die elektrische Lampe auf dem Haupte zu speisen, ein Leitungskabel nachschleifen mußten, an dem sie sozusagen gefesselt blieben. Die neueren Verbesserungen der secundären elektrischen Batterien oder Accumulatoren, über welche wir den Lesern der „Gartenlaube“ früher berichtet haben (vergl. Jahrg. 1881, S. 488), ermöglichen aber nunmehr diese brillanten Bühneneffecte in viel vollkommenerer Weise, ohne die Darsteller in ihren Bewegungen irgendwie zu hindern oder zu beschränken. Namentlich hat sich der englische Physiker Swan, der Erfinder einer Glühlampe, welche der Edison’schen sehr ähnlich ist, mit der Herstellung solcher Theaterapparate beschäftigt, und seit Kurzem bewundert man im Londoner Savoy-Theater Tänzerinnen mit Swan’schen Lampen auf dem Haupte, die natürlich ziemlich klein sind und in allen Formen und Farben gearbeitet werden können.

Da es sich meist nur um kürzere Zeiträume handelt, in denen diese Lichterscheinungen wirken sollen, so genügen zwei bis drei kleine Planté’sche Batterien im Gesammtgewicht von höchstens zwei Kilogramm, die auf dem Rücken und im Costüm der Darstellerinnen verborgen werden, um die trotz alledem sehr blendenden Lämpchen zu speisen. Diese leichten Batterien sind in festverschlossene Hartgummi-Behälter so eingefügt, daß der Inhalt durch keine Bewegung verschüttet werden kann. Ein kleiner auf dem Behälter angebrachter Commutator erlaubt, den Lichteffect im gewünschten Augenblicke hervorzurufen oder ihn für bestimmte scenische Effecte aufzusparen, sodaß die betreffenden männlichen oder weiblichen Künstler, wenn sie wollen, leuchten, blenden oder verlocken können, ganz wie Johanniswürmchen und Irrwische im Freien.




Für die Wasserbeschädigten des Rheingebietes

gingen ein: Gr. in Roßleben 3 M.; Ergebniß einer Sammlung unter den Schülern des Technikums in Buxtehude 67,45 M.; Unbekannt 5,50 M.; ein alter Leser der „Gartenlaube“ in Neukirchen 6 M.; Wenig, aber gern gegeben die letzte Mark 1 M.; Resultat eines Spielabends an sechs Tischen bei Kluckow in Lodz 214 M.; Herm. Nötzold in Hohenstein 3,50 M.; E. K. in Von der Heydt 3 M.; P. J. 6 M.; Ferd. Münde in Penig 5,05 M.; C. Ey. Erlös aus dem Verkauf eines unerbetenen Weihnachtsgeschenkes 20 M.; aus einer Kartenpartie beim Oberlehrer Barz in Riga 3 Rubel; Unbekannt 1 M.; Frau Leibinger 40 M.; Gustav Wanckel in Rouen 20 M.; von den Deutschen der Vigogne-Spinnerei in Wasquehal 60,47 M.; F. Ulbrich in Gablonz 3 Gulden ö. W.; Gothenburg 6 M.; Dorette, Dorothea und Erdmuthe 42,50 M.; Margarethe T. 2,50 M.; Expedition der „Gartenlaube“ 150 M.; The German Confectionary Comp. in Liverpool and their German Workmen 41,31 M.; H. W. Langbeck in London 10,20 M.; Sammlung im deutschen Arbeiterverein Concordia in Kopenhagen 100 M.; Buff und Bergas in Boston und deren Arbeitspersonal 109,26 M.; Sammlungen des deutschen Hülfsvereins in Chaux de Fonds durch Georg Klotz 500 u. 703,50 M.; dankbare Creuzer in Siebenbürgen 6 Gulden ö. W.; Beitrag aus Seattle, Washingt. Terr., Ver. Staaten von Nordamerika 1623 M. (Summa 3744,24 M., 3 Rubel, 9 Gulden ö. W.)



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die einstweilige Ausgleichung in Religionssachen zwischen Katholiken und Protestanten.
  2. Versuchen wir, uns dies mit Hülfe der nebenstehenden Figur klar zu machen.

    Die Aufgabe sei, daß der Arzt den Punkt aim Auge des Kranken (K) deutlich sehe. Die nöthige künstliche Beleuchtung im Dunkelzimmer liefert uns das seitwärts stehende Licht (L). Von diesem nun gehen Strahlen aus in der Richtung der Pfeile c, treffen den Spiegel und dringen zum Theil durch denselben hindurch (f f), sind damit also für die Beleuchtung verloren, ein anderer Theil (c’ c’) dagegen schlägt in Folge der Rückstrahlung durch die Glasfläche (durch Reflexion) den Weg nach dem Auge K ein, trifft dieses und wird von ihm so gebrochen, daß der Punkt a des letzteren hellerleuchtet ist. Nunmehr gehen von diesem Punkte a wieder Lichtstrahlen nach außen auf dem Wege der Pfeile d, nähern sich allmählich ebenfalls wieder einander (werden convergent) durch die brechende Wirkung des Auges K, treten so durch den Spiegel (S) und erreichen die Hohllinse (Z). Ist dies geschehen, so werden sie durch diese aus einander getrieben, wie die Pfeile d’ zeigen, somit divergent. Alsdann aber sind sie geeignet, von dem Auge des durch die Hohllinse und den Spiegel hindurchsehenden Arztes gebrochen (d’’), und zwar convergent gebrochen zu werden, um den Punkt b im Auge dieses (A) zu treffen und dort ein ganz genaues Abbild des Punktes a herzustellen: a wird also in b gesehen, und obige Aufgabe ist gelöst.

  3. Auch wenn man Fehler des Auges, die durch Brillen beseitigt oder gebessert werden können, unabhängig von den Aussagen der Kranken, bestimmen will, was z. B. bei absichtlich falschen Angaben von Recruten von Wichtigkeit ist.
  4. Die Mitgliedschaft der „Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland“ wird erworben durch einen Jahresbeitrag von mindestens 5 Mark, der an den Vorstand der Gesellschaft, Berlin W, Friedrichsstraße 181 einzusenden ist. Die lebenslängliche Mitgliedschaft erlangt man durch einen einmaligen sogenannten Stifterbeitrag von mindestens 300 Mark. Die Mitglieder erhalten die Zeitschrift der Gesellschaft, in der fortlaufend die Originalberichte über alle Expeditionen derselben erscheinen, kostenfrei zugesandt.
  5. Die „Französische Correspondenz“ vom 18. April 1871 berichtet über eine Durchsuchung des „Hôtel des Invalides“ durch eine starke Abtheilung der Nationalgarde. „Sie suchte auch nach den Reliquien Napoleons, fand aber in der Krypta des Grabes weder den Degen, noch die Krone, noch den Hut des entschlafenen Cäsar. Der Neffe hatte Alles schon beim Beginn des Krieges in Sicherheit gebracht.“ (Dies war also geschehen, und zwar ohne daß man in Paris eine Ahnung davon gehabt hätte; so fest halten die alten Grauköpfe das Geheimniß bewahrt.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Kitschitsch