Die Gartenlaube (1884)/Heft 48

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[781]

No. 48.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Das Urbild des Fidelio.

Erzählung von Ernst Pasqué.
(Fortsetzung.)


Graf René stand auf dem Punkte, dem alten sansculottischen Henker Pujol ein Geheimniß preiszugeben, das seiner Gattin ein gleich entsetzliches Loos bereiten konnte, wie das seinige, und er zögerte, doch nur wenige Augenblicke, dann sprach er mit festem Entschluß:

„Es muß sein. Ich will mein Vertrauen zu Euch festhalten, und Ihr werdet es nicht täuschen, ich fühle – ich weiß es, und deshalb hört! Mein Weib, meine arme, theure Blanche jammert mich!“ fuhr er plötzlich mit weicheren Tönen fort, „von ihr muß ich Nachricht haben und Ihr – sollt sie mir bringen.“

„Sagt, wo sie zu finden ist, aber schnell! Ich weile schon zu lange bei Euch,“ tönte es rauh, fast grimmig in die Klagelaute des Grafen.

„Geht nach dem Dorfe Verets,“ fuhr dieser fort, „am Cher und nicht weit von den Grotten der Savonnière gelegen, wo man mich verrieth und fing. Dort fragt nach dem Bauer Gratien, der wird Euch Auskunft geben.“

„Morgen Vormittag habt Ihr Antwort,“ sprach Pujol hastig, „und nun merkt genau auf das, was ich Euch sage. Noch einmal kehre ich zu Euch zurück mit einem der Patrioten, dem allerschlimmsten und allergefährlichsten. Achtet nicht darauf, was er etwa sagen wird, noch was ich vielleicht ihm antworte oder sonst mit ihm reden werde. Ihm muß ich die Aufsicht über Euch anvertrauen, wenn ich mich entfernen und keinen Verdacht dabei erregen soll. Doch wahret Glauben und Vertrauen – vor Jenem schütze ich Euch.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Pujol die Sacristei, das schwere Schloß knarrte, und der Gefangene war wieder allein. Nun trat er einem der Fenster näher und schaute hinaus in den Hof und auf die Gruppe der in der Ferne bei dem Eingang weilenden Sansculotten, welcher Pujol sich jetzt in seiner gebückten mürrischen Haltung näherte.

„Ohe! Le Borgne!“ rief er den Männern schon von weitem entgegen, „komm’ heran! Laß die Karten und die Flasche, hab’ wiederum Arbeit für Dich.“

Aus der Gruppe der zechenden und spielenden Sansculotten löste sich langsam ein Mann, der wohl das abschreckendste Aeußere von all den dort Versammelten zeigte. Es war ein langer hagerer Mensch in einer schmierigen, zerrissenen Carmagnole, den Kopf mit der rothen Mütze wie spähend vornüber geneigt. Das linke Auge saß schief und wie geschwollen in dem fahlen, ewig grinsenden Antlitz, das nur Widerwillen und Furcht erregen konnte. Er hatte vor Monaten in einem Handgemenge eine Verletzung erlitten, wodurch er, wenn auch gerade nicht um das eine Auge gekommen, doch in solch böser Weise gezeichnet worden war. Deshalb nannte man ihn, anstatt mit seinem Namen Gaillard, nur mit dem Spitznamen „Le Borgne“, der Einäugige. Sein abstoßendes Aeußere paßte vollkommen zu seinem Charakter. Er war ein heimtückischer, grausamer und nach jeder Richtung hin gefährlicher Mensch und versah zeitweise Pujol’s Dienst als Gefängnißwärter, wenn dieser hinaus auf den Richtplatz mußte. Mit schlürfenden Schritten näherte er sich Pujol, und diesem von unten herauf lauernd in das Gesicht schauend, fragte er ihn:

„Was soll’s, Pujol? – Ich dachte schon, Du würdest gar nicht mehr zum Vorschein kommen, der Cidevant hätte Dich entweder umgebracht, oder – Du complotirtest mit ihm.“

„Um seinen Kopf zu erlangen? Dazu bedarf es keines Complots; morgen fällt er von selbst in den Sack!“ entgegnete der Alte mit lauter Stimme, auf den cynischen Ton des Andern eingehend. „Und damit der seltene Bissen meiner Guillotine, die schon zu lange hungert, nicht entgehe, sollst Du wieder einmal mein Stellvertreter sein. Denn ich muß zum Citoyen Bouilly – und später wohl hinaus in’s Land.“

„Her mit den Schlüsseln!“ rief Le Borgne mit einer hämischen Gier, die hageren Finger nach dem Schlüsselbunde Pujol’s ausstreckend.

„Geduld, Freundchen! Erst thue Deine Pflicht als mein neuer Gehülfe, fülle den Krug dort mit Wasser und dann erwarte mich.“

Nach diesen Worten trat er in seine Wohnung, während Le Borgne einen großen Steinkrug nahm und diesen an dem laufenden Brunnen mit Wasser füllte. Bald kehrte der Alte zurück. Er trug einen Laib Brod unter dem Arme und sagte zu seinem Gefährten: „Komm!“

Nun schritten Beide wieder der Kirchenruine zu, und Le Borgne warf scheinbar gleichgültig, doch mit einem giftigen Blicke auf das große Brod die Worte hin: „Du verproviantirst den aristokratischen Schuft ja, als ob er noch eine Woche zu leben hätte! – Von Rechtswegen müßte sein Kopf jetzt schon in Deinem Sacke stecken. Säße der Carrier hier und nicht in dem vermaledeiten aristokratischen Nantes, das er doch noch mit Stumpf und Stiel ausrotten wird, so hätte der cidevant Graf zur Freude aller wahren Sansculotten sofort der Sainte Guillotine seine Reverenz gemacht.“

[782] „Er kommt schon noch an die Reihe,“ brummte Pujol, – „wie wir Alle, Du nicht ausgenommen, daran kommen werden.“

In der Sacristei bei dem Grafen angelangt, stellte Pujol den gefüllten Krug nebst dem Brod vor den Grafen hin, der schweigend mit verschränkten Armen auf der Bank saß und die Eintretenden nicht zu beachten schien. Dann sagte der Alte ihm mit barschem Tone:

Hier Eure Kost – es wird reichen.“

„Morgen folgt das Dessert,“ setzte Le Borgne mit frechem Höhnen hinzu. „Ihr bezahlt es dem Pujol mit Eurem Kopfe, und mir wird Euer Hemd eine frischgefärbte rothe Mütze liefern.“

„Du bürgst mir für den Gefangenen während meiner Abwesenheit,“ unterbrach Pujol die Rede des entsetzlichen Menschen, „und nun fort!“

„Hättest den Cidevant keinem Besseren anvertrauen können, als mir, Vater Pujol,“ rief Le Borgne noch im Abgehen, „und daß Du es gethan hast, stellt die Lauterkeit Deines Patriotismus in meinen Augen wieder her.“

Beide verließen die Sacristei der Kirche. Draußen übergab Pujol Le Borgne einen Bund Schlüssel und schärfte ihm nochmals ein, Niemand, wer es auch sei, zu dem Gefangenen zu lassen und ebenso wenig selbst dessen Zelle zu betreten. Dan machte er sich auf den Weg nach der Wohnung des öffentlichen Anklägers, des Citoyen Bouilly.

Mit diesem hatte der Alte nur eine kurze Unterredung, denn auffallend rasch, kaum die nöthigsten Fragen stellend, war Bouilly auf Alles eingegangen, was Pujol ihm vorgeschlagen hatte: die Karren, welche vor etwa einem Monat mehreren Bauern der Umgegend von Tours gewaltsam davongeführt worden waren, gedachte er den Leuten wieder zuzustellen, erstens, um den Hof des Gefängnisses von ihnen zu säubern, und dann um den armen Bauern und guten Sansculotten wieder zu ihrem Eigenthume zu verhelfen.

„Von selbst kommen sie nicht, die armen Teufel haben zu große Furcht vor unserer Abtei, die sie als Falle betrachten und freiwillig, unaufgefordert nie betreten werden. Nur ich bin im Stande, sie zu beruhigen, und werde es thun, es geht nicht gegen meine Pflicht. Deshalb will ich morgen früh ganz in der Stille hinausgehen und werde im Laufe des nächsten Vormittags wieder zurück sein. Die Schlüssel übergab ich Le Borgne, der ja auch mein Stellvertreter ist, wenn ich – draußen auf dem Platze bei der langen Brücke zu thun habe.“

Also meinte er und also geschah es. Mit beginnendem Tagesgrauen rüttelte Pujol Le Borgne aus dem Schlafe, machte ihn nochmals mit dürren Worten für den seiner Obhut anvertrauten Gefangenen verantwortlich und verließ die Gefängnisse der Abtei, draußen den Weg nach dem nahen Ufer des Cher einschlagend.


Am andern Morgen gegen elf Uhr zog der alte Pujol, den derben Knotenstock in der Hand und über der Schulter einen Sack vollauf und schwergefüllt, wiederum in Tours ein. Doch war er heute nicht allein, eine junge Bäuerin in der Kleidung, wie sie in der Umgegend von Tours getragen wurde und fast der der Bretagner und Vendéer ähnlich war, begleitete ihn. Ihr Körper stak tief in den vielen und weiten Röcken drin und das über der Brust geschnürte Mieder, noch von einem kreuzweis gefalteten dicken Tuch bedeckt, schien für ihren Oberkörper zu kurz zu sein, wodurch die ganze Gestalt etwas Plumpes, Unbeholfenes und deshalb durchaus nichts Anziehendes erhielt. Ihr Gesicht erschien von der heißen Sonne der Bretagne stark gebräunt, und erst bei schärferem Schauen vermochte man die regelmäßige Schönheit der Züge zu entdecken. Nur das braune Auge leuchtete unbehindert unter der weißen Haube hervor, die mit ihrem breiten, plattgefalteten Rande auf der Stirn eine kleine Spitze bildete, wodurch die Kopfbedeckung der Bewohnerinnen der Touraine und der Bretagne zu einer so hübschen und originellen gestaltet wird. Alles Haar war aber unter dieser Haube versteckt, und dies that wiederum dem sonst gewiß hübschen Gesicht Abbruch. Auch sie trug ein Bündel, in ein rothgeblümtes Tuch geknüpft, im Arme und in der Hand einen fast ebenso derben Knotenstock wie der alte Pujol.

Als Beide sich den Sansculotten näherten, welche die Wache am Thore hatten, mußten sie manche Spottreden hören: „Der alte Vater Pujol hat sich ein frisches Schätzchen geholt!“ so tönte es unter frechem Lachen ihnen entgegen.

„Welch häßliche Vogelscheuche!“ rief ein Anderer. Die plumpe Dirne genügte mir nicht einmal als Spülmagd!“

„Dem Henker genügt sie; dem ist ja jeder Kopf genehm! Gleichviel ob schön, ob häßlich, sie müssen ihm alle an’s Messer.“

„Er geht eben scharf in’s Zeug, und lange erträgt keine seine Liebkosungen.“ Und rohes Gelächter folgte jedem dieser entsetzlichen Späße.

„Mach’ den Bürgern Deine Reverenz, Margot,“ sagte Pujol ruhig zu seiner Begleiterin, „und zeige ihnen, daß Du doch nicht ganz so häßlich bist, wie sie annehmen.“ Dann wandte er sich an die Männer, und während Margot unmerklich erbebend recht unbeholfen knixte, rief er diesen mit scherzendem Tone zu: „Es ist meines Onkels Enkelkind. Hab’ sie mir als Magd mitgenommen, um ihr hier eine gute Erziehung zu geben. Doch stellt die Dirne sich nicht besser an als bisher, dann mag sie sich lieber heute wie morgen wieder heimtrollen.“

Damit schritt er weiter und zog Margot ziemlich unsanft mit sich fort. Neues dröhnendes Lachen und rohe Scherze folgten ihnen.

Als Beide die breite Straße hinschritten, welche Tours in zwei Hälften theilt und nach der langen Brücke über die Loire führt, sagte Pujol leise zu seiner Begleiterin:

„Das war ein Anfang, aber noch nichts gegen das, was uns bevorsteht. Werdet Ihr es ertragen können?“

„Ich will Alles – das Abscheulichste überwinden, kann ich nur mein Ziel erreichen,“ antwortete die Bäuerin in gleich heimlicher Weise, doch mit fester Stimme.

„Dann – mit Gott voran! Und vergeßt nicht das Ge ringste von unseren Abmachungen.“

Sie gingen weiter. Plötzlich blieb Margot stehen, und unwillkürlich zusammenschauernd deutete sie in der Richtung nach der Brücke hin und fragte: „Was ist das?“

Am Ende der Straße, mitten auf dem großen freien Plaze vor der langen Brücke, sah man eine seltsame Maschine: aus einem viereckigen, rothangestrichenen Gerüste stiegen zwei Balken von gleicher Farbe hoch empor, die oben durch ein Querholz mit einander verbunden waren und in ihrer Mitte ein breites Eisen in einem kalten, gleißenden Scheine hervorschimmern ließen. Der Mann an Margot’s Seite blickte finster zu Boden und brummte mürrisch als Antwort: „Was geht’s Euch an? Schaut nicht hin, es ist nichts für Euch!“ – Dann bog er hastig mit seiner Begleiterin in eine enge Seitengasse ab.

Noch eine kurze Wanderung, und das Thor der Abtei war erreicht. Ein lauter Ruf Pujol’s, und Le Borgne zog den Riegel zurück. Die beiden Ankömmlinge betraten den Hof. Sofort wurden sie von den wachehaltenden Patrioten mit lustigen Grüßen, mit Lachen und derben Scherzen empfangen, und die peinliche Scene von vorhin wiederholte sich in noch lärmenderer Weise. Nur Le Borgne sagte nichts; er blickte mit seinem häßlichen Lächeln die Bauerndirne von unten herauf frech und durchdringend an und fragte endlich scheinbar gelassen Pujol:

„Wirst Du nun Dein Amt wieder übernehmen? Soll ich Dir die Schlüssel einhändigen?“

„Behalte sie nur noch eine Weile, sie sind in den besten Händen,“ entgegnete der Alte gleich ruhig. „Werde wahrscheinlich noch einmal hinaus müssen; auf alle Fälle giebt es heute viel zu thun, und da wird mir Deine Hülfe nothwendig sein.“

Einen Augenblick schaute Le Borgne stumm von der Seite zu ihm auf, dann sagte er:

„Gut, ich will Dein Amt weiterführen, als ob Du hinaus müßtest in den Dienst der Sainte Guillotine, doch dann will ich auch von meinem Rechte als Schließer Gebrauch machen. So frage ich Dich denn, Bürger Pujol, was schleppst Du in Deinem Sacke in die Abtei ein und wer ist die Bauerndirne? He! Du siehst, ich vertrete Dich gut.“

„Das Mädel ist eine entfernte Verwandte, wie ich schon den Freunden am Thore sagte, und soll mir hier als Magd, Euch als Schenkin dienen,“ antwortete der alte Pujol mit größter Ruhe. „Und in dem Sacke ist weiter nichts als köstlicher Proviant für Euch, den ich draußen bei den Bauern requirirte. Holla, Margot! hinein mit dem Sack und ausgepackt, denn die Frühstückszeit ist da!“

[783] Die übrigen Sansculotten, welche die Beiden umringt und ihrem kurzen Zwiegespräche aufmerksam gelauscht hatten, begrüßten die Worte Pujol’s mit lärmender Freudigkeit und mit Späßen, die an Derbheit und schamloser Frechheit nichts zu wünschen übrig ließen. Margot hatte sich den Sack aufgeladen, und Pujol drängte sie in seine Wohnung, die dicht neben dem Raume lag, der den Sansculotten als Wachtstube diente. Le Borgne wollte ihnen folgen, da wandte der Alte sich um, und den frechen Menschen aufhaltend, sagte er, ohne einen Anflug von Eifer oder gar Zorn, doch sehr bestimmt:

„Dies ist meine Wohnung, und in ihr wie bei meiner Magd hast Du nichts zu schaffen. Geh’ und sieh nach dem Gefangenen, für den Du aufzukommen hast.“

Le Borgne zog sich brummend zurück, und auf die Kirche zuschreitend, murmelte er vor sich hin:

„Die Geschichte gefällt mir nicht – und doch überläßt er mir den Gefangenen. Hol’ ihn der Satan! Schon längst müßte der Cidevant der Guillotine verfallen sein. Bis das geschieht, will ich ihm schon der rechte Wächter sein.“

In dem Wohnraume begann Pujol mit Hülfe Margot’s rasch den Sack seines Inhalts zu entleeren. Würste, Schinken kamen zum Vorschein, doch endlich auch ein eingeschnürtes Bündel, das der Alte rasch und geschickt in einer Nebenkammer barg. Der Proviant wurde draußen von den Männern gierig in Empfang genommen, Pujol und Margot trugen Kannen mit Wein herbei, den sie aus einem der Fässer gezapft hatten, die in einem der nahen Schuppen lagerten. Dann begann das Frühstück der Wächter, und die arme Margot schien für Augenblicke Ruhe vor ihren wüsten Scherzen zu haben.

Da wurde stark wider das Eingangsthor gepocht, und als Pujol den schweren Riegel weggeschoben hatte, trat ein Mann in der Carmagnole, mit einem umgehängten Säbel und auf der rothen Mütze eine große Cocarde, in den Hof. Es war einer der Wächter und Diener des Revolutions-Tribunals, von dem öffentlichen Ankläger abgesandt, den Gefangenen vor seine Richter zu führen. Sofort beauftragte Pujol zwei der Männer, mit dem Gerichtsdiener dem Le Borgne nachzueilen und die Befehle des Tribunals zu vollziehen. Fluchend, in ihrem köstlichen Frühstück gestört worden zu sein, erhoben sich diese und schritten mit dem Gerichtsdiener auf die Kirche zu, in deren Eingang sie verschwanden. Die Zurückgebliebenen lachten ihrer und versprachen, für sie zu essen und zu trinken, welche Worte denn auch im vollen Sinne wahr gemacht wurden. Wenige Augenblicke später durchschritt der kleine traurige Zug den Hof des Gefängnisses, um sich nach dem Revolutions-Tribunal zu begeben. In der Mitte der vier bewaffneten Sansculotten ging Graf René, wenn auch mit bleichen Zügen, doch furchtlosen Blicks vor sich schauend.

Pujol war beim Frühstück geblieben, tapfer mitessend und trinkend, doch Margot stand in der Stube und blickte durch die kleinen halbblinden und theils zerbrochenen Scheiben des Fensters hinaus in den Hof. Die gefalteten Hände hielt sie auf die heftig arbeitende Brust gepreßt, und ihren schönen Augen entquollen Thränen. Jetzt sah sie den Gefangenen vorüberschreiten, und ihre Lippen zuckten, als hätte sie laut aufschreien wollen. Doch sie beherrschte sich, mußte aber die Hände von dem Herzen fahren lassen, um einen Halt zu suchen, da ihre ganze Gestalt wankte und niederzusinken drohte. Nun bewegten sich die Lippen wirklich, doch nur wie in inbrünstigem Beten. Da hörte sie die Stimme Pujol’s, der laut und mit auffallender Heiterkeit seinem vorüberziehenden Stellvertreter zurief:

„Nun kannst Du die Annehmlichkeiten Deiner neuen Stellung kosten, Le Borgne, während wir hier für Dich den saftigen Schinken und den Wein kosten werden und zwar auf Dein Wohl! Es ist übrigens zweifelhaft, ob wir Dir etwas übrig lassen. Sage dem Bürger Ankläger nur noch, daß draußen Alles in schönster, bester Ordnung ist.“

Bei den letzten Worten hatte er den Grafen mit einem sprechenden Blick gestreift, den dieser verstanden haben mußte, denn sein Antlig heiterte sich für einen Augenblick auf. Da schrie Le Borgne bereits unter dem Thor mit einer Stimme, die vor grimmem Zorn bebte:

„Ich verzichte auf den Schinken, wenn ich nur morgen den Kopf des aristokratischen Schurken dafür erhalte, und ich hoffe, daß ich nur mit einem Verurtheilten zurückkehren werde.“

Es war ein Glück, daß in diesem Augenblick das schwere Bohlenthor des Hofes hinter den Vieren mit Gewalt zuschlug, denn in dem lauten dröhnenden Schall erstarb der Aufschrei einer weiblichen Stimme, der aus der Wohnung Pujol’s hervorgedrungen war. Der Alte mußte ihn dennoch gehört haben; die Schmausenden, zu eifrig mit ihrem Speisen beschäftigt, hätten ihn nicht vernommen, auch wenn er noch heller ertönt wäre. Sie bemerkten es nicht einmal, oder beachteten es nicht, daß Pujol sich erhob und rasch in seine Wohnung trat.

„Was habt Ihr mir versprochen?“ raunte er fast grimmig Margot zu. „Wo ist der Muth hin, dessen Ihr Euch rühmtet? Es gilt einen schweren Kampf, und wenn Ihr Euch nicht besser beherrscht, ist er für uns und für ihn verloren.“

„Vergebt mir,“ flüsterte Margot in hastiger Weise ihm zu. „Es überkam mich, weil ich das erste Mal ihn wiedersah. Nun sollt Ihr mich stark und ruhig, fähig und bereit zu Allem finden.“

„Will es zu Gott hoffen – für uns Alle,“ brummte der Alte. Doch nun kommt hinaus und verseht Euren Dienst, damit wir sie immer mehr zum Trinken bringen und dann an unsere Arbeit gehen können. Der Augenblick ist günstig und kommt nicht wieder. Die drei Gefährlichsten der Bande hab’ ich glücklich hinausgeschafft, die Uebrigen sind weniger, hoffentlich gar nicht mehr zu fürchten“

Der Alte hatte recht geschlossen, denn als er mit Margot hinaustrat, fanden sie die vier zurückgebliebenen Sansculotten bereits in einem mehr oder minder unzurechnungsfähigen Zustande. Ihren Krügen, die von Pujol stets auf’s Neue gefüllt worden waren, hatten sie derart zugesprochen, daß Einer von ihnen schon eingeschlafen war. Ein Anderer suchte beim Erscheinen Margot’s sich aufzurichten, um die Dirne mit grellem Jauchzer zu umfangen, doch er berührte sie nicht einmal, strauchelnd gerieth er in ein Taumeln und fiel dann schwer zur Erde nieder.

„Trinkt, Ihr Burschen!“ rief Pujol den beiden Andern zu. „Dürft es, denn es giebt im Augenblick keinen Gefangenen mehr zu hüten, und schlaft Ihr darüber ein, so wachen wir für Euch. Komm, Margot, greif zu, mein Kind!“

Die beiden Wächter nickten zustimmend, und was sie sonst noch erwiderten oder vielmehr lallten, ging in den Kannen unter, die sie abermals zu langen Zügen an die Lippen setzten. Pujol hatte Margot zurück in die Wohnung gezogen, hier flüsterte er ihr in ernster Weise zu:

„Merkt auf! Ich führe Euch jetzt durch die Gebäude hinter der Wagenburg her bis in die Nähe der Sacristei; prägt Euch den Weg ein, damit Ihr ihn später finden und unbemerkt dorthin gelangen könnt. Für jetzt müssen wir das Bündel in der Nähe und am rechten Ort bergen.“

Zugleich war er mit Margot in die Nebenstube getreten, hatte dort das Bündel aufgenommen, und nun ging es weiter.

Auf dieser Seite des Hofes der Abtei reihte sich Bauwerk an Bauwerk, klein und groß, zum Bewohnen eingerichtet oder ehemals als Stallungen oder Schuppen dienend, doch waren sie zum größten Theil mit der Kirche zerstört worden. Vor den ganz im Hintergrund des Hofes liegenden Ruinen standen die Karren, wohl zwanzig an der Zahl, noch immer mit mehr oder minder faulendem Stroh bedeckt. Durch Thüren und Mauerlücken führte der Weg, auf dem Pujol und Margot sich ihnen näherten; einmal in ihrem Bereich durften sie auf den Hof treten und ungesehen hinter ihnen wegschreiten. Denn die Karren bildeten in der That eine Wagenburg, die zugleich die Sacristei deckte.

„Dort ist’s!“ flüsterte der Alte seiner Begleiterin zu, mit sprechendem Blick auf die kleinen Fenster des Ausbaus der Kirche deutend. „Und das Nöthige habe ich vorbereitet.“

Dann barg er auf einem der Fuhrwerke das Bündel und schichtete frisches Stroh darüber. Als dies geschehen war, traten beide wieder den Rückweg an, und Pujol flüsterte mit einem schweren Seufzer vor sich hin:

„Gott gebe, daß es gelinge!“

„Es muß gelingen!“ entgegnete ihm Margot mit mächtig aufflammendem Muthe. Habt Ihr denn nicht gehört, was der Elende, der ihn zu seinen Richtern führte, beim Verlassen des Hofes sagte? Er müsse verurtheilt und morgen – es ist entsetzlich! mein Mund vermag es kaum auszusprechen! – morgen guillotinirt werden?“

[784]

„Laßt Euch solche Worte nicht anfechten,“ meinte Pujol hastig weiter schreitend, „so schnell geht es für diesmal nicht. Der Richter Bürger Bouilly, in dessen Hand des Grafen Leben liegt, scheint diesen früher gekannt zu haben, ihm sogar befreundet gewesen zu sein, und er wird den Proceß, um einer oder andern Ursache willen, so viel als möglich in die Länge ziehen. Wir werden ihm dabei die rechte Hülfe leisten, und gelingt unser Vorhaben, was ich zu Gott hoffen will, so wird der Bürger Richter sich nicht wenig, wenn auch nur ganz im Stillen, darüber freuen.“

„Ich hörte den Namen nie von ihm,“ sprach Margot sinnend vor sich hin, als Pujol ihr plötzlich zuraunte:

„Aufgepaßt! wir sind wieder in ihrer Nähe und draußen höre ich die Andern nahen. Bleibt drinnen, bis sie vorüber sind, und singt irgend ein Liedchen.“

Der Alte trat auf die vier Wächter zu, die jetzt sammt und sonders eingeschlafen waren. Mit Scheltworten, durch Rütteln und Schütteln trieb er sie vom Boden, von ihren Sitzen empor, während in der Stube Pujol’s die Stimme Margot’s erklang, die mit gedämpftem Ton, doch ohne zu zittern, ein bretagnisches Volkslied angestimmt hatte. Es war eine jene schwermüthigen Melodien, die sich in kleinen Intervallen bewegen und nur einmal, gegen den Schluß, eine Note in höherer Lage kräftig anschlagen lassen. Sie sang:

“Ich kenn’ ein kleines Liebeslied,
Das sang ich, als ich von ihm schied.
So traurig und so hoffnungsreich
Dünkt keins dem Ohr und Herzen gleich.“

Graf René, der in diesem Augenblick, von Le Borgne und den beiden Sansculotten geführt, den Hof betrat, fuhr bei dem Klange der matt aus dem Innern der Wohnung ihm entgegen tönenden Stimme sichtlich zusammen. Doch sofort beherrschte er sich wieder und schritt weiter, wenn auch immerfort nach dem Ort lauschend, woher das Lied erklang. Le Borgne hatte nichts bemerkt, denn gleich beim Betreten des Hofes stieß er gräuliche Verwünschungen gegen den öffentlichen Ankläger aus, der mit dem elenden „Aristo“ unter einer Decke stecken und dafür mit diesem auf die Guillotine müsse. Denn er habe den Gefangenen nur verhören und nicht richten lassen, was erst morgen geschehen – oder auch nicht geschehen werde.


(Fortsetzung folgt.)




Bilder aus Spanien.

2. Südspanisches Straßenleben.
Von Fritz Wernick.

Straßenscene.
Originalzeichnung von Prof. Alex. Wagner.

Die Spanier sind, seit Ferdinand und Isabella alle kleinen Königreiche unter ihrem Scepter vereint, als sie die Letzten Mauren über’s Meer getrieben hatten, zu einem gemeinsamen Staate zusammengewachsen; ein einheitliches Volk sind sie indessen noch bis heute kaum geworden. In der Volksart, in Sitten, Trachten, Lebensweise unterscheidet sich das rauhe Castilien, das bergige Aragonien von Valencia, Murcia, ganz Andalusien, die unter einander wieder grundverschieden sind. Das spricht sich aus in dem Aeußern der Menschen, im Straßenleben, in der Beschäftigung, in der Denkart, in allen Lebenserscheinungen, die auch der fremde Besucher wahrnimmt. Jeder Gau, jedes ehemalige kleine Königreich hat sich seine Sonderart bis heute bewahrt.

Allgemeine Züge fehlen natürlich nicht. Das gesammte spanische Volk ist gutmüthig aber beschränkt, gefällig und dienstfertig aber bettelhaft, es ist bedürfnißlos aber lässig und träge, eigentlich ist es auch kaum talentvoll zu nennen. Der Gesang des Volkes ist entweder lärmendes Geräusch oder ein langgezogenes, wie Klageton klingendes Winseln. Musik hört man selten auf der Straße. Man muß dem Volke bald gut werden, um seiner Naivetät und seiner Liebenswürdigkeit willen.

In dieser Buntheit kann man aber zwei große Gruppen unterscheiden, die der Gesammtbevölkerung des ganzen Landes ihre Charakterzüge verliehen haben: die Castilianer und die Andalusier. Jene sind häßlich und plump in der äußeren Erscheinung, starkknochig, derb, ernst. Sie stammen von den Hirtenvölkern der

[785]

Gärten des Alcazar.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[786] nordöstlichen Berge ab, die in tiefe Barbarei verfallen waren, als die Araber das von ihnen eroberte Land unter hohe Cultur brachten. Die Andalusier, in deren Adern noch heut arabisches Blut fließt, sind die bevorzugtesten Lieblingskinder des spanischen Bodens. Schlanke und geschmeidige Gestalt, feine Köpfe, leuchtende Augen, dunkle Hautfarbe, anmuthiges Wesen verbinden sich mit einem oft in Leidenschaftlichkeit ausartenden Feuer, mit lebhaftem Geiste, um uns diese Südspanier besonders liebgewinnen zu lassen. Volks- und Straßenleben gestalten sich denn auch schon in Valencia, Murcia, überall wo die Mauren lange Jahrhunderte das Land besessen haben, vor allem aber in Andalusien selbst, fast malerisch, heiter, ansprechend. Von der Volkstracht ist wenig übrig geblieben, das meiste daran nur künstlich erhalten. Die Blumenverkäuferin, die auf der Rambla von Barcelona, auf dem Markte von Valencia hinter den duftenden und farbeglänzenden Blüthenpyramiden sitzt, trägt manchmal noch das knappe Sammetjäckchen, den kurzen mit Spitzen besetzten Rock, immer den Schleier im Haar, mit Blumen oder blanken Nadeln befestigt. Der Stierkämpfer kleidet sich ähnlich wie Leporello oder Figaro in der Oper mit grellen Seidenstrümpfen, die Hosen und die seidengepuffte Jacke voll kleiner Knöpfe, trägt farbige Schärpe und sammetnes Barett.

Das gehört zum Geschäft. Die Frauen sind vollständig dem Kattun verfallen, nur die Männer würde man auch äußerlich als Spanier erkennen, wo immer man ihnen begegnete. Die streifige Wollendecke schlagen sie geschickt um Arm oder Schulter, mit dem kurzen schwarzen, farbig gefütterten Mantel verstehen sie sich prächtig zu drapiren, und Mantel oder Decke trägt jeder Mann, jeder Knabe im südlichen Spanien. Das macht die Straßen bunt, malerisch. Das steigert sich noch auf den Märkten.

Gärten des Alcazar: Gallerie Don Pedro I.
Originalzeichnung von R. Püttner.

Am reizendsten ist der Markt von Valencia, am lebhaftesten in Murcia, weit weniger interessant in den eigentlich andalusischen Städten Granada und Sevilla. Die Märkte von Valencia haben die Gestalt von Gartenhöfen. Häuserfronten bilden ein Rund oder ein geschlossenes Quadrat, zu dem nur wenige Ausgänge führen. In der Mitte sprudelt ein Brunnen. Der Wasserstrahl senkt sich in Schalen, deren unterste dem augenblicklichen Bedarfe dient. Palmen, Ulmen, Akazien beschatten rings den Platz. Dorthin kommen die Landleute aus der Huerta, führen auf ihren beladenen Maulthieren, auf zweiräderigen Karren, die ein alter Eselschimmel schleppt, köstliches Gemüse, süße Früchte, Eier, Blumen und häufen das leckere Erzeugniß des Landbaues unter den Bäumen zu Bergen auf. Die Männer auf Sandalen, die streifige Decke um den Leib geschlungen, den Kopf mit rothem Madras umwunden, die Hüften mit breiter rother Wollenbinde gegürtet, versehen den Dienst. Ein Junge folgt ihnen, der Unrath, Kraut, Orangenschalen sorgsam zusammenkehrt und in den von Spartogras geflochtenen Korb dem Grauthier aufladet. Die Orangenschalen werden an Händler verkauft, zum Trocknen und Versenden, das Uebrige kommt auf’s Feld. Die Marktstätte sieht aus, als ob dort die Araber feilhielten, – völlig orientalisch noch heute.

Weit reicher erscheint das Marktleben in Murcia. Dort trägt der Landmann weite weiße Hosen, enge feine Strümpfe, ein weißes Wams; nur die rothe Leibbinde hebt sich aus dem farblosen Kleide grell hervor. Da steigert sich das Gewühl zum Gedränge. Alles, selbst Fleisch und Fisch, sogar Hausrath bietet man dort feil. Züge, die an das vergangene Maurenthum erinnern, lassen sich hier noch viel deutlicher erkennen. Vor allem die Vorliebe für frisches, klares Wasser zu einem kühlen Trunk. Aus arabischer Zeit haben sich entschieden die Formen jener Thonkrüge erhalten, die wir in Murcia, Alicante, Cartagena und weiter im Süden in jedem Hause antreffen. Mit diesen „Tinajas“ beladet der Töpfer seinen Eselkarren, fährt umher und findet überall Absatz, denn gar leicht zerbricht solch ein bauchiges Gefäß. Sie finden wir ebenfalls auf dem Markte in Murcia. Ihre Form ist gefällig, ähnlich denen, die man noch heute überall im Orient findet. Die Gefäße bleiben unglasirt, sodaß das durchschwitzende Wasser verdampft, wodurch es sich kühl erhält. Selbst auf den Landstraßen begegnet man den Tinajakarren des hausirenden Töpfers. Draußen füllt man diese Krüge am Brunnen selbst. In den Städten aber bildet diese Arbeit eine eigene, von Jungen [787] betriebene Industrie. Lässig schleicht der Esel mit den gefüllten Schwitzkrügen durch die Stadt, an der Hausthür schellt der braune Bursch, dessen getreuen Typus wir auf Seite 789 finden, setzt den Behälter ab und der Troß zieht weiter. „Durch Wasser lebt alles Ding“, lautet ein Koranspruch, und „vom Wasser leben Viele“, könnte man in Südspanien hinzusetzen. Der Durst quält in heißer Zeit den Menschen weit furchtbarer, als der Hunger, den dieses genügsame Volk kaum zu kennen scheint. Dann umsteht eine stetig wechselnde Kundschaft den Aguador, den Händler mit Trinkwasser, der im Süden auf allen Straßen, meist an den Ecken anzutreffen ist. Er ruft nicht, er lockt nicht; gleichmüthig sitzt er da und wartet, das rothe Baumwollentuch um den Kopf geschlungen, die Beine mit Bockfellen bekleidet, Sandalen an den Füßen, eine mit Knöpfen reichbesetzte Jacke an und natürlich, wie jeder Spanier, die breite rothe Binde um den Leib. Er thut, was jeder männliche Spanier thut, vom kleinsten Knaben bis zum Greise: er raucht, dampft eine Cigarette, ohne Cigarette sieht man Niemand hier. Die Cigarette ist Gemeingut. Man giebt sie jedem Unbekannten, bittet sie sich aus, legt sie niemals ab. Der Kellner kleinerer Gasthäuser raucht, bis die Mahlzeit angerichtet ist, und nimmt das glimmende Papier sofort wieder in den Mund, wenn er eine Schüssel gereicht hat.

Der copirende Maler im Museum raucht, der Beamte im Bureau, der Schaffner der Bahn, der Bettler in der Kirchenthür, alle rauchen, rauchen immer fort. Dem spanischen Straßenbilde würde ein wesentlicher Zug fehlen, wenn man die Cigarette daraus hinwegließe – und den Papierfächer. Valencia fertigt diese Fächer, es trägt sie Mann und Frau, Jüngling und Matrone, sobald es wärmer wird. Der Aguador hat keinen Fächer; er darf doch seinem eigenen Geschäfte nicht selbst Concurrenz machen. Dieses beschränkt sich nicht nur auf Verkauf des Wassers, das seine Tinajas kühl erhalten. Er tropft Süßigkeiten, etwas Schnaps oder Lakrizensaft hinein, füllt sein Schälchen auch wohl mit süßen Erfrischungen, kühler, wohlschmeckender Labe. Der eigentliche Nebenbuhler des Aguador ist jedoch der Horchatero, der Eisverkäufer. Aber der Horchatero gilt als der vornehmere von Beiden, das verräth schon sein halbstädtischer Anzug, noch mehr aber seine Waare. Mit Rufen und Preisen lockt auch er nicht Käufer an. Ist es Phlegma, ist es angeborner spanischer Stolz: lästig werden diese Straßenhändler niemals dem Publicum. Vielleicht sind sie Fatalisten wie ihre arabischen Vorfahren. Das Geschäft des Horchatero wird stets von zweien betrieben. Langsam schiebt der eine der jungen Burschen den Karren mit Eimern vor sich her, in denen sich Zinkbüchsen mit süßem Eise befinden, während der andere aus einer dieser Büchsen Portionen mit dem Leckerbissen in Gläser vertheilt.

So finden wir die Eisverkäufer überall, auf dem Markte, in den Straßen. Die Landleute sind ihre besten Kunden. Unsere geistigen Getränke, Wein, Bier, Schnaps, kennen sie kaum. Etwas Gutes muß der Bergbewohner, der Bauer der Huerta sich aber anthun, wenn er zur Stadt kommt, etwas, was er draußen nicht haben kann. Da wird dann eine Kupfermünze dem Horchatero geopfert und das gefrorene Gemisch von Milch und Zucker geschlürft. Große Auswahl führt der Horchatero nicht.

Nicht nur das kleine, umherwandelnde Geschäft bewegt sich ziemlich geräuschlos, mit einer gewissen beschaulichen Ruhe durch die Straßen; Lärm hört man überhaupt selten in den südspanischen Städten. Wer je das gellende Geschrei und Getobe der italienischen Gassenbevölkerung kennen gelernt hat, den befremdet anfangs diese Stille. Das Auge allein wird beschäftigt. Die Schaar der Betteljungen ist unendlich. Prächtige Burschen finden sich darunter ohne die hohe Rasseschönheit der italienischen Gassenbuben, aber auch lange nicht so gewitzt, so raffinirt und durchtrieben. Sie lungern, sie sonnen sich am Boden, rauchen ihre Cigarette und warten, bis der Zufall ihnen etwas in den Schooß wirft. Sie alle könnten dem Murillo als Modelle gedient haben, so prachtvoll schmutzig und zerlumpt, so herrlich braun und gedrungen, so naiv und zufrieden sehen sie aus. Der Mensch braucht ja fast gar nichts unter diesem Himmel, um zu leben. Wozu soll man denn arbeiten, sich mühen? Verhungern wird niemand, das höchste Elend kennt man nicht. Wohnung, Schlafstätte ist überflüssig, eine Hand voll Kichererbsen, eine Traube, ein Apfel sind leicht zu haben. Das genügt. Dieser Zug naiven Selbstgenügens geht durch die ganze Bevölkerung. Selbst die Blinden sehen kaum unglücklich aus. Die Straßen wimmeln von solchen Unglücklichen. Die Blattern, verschleppte Krankheiten, Sorglosigkeit, richten gräuliche Verstümmelungen der Sehorgane an. Meist bedarf der Blinde keines Führers. Den Stock in der Hand, tastet er sich längs der Häuserreihen weiter. Das Volk ist gutmüthig; jeder nimmt sich seiner an, Mitleidige drücken ihm eine Kupfermünze in die Hand.

Aber nicht nur was auf der Straße sich bewegt, fesselt unsere Aufmerksamkeit. In den engen Gassen von Granada, auf dem Markte von Murcia, in der aus arabischer Zeit stammenden Altstadt zu Malaga dringen Handwerk und kleine Hantirungen aus den Häusern auf die Straße hinaus. Man lebt, man arbeitet völlig im Freien. Kälte kennt man nicht und vor der Sonne schützen die Zelttücher, die an losen Schnüren von einem Hause zum andern über die ganze Breite der Gasse gespannt sind. Nur ein plötzlicher Regen jagt alles hinein in den hintern dunklen Schlafraum, den einzigen, den man gemeinhin besitzt.

Diese Straßen sind für alles Fuhrwerk gesperrt, mit Quadersteinen gepflastert; man kann sich also ausbreiten. Selbst der Holzkohlenhändler, der mit seinem Eselfuhrwerk von den Bergen herab zur Stadt kommt, um den kleinen Leuten das zugewogne Feuerungsmaterial zu verkaufen, muß sein an der oberen Körperhälfte geschorenes Grauthier in der breiteren Straße halten lassen und trägt seinen Kunden die Waare in dem Flechtkorbe von Sparto oder Palmenbast zu. Da drinnen aber breitet der Flickschneider seine Lappen aus, da sitzt das Weib über ihrem Kohlenbecken und bäckt knusperige Kuchen aus Maismehl in Oel, da läßt der Weinschänk Schläuche von Bockfellen, gefüllt mit dem schweren süßlichen Landwein der Huerta, in seine Keller tragen, da hängen vor den offenen Läden an langen Stangen die buntstreifigen Manteldecken, ohne die kein Südspanier sich behilft. In diesen engen Gassen wimmelt es wie in einem Ameisenhaufen. Aber das rege Leben macht wenig Lärm. Deutlich hört man aus der Ferne das Geklapper von Castagnetten. Es kommt aus einem der niedrigen Kaffeehäuser, die allenthalben anzutreffen sind.

Im Halbdunkel sehen wir dort zwei junge Burschen den Fandango tanzen. Dieser Tanz kann nur in Andalusien entstanden sein. Das feurige Locken und Haschen, das Ausweichen und Vordringen, das gefällige Wiegen der elastischen Körper, das Bewegen der Arme mit den kleinen Klappern in anmuthigen Schwingungen, das könnte ein Castilianer nimmermehr so ausführen, dazu gehört die Geschmeidigkeit, die Grazie des Andalusiers.

Der Tanz ist ihnen hoher Genuß, fast Leidenschaft. Diese schönen jungen Burschen, ein Soldat und ein gebräunter halbnackter Bauer, tanzen nicht vor Zuschauern, nicht aus Eitelkeit oder Gewinnsucht, sie tanzen aus innerer Herzenslust. Mäßig am Weinkruge, mäßig bei der Mahlzeit, ohne Talent und Lust zum Singen, scheinen sie im Tanz die höchste Belustigung zu finden.

Am Sonntag kommen Landleute in Sammetjacken, mit kurzen Kniehosen, mit gestickter Manteldecke über der Schulter zur Stadt, die Begüterten aus der Vega, die der Bettlerschaar vor den Kirchenthüren ein Kupferstück hinwerfen. Da sieht man sie sitzen in ihrer malerischen Tracht, die Maulthiertreiber bei der dickbauchigen Flasche, die unvermeidliche Cigarette in der Hand, politisirend, debattirend, während der Knecht der Herberge die Thiere versorgen muß in dem Raume, der, wie unsere Illustration S. 788 zeigt, nur durch eine niedere Mauer getrennt ist, von dem Platze, an dem die Señores sich niedergelassen zur Rast. Sie haben heute viel zu thun gehabt, diese Herren, denn viel, zu viel für ihre Bequemlichkeit, hat man ihre Dienste in Anspruch genommen. Heute pilgern vornehme Damen in Schleier oder Mantille zum Dome, heute sind zu den Sevillaschen Volksfesten Fremde in Schaaren angelangt, die zuvor die berühmten Altargemälde von Murillo sehen wollten, heute begiebt sich der kirchliche Pomp, Processionen, Aufzüge mit Fahnen, Heiligenbildern, Reliquien, Priester in goldstarrenden Gewändern mit Edelsteinen übersäet, in’s Straßenleben. Der Festtag äußert auf dasselbe überall seinen Einfluß, anders während der heiligen Gebräuchen gewidmeten Osterwoche, anders nach dem Feste, wo die Zeit der „Feria“ Volksbelustigungen gewidmet ist.

Auf den Balconen, selbst auf den Dächern stehen hohe Vasen, die in der nahen Töpfervorstadt Troma gefertigt werden, voll Blumen, duftenden Jasmin, Purpurrosen, blauer Iris, Orangenblüthen, Fliederdolden. Jedes Mädchen steckt täglich eine Rose, [788] einen blühenden Akazienzweig, ein Bündel bunter Blüthen in’s Haar, auf den öffentlichen Plätzen verbreiten die blühenden Orangenbäume betäubenden Duft, festlich, blüthenreich, üppig erscheint ganz Sevilla an solchen Feiertagen. Der Alguazil hat seine beste Uniform hervorgesucht. Eine Art Schutzmann oder Gensd’arm nach unseren Begriffen, gehört er zu den stehenden Straßengestalten, die indessen niemals als Einzelwesen, sondern immer paarweise erscheinen. Zwei solcher uniformirter Hüter der öffentlichen Ordnung und Sicherheit stehen auf jedem Bahnhofe, man begegnet ihnen auf allen Landstraßen, sie halten uns an, fragen uns aus, wenn wir einen Spaziergang in die Umgebung der Stadt machen, sie geleiten die Karren mit gefesselten Verbrechern, die wir allenthalben, von Maulthieren gezogen, treffen. Hoch zu Roß hält ein Paar Alguazils die Wagenreihen vor dem Theater, vor dem Stierplatz, auf den öffentlichen Promenaden in Ordnung, es giebt kein Straßenbild in ganz Spanien, das ohne Alguazils denkbar wäre. Die öffentliche Unsicherheit, die Besorgniß vor plötzlichen Aufständen, aus denen in diesem Lande leicht Revolutionen werden können, mag diese ungeheure Zahl von Polizeisoldaten nothwendig gemacht haben. Sie sehen ungemein stattlich aus, ganz geeignet, diesem Volke Respect einzuflößen, sie schlendern durch die Straßen, bewachen die öffentlichen Plätze, auf denen die bunte Menge durcheinander wogt, sich zu den Limonadenweibern, den Eisverkäufern drängt, auf den Bänken sitzend, den Beginn des Volksconcerts, der Feuerwerke, der Wettkämpfe erwartet.

Rast der Maulthiertreiber.
Nach dem Oelgemälde von J. G. Vibert.

In einer Ecke giebt es Hahnenkampf, wie die Anschlagzettel an dem kleinen Hause verkünden. Dorthin drängt man besonders. Kaum ist es möglich, über die Menschenmasse hinwegzusehen, die sich in dem kühlen Binnenhofe, dem Schauplatz des Kampfes, um die beiden Helden schaart. Die Kampfhähne sind durch Fleischnahrung und sonstige Diät zu ihrem Berufe vorbereitet worden. Nur Thiere mit langen natürlichen, noch künstlich verschärften Sporen werden zugelassen. Man rupft ihnen die Schwänze und einen Theil des farbigen Federkragens ab. Die armen Dinger sehen struppig, halb nackt aus, bieten so verstümmelt den Angriffen sich schutzlos dar, jede Wunde, jeder Blutstropfen ist sofort zu sehen. Wüthend springen die Hähne auf einander los und verbeißen sich. Die Zuschauer ermuntern sie durch Zurufe, erhitzen sich selbst durch lautes Geschrei. Während die Kampfthiere sich blutend in der kleinen Arena umherzerren, beginnen die Wetten. Laut bietet der Eine ein Silberstück auf den Hahn seiner Wahl: ein Anderer hält auf den Gegner. Das Geld fliegt wie bei der Spielbank auf den Plan. Silbermünzen liegen am Boden. Mit der steigenden Aussicht auf Gewinn oder Verlust erhitzt die Leidenschaft der Zuschauer sich immer mehr. Man geberdet sich wie toll. Indessen ringen die blutigen Thiere immer erbitterter mit einander, von Schnäbeln und Sporen grimmig zerfleischt. Endlich liegt einer am Boden.

Der Sieger hackt ihn mit unverminderter Wuth zu Tode. Aber auch er blutet aus unzähligen Wunden und er erholt sich selten. Bleibt er aber am Leben, so steigt sein Werth gleich dem des Rosses, das öfter auf der Rennbahn gesiegt hat. Die Gewinner raffen ihr Geld zusammen, die Anderen versuchen ihr Glück bei einem späteren Kampfe.

Man besucht den Alcazar (vergl. die Illustrationen S. 785 und S. 786) seine Gärten, seine Prachtgemächer im Stil der Alhambra, wenn ihn nicht, wie im Herbst, die Königin Mutter Isabella bewohnt. Die berückende Schönheit dieser

[789]

Corso de las Delicias mit dem Palaste Montpensier in Sevilla.
Originalzeichnung von Prof. Alex. Wagner.

Räume, die den Fremden in einen Märchentraum versetzt, übt, auf die Sevillanerinnen zumal, einend unwiderstehlichen Reiz. Und ist es denn dort nicht auch wie im Paradiese? Der Blick schwelgt in Entzücken über die Herrlichkeit, die sich da vor ihm aufthut. Liebreizende Bilder des Glücks, irdischer Wonne, der Freuden und der Liebe ruft hier die Phantasie in den lauschigen Myrthenhainen und unter uralten Palmen, in duftenden Rosenboskets und am murmelnden Wasser marmorner Brunnen hervor, und gleiche Bilder umgaukeln uns inmitten der Säle des Schlosses mit schimmernden Mosaiken, mit weißen, schlanken Säulen, mit durchbrochenen Kuppeln aus Gold und marmornen Eiszapfen; sie treten uns entgegen vor diesen Wänden und Bogen, die von zierlichsten Steinarabesken und maurischen Inschriften bedeckt sind, auf denen sie wie Spitzenschleier sich ausbreiten oder an ihnen wie Blumensträuße hängen oder ihnen wie prächtig gestickte Teppiche angeheftet sind. Das Höchste, wovon eine Andalusierin träumt, um das Leben schön zu finden, hier war es ja seit Jahrhunderten verwirklicht, in jenen fernen Zeiten, da die Sultane ihren Hof im Alcazar hielten, und unter den castilischen Königen, die ihn dann bewohnten. Wie prosaisich ist die Welt da draußen gegen diese hier mit ihrem Reichthum, ihrer Schönheit, ihrem sinnlichen Zauber, den die Maurenfürsten geschaffen und die spanischen Könige sorgsam erhielten, mit reicher und kunstsinniger Hand vermehrten und bis heutigen Tages vor den Zerstörungen der Zeit bewahrten!

Wasserjunge. Originalzeichnung von Prof. Alex. Wagner.

Am Nachmittage strömt das Volk hinaus, die Uferpromenaden längs des Stromes beleben sich. Die daran liegenden Delicias de Christina mit dem stolzen Palast Montpensier sind ein Lustgarten, dem die alte, nicht die jetzige, Königin Christine den Namen gegeben. Hier rollen die Carossen hin und her, in denen die schonen dunkeläugigen Mädchen und Frauen Sevillas, den feingeschnittenen Kopf mit den blauschwarzen Haaren halb unter der Schleiermantille verdeckt, die Huldigungen der Cavaliere entgegennehmen. Dort sieht man flinke, langohrige Maulthiere, dicht mit rothen Wollentroddeln und blanken Schellen behängt, vor ländlichen Wagen. Sie bringen die Bewohner der grünen Vega an die Ufer des Guadalquivir zur Feria von Sevilla. Denn heute soll noch ein Stierkampf stattfinden, ein Corrida, wie an jedem Sonntag der Festzeit. Das erkennen wir an dem Drängen der bunten Menschenmenge, der Städter und Landleute, der hölzernen Eselkarren, den eleganten, mit der spanischen Aristokratie gefüllten Wagen, die alle sich nach der Brücke hinbewegen, in deren Nähe die Arena errichtet ist. Alle Volksgestalten, denen wir anderswo einzeln begegnet sind, vereinigen sich hier zu einer bunten Gruppe. Das spanische Volksleben treibt seine kräftigsten Blüthen vor den Pforten der Arena.

[790]
Brausejahre.
Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)
32.

Verzeihung, meine Mutter! Verzeihung!“ schluchzte eine tief zur Erde gebeugte Gestalt, die aus ihren Knieen am Lager der alten Frau von Werthern lag, welche, krank und bleich, sich umsonst bemühte, der Knieenden zu antworten.

Endlich überwand die Leidende ihre Schwäche, ihre Gemüthsaufregung soweit, daß sie einige Worte hervor zu stammeln vermochte.

„Steh’ auf, Emilie! – Unglückliches Kind! Sprich – erkläre mir Alles!“

Die Knieende ergriff der Kranken abgezehrte Rechte, preßte wiederholt ihre brennenden Lippen darauf und rief:

„O, ein gutes Wort von Ihnen, Dank, glühenden Dank! – Mutter, wie habe ich mich nach Ihnen gesehnt! Wie furchtbar ist es, sich selbst zu den Todten geworfen zu haben!“

Die alte Dame bat sie, sich auf den Stuhl neben ihrem Bette zu setzen, dann fuhr sie mühsam und leise sprechend fort:

„Ich kann’s noch nicht fassen, daß Du es wirklich bist, Emilie, die vor drei Jahren Gestorbene! Mein liebes Schmerzenskind – für dessen Tod ich Gott mit tausend Thränen dankte. Emilie erstanden! Ist’s auch keine Fieberphantasie? Laß Dich betasten, komm näher. Nein, so greiflich kann eine Vision nicht sein!“

„Ich bin’s, o Mutter, ich bin’s! Ich halte und küsse Ihre Hände, ich streichle Ihre Wangen, ich darf Sie wieder anblicken, darf es wagen, Ihnen zu beichten, mein armes, jammervolles, beladenes Herz auszuschütten?“

„Nur ruhig, Kind, ich ertrage Deinen Ansturm nicht; setze Dich da hin; meine Hand magst Du halten, und dann erzähle, beichte, wie Du es nennst, ich verstehe von allem Vorgefallenen gar nichts.“

„Wo soll ich beginnen, Mutter? Sie waren voll Sorge für mich, des Herzogs halber; der ward mir nicht gefährlich, er meinte es auch gar nicht ernstlich. Er war noch so jung, wollte lustig sein. Dies Spiel, diese harmlose Thorheit half mir so gut über mein elendes Zusammenleben mit Werthern hinweg!“ Emilie schilderte nun ausführlich, wie ihre Leidenschaft zu dem Hausgenossen, dem stillen Gelehrten Moritz von Einsiedel, sich angesponnen, wie die Trennungsstunde sie zu einander geführt habe. Wie sie auf dem Gute des Bruders das Scheiden von Moritz nicht zu überstehen vermocht und wie sie endlich mit einander beschlossen, eine Komödie in’s Werk zu setzen, die sie rette. „Während ich heimlich mit dem Geliebten entwich,“ fuhr sie bewegt fort, „ließ mein treuer Bruder eine Puppe statt meiner beisetzen und schrieb meine Todesanzeige. Aber das kühne Abenteuer hatte sich bitter gerächt. Die Ausbeutung der Goldbergwerke in Afrika war eine verfehlte Speculation gewesen, wir haben Jahre schwerster Kämpfe durchgemacht.“

„Und was nun, unglückliches Kind?“ fragte die Mutter.

„Moritz will den Herzog bitten, ihn wieder im Bergfache anzustellen, und dann hoffen wir, uns nach tausendfältigem Elend, nach vollem Ausgestoßensein, wieder im Leben und in der Menschen Achtung herzustellen.“

„Du hast viel gelitten, Emilie! Ich sehe, ich fühle es!“

„Furchtbar, Mutter! Noth und Elend jeder Art hat uns heimgesucht; wir haben es aber treulich mit einander getragen. Auch Gewissensqual wegen unserer thörichten Handlungsweise lag schwer auf uns, aber in unserer ausharrenden Liebe fand sich eine große Hülfe. Glauben Sie mir, theure Mutter, es war eine Schule des Lebens, die Ihrer leichtsinnigen Emilie genützt hat.“

Die Rückkehr der hübschen und beliebten Frau von Werthern aus dem Lande des Todes rief in Weimars höheren Gesellschaftskreisen einen wahren Sturm der Aufregung hervor.

Der Herzog stürzte wüthend über die Komödie, welche man ihm gespielt, zu Goethe, ließ diesen kaum zu Worte kommen und schalt aus den unerhörten Betrug, welchen man sich gegen ihn erlaubt habe.

„Schade,“ erwiderte endlich Goethe mit voller Ruhe, „daß in dieser platten Werkeltagswelt nichts Außerordentliches mehr zu Stande gebracht wird.“

Karl August stutzte.

„Wie, Du verteidigst die Landstreicherin?“

„Ich meine nur, daß mein lieber gnädiger Herr, der allem Abenteuerlichen so hold ist, seine Freude an dem Streiche der beiden Leutchen haben müßte, die, wie Werthern’s Ehe beschaffen war, im Grunde nichts Klügeres thun konnten.“

Der Herzog lachte und gab nach einigem Hin- und Herreden dem Freunde Recht. Aber dieser wollte noch mehr.

Moritz von Einsiedel, der Goethes Interesse für das Bergfach sowie seinen Einfluß kannte, hatte ihn früh Morgens aufgesucht, ihm alle Verhältnisse mitgetheilt und ihn um seine Verwendung beim Herzoge gebeten. Einsiedel galt von jeher für einen tüchtigen und pflichttreuen Beamten, so betrachtete Goethe seine Wiederanstellung als Gewinn und zauderte nicht, dieselbe bei seinem fürstlichen Freunde zu befürworten.

Es gelang ihm auch, den Herzog milder zu stimmen und demselben endlich die Ueberzeugung zu geben, daß Einsiedel’s Wiederaufnahme nicht völlig zu verwerfen sei; damit war vorläufig genug erreicht.

Karl August forderte den Freund zu einem Spaziergange auf. Es war ein herrlicher Nachmittag, die Geselligkeit ruhte heute, morgen sollte die Generalprobe für „Den Triumph der Empfindsamkeit“ stattfinden und dann übermorgen, am 22. August, die Heimkehr der Herzogin Mutter mit dem Spiel gefeiert werden.

Man schlenderte unter lebhaftem Gespräche dem Parke zu, erfreute sich am Gedeihen der neuen Anpflanzungen, plante Weiteres und kam endlich an die Ilm, deren feuchten, kühlen Duft man an dem warmen Tage wohlthuend empfand.

Da sahen sie plötzlich mehrere Parkarbeiter und Mühlknechte in der Nähe des Wehrs zusammeneilen, ein Kahn stieß vom Ufer, man hantirte mit Stangen und hob endlich einen Körper in den Nachen.

„Das scheint ein Ertrunkener!“ rief der Herzog.

„Ich glaube, es ist eine Frau, ich sah ein weißes Kleid,“ entgegnete Goethe, während Beide ihre Schritte beschleunigten, um zur Stelle zu gelangen.

Die Männer hoben eben Christel von Laßberg’s schlanke, leblose Gestalt an das Ufer und legten sie auf den Rasen.

„Großer Gott, ist sie todt? Wie ist das Unglück geschehen?“ rief der Herzog.

Goethe knieete zu ihr nieder, legte sein Ohr an ihren Mund, versuchte seinen Odem zwischen ihre kalten Lippen zu blasen, lauschte auf ihren Herzschlag, untersuchte ihren Puls, rieb ihre Hände, hielt sie ausgerichtet im Arme und that Alles, um sie wieder zu beleben.

„Geben Sie sich keine Mühe mit ihr, Herr,“ sagte ein alter Parkaufseher, der dazu trat, sie liegt schon seit gestern Abend darin und muß festgehakt sein, sonst wäre sie weiter getrieben. Als ich spät meine Runde machte, sah ich eine weiße Gestalt durch die Büsche fliegen, sie verschwand hier am Ufer – es hätte mir fast gegraut. Es war zu dunkel, um etwas im Wasser zu erkennen, dachte auch, ich könne mich geirrt haben, aber heute Morgen fand ich diesen seidenen Stöckelschuh, da wußte ich, daß es eine Vornehme gewesen, die ich gestern Abend hatte laufen sehen.“

„O, wenn ich doch etwas später hier gebadet hätte!“ rief Goethe bewegten Tons, „dann würde ich sie gerettet haben. Ja, sie ist todt!“

Der Herzog stand daneben, und die Arbeiter zogen sich ehrfurchtsvoll zurück.

„Welch ein süßes Geschöpf sie war!“ fuhr Goethe fort, ihren bleichen Kopf noch immer im Arme haltend. „Mir däucht, wir haben, als sie lebte, den Reiz dieses Mädchens nie so erkannt, sie gleicht einer geknickten weißen Rose.“

Der Herzog flüsterte: „Sie war Braut des Grafen Wrangel, die Hochzeit sollte in diesem Monat noch gefeiert werden; der Bräutigam wird sich doch keiner Treulosigkeit schuldig gemacht haben? Denn hier liegt offenbar Selbstmord vor.“

„Sie tragt ein Buch in ihren Gürtel geschoben, es ist fest mit einem Seidentuche umwunden, wir wollen es an uns nehmen; wenn sie fortgetragen wird, möchte es herab fallen, vielleicht findet sich hier schon eine Aufklärung.“

[791] Goethe zog das eingehüllte Buch aus Christel’s Gürtel und löste das Seidentuch; sie hatte es gut verwahrt. Erstaunt las er auf dem Umschlage seinen Namen.

„Es ist an mich adressirt, so darf ich es als mein Eigenthum betrachten.“ Er riß Schnur und Siegel auf und öffnete das Buch.

Sein Werk „Werther’s Leiden“ fiel ihm entgegen, ein Heft betriebenen Papiers lag in demselben. Erschrocken und verletzt schob er es in die Tasche.

„Sie scheint das Opfer einer thörichten Sentimentalität zu sein,“ sagte er düster.

Der Herzog rief die Parkarbeiter herbei und gebot ihnen, die Leiche in das nächstgelegene Haus, - dasjenige des Oberstallmeisters von Stein, zu tragen.

Frau von Stein kam ihnen erschrocken entgegen, sie ließ das unglückliche Mädchen, welches gestern noch ihr Gast gewesen, auf ein Bett legen.

Man sprach hin und her über das Ereigniß; Herr von Stein ging, den Oberst von Laßberg zu benachrichtigen, der Herzog verließ mit ihm das Haus, und Goethe blieb mit Frau von Stein im Zimmer, neben der Kammer, in welcher Christel lag, allein.

Er saß am Fenster und blätterte in den Papieren, welche er dem Buche entnommen hatte. Es war Christel’s Tagebuch.

Sehr bald übersah er mit tiefem Herzensweh den Zusammenhang und vermochte den Schmerz dieser Entdeckung nicht vor der Freundin zu verbergen.

„Bin ich denn nur in der Welt, mich in ewig unschuldiger Schuld zu winden?“ seufzte er bekümmert. „Hier ein Herz, wie ich es suche, ein Herz, das mir Alles hätte sein und geben können, wenn ich es nur gefunden und auf den rechten Weg gesunder Entwickelung zu leiten vermocht hätte. So aber elend durch mich, verwirrt durch meine Liebe zu Dir, durch meinen ‚Werther‘ und jammervoll zu Grunde gegangen!“

Frau von Stein suchte ihn aufzurichten, sie betonte, wie völlig arglos er bis jetzt Christel gegenüber gewesen, und wie dies ganz ohne seine Schuld über ihn gekommen sei. Es gelang ihr auch nach liebevollem Zureden, ihn zu beruhigen und seine leidenschaftliche Zärtlichkeit zu beschwichtigen, mit der er in sie drang, sich ihm näher als bisher anzuschließen.

Charlottens ebenbürtiger Geist war es, der ihn fesselte; an ihrem ernsten, erprobten Charakter wollte er den seinen stählen. Nur mit einem starken, guten Menschen konnte er glücklich sein; nur ein solcher konnte ihm helfen, weiter zu streben zu immer größerer Klarheit und Wahrheit.

Während dies Alles in seiner Seele wogte und er mit steigender Sehnsucht innerlich die Geliebte umschloß, hatte diese leise einen Strauß frischer Blumen, welche Goethe diesen Morgen aus seinem Garten geschickt, aus der Vase genommen, damit das Zimmer verlassen und war zu der bleichen Todten heran getreten.

Sie löste das Band, welches den Strauß zusammenhielt, und schmückte das zarte Mädchen mit den frischgefärbten Blüthen des Hochsommers, ordnete ihr Kleid gefälliger, um dadurch dem unglücklichen Vater, der jeden Augenblick eintreten konnte, das schreckliche Ereigniß milder vor Augen zu führen.

Als Goethe Herrn von Stein mit dem hastig zuschreitenden Oberst von Laßberg auf das Haus zukommen sah, verließ er, getrieben von einem Unbehagen, das ihn fast wie Schuldbewußtsein drückte, Zimmer und Haus durch Hinterthüren.

Christel’s Vermächtniß hielt er aber fest auf seiner Brust geborgen.


33.

Goethe kam in einer unsäglich zwiespältigen Stimmung in seinem Hause an; er begab sich sogleich auf seinen Altan, wo er in Ruhe die Tagebuchblätter der armen Christel zu lesen und still für sich über ihr Wesen, Leiden und Thun zu sinnen dachte.

Die Sonne stand schon tief, ein warmes, röthliches Licht flammte über die ihm so liebe und beruhigende Rundsicht. Es that ihm wohl, hier Frieden und unverändertes Sein zu finden, wo er sich so aufgestört fühlte, und ihm schien, als müsse vieles um ihn her verschoben sein.

Nie war ihm eine Ahnung von Christel’s Neigung aufgestiegen; ihr stilles, gefühlsseliges Wesen hatte ihn nicht angesprochen. Er konnte nur beklagen, wenn sein „Werther“ diese Richtung ihres Wesens gefördert hatte. Auch ihn beherrschte einst diese Gemüthsstimmung, welche jetzt aber weit hinter ihm lag. Er selbst – das wußte er bestimmt und ersah es aus ihren Aufzeichnungen – hatte ihr keinen Anlaß zu jener unseligen Leidenschaft gegeben, und daß sie seine Neigung zur Stein sich zu etwas Ungeheuerlichem aufgebauscht, stieß ihn als Ungesundheit ab.

Endlich war das Tagebuch durchflogen Welch eine traurige Verirrung, welch ein Schwelgen in süßem Weh! Wie gänzlich abgewandt allen Forderungen des Lebens und der Pflicht! Halb verzogen, halb verwahrlost erschien ihm diese Seele, die doch wieder so viel Innigkeit besaß, daß sie unter verständiger Führung Schmuck und Glück eines Manneslebens hätte werden können.

Während er also nachdachte, hörte er leichte Schritte hinter sich herantrippeln, schaute sich um und begrüßte Luise von Göchhausen, welche knixte und mit möglichst ernsten Mienen sich und ihren plötzlichen Besuch einführte. Würdevoll sagte sie:

„Meine Frau Herzogin hörte von dem stattgehabten Unglücksfall, sie wagte weder zu Laßberg’s noch zu Stein’s zu schicken, wo das arme Kind liegt, um sich des Näheren zu informieren, deshalb erbot ich mich nachzufragen und sprach: ‚Durchlaucht, ich eile zum Doctor Wolf, der steht den Leuten als Dichter und Denker in’s Herz!‘ Ist es wahr, daß jener perfide Schwede die Aermste sitzen ließ?“

„Erst erholen Sie sich und nehmen Sie Platz bei mir, Thusnelda,“ sagte Goethe zu der athemlosen kleinen Dame. „Dann will ich Ihre brennende Neugier mit tröpfelnden Andeutungen, so weit ich darf, zu löschen suchen.“

Die Göchhausen setzte sich ihm gegenüber und blickte ihn mit ihren klugen Augen scharf an.

„Geben Sie so wenig Sie wollen, ich werde mir den Rest combiniren.“

„Wohlan; die arme Christel war eine undisciplinirte Natur, die sich in eingebildete Liebesleidenschaft warf, eine Leidenschaft, von welcher der Betreffende keine Ahnung hatte; so gerieth sie in einen Conflict mit ihrem Heirathsplan und wußte keine andere Lösung als den Tod.“

„Natürlich sind Sie, der Stern Weimars, der Hätschelhans, jener heimlich Geliebte! Aber Sie haben Recht, das nicht auszusprechen. Packen wir ferner alle Schuld dieses Vorfalls auf den schlanken Schweden; der wird sich schwerlich hier wieder sehen lassen. Eine recht betrübende Geschichte! Unerhörtes ist es aber nicht. Wo viele Zahlen mit einander summiren, muß endlich ein Facit gezogen werden, zwischen dem dann auch einige Nullen sind. Es ist eben nach Art und Anlage, wie man eine Niete trägt.“

Sie sah, indem sie dies sagte, plötzlich so tief bekümmert, ja düster aus, daß Goethe sie mit lebhaft aufwallender Theilnahne fixirte.

„Thusnelda, auch Sie ein Herzensweh?“

„Sonderbar, nicht wahr, daß unterm Buckel sich auch dergleichen einnistet?“

„Sie? Karl August?“ fragte Goethe fast unwillkürlich.

„Ja! Während alle wie Närrchen in Sie verliebt waren ging ich meinen eignen Weg. Was kümmert’s ihn, wenn ich ihn liebe? Es ist ja auch kein sentimentales Schmachten mit irgend welchem Anspruch. Sie sind redlicher Camerad genug, diese verzwickte Schrulle des kleinen Kobolds nicht an die große Glocke zu hängen, darum mag’s meinethalben Ihnen zugestanden sein. Was kann man dafür, wenn Einen elementare Kräfte packen? Schlimm genug für das Wesen von Fleisch und Bein in solche Stampfe zu gerathen, und nur gesundes Wollen kann da retten, auf daß man nicht zum Brei alberner Gefühlsseligkeit zerstoßen werde. Passons là dessus! Oder zu deutsch: schuppst die Grillen weg!“

Goethe reichte ihr voll Freundschaft und Anerkennung die Hand. Wie heiter trug sie ihre völlige Hoffnungslosigkeit auf Liebesglück; welch ein tapferer Geist wohnte unter der spottenden, scherzenden Außenseite !

„Ich brauche Ihnen keine Verschwiegenheit zu geloben, Luise,“ sagte er herzlich. „Sie haben Recht, auf unsere gute Cameradschaft zu zählen. Mir dämmerte hier und da eine Ahnung auf von Ihrem Gemüthszustande, aber man läßt sich immer wieder von der Außenseite täuschen und nimmt Ausnahmen an, wo gewisse allgemein menschliche Gefühle die Regel sind.“

[792] „Ein Märchen von ‚Tausend und Einer Nacht‘ habt Ihr hier in dem Nest in Scene gesetzt,“ sprach sie wie Jemand, der von einem Höhepunkt aus Rundschau hält und nun die zurückliegenden Ereignisse leidenschaftslos resumirt. „Aus Euren Märchenträumen wächst jetzt allgemach die Wirklichkeit in seltsameren Formen auf, als wenn Ihr den alten Schlendrian hättet bestehen lassen. Wundert Euch nicht, wenn die Rebe andere Früchte trägt, als die Küchenbohne; es sprießt allemal nur die Saat auf, die man gepflanzt hat! Ihre Dichternatur wird damit zufrieden sein; sie kränzt sich mit den Ranken der Rebe, keltert süßen Wein aus den zerstampften Früchten und berauscht sich und Andere. Ist es nicht so, Meister Wolf?“

Goethe hatte sinnend zugehört; als er sich anschickte ihr zu antworten, ward die Thür zum Altan aufgestoßen, und der Herzog trat zu den Beiden.

„So, so!“ sagte er leicht grüßend, „hier haben sich schon Zwei zu ihrer inneren Aufrichtung zusammen gefunden, zwischen denen ich gern der Dritte bin. Wo unsere muntere Thusnelda ist, da bleibt Erheiterung nicht aus.“

„Durchlaucht zu dienen, dero Hofnärrin!“ sagte sie in alter, schelmischer Weise knixend.

„Sie sind wirklich unverwüstlich in Ihrem Humor, Thusel.“

„Oben schwimmend wie ein Korkstöpsel und ebenso leicht geartet.“

„Was sagen Sie zu dem heutigen Ereigniß?“

„Daß Jeder auf seine Weise mit dem Leben fertig wird.“

„Das süße Geschöpf! Selbst Sie würden Mitleid mit der Aermsten empfunden haben, wenn Sie diesen holden, bleichen Körper, diesen triefenden Rest einer entblätterten Blume gesehen, wenn Sie von der stummen Verzweiflung des Vaters gehört hätten.“

„Mitleid?“ fragte die Göchhausen in ihrer alten, unbekümmerten Weise, „wozu Mitleid? Sie bedarf dessen jetzt nicht mehr, und vorher, als sie litt, wußte Niemand davon und kümmerte sich auch Keiner darum. Der Vater aber hat sich von jeher so wenig um sein Kind bemüht, daß er sich nicht wundern darf, wenn es ihn jetzt nicht um Rath fragte.“

„Unverbesserliche! Aber gut so, um uns wieder einige Festigkeit zu geben, meinst Du nicht auch, Wolfgang?“

Thusnelda lachte. „Eure Durchlaucht werden sich trösten; ich aber berichte, was ich gehört, und schlüpfe dann in’s Eia Popeia mit dem frommen Wunsch, daß die vieledlen Herren nicht von Nixen träumen!“

Die Göchhausen grüßte, wandte sich zum Gehen, und Goethe begleitete sie bis in’s anstoßende Zimmer, während der Herzog mit verschränkten Armen am Rande des Altans lehnte und seinen ernsten Blick in die rosigen Wolkenumrandnngen der scheidenden Sonne tauchte. Indem Goethe zum Lebewohl der kleinen Hofdame die Hand drückte, flüsterte er ihr zu:

„Muth, Luise, bleiben Sie sich selbst treu, und so über Gräber vorwärts!“

Sie sah ihn groß, mit dem Aufblitzen aller ihrer Energie in, Auge an und flüsterte zurück: „Unbesorgt, Freund Wolf, bin schon in Uebung und werde nicht aus der Rolle fallen.“

Bewegten Gemüthes kehrte er zum Herzoge zurück.

(Schluß folgt.)

Gänsemädchen.
Nach einem Oelgemälde von Ernestine Friedrichsen.

[793]

Schiller und das Publicum der Gegenwart.[1]

Von Rudolf von Gottschall.

Hundertfünfundzwanzig Jahre sind verflossen, seitdem Schiller, der Lieblingsdichter unserer Nation, das Licht der Welt erblickte, und fünfundzwanzig Jahre, seitdem Deutschland das große Fest zu seinen Ehren feierte, welches als der Ausdruck einer einmüthigen nationalen Gesinnung im Festkalender unseres Volkes eine hervorragende und dauernde Stelle verdient. Fünfundzwanzig Jahre – es ist für den Nachruhm eine kurze Frist – und doch können sie das Bild eines Dichters in eine veränderte Beleuchtung rücken; es muß offen eingestanden werden: ein Dichterfest, wie dasjenige des Jahres 1859, wäre in heutiger Zeit nicht mehr möglich, und wenn man jenes Fest oft mit den Panathenäen der olivenumkränzten Ilissosstadt verglichen hat, so würden im Festzuge einer heutigen Schiller-Feier zwar nicht die Jungfrauen fehlen, wohl aber die Kriegsmänner und Volksführer; denn der Lorbeer des Kriegers hat seitdem den Lorbeer des Dichters abgelöst.

Fünfundzwanzig Jahre – doch welche Fülle weltgeschichtlicher Ereignisse in diesem kurzen Zeitraume, welche Schlachten und Siege! Ueber die Meerenge von Alsen flog der Preußenaar und trug Nordalbingiens deutsche Lande dem deutschen Reiche zu; auf den Hügeln von Königgrätz wurde die große Entscheidungsschlacht geschlagen, welche Oesterreich aus dem Verbande der deutschen Staaten löste; bei Metz rang drei Tage hindurch Volk mit Volk auf der blutigsten Wahlstatt der Neuzeit, bei Sedan wurde ein Kaiser geschlagen und gefangen. Die Weltstadt Paris, die Königin der Städte, mußte sich den deutschen Truppen ergeben, und mehr als dies Alles – ein deutsches Reich wurde begründet, und die Krone der Staufen wanderte auf das Haupt der Zollern.

Diese letzten fünf Lustra bilden eine Epoche deutscher Geschichte, ruhm- und thatenreicher, als jede andere – und mögen die Ereignisse den Mitlebenden noch weiter aus einander liegend erscheinen, für die Nachwelt werden sie enger zusammenrücken und mit vermehrtem, blendendem Glanze wirken.

Der Ruhm der Fürsten, der Feldherren und Staatsmänner steht glänzend auf diesem Piedestal großer Thaten; erheben sich doch überall auch unter rauschendem Volksjubel die Denksäulen derselben. Da muß die Dichtung in den Hintergrund treten und der Oelzweig von Olympia verschwindet gegen den Lorbeer der Thermopylen.

Freilich, ein festbegründeter Dichterruhm kann durch nichts erschüttert werden; doch können immerhin vorüberziehende Wolken das Licht der Sterne verdunkeln. Zwar sind bald wieder anderthalb Jahrzehnte seit den großen Kriegsjahren verflossen: doch diese haben der nächsten Folgezeit ihr unverkennbares Gepräge aufgedrückt.

Von Jahr zu Jahr heftiger wurde der Kampf der politischen Parteien im neubegründeten deutschen Reiche. Die Parteiführer und Redner beschäftigten das allgemeine Interesse; es war ein geistiger Schwerpunkt in die Parlamente gelegt. Und dabei traten die Principienfragen immer mehr zurück, die Interessenfragen immer mehr in den Vordergrund. Die Politik wurde praktischer, aber auch prosaischer.

Es giebt ohne Frage eine berechtigte politische Lyrik, und sie hat zu allen Zeiten geblüht; auch unsere Lyrik der vierziger Jahre hat echte poetische Blüthen gezeitigt; doch eine solche Dichtung gedeiht eben am besten in einer Epoche feurigen Aufschwungs unbestimmter Ahnungen, zukunftsfreudiger Hoffnungen: so war es in jenen denkwürdigen Jahren, welche der Märzrevolution vorausgingen; da waren die Dichter Propheten, und sie prophezeiten in der That Vieles, was später eingetroffen ist.

Diese prophetische Ader besaß auch Schiller, besonders der „Dramatiker“ Schiller; als solcher war er ein großer politischer Dichter. Die kommenden Ereignisse warfen in seine Dichtungen ihren Schatten oder, wenn man will, ihren Feuerschein. „Die Räuber“ waren auf deutscher Erde die Vorboten der französischen Revolution – diese Roller, Schweizer und Schufterle konnte man in den Jacobinerclubs wiederfinden, und Karl Moor selbst war wie eine Verkörperung des revolutionären Genius, der aus gekränktem Rechtsgefühle zur Fackel der Vernichtung greift und vor blutigen Gräuelthaten nicht zurückschreckt. Es war kein Zufall, daß der Convent den Dichter der „Räuber“ zum französischen Ehrenbürger machte und daß dies Actenstück die Unterschrift Danton’s, des gewaltigen Anstifters der Septembermorde, trug; es war die Anerkennung einer Thatsache: der geistigen Verwandtschaft zwischen dem Jacobinerthum auf dem Pariser Straßenpflaster und dem Jacobinerthum in den böhmischen Wäldern. Der innere Kampf des Helden Fiesco erschien wie ein Vorbild jenes Kampfes, der den Helden des 18. Brumaire, den Republikaner von gestern, wenn auch nur auf kurze Zeit bewegte: beide traten die Republik mit Füßen und beide streckten die Hand nach der Krone aus.

Und noch einmal spiegelte die deutsche Muse den Helden der französischen Geschichte: es war der Kriegsfürst Wallenstein, mächtig wie der Kriegsfürst Napoleon, alles Volk in seinen Lagern sammelnd und an seinen Stern glaubend wie dieser. Und schon war in diesen Sternen der Zusammenbruch seiner Herrlichkeit geschrieben; der Geist nationaler Unabhängigkeit und Freiheit sollte sie stürzen – wo aber hat der kampfesmuthige Volksgeist, der sich gegen die fremden Unterdrücker wendet, einen begeisterteren Ausdruck gefunden, als in Schiller’s „Jungfrau von Orleans“ und „Wilhelm Tell“?

Gewiß, es war ein geniales Vorschauen der Zukunft in des Dichters Werken ausgeprägt, und sie wurden ein bewegendes Ferment in dem Aufschwunge deutscher Nation. In einer Epoche ähnlicher Krisen und ähnlicher Begeisterung werden sie, wenn auch der Zauber so unmittelbarer Wirkung nicht wieder erreicht werden kann, doch von Neuem mächtig das Herz der Nation bewegen. In stiller Zeit, in einer Zeit praktischer politischer Arbeit, heftiger Interessenkämpfe und vielfacher Verstimmungen und Enttäuschungen wird jener Dichtung die gesammelte Kraft der Wirkung fehlen.

Wie oft hört man die Klage: „die Zeitung hat das Buch verdrängt!“ Das Neueste, was die Zeit bringt, schafft eine willkommene, oft fieberhafte Erregung und außerdem kann jeder selbstthätig in die Debatte eingreifen; als Wähler ist er nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, eine eigene Meinung zu haben, und was er an der Wahlurne vertritt, wird er auch sonst im Leben zu vertheidigen suchen. Diese leidenschaftliche Theilnahme an der Tagespolitik wird durch die Zeitung genährt: es ist zweifellos, daß Viele nur noch Zeitungen und keine Bücher mehr Lesen; die Vertiefung in ein Buch ist weit seltener geworden als früher. Damit hat die Theilnahme für die Dichtung eine unbestreitbare Schädigung erfahren; natürlich leidet darunter die neuere Dichtung, die sich erst Bahn brechen will, am meisten; aber auch der Cultus der Classiker, auch derjenige Schiller’s, hat eine Einbuße erlitten. Die zahlreichen wohlfeilen Ausgaben der Neuzeit machen es zwar fast jedem Haushalte möglich, seinen Schiller zu besigen; aber wie oft und wie viel dieser Schiller gelesen wird, das ist eine andere Frage.

Die Politik der großen Perspectiven wird stets in Schiller noch ihren Dichter finden; aber die alltägliche Gewohnheitspolitik mit ihrem Bedürfnisse augenblicklicher Erregung, die Kirchthurmspolitik hat so viele Geister ausschließlich in ihren Bann gezogen, daß sie dem Cultus der Musen durchaus entfremdet sind.

Und wie die Tagespolitik, so hat auch der veränderte Zeitgeschmack der Schiller-Begeisterung einige Dämpfer aufgesetzt. Es ist ganz unmöglich, daß ein Jahrhundert vorüberrauscht, und zwar ein an Umwälzungen reiches Jahrhundert, ohne daß auch die Dichtung andere Wege einschlägt. Auch das Große und Schöne soll man nicht mumienhaft einbalsamiren, und thöricht wäre es, dem Flusse geistiger Entwickelung eine Schranke sehen zu wollen. Auch große Dichter tragen das Gepräge ihrer Zeit, und dem Unvergänglichen haftet allerlei Vergängliches an, das nicht mit dem gleichen Maße der Bewunderung gemessen werden darf. So war unserer classischen Epoche die Vorliebe für das Antike eigen, und die Gedichte Schiller’s sind an mythologischen Anspielungen und Bildern überreich. Obgleich das classische Alterthum für alle Zeiten ein Urquell echter Dichtung bleibt, so hat sich doch die Muse der Gegenwart von solchen Anlehnungen frei gemacht und mehr auf ihre eigenen Füße gestellt.

Käme eine solche übermäßige Verwendung der antiken Zierrathe in neueren Gedichten vor, so würde das Publicum daran [794] Anstoß nehmen, und mit Recht; denn der Dichter soll aus seiner Zeit heraus dichten, und die Entwickelung unserer Poesie hat ja auch diesen Weg genommen. Mit Schiller’s genialsten Gedichten ist aber der Aufwand mythologischer Bilder unlöslich verknüpft. Sie erscheinen deshalb nicht weniger bewundernswerth, aber jedenfalls sind sie für unsere Zeit weniger nachahmenswerth.

Fremdartig ist auch der Gegenwart jene sentimentale Liebe, welche vor einem Jahrhundert ihre Wurzeln schlug in Werther und den Werther Romanen und in Jean Paul’s Heldinnen die idealsten Vertreterinnen fand. An diese Richtung seiner Zeit hat auch Schiller den damals unerläßlichen Tribut abgetragen: die Liebe eines Max und einer Thekla ist zu schattenhaft, zu unsinnlich, und während die frische Sinnlichkeit eines Gretchens und Clärchens jeder Zeit verständlich bleiben wird, sind wir jener sentimentalen Liebe der Wallenstein-Tragödie und ähnlichen Gefühlsergüssen in den Gedichten mehr oder weniger entfremdet. Wenn sich der Zeitgeschmack hiervon sowie von dem mythologischen Ballast der Schiller’schen Lyrik abgewendet hat, so kann ihm die ästhetische Kritik nur Recht geben.

Etwas Anderes ist es mit der Abwendung von allen idealen Tendenzen, von jeder höheren Richtung der Poesie: diese ist unleugbar eine bedauerliche Thatsache, der gegenüber der Eifer der jüngeren unermüdlich strebenden Talente erlahmen muß. Es wäre eine große Einseitigkeit, etwa die Schiller’sche Richtung als die ausschließlich berechtigte hinstellen und der Poesie alle anderen Wege versperren zu wollen: liegt doch schon in dem großen Dioskuren Schiller’s, in Goethe, die Correctur dieser Einseitigkeit; eine große Zahl tüchtiger Begabungen wandelt die Wege Goethe’s, und charakteristisch für sie ist das Streben nach dem Ausdrucke inniger einfacher Empfindung und unverfälschter Lebenswahrheit, allerdings mit jenem Hauche poetischer Verklärung, welcher die Schöpfungen des großen Dichters umschwebt. Doch diese Lebenswahrheit in fahler Nacktheit, in Gestalt der alltäglichsten Prosa ist neuerdings das herrschende Gesetz der Tagesliteratur geworden – und hierin liegt jedenfalls eine Verleugnung der Schiller’schen Principien, die zugleich eine verwüstende Wirkung auf die Entwickelung unserer Dichtung ausübt. Viel haben schon die deutschen Realisten und ihre kritischen Herolde gesündigt, es ist soviel geistig Nichtiges und Triviales mit dem Weihwasser ästhetischer Anerkennung besprengt worden, daß die Instincte des großen Publicums, welche dieser Lebenswahrheit immer entgegenkommen, dadurch gestärkt wurden. Gleichwohl hielt sich auch diese Richtung, obschon Schiller selbst ähnliche Bestrebungen der Zeitgenossen als eine Misere bezeichnete, „der nichts Großes passiren kann“, noch innerhalb gewisser Schranken des guten Geschmackes.

Da brach aber von Frankreich eine ästhetische Sturmfluth herein, in der auch diese Schranken überfluthet wurden; und jene Werke waren nicht der Erguß überschäumender Jugendlichkeit, einer wilden Lebenspraxis, sondern sie brachten gleichzeitig eine ästhetische Gebrauchsanweisung mit, ein neues Evangelium der Dichtung; und wie alles, was von der Seine kommt, eroberten sie im Sturm ein großes Publicum, fanden begeisterte Anwälte unter den Kritikern und zeigten wiederum, daß die Besiegten von Sedan noch immer die geistigen Besieger Deutschlands sind. Hier galt es nicht nur die einfache und schlichte, hier galt es die nackte und vor allem die häßliche Natur, und Schiller hätte gewiß, wie in seiner Kritik Blumauer’s, auch in derjenigen Zola’s erklärt, daß bei diesen Werken die Grazien Reißaus nehmen. Das Widerliche, Abschreckende, Ekelhafte zu schildern, wurde als eine große That der Dichtung gepriesen; nicht blos das wilde Feuer der Leidenschaft fand hier seinen Ausdruck, sondern auch die dämonische Besessenheit durch den Naturtrieb in allen ihren Verirrungen. Jeder künstlerische Aufbau einer Dichtung wurde verworfen als ein Verstoß gegen die Naturtreue; man wollte nur einzelne Fetzen des Lebens in Romanen und Dichtungen geben. Und das war alles nicht Ausgeburt einer einzelnen ausschweifenden Phantasie, eines urwüchsigen Originalgenies, das seine ganz aparten Wege ging; nein, das war die Losung, das Palladium einer ganzen Schule.

Für die Anhänger und Anhängerinnen dieser Richtung, des neuen deutsch-französischen Naturalismus, ist Schiller natürlich ein todter Mann; er schuf ja Kunstwerke – überflüssige Mühe, da der Dichter nur das Leben abschreiben soll; er war ein lyrischer Dichter – und mit der Lyrik ist’s zu Ende; für Zola ist die Lyrik nur eine poetische Exaltation, die dem Wahnsinn ganz nahe steht, Musik, die von nervösen Frauen applaudirt wird; er haßt ihre Phrasen und die Luftsprünge in’s Blaue; was er von Victor Hugo sagt, würde er mit noch schärferer Betonung von Schiller sagen – er sieht in jenem nur einen großen Sprachkünstler, der für die jetzt kommende wahre Poesie die Waffen geschmiedet und den Weg gebahnt hat. Nein, zwischen Schiller und Zola giebt es keine Brücke mehr, und derjenige Theil unseres Publicums, der zu dem letzteren schwört, macht sich der Fahnenflucht schuldig gegenüber unserem großen Dichter. Es sind das vielleicht Augenblicksbilder des Zeitgeschmacks; aber es kommen wieder andere, und so bleibt die Desertion beständig.

Doch auch vom Zeitgeschmack abgesehen, giebt’s und gab es von jeher gesellschaftliche Kreise, in denen es zum guten Ton gehörte, von Schiller gering zu denken; wir möchten diese ganze Richtung als Schiller-Blasirtheit bezeichnen. Den vornehm Geistreichen, welche sich in Ironie und spielendem Witze gefielen, kam der Dichter mit seinem oft feierlichen Ernst und seiner unbeugsamen sittlichen Haltung als ein subalterner Geist vor, auf den sie glaubten herabsehen zu können. Die Romantiker gaben hierin den Ton an; jene Karoline Schlegel-Schelling wollte mit ihren Freundinnen vor Lachen vom Stuhle sinken, als sie zuerst das Lied von der „Glocke“ lasen – so kleinbürgerlich kam ihnen das dumme Ding vor. „Der bleierne Schiller,“ sagte Schlegel – und so ist’s geblieben in den Kreisen der Geistreichen, wo die Orgien des Esprit gefeiert werden! Ihm fehlte zu sehr die glänzende Beweglichkeit; er verstand es nicht, mit souverainem Hohn über den Dingen zu stehen; er ging in dem, was er schuf, in dem Dichterworte, das er verkündete, auf mit seinem ganzen Herzen – in der That, der Shakespeare’sche Bilderwitz wie das französische bonmot waren ihm fremd, ebenso Goethe’s gefällige und graziöse Lebensweisheit, welche den harmonischen Genuß auf ihr Wappen geschrieben hatte; die Weltmänner wußten sich nichts für ihr Leben aus Schiller anzueignen – so war’s zu seiner Zeit, und so ist’s noch heute!

Doch alle hatten als Knaben in der Schule seine Balladen declamiren, Aufsätze über ihn und seine Stücke schreiben müssen. So galt er ihnen als Dichter für die Schulbänke, sie hatten ihn dort zur Genüge, zur Sättigung genossen: auf seinen Werken ruhte der Schulstaub; wie konnten sie dieselben in die Hand nehmen, ohne ihre weltmännische Toilette zu beflecken? Daß sie schillermüde, daß sie schillerblasirt sind, das ist ja eben ein Zeugniß ihrer geistigen Bedeutung. Schiller ist ihnen ein Dichter für das Volk, für welches die Schule zeitlebens den Höhepunkt der Bildung vertritt; seine Balladen eignen sich nur für Schuldeclamationen und seine Stücke für die Gallerie – höchstens gelten seine Werke noch für ein Schatzkästlein geflügelter Worte, mit denen man gelegentlich glänzen kann. Auch galt Schiller besonders als ein Dichter der Frauen; doch auch hierzu macht die heutige Bildung vielfach ihre Fragezeichen. Frauen, welche ihren Zola lesen, werden es jedenfalls für eine überflüssige Arbeit halten, himmlische Rosen in’s irdische Leben zu flechten.

Diese Schiller-Blasirtheit in gewissen socialen, besonders auch in gelehrten Kreisen findet nun ihre Unterstützung in weitverbreiteten literarischen Anschauungen: nicht nur die nüchternen Aufklärer Berlins, sondern auch die Romantiker mit ihrer phantastischen Ueberschwenglichkeit und überlegenen Ironie sind nicht müde geworden, Schiller herabzusetzen. Ihnen schlossen sich die neueren Realisten und Shakespearianer, wie Otto Ludwig, an: eine geharnischte Gegnerschaft gegen Schiller geht durch unsere ganze neuere Literatur. Hierzu kommen die Antipathien der Feudalen und Orthodoxen gegen den Freiheitsdichter Schiller, gegen den freigeistigen Sänger der „Götter Griechenlands“ – kurz, die Schiller-Blasirtheit als eine weitverbreitete Stimmung in gewissen socialen Kreisen könnte sich auf eine Menge literarischer und gelehrter Autoritäten stützen.

Fast schlimmer noch als die Schiller-Blasirtheit ist die Schiller-Heuchelei – und auch diese ist weit genug verbreitet. Die Gleichgültigen und Unempfindlichen, sowie die verkappten Gegner bekennen sich aus verschiedenen Rücksichten äußerlich zu dem Dichter, ohne ihm innerlich anzugehören. Es ist unglaublich, wie viel unsere Zeit in literarischer und künstlerischer Heuchelei leistet, und diese ist bald naiv, indem man sich selbst zu überreden sucht, sich für Kunstwerke zu begeistern, die einem im Innersten fremd sind, [795] bald ist sie sehr künstlich zurecht gemacht, um äußerlicher Schaustellung hohen Kunstsinnes oder anderen Zwecken zu dienen. So haben wir auch eine „Wagner-Heuchelei“, die dem echten Wagner-Enthusiasmus auf dem Fuße folgt und sich in verzückten Ausrufungen Luft macht, während sie im Herzen grenzenlose Oede und Langeweile empfindet; so wird in allen Salons für gewisse Modeschriftsteller ein Entzücken geheuchelt, die man im stillen Kämmerlein mit Seufzen und Herzeleid und stiller Ergebung in das Unvermeidliche gelesen hat.

Schiller ist zwar kein Modeschriftsteller, aber er ist ein Classiker und auch die Classiker verlangen ihre Reverenz. Noch ist es ein Geheimniß, wie ein Autor, mitten unter den heftigsten Anfeindungen und den Ausdrücken unverhohlener Geringschätzung, mit der seine Gegner ihn nicht verschonen, sich zur Höhe eines nationalen Classikers emporarbeitet; aber ist das einmal geschehen, so hat er sich einen Glorienschein errungen, welcher mit Andacht begrüßt sein will. Man findet sich mit Schiller ab durch den schuldigen Zoll der Bewunderung; aber man thut die Schiller’sche Richtung in Acht und Bann.

Nicht an ihren Worten, heißt es, sondern an ihren Thaten sollt Ihr sie erkennen. Schiller-Heuchler sind alle diejenigen, welche ihre warme Theilnahme den alltäglichen Erzeugnissen niedrig gearteter Begabungen zuwenden und jeder höheren Dichtung aus dem Wege gehen, mögen sie noch so sehr Schiller’s Werke zu bewundern vorgeben; Schiller-Heuchler sind die Intendanten, welche die Tragödien des Dichters möglichst oft zur Aufführung bringen, während sie allen in hohem dichterischen Stil gehaltenen Schöpfungen der Neuzeit die Pforten verschließen und sich mit der Vorführung werth- und geistloser Stücke begnügen; Schiller-Heuchler sind alle diejenigen, welche die hohe schwungvolle Lyrik des großen Dichters anerkennen, aber in neueren Gedichtsammlungen nur den fadesten Singsang und die burschikosen Nichtigkeiten bewundern; Schiller-Heuchler sind endlich alle diejenigen, welche den Dichter feiern, während sie das Evangelium edler Humanität und geistiger Freiheit, das er gepredigt hat, fortwährend im Leben verleugnen.

Doch wie auch die vorherrschende Tagespolitik und der veränderte Zeitgeschmack die Wirkungen der Schiller’schen Dichtung einschränken, wie auch die Blasirtheit den Dichter offen, die Heuchelei ihn im Stillen verleugnen mag: immer ist mächtiger als dies alles die Schiller-Begeisterung, welche die Mehrheit unseres Volkes erfüllt und in großen Augenblicken die Halben und Zweifelnden, die Spötter und Heuchler in den Hintergrund drängt oder mit sich fortreißt. Schiller ist und bleibt ein Heros unseres Volkes, er ist noch nicht blos zum Dichter einer kleinen Gemeinde geworden; die vielen hundert einzelnen Gemeinden, die seinen besonderen Cultus auf ihre Fahne geschrieben haben, sind nur ebenso viele kleinere Kreise, welche mit dem großen Kreise der Nation den gemeinsamen Mittelpunkt haben. Und es ist keine vage, in’s Blaue hinausstürmende Begeisterung, die alle diese Gemeinden erfüllt: wir wissen, daß der Schiller Cultus verknüpft ist mit den höchsten Gütern des Lebens und der Dichtung. In der Ethik ist es der Glaube an das Ideal, der allein jedes höhere Streben ermuthigen kann, der Wille und die Kraft, je nach der Lebensstellung das Tüchtige wie das Bedeutende zu vollbringen, nach dem großen Worte des Dichters:

„Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Wolkenthron;“

in der Politik ist es der Kampf für Menschenwürde und Menschenrecht, für des eigenen Volkes Freiheit und Unabhängigkeit:

„Nichtswürdig ist die Nation, die nicht
Ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre;“

auf der Bühne ist’s die Begeisterung für den großen Gegenstand, der allein vermag, den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen; in der Dichtung aber ist’s der Gedankenreichthum und der Adel der Form. Das alles bedeutet Schiller für uns, und er ist uns nicht ein Fetisch für blinden und blöden Gözendienst, sondern ein Palladium, von dessen treu behütetem Besitze der Sieg abhängt auf allen Gebieten des Geistes.

Er hat das Beste unserer Nation in sich vereinigt; in ihm ehrt unser Volk sich selbst und sieht des eigenen Ruhmes Bürgschaft in dem seines unsterblichen Dichters!



Die Czechen und die Deutsch-Oesterreicher.

Unser Artikel in Nr. 42 „Die Deutschen in Oesterreich. Ein Wort für den deutschen Schulverein“ hat bei Freund und Feind Beachtung gefunden, und es sind aus beiden Lagern zahlreiche Zusendungen bei uns eingegangen. Aus den feindlichen geht mit Klarheit das Eine hervor: daß ein ganz besonderer Ingrimm Jeden trifft, der die Maske empor gehoben hat, unter welcher die Unterdrückung des Deutschthums möglichst unbemerkt vom Ausland vor sich gehen soll. Daß aber gerade die „Gartenlaube“ dies vor ihrem Welt-Publicum gethan, mußte auf das Unangenehmste empfunden werden.

Dieser Empfindlichkeit gaben den kräftigsten Ausdruck das Czechenblatt „Národni Listy“ und das Wiener „Vaterland“, das Organ der deutschen Clericalen Oesterreichs. Beide bedrohten die „Gartenlaube“ mit einer Adresse aus ihrem „deutschen Leserkreise“ in Prag und Umgebung mit nahezu hundert Unterschriften. Leider warten wir noch heute vergeblich auf diese Sendung. Dafür wurde uns der Wortlaut jener Adresse von befreundeter Seite mitgetheilt, und zwar durch eine mit zahlreichen Unterschriften bedeckte anerkennende Zuschrift von den Vorständen Prager Turn- und akademischer Vereine, denen wir hiermit Gruß und Dank zurufen.

Die besagte czechische Adresse bezeichnet unsern Artikel in Nr. 42 als „einen mit Gift getränkten Aufsatz über vermeintliche Unterdrückung der Deutschen in Böhmen etc., welche neueste Leipziger Exportwaare die österreichische Regierung mit entsprechend hohem Einfuhrzoll bedecken sollte.“ – Die Hauptstelle aber lautet: „Dieser Artikel muß als ein Verbrechen von jedem Bürger dieses Königreichs betrachtet werden, welches von zwei gleich intelligenten, zu friedlichem Zusammenleben angewiesenen Stämmen bewohnt wird.“ – Sollte man da nicht glauben, die „Gartenlaube“ habe die Zwietracht in Böhmen eben erst erfunden und die Milch der frommen Denkungsart der Deutschen ganz allein in gährend Drachengift verwandelt? – Schließlich droht die Zuschrift mit dem Abfall aller derjenigen böhmischen und mährischen Leser von der „Gartenlaube“, „welche mit den Bestrebungen der germanischen Irredenta nicht übereinstimmen“.

Dieselbe Drohung stößt ein anderes Czechenblatt aus, von welchem ein Ausschnitt uns aus Wien zukam. In demselben ist die Kampfweise eine andere: sie wendet sich gegen den Verfasser des Artikels in Nr. 42, von dem berichtet wird, daß er „berühmte Prachtwerke“, wie ein „Coburger Quäckbrünnle“, einen „Eselsritt“ (soll heißen: „Eselsjagd“) etc. herausgegeben habe. Ob einige humoristische Dichtungen einen Menschen so verdächtigen können, daß er alle Glaubwürdigkeit verliert, ist doch wohl noch fraglich. Nicht fraglich ist’s, daß der Herr Czeche durch seine Anklage nicht glaubwürdiger geworden ist. Erwähnung gethan sei noch einer Anzahl Postkarten, die sämmtlich mit „Ein Deutscher“ unterschrieben sind, ohne daß man einen einzigen Namen dieser „Auch-Deutschen“ erfährt.

Alle öffentlichen Angriffe auf die „Gartenlaube“ in dieser Angelegenheit waren von den deutschen Blättern der Schulvereinsgebiete schon mannhaft gezüchtigt, ehe sie uns vor Augen kamen. Unter andern liegen vor uns: „Grenzbote des nordwestlichen Mährens“ von M. Schönberg; die „Deutsche Zeitung“ in Wien, welche in ihrer Nr. 4606 (28. October) dem Gegenstand einen geharnischten Leitartikel widmet; die „Reichenberger Zeitung“. Dieses Organ für die deutsch-nationale Partei in Böhmen, schließt sein Referat hinsichtlich der „fast hundert Unterschriften der Adresse“ mit den Worten: „Diesen gegenüber stehen aber mehr als zwei Millionen Deutsche in Böhmen, stehen die Millionen deutscher Stammesgenossen in den übrigen Kronländern, die da alle einmüthig bezeugen können, daß durch diese Publication die ,Gartenlaube‘ sich ein großes Verdienst um die Deutschen in Oesterreich erworben hat“. Ebenso äußert sich die „Leitmerizer Zeitung“ vom 31. October. In Nr. 12 der „Mittheilungen des deutschen Schulvereins“ aber schließt ein Artikel „Noch ein Gruß aus dem deutschen Norden“ mit der Mahnung: „Möge der ,Gartenlaube‘ warmer Appell an das stolze Hochgefühl des verletzten deutschen Herzens uns mehr noch als innige Freude über den Trost in trüben Stunden bereiten, möge er uns auch die Mittel reichlich bieten, um das in Ehren begonnene Werk dem deutschen Namen zur Ehre in würdiger Weise fortzuführen!“

Diese Mahnung richtet sich an die Deutschen des Reichs! Wir bitten unsere Leser dringend, sich dieselbe zu Herzen zu nehmen! Wo eine Ortsgruppe des „Allgemeinen deutschen Schulvereins in Deutschland“ besteht, da trete man ihr bei; wo noch keine besteht, da wird sich doch ein Mann finden, der deutsch genug denkt und fühlt, um eine solche zu gründen, und wo Männer es versäumen, da mögen die deutschen Frauen hervortreten und Frauen-Ortsgruppen bilden, wie in Oesterreich!

Jedermann kann aber auch direct die Mitgliedschaft erwerben. Solche Anmeldungen zum „Allgemeinen deutschen Schulverein“ (zur Erhaltung deutscher Sprache und Sitte) sind zu richten an den Schatzmeister Dr. Bernard, Berlin C, Kurstraße 34/35, oder an den Vorsitzenden des Vereins, Dr. Falkenstein, Berlin NW. Luisenstraße 45. – Der statutenmäßige Jahresbeitrag ist auf 3 Mark festgesetzt.

Wer aber noch weiterer Ueberredung zur Theilnahme bedarf, der erwerbe sich für ein Geringes das letzte (3.) Correspondenzblatt des Vereins (Gebrüder Fickert, Berlin SW. Lindenstraße 70) und schlage S. 16 auf: „Der Kampf gegen die Deutschen im Böhmerwalde.“ Wer das dort Erzählte gelesen, bleibt sicherlich dem Schulverein nicht fern.

Die Redaction.
[796]
Blätter und Blüthen.

Alfred Brehm †. Ein arbeitsvolles, viel bewegtes Leben hat in dem stillen Renthendorf seinen frühzeitigen Abschluß gefunden, da am 13. November in demselben Orte, wo einst die Wiege des hoffnungsvollen Knaben stand, die Todtenbahre für den verdienten deutschen Naturforscher errichtet wurde. Angegriffen von den Mühen seiner weiten Reisen zog sich Alfred Brehm in seine thüringische Heimath zurück, um hier Erholung zu suchen, aber schneller, als man erwarten konnte, fand er durch den Tod Erlösung von seinen Leiden. Anfang und Ende berührten sich seltsam in diesem Leben, in Thüringens Grün fiel der erste und letzte Blick jener Augen, die einst die Wunder der halben Welt geschaut, vom Pol bis zum Aequator.

Alfred Brehm (geb. am 2. Febr. 1829) hat früh das Studium des Thierlebens begonnen; in das Knabenalter fallen seine ersten Lehrjahre, in denen er der Schüler seines Vaters und des Vaters der deutschen Ornithologie, des „alten Brehm“ war. Früher auch als irgend ein anderer Gelehrter ging er auf weite Reisen, um fremde Länder zu schauen und zu durchforschen; denn schon im achtzehnten Lebensjahre trat er seine erste Reise nach Aegypten an, die fünf Jahre dauerte und eine seltene Vorschule zu seinen akademischen Studien in Jena und Wien bildete. Als junger Doctor hat er später Spanien und den hohen Norden bereist, und die Flitterwochen seiner glücklichen Ehe verlebte er mit der jungen Frau in den Bergen und Schluchten Abessiniens. Nur vorübergehend hielt er sich in Deutschland auf, könnte man sagen; noch in den letzten Jahren ging er über den Ocean nach Amerika und streifte durch die Wüsten Sibiriens, überall Schätze des Wissens hebend.

Und was er gesammelt hatte in all den fernen Ländern, das wurde stets rasch zum Gemeingut seines Volkes; denn er besaß die seltene Gabe einer allgemein verständlichen und hinreißenden Schilderung. Den Lesern der „Gartenlaube“ ist er kein Fremder.[2] Der unvergeßliche Ernst Keil durfte stolz sein, ein naturwissenschaftliches Dreigestirn an sein Blatt gefesselt zu haben, in dem drei Namen weit in die Welt hinausleuchteten: Bock, Roßmäßler und Brehm. Das waren Lehrer und Aufklärer des Volkes von Gottes Gnaden, die nicht so leicht zu finden und schwer zu ersetzen sind.

Brehm ist in der That so populär geworden, daß es nicht nöthig erscheint, seine Verdienste besonders hervorzuheben. Sein Hauptwerk allein, sein „Illustrirtes Thierleben“ wird lange ein unersetzbares Buch bleiben für’s Volk und für die Gelehrten, und es gereicht ihm zum unsterblichen Ruhm, dieses Werk geschaffen zu haben, von dem mit Recht gesagt wurde: „Selbst Könige und Kaiser mit Lorbeerkränzen haben manche Collegen; aber ein solches Werk hat keine Zeit, Zone und Zunge aufzuweisen.“ –i.      


  1. Vortrag, gehalten am 10. Nov. 1884 bei der Schiller-Feier in Leipzig.
  2. Eine ausführliche, mit einem Portrait geschmückte Biographie A. Brehm’s aus der Feder H. Beta’s hat die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1869, S. 20 veröffentlicht.

Das Gänsemädchen. (Mit Illustration S. 792.) Wer im Besitz der „Gartenlaube“ von 1872 ist, wird sich gern des „Gänse-Liesels“ erinnern, das damals (S. 792) seiner geflügelten Schaar ein heiteres Liedchen sang. Das „Huhle Huhle Gänschen“ hat viele Kinder erfreut und wird noch heute gesungen, sogar in Amerika. Jenes Liesel war noch ein glückliches Kind, so sorgenlos wie seine Gänse. Das Liesel, das heute denselben Dienst verrichtet, hat schon den ersten Sorgenschritt gethan: es geht in die Schule und muß lernen. Da sitzt es mit seinem Buche, und wir sehen’s dem Gesichtchen deutlich an, wie die Bibelsprüche und Gesangbuchslieder dem Gedächtniß eingeprägt werden; wie die Augen über das Buch wegsehen, ohne etwas Anderes zu erblicken, sondern nur um zu probiren, ob die gelernte Stelle zum Hersagen fest genug im Köpfchen steckt. Ja, das Lernen! Und dazu das Schnattern und Flügelrauschen der unruhigen Gesellschaft! Armes Mädchen, – und dabei ist’s noch eine schwere Frage, ob von all den Gänsen um dich herum ein einziges Stückchen Braten an dich kommt! Da vergeht Einem freilich das „Gihkgahk Juch!“ F. H.     


Die segensreiche Institution der Knabenhorte oder Knabenheime, auf welche wir zu Anfang dieses Jahres in einem ausführlichen Artikel („Der Knabenhort in München“ Nr. 2), hinwiesen, greift immer weiter um sich. So ist jetzt vom Verein für Knabenheime eine zweite derartige Anstalt in der Südervorstadt Bremens errichtet worden. In derselben finden sich, wie der „Kölnischen Zeitung“ geschrieben wird, die Knaben jeden Nachmittag nach vier Uhr ein und erhalten zunächst eine Schale Milch mit Brod, wofür wöchentlich 40 Pfennig zu erlegen sind. Dann machen sie ihre Schularbeiten: wer früher fertig wird, liest oder zeichnet. Hierauf folgt theils allerlei Spiel, auch im Freien auf einem dazu bestimmten Platze, theils Arbeit im Garten oder in der Werkstatt. Die letztere hat der Volksbildungsverein, der hier den Anstoß zur Einführung des Handfertigkeitsunterrichts gegeben hat, mit Hobelbänken und anderen Geräthen ausgestattet. Neben der Tischlerei wird auch Pappen und Buchbinden getrieben. Gemeinsamer Gesang hilft dafür sorgen, daß das Knabenheim nicht in eine förmliche zweite Schule ausartet. Der Jugendlust soll in ihm nicht gewehrt, sondern nur eine solche Richtung gegeben werden, daß sie die Kräfte für den Kampf des Lebens erhöht und veredelt, anstatt sie zu untergraben oder in’s Wilde zu mißleiten, wie es bei wüstem Umhertreiben auf der Straße geschieht. – Diejenigen deutschen Städte, welche bis jetzt keine Knabenhorte besitzen, sollten mit der Errichtung derselben nicht länger säumen, denn je weniger verwahrloste Kinder wir haben, desto mehr brave Bürger werden in Zukunft das allgemeine Wohl fördern helfen.


Kleiner Briefkasten.

R. H. in D. „Ein Hülfsbuch zur Anfertigung von Recensionen für Zeitungen etc.“ ist uns nicht bekannt. Gute Beihülfen „zum Anfertigen von Rezensionen“ finden Sie in tüchtiger wissenschaftlicher Bildung, klarem richtigen Urtheil und einiger Erfahrung – das Andere findet sich dann schon ohne Hülfsbuch von selbst.

M. M. in Charlottenburg. Bei nöthiger Befähigung werden Sie nach der Methode Toussaint-Langenscheidt die französische Sprache ohne weiteren Unterricht erlernen können.

G. In Anbetracht des Gesundheitszustandes Ihrer Tochter kann nur der Arzt, der dieselbe behandelt, über die Wahl des Ortes Bestimmung treffen.

T. R. in Z. In den Artikeln „Brillensünden“ und „Nochmals die Brille“, „Gartenlaube“ Jahrg. 1883 S. 320 und 738, finden Sie das Gewünschte.

V. R. W., ein besorgter Familienvater in G. Wenn Sie die rechte Zeit zur Anmeldung Ihres Sohnes für das Cadettencorps der kaiserlichen Marine versäumt haben, so ist diese Laufbahn Ihrem Sohne verschlossen, falls er inzwischen das siebenzehnte Jahr erreicht hat. Wenden Sie sich an die kaiserliche Admiralität in Berlin um nähere Auskunft.

H. Fr. in Hamburg. Wenden Sie sich an einen Arzt.

R. S. in Lübeck. Sie haben Recht! Dr. Klügmann ist Senator in Lübeck und nicht in Bremen, wie in Nr. 42, S. 695 unseres Blattes irrthümlich berichtet wurde.

K. S. in Dürkheim. Wenden Sie sich an eine Buchhandlung Ihres Wohnortes.


[ Das Inhaltsverzeichnis dieser Nr. wird hier nicht dargestellt.]


Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!


[ Verlagswerbung Ernst Keil’s Nachfolger. ]