Die Gartenlaube (1884)/Heft 49
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No. 49. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Das Urbild des Fidelio.
Wüthend vor Zorn über die nicht erfolgte Verurtheilung des Grafen René geleitete Le Borgne seinen Gefangenen über den Hof, und seine wüsten Drohreden und Flüche verstummten erst, als er in der Kirchenruine verschwunden war. Pujol lachte hinter ihm drein, und die Anderen, welche durch die Wuth Le Borgne’s belustigt wurden, machten es ebenso.
Nur zu bald kehrte Letzterer zurück, und noch immer voller Zorn, Flüche und Schmähungen auf den Lippen, begann er die Speisen, den Inhalt eines Kruges, den Pujol ihm lachend und ihn neckend dargereicht hatte, mit begieriger Hast zu verschlingen. Nach einer Weile, und als der schwermüthige Sang Margot’s forttönte, schrie er wild auf:
„Zum Teufel mit dieser langweiligen Singerei! Die Dirne soll hervorkommen und uns die Carmagnole vorsingen!“
Die andern Sansculotten stimmten unter Lachen und Lärmen ein und trieben Pujol an, seine Nichte, oder Enkelin – seine Magd, oder sein Liebchen – wie sie Margot unter frechem Höhnen nannten, herbeizuholen. Der Alte durfte sich nicht weigern, er trat sogleich in seine Wohnung, doch erst nach einer Weile kehrte er mit Margot zurück, die sich dem Vorschlag wohl erst nach einigem Zureden gefügt haben mochte.
„Sing’ uns die Carmagnole, Dirne,“ herrschte Le Borgne ihr zu, seine Stimme anstrengend, um die lärmenden Reden seiner Gefährten zu übertönen, „und wir tanzen dazu der Reihe nach mit Dir – wenn wir dafür fest genug auf den Beinen sein werden. – Haha!“
„Ich kenne das Lied, welches Ihr da nanntet, nicht,“ entgegnete Margot im Ton und Dialekt der Landleute der Umgegend von Tours, Le Borgne dabei mit ihren großen Augen fest und furchtlos anschauend.
„Ah! Du bist die Nichte – oder Geliebte eines alten Sansculotten, des wackeren Henkers von Tours und kennst die Carmagnole nicht?!“ rief Le Borgne, vor Staunen den Krug, aus dem er eben hatte trinken wollen, wieder von den Lippen absetzend, und die Anderen schrieen durch einander: „Unerhört! – Wo bist Du denn aufgewachsen? – Gewiß nur unter Aristokraten und nicht unter echten Sansculotten!“
„Stille!“ brüllte Le Borgne. „Ist Dir die Carmagnole bis heute fremd geblieben, so wirst Du doch unser ‚Ça ira‘ kennen! Das singe!“ Und er schnarrte: „‚Ça ira! ça ira! les aristocrates à la lanterne!‘ – Doch dieses schöne Lied kennst Du wiederum nicht, wie ich sehe. Konnte es mir denken! Pujol – Pujol! was hast Du Dir da für ein aristokratisches Schätzchen mit heimgebracht!“
„Margot ist in der Einöde auf dem Lande aufgewachsen, wohin die Segnungen der Revolution noch nicht gedrungen sind,“ entgegnete Pujol, auf den Ton des Andern eingehend. „Deshalb nahm ich sie mit mir, um hier ihre republikanische Erziehung zu vollenden. Doch nach dem, was ich jetzt an ihr erlebe, fürchte ich, daß meine Kraft nicht ausreichen wird, und ich will sie lieber wieder mit ihrem alten Großvater heimschicken, der heute Abend kommen wird.“
„Was verstehst Du denn zu singen, kleine braune Hexe?“ fragte Le Borgne, den lauernden Blick verstohlen, doch scharf auf Margot gerichtet.
„Tanz- und Trinkliedchen kennt sie ganz gewiß,“ antwortete Pujol für die Angeredete, und mit sprechender Geberde, rauh und befehlend herrschte er Margot zu: „Singe uns ein Lied vom Wein, sogleich! Oder ich treibe Dich jetzt schon aus meinem sansculottischen Paradiese hinaus!“
„So ist’s recht! Singe und wir trinken dazu! Ça ira!“ riefen die würdigen Patrioten lärmend und lachend durch einander. Margot besann sich nur wenige Augenblicke, dann sang sie frei heraus, mit kräftiger Stimme und sogar mit einer trotzigen Fröhlichkeit:
„Wer einsam schlürft den goldnen Wein,
Begeht gar große Sünde.
Nur unter Freunden schenket ein,
Daß Glas zu Glas sich finde.
Stoß an! stoß an!
Trink zu, Cumpan!“
Das Lied, wenn auch veraltet und durch die rohen Gesänge der Revolution verdrängt, mußte den Sansculotten von Tours doch bekannt sein, denn sie wiederholten lustig den Refrain und thaten auch, was dieser erheischte. Mit größter Geschäftigkeit eilte der alte Pujol von der Gruppe der Zechenden zu seinem Faß und wieder zurück, stets die Krüge auffüllend und zum Trinken anfeuernd. Ein abermaliges und vollständiges Betäubtwerden der rohen Gesellschaft konnte nicht ausbleiben, es mußte sogar recht bald erfolgen.
Der Abend war mittlerweile gekommen, seine Dämmerung begann den Hof und die ruinenhaften Bauwerke ringsum einzuhüllen, und vor dem großen Eingangsthor war schon seit einer Weile ein Gebrause von Stimmen hörbar geworden. Da raunte [798] Pujol Margot im Vorbeigehen zu: „Nun ist es an der Zeit!“ Dann trat er schwankend, als ob auch er des Weines zu viel genossen hätte, auf das Thor zu, öffnete dies und ließ eine Anzahl Bauern in ärmlicher Tracht ein, von denen einige ihre mageren, abgetriebenen Gäule an der Leine führten.
„Was soll’s?“ schrie Le Borgne, sich mühsam von seinem Sitz erhebend.
„Es sind die armen Teufel, die uns ihre Fuhrwerke liehen, um die gefangenen Aristokraten nach Nantes zu bringen,“ entgegnete Pujol ihm gleichgültig. „Sie kommen, um uns von ihren alten Kasten, die mir hier im Wege stehen, zu befreien. Macht rasch!“ schrie er jetzt den Bauern zu, „wenn ich Euch nicht für die Nacht in meinen Käfig sperren soll. Doch zuerst stärkt Euch durch einen Schluck Wein. – Es sind gute Patrioten,“ wandte er sich wieder zu der Gruppe der Wächter, „und werth, mit wackeren Sansculotten und Jacobinern zu trinken.“
Die Leute näherten sich mehr oder minder furchtsam, und Pujol reichte ihnen Wein, von dem sie tranken. Le Borgne hatte sich erhoben und sprach mit schwerer Zunge hämisch vor sich hin:
„Da will ich doch erst noch einmal nach dem seltenen Vogel sehen, der bereits in der Falle sitzt, damit er mir nicht davon fliege.“
Hierauf wankte er auf die Kirchen- und Gefängnißpforte zu.
Margot war verschwunden.
„Herr Gott!“ murmelte Pujol vor sich hin. „Wenn sie jetzt nicht aufpaßt, ist Alles verloren, und ich bin es mit ihnen.“
Graf René saß in seinem Gefängnisse, der Sacristei, doch nicht entmuthigt blickte sein Auge. Das Verhör, welches er vor seinen Richtern bestanden hatte, war vor der Hand ergebnißlos geblieben. Der öffentliche Ankläger, sein ehemaliger Freund und Jugendgenosse Bouilly, hatte zwar in langer Rede gewaltig gegen die Feinde der Republik gedonnert, doch dabei weit mehr Pathos als Ueberzeugung entwickelt; zugleich hatte er Vertagung des Urtheils beantragt, da man hoffen dürfe, durch weitere strenge Verhöre des Gefangenen einer neuen Verschwörung gegen die Republik auf die Spur zu kommen, womit Richter und Geschworene sich nach kurzer Berathung einverstanden erklärten. Schon dies hatte den Grafen hoffnungsfroh gestimmt und seine herben Gesinnungen dem ehemaligen Jugendfreunde gegenüber gemildert. Die versteckten, doch ihm verständlichen Worte und Blicke Pujol’s beim Verlassen des Gefängnißhofes, das Lied und die Stimme, welche es gesungen, als er wiederkehrte, hatten seinen Muth, seine Hoffnung gehoben und belebt, obgleich der Sang ihn auch wieder mit einer unsäglich peinvollen Unruhe erfüllte, deren er nicht Herr zu werden vermochte, und die sich womöglich noch steigerte, als er in seinem öden Gefängnisse angelangt war und Zeit genug hatte, darüber nachzusinnen.
Wem konnte diese Stimme, deren Klang ihm das Herz erschüttert hatte, angehören? – Es war die seiner Blanche, er vermochte nicht daran zu zweifeln, und dennoch! – wie wäre die Gräfin in den Hof des Gefängnisses, unter die wüsten Sansculotten gekommen? Unbeweglich saß er da und marterte sich in Gedanken ab, Gewißheit über das, was ihn quälte, zu erlangen. Pujol hatte seine Blanche gesehen, sie war in Sicherheit, das wußte er, doch sagte er sich auch, daß der alte Mann es nimmer gewagt haben würde, sie in die Höhle der Jacobiner zu bringen, sie einer Berührung mit solchen eklen entarteten Menschen auszusetzen, wie sie sich um den Gefängnißwärter und Henker versammelt fanden. Seine Sehnsucht hatte ihn wohl getäuscht, so nur und nicht anders konnte es sein. Also sagte er sich und wiederholte es immerfort, und dennoch wollte die ersehnte Ruhe nicht bei ihm einkehren. Wer konnte ihm Gewißheit geben?
Die Zeit verging, der Abend nahte heran, und dunkel wurde es um ihn her. Da hörte er vor den Fenstern seines Gefängnisses Stimmen; es waren die Bauern, welche sich mit ihren Karren beschäftigten, um sie fortzuführen. Zugleich klirrte das Schloß der Thür der Sacristei, und als diese sich halb öffnete, wurde der Kopf Le Borgne’s sichtbar. Sein abstoßendes, von Wein geröthetes Angesicht verzerrte sich in einer häßlichen Freude, als er den Grafen sah, der unbeweglich auf seiner Bank saß und nicht einmal den Blick zu ihm wandte.
„Er sitzt fest,“ höhnte er, „und fest ist das Schloß wie das Gitterwerk seiner Fenster, er wird mir und der Guillotine nicht entwischen!“ Dann verschwand er wieder und die schwere Thür schlug so gewaltig hinter ihm zu, daß es wie Donnerton durch das öde Kirchenschiff und hinaus in den Hof hallte.
Seltsam! aus diesem schweren dumpfen Schalle, der zwischen den Kirchenmauern langsam verhallte, stieg draußen auf dem Hofe der leise Klang einer Frauenstimme empor. Es war dasselbe Lied – dieselbe Stimme, welche der Graf vorhin gehört hatte, und die nun sang:
„Als Kind schon hörte ich den Sang,
Der mir ein Trost bis heut erklang.
Und Wort und Ton, und Ton und Wort,
Send’ ich als Trost zum fernsten Ort.“
Einen Augenblick horchte René dem Gesang und der Stimme, unfähig zu athmen, sich von seinem Sitze zu erheben. Dann sprang er mit dem Ausrufe: „Blanche! es kann nur Blanche sein!“ empor und flog auf eines der Fenster zu.
Draußen sah er hinter den Karren eine Bauerndirne, eine unbeholfene Gestalt, die das Lied gesungen haben mußte. Sie entfernte sich und drehte ihm dabei den Rücken zu. Nun aber, bevor sie in einem der Schuppen verschwand, wandte sie den Kopf nach der Sacristei hin – und der Graf erblickte ein gebräuntes fremdes Gesicht. Ein Ruf der Enttäuschung, den er hatte ausstoßen wollen, wandelte sich plötzlich in einen solchen der Ueberraschung und der Freude. Denn dicht unter dem Fenster, an dem er weilte, stand ein alter Mann in der Jacke der Landleute, mit langen weißen Haarsträhnen, die unter dem breitrandigen Hute hervortraten und das tiefgefurchte Gesicht umrahmten.
„Gratien!“ schrie Graf René sich vergessend auf, und der Alte flüsterte erschrocken:
„Um aller Heiligen willen, Herr Graf, schweigt und nehmt – thut, was ich sage!“ Damit warf er ein zusammengeknotetes kleines Bündel durch die Eisenstäbe des Fensters in die Sacristei und fuhr hastig fort: „Werft Euren Rock ab – in dem Bündel findet Ihr eine lange Jacke und einen Hut – legt Beides an. Dann entfernt von dem kleineren Fenster die mittelste der Eisenstangen – Pujol hat sie gelockert – und kommt durch die Lücke! Keine Minute ist zu verlieren.“
René hatte schon den Rock abgeworfen, das Bündel geöffnet und eine Schooßjacke nebst einem alten Breithute hervorgezogen und angelegt. Nun eilte er an das bezeichnete kleinste der Fenster – ein Rütteln an dem mittelsten der Eisenstäbe zeigte, daß er in der That nur lose in den Mauersteinen saß. Noch wenige Augenblicke, und er hielt ihn in seinen Händen. „Eine Waffe!“ keuchte er mit leuchtenden Blicken, dann zwängte er sich durch die schmale Oeffnung und sprang in den Hof hinab. Der alte Gratien zog ihn hinter den Fuhrwerken rasch mit sich fort.
Es war die höchste Zeit, denn schon setzten sich einige der Karren in Bewegung, doch die Beiden gelangten glücklich und unbemerkt zu dem Fuhrwerke, das früher von Pujol mit frischem Stroh versehen worden war. Hier flüsterte Gratien dem Grafen René zu:
„Klettert hinauf! bergt Euch unter dem Stroh. Sind wir draußen vor dem Thor, so dürft Ihr zum Vorschein kommen und ungehindert neben mir einhergehen, auch wird es dann Nacht geworden sein und Niemand Euch erkennen.“
Wenige Augenblicke später lag der Flüchtling wohlgeborgen unter dem Stroh, Gratien, der bereits seinen Gaul vorgespannt hatte, kauerte sich seitwärts auf den Schluß der Gabel seines Karrens, ein Schnalzen mit der Zunge, von einem leichten Peitschenschlage begleitet, und das unbeholfene Gefährt setzte sich langsam und polternd in Bewegung.
Die Wenigen, welche Pferde mit sich führten, ließ Gratien wohl mit Willen an sich vorbei, und als Letzter fuhr er hinter jenen drein; dann folgten die ärmeren Bauern, die ihre Karren selbst, mit Hülfe ihrer Söhne, Gevattern oder Nachbarn, heimwärts schleppen mußten. Pujol hatte das Thor weit geöffnet. Die wachehaltenden Sansculotten, welche noch im Hofe weilten, waren in keinem zurechnungsfähigen Zustande mehr – ihre anderen Cameraden hatten sich in die Stube zurückgezogen, dort ihren doppelten Rausch auszuschlafen, und Le Borgne, der da glaubte, seines Gefangenen sicher zu sein, that sich keinen Zwang mehr an: er trank mit bereits stieren Mienen weiter, höhnte lallend die Ausziehenden mit Worten, die Entsetzen und Abscheu hervorrufen mußten, doch legte er ihnen nichts in den Weg. Als der Karren [799] des alten Gratien bei dem Wachtposten angelangt war, trat Margot plötzlich aus der Wohnung Pujol’s und sagte diesem mit einem Anfluge von Trotz:
„Ich begleite den Großvater bis hinaus vor das Thor.“
„Kehre nur wieder für immer mit ihm heim!“ antwortete ihr der Alte mit seinen rauhesten Tönen. „Eine Dirne, wie Du, die nicht einmal die Carmagnole und das ‚Ça ira‘ kennt, kann ich in meiner Wirthschaft nicht gebrauchen.“
„Recht so, Pujol, alter Knabe!“ lallte Le Borgne. „Eine solche Dirne taugt selbst dem Henker nicht! Jage sie zu allen Teufeln!“
Der Karren mit seinem Führer, seiner gefährlichen Ladung war schon draußen auf der Gasse und Margot schritt neben dem alten Gratien dahin, unbekümmert um das, was der Trunkenbold ihr nachrief, wie um das Lachen und Scherzen des frechen Pöbels, der sie und die davonziehenden Karren umringte und begleitete. Sie ballte die Finger, welche sie nicht zum Gebet falten durfte, fest zusammen, und nur die nassen Blicke sandte sie mit einem unaussprechlich seligen Ausdruck nach oben, dem Herrn zu danken für die Rettung des Gatten, den sie jetzt schon geborgen und ihr für immer wiedergeschenkt wähnte.
Arme Frau!
Eine bange Viertelstunde und das Thor der Landseite, welches nach der Brücke des Cher führte, war erreicht. Hier brannte vor der Wachtstube der Sansculotten ein großes Feuer, das den Weg erhellte und die Aus- und Einziehenden besser erkennen ließ. Der Auszug der Karren war den Wachen bekannt und ungehindert passirten die ersten, mit Gäulen bespannten Fuhrwerke das Thor. Jetzt kam der Karren des alten Gratien, und trotzdem Margot sich in den Schatten des Gefährts drückte, wurde sie bemerkt und erkannt. Eine neue Gefahr erstand ihr und machte das Herz der starken Frau zum Zerspringen schlagen. Die Wächter eilten auf die andere Seite des Karrens, rissen sie mit Gewalt in die Nähe des flackernden Feuers, um sie besser zu betrachten, mit Späßen, die immer derber wurden, zu necken und zu höhnen. Dabei mußte Gratien mit seinem Fuhrwerk Halt machen. Vergebens bat der Alte mit zitternder Stimme, sein armes Enkelkind Margot ziehen zu lassen; vergebens rang diese die Hände, ihre Bitten mit ihren Thränen vereinigend, es half nichts. Je mehr sie sich sträubte, je kecker, wilder gestaltete sich die Lustbarkeit der Unholde. Da rief Einer: „Werft neues Stroh in das Feuer, damit es heller aufflackert und wir die braune Hexe besser sehen und bewundern können. Der Karren ist ja hochauf damit beladen!“ – „Vorwärts, greift zu!“ schrieen Andere, und wohl ein Dutzend Hände begannen das Stroh von dem Karren herabzureißen und in das Feuer zu werfen, welches plötzlich mit unheimlichem Knistern haushoch aufflackerte und den Platz ringsum mit einem grellen Schein beleuchtete.
Zugleich wurden von verschiedenen Seiten laute, wilde Rufe der Männer laut, von einem einzelnen Angstschrei einer weiblichen Stimme schneidend durchtönt, und von dem Karren zerrten die Wächter einen Mann in Bauerntracht zur Erde, der sichtbar geworden war, nachdem man das Stroh entfernt hatte. Vergebens versuchte er sich mit einer Eisenstange zu wehren, nur zu rasch wurde er von der Menge überwältigt. Der alte Gratien wußte nicht was beginnen, dort war seine Begleiterin mit einem grellen Aufschrei ohnmächtig, wie leblos zu Boden gesunken, und hier schleppte man seinen armen Herrn herbei, der, die Lippen fest auf einander gepreßt, mit stolzen, zürnenden Blicken auf seine Bedränger niederschaute, die ihn nicht erkannten und dennoch mit immer wilder ertönenden Flüchen bedrohten. Dem Grafen mußte der Alte sich zuerst zuwenden, denn dieser schwebte in größter Gefahr. Mit zitternder Stimme, die Hände flehend erhoben, rief er jammernd: „Laßt ihn! – laßt ihn, Ihr guten Leute! Es ist ein Nachbar – der ermüdet auf dem Stroh meines Karrens eingeschlafen war.“
Lautes höhnendes Lachen beantwortete diese zagend vorgebrachte Rede; es war, als ob sie genau das Gegentheil von dem bewirkt hätte, was der alte treue Diener zu erreichen versuchte. „Fort mit ihm, nach der Abtei!“ schrie es von allen Seiten, „dort wird man schon erfahren, wer der verdächtige Vogel ist, der sein Nest so tief unter das Stroh baute.“
Graf René wurde von einem Theil der Sansculotten ohne Aufenthalt wieder die breite Hauptstraße zurück, in der Richtung nach der Abtei St. Martin davongeführt, während die Anderen als Wächter des Thors und der beiden Begleiter des Gefangenen zurückblieben. Das Volk hatte sich des Karrens des alten Gratien als guter Beute bemächtigt und lärmend, johlend, das „Ça ira“ singend, fuhr man mit ihm davon, der Stadt zu. Das Stroh der übrigen Karren, welche von hier aus die Stadt verlassen hatten, wurde durchwühlt, doch als man nichts Verdächtiges fand, ließ man die Leute ziehen.
Gratien und die noch immer wie leblos am Boden liegende Margot fanden sich von Sansculotten umringt und von diesen durch Worte und Geberden hart bedroht. Einer der Elenden wollte die Ohnmächtige durch einen kräftigen Stoß seiner Pike „für die Guillotine“ wieder in’s Leben wecken, wie er höhnisch meinte, doch wurde er glücklicher Weise an solchem unmenschlichen Beginnen durch einen weniger fühllosen Cameraden gehindert. Endlich schlug Margot die Augen auf. Einige Augenblicke irrten die Blicke wie noch immer abwesend umher, die Lippen bewegten sich, als ob sie nach Worten rängen, bis endlich in einem zitternden Seufzer der Name „René“ hörbar wurde.
Da schrie einer der Sansculotten: „Ah! die Dirne hat uns verrathen, wer der Bursche ist, den wir fingen. René heißt er, Graf René von Semblancay ist es, den gestern die Patrioten einbrachten, und der heute in der Jacke eines Patrioten uns entwischen wollte!“
Ein toller Freudenjubel erhob sich nach diesen Worten, und in wildem Durcheinander rief es: „Auf, auf! dem elenden – verrätherischen Aristokraten nach! – Nach der Abtei! – Und die Beiden müssen mit, sie waren seine Helfershelfer und haben die Guillotine so gut verdient wie der Aristo!“
Arme Margot! Wieder zum Leben erwacht, hatte sie in der gräßlichsten Angst ihres Herzens den Namen preisgegeben, der das Todesurtheil für ihn, den sie so muthig zu retten getrachtet hatte – für sie selbst werden konnte. Doch würde sie auch nicht geredet haben, René wäre doch verloren gewesen, man hätte ihn in der Abtei trotz seiner Verkleidung erkannt. Arme Margot!
Beide, der alte Gratien und Margot, wurden hinter dem ersten Trupp drein und nach der Abtei gezerrt, doch als sie dort anlangten, war die erste, größte Aufregung bereits vorüber. Das plötzliche unerwartete Erscheinen des Grafen, den man in sicherem Gewahrsam glauben durfte, hatte auf die trunkenen Sansculotten ernüchternd gewirkt. Anfänglich überfiel sie ein starres Staunen, das sich jedoch bald in Wuthausbrüche wandelte. Der Erste, welcher sich gefaßt hatte und doch am schwersten davon hätte betroffen sein müssen, war der alte Pujol. Zugleich handelte er. Auf Le Borgne stürzte er sich, faßte ihn derb am Halse, und ihm den Schlüsselbund zu entwinden suchend, schrie er in gut gespielter wilder Aufregung: „Schurke! Du hast ihn entwischen Lassen! Nun sollst Du mit ihm das Gefängniß theilen – mit ihm auf das Schaffot, denn mein Amt als Schließer übernehme ich wieder – und verhafte Dich! Her mit den Schlüsseln!“
Doch Le Borgne war jünger und kräftiger als Pujol. Nach dem ersten Schrecken schleuderte er den alten Mann weit von sich und sprang auf die Kirche zu, wohin die Anderen den Gefangenen zerrten. Wenige Minuten nur, und er trat mit seinen Leuten wieder aus dem Gefängniß hervor, schreiend: „Durch das Fenster ist er ausgebrochen, eine Eisenstange fehlt, und nur von draußen kann sie entfernt worden sein. Pujol ist der Verräther!“
Le Borgne war jetzt Herr der Situation, und keiner seiner Genossen wagte ihm zu widersprechen, sie fügten sich sogar mit einer grimmen, gierigen Freude seinen Befehlen. Zweien der Sansculotten herrschte er zu, sich mit ihren Piken draußen vor das beschädigte Fenster aufzustellen, dort Wache zu halten und den elenden Aristokraten niederzustechen, wenn er sich ihnen nur zeigen würde. Dann schloß er die Kirchenpforte ab, und auf das Wachlokal zuschreitend, knirschte er mit einem zornglühenden Blick auf Pujol zwischen den Zähnen: „Nun kommt die Reihe an Dich, Du schuftiger Verräther.“
Der arme Pujol, durch den empfangenen Stoß schwer getroffen, vermochte sich kaum auf den Füßen zu halten, dennoch war er gewillt, den Kampf mit dem Unhold aufzunehmen. Leider kam es nicht dazu, denn jetzt zog der zweite Trupp der Thorwachen mit seinen beiden Gefangenen in den Hof ein. Mit welcher wilden Freude wurde Margot von dem wüthenden Jacobiner
[800][801] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [802] empfangen! Er ließ die Leute ihren Bericht kaum zu Ende bringen, als er schon schrie: „Das ganze Complot ist entdeckt! Der alte Vendéer hat die Dirne mitgenommen, die den Gefangenen befreite, und Pujol ist ihr Complice. Nun haben wir ein Recht den Verräther einzusperren, und daß er mit den Anderen auf die Guillotine muß, dafür werde ich zu sorgen wissen. Ihre Köpfe sollen mir nicht entgehen, denn für morgen bin ich der Henker! Angefaßt, Cameraden, und in’s Gefängniß mit der Satansbrut!“
Während die Horde der Wächter ihrem neuen energischen Führer zujubelte, stahl einer von ihnen sich heimlich durch das Thor, um zu dem öffentlichen Ankläger zu eilen, diesem den Vorgang zu melden und sich dadurch wohl einen Lohn zu verdienen. Der arme Pujol war durch den Anblick Margot’s und des alten Gratien wie vom Blitz getroffen worden, und mit seiner Kraft schien ihm nun auch die Besinnung zu schwinden: er wußte, daß jetzt Alles verloren sei, für die armen Gefangenen sowohl, wie für ihn. Willenlos ließ er sich mit Margot und Gratien davonführen, und unter wilden Flüchen wurden die Armen in den öden Kirchenraum gestoßen. Dort sperrte Le Borgne sie zur größeren Vorsicht in eine der Seitencapellen ein, die noch mit ihrem starken Eisengitter versehen und besonders zu verschließen war.
Als Le Borgne wieder im Hofe anlangte, blieb er plötzlich stehen, reckte seine lange knochige Gestalt, und während seine großen Augen gleich denen eines Raubthiers funkelten, sprach er mit einer Ruhe, die auffallend gegen die Wuth abstach, welche er soeben noch ungehindert hatte walten lassen, zu seinen Genossen:
„Jetzt merkt auf! Ich verlasse den Hof und die Stadt, und Ihr wacht über die Gefangenen – mit Euren Köpfen bürgt Ihr mir für sie! Die Schlüssel nehme ich mit, und bis ich wiederkehre, laßt Ihr Niemand – hört Ihr, Niemand, wer es auch sei, in den Hof – auch den Bouilly nicht, denn der steckt mit in dem Complote. Bald bin ich wieder zurück, und dann soll ein promptes, echt republikanisches Blutgericht über die Schurken gehalten werden, den rechten Richter bringe ich mit: – den Bürger Carrier von Nantes!“
Ein teuflischer Jubel folgte diesen Worten, und unter dem Rufe: „Es lebe Le Borgne, der echte Sansculotte und Jacobiner!“ verließ dieser den Hof des Gefängnisses, dessen Eingang dann nach seinem Befehle von innen mit dem schweren Riegel für Jedermann; selbst für den öffentlichen Ankläger des Revolutions-Tribunals, Bouilly, geschlossen wurde.
Keine Viertelstunde später sprengte Le Borgne auf einem guten Pferde über die lange Brücke und bog dann in die Straße ein, welche westwärts nach Angers und Nantes führte.
Unter den Terroristen, welche den Wohlfahrtsausschuß und die Commune, den Pariser Gemeinderath, bildeten und zur Zeit Paris und Frankreich beherrschten, war ein heimlicher Zwiespalt ausgebrochen, der bald immer offener sich kundgeben und endlich zum Sturze Robespierre’s, des Hauptes der Comités, und seines ganzen Anhangs, zu dem blutigen und folgewichtigen „9. Thermidor“ führen sollte. Die mit unbeschränkter Vollmacht nach Norden, Süden und Westen ausgesandten Commissaire des Wohlfahrtsausschusses, denen der Auftrag geworden, die Royalisten und Föderirten unbarmherzig durch die Guillotine oder vermittelst Pulver und Blei zu beseitigen, hatten ihre Aufgabe in einer Weise erfüllt, daß sich darob von einem Ende Frankreichs zum andern Entsetzensschreie erhoben. Besonders waren es die „Noyaden“, die sogenannten „republikanischen Hochzeiten“, von dem Proconsul Carrier in dem unglücklichen Nantes veranstaltet, bei denen sich zu einer unmenschlichen Grausamkeit noch ein wollüstiger Hohn gesellte, die eine allgemeine Empörung hervorriefen und selbst von den Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses gemißbilligt wurden. Diese wollten zwar auch eine gänzliche Vernichtung der Feinde der Republik, doch sollte dies rasch und mit so wenig Aufsehen als möglich bewerkstelligt werden. Der halbwahnsinnige Lebon, der Verwüster von Arras und der Normandie, wurde nach Paris vor das Comité berufen und mit heimlichem Tadel, doch mit öffentlicher Billigung seines unmenschlichen Verfahrens wieder in jene unglücklichen Departements zurückgeschickt. Commissaire, mit Instructionen und Vollmachten versehen, sollten nach den übrigen Departements abgehen, die verschiedenen Revolutions-Tribunale zu revidiren.
An die Spitze der Commission der Civil-Administration, der Polizei und Tribunale, der ersten jener zwölf Commissionen, welche unter dem Regimente des Wohlfahrtsausschusses die alten Minister ersetzten, war der berüchtigte Präsident des Pariser Revolutions-Tribunals, Armand Hermann, getreten, derselbe, welcher Marie Antoinette, die Hebertisten und Dantonisten zur Guillotine verurtheilt hatte. Von ihm war Carrier nach Nantes gesandt worden, nun schickte er ihm, klug der Strömung nachgebend, welche sich insgeheim, doch immer deutlicher gegen Robespierre geltend machte, den „Commis-Voyageur“ des Wohlfahrtsausschusses, den immer unterwegs sich befindenden Saint-André mit der nöthigen Begleitung nach. Er sollte Carrier von Nantes abberufen, nach Paris führen und dann dessen Nachfolger in der halbverwüsteten und verödeten Stadt werden, jedoch insgeheim erhielt er die Weisung, das dortige Revolutions-Tribunal in seinen Befugnissen zu beschränken oder aufzulösen und die noch vorhandenen Gefangenen nach Paris zu senden, wo man rascher und geräuschloser mit ihnen fertig zu werden hoffte.
Saint-André langte mit seinen drei Begleitern, einem Secretär und zwei Commissairen, in Nantes an, als die Vernichtungswuth Carrier’s wohl ihren höchsten Grad erreicht hatte. Der unselige Mensch war wie vom Blitze getroffen, als ihm so unerwartet und plötzlich ein Halt zugerufen wurde. All sein rasch wieder erwachter Grimm, sein Toben und Drohen, seine in den grellsten Farben ausgeführte Darstellung der Lage, der Gefahren, welche der Republik drohten, wenn man seinem allein zum Ziele führenden Verfahren Einhalt gebiete, fruchteten nichts. Die Functionen des Revolutions-Tribunals von Nantes wurden, gewiß unter dem heimlichen Jubel und den inbrünstigsten Dankgebeten der wieder aufathmenden Bewohner der unglücklichen Stadt, von Saint-André vorläufig suspendirt, und Carrier mußte sich zur Abreise nach Paris bereit halten. Während die andern Commissaire die Acten des Tribunals durchsahen, die Gefangenen verhörten, um einige davon sofort wieder in Freiheit zu setzen, jedoch den größten Theil in einzelnen Trupps durch die Marat-Compagnie über Le Mans nach Paris transportiren zu lassen, fuhr Carrier mit Saint André, einem vertrauten Schreiber und der nöthigen Bedeckung über Angers, Saumur nach Tours und Orleans, um auch die dortigen Revolutions-Tribunale zu visitiren.
Es war ein stolzer Zug, der da auf der Landstraße, die schönen Ufer der Loire entlang, dahinfuhr, würdig des Repräsentanten des Wohlfahrtsausschusses und Robespierre’s. In einem offenen Reisewagen mit vier kräftigen Pferden bespannt, den man in Nantes aufgetrieben hatte, saßen die beiden Volkstribunen mit ihrem Schreiber. Vorauf ritten zwei Husaren in ihren blau verschnürten Jacken, die, wenn auch bestaubt und herabgekommen, sich doch noch immer recht schmuck ausnahmen. Auf dem Haupt trugen sie die hohe, spitzzulaufende Mütze, unter der zu beiden Seiten die langen Haarflechten niederhingen, die noch ein Ueberbleibsel des ancien Régime waren, welches die Regimenter sich nicht nehmen lassen wollten. Vier andere Husaren beschlossen den Zug. Carrier’s Aeußeres erschien vernachlässigt, er hatte in Nantes Anderes zu thun gehabt, als an seinen Putz zu denken. Wohl trug er den Federhut und die dreifarbige Schärpe nebst dem langen Schleppsäbel an der Seite, doch die Farben der Hutzier wie die der Schärpe waren verblichen und beschmutzt, und die Klappen der Weste, welche sich nach republikanischer Mode weit über den Rock hinauslegten, sahen eher grau als weiß aus. Dagegen war sein Nachbar Saint-André in einer fast theatralischen Weise herausgeputzt. Seine in greller Farbenfrische prangenden Federn stiegen von dem einmal aufgeklappten Hute stolz in die Luft empor und waren durch das Rütteln des Wagen in immerwährender Bewegung. Sie nickten nach allen Seiten hin, als ob sie in herablassender Weise hätten danken wollen für die Zeichen der Bewunderung, der Unterwürfigkeit, die ihrem Besizer, dem Freunde des großen Robespierre, dargebracht wurden. Und doch war die Straße leer, das Land wie verödet, und anstatt dem stolzen Zug sich zu nähern, wenn er herankam und vorüberflog, zogen die Menschen sich zurück, als ob eine pestbehaftete, fluchwürdige Erscheinung vor ihnen aufgetaucht wäre, erleichtert aufathmend und sich heimlich bekreuzigend, wenn sie wieder verschwunden war. Die Unterhaltung zwischen dem abgesetzten und [803] dem neuen Volkstribunen konnte keine lebendige sein, denn Carrier’s Herz war von einem wilden Grimme, einer ohnmächtigen Wuth erfüllt, und wehe denen, die ihm jetzt als Opfer unter die Hände gefallen wären! Doch vor der Hand war er unschädlich geworden und ging dabei unbewußt seinem eigenen Untergang entgegen.
Bei dem Dorfe La Croix-Verte waren sie über die Loire nach Saumur und dessen altem Schlosse gefahren, in dem sich die republikanischen Behörden eingenistet hatten, und wo sich zugleich das Tribunal und die Gefängnisse befanden. Nach flüchtiger Revision der Acten durch Saint-André wurde der Tag unter den Jacobinern und Sansculotten festlich beschlossen. Der Wein floß dabei in Strömen, und in bewußtlosem Zustande suchten die würdigen Bürger des neuen Frankreichs und dessen Repräsentanten ihr Lager auf, um am andern Tage ihren Triumphzug nach Tours und Orleans fortzusetzen.
Gegen fünf Uhr in der Frühe sprengte ein Reiter, der sich durch sein Aeußeres sofort als echten Sansculotten und Jacobiner kennzeichnete, auf schweißbedecktem Pferde in den Schloßhof. Es war Le Borgne, der den weiten Weg von Tours bis Saumur in etwa sieben Stunden zurückgelegt hatte. Nach dem Bürger Carrier fragte er und verlangte dringend in wichtiger Angelegenheit ihn zu sprechen. Doch der Gesuchte schlief noch, trotzdem weckte man ihn. Der viele genossene Wein und der ihn verzehrende Ingrimm hatten ihn aber derart überwältigt, daß er erst nach langem Rütteln wieder zum Leben erwachte. Dann dauerte es noch eine ganze Weile, bis ihm die Besinnung wiederkehren wollte. Nun ließ er den Mann vor sein Lager kommen und forderte ihn fluchend auf zu reden, mit der Drohung, daß, wenn sein Bericht nicht die Mühe des Aufwachens lohne, er den Störer seiner Ruhe auf die Guillotine senden würde. Und Le Borgne erzählte von der Befreiung des Gefangenen in Tours.
Je weiter er redete, desto aufmerksamer horchte Carrier, und unheimlich begannen seine Augen unter den dunklen zusammengezogenen Brauen zu leuchten, die schmalen Lippen sich in verhaltenem Grimm zusammenzuziehen.
Kaum hatte Le Borgne seinen mit den niedrigsten Schmähungen auf Bouilly, Pujol und das ganze Tours erfüllten Bericht geendet, als Carrier mit beiden Füßen aus dem Bette sprang, seine ganze Gestalt zitterte in zorniger Aufwallung und die Fäuste geballt schrie er:
„Und diesen aristokratischen Schuft, der gegen uns in der Vendée kämpfte, hielt Bouilly zwei Tage in Händen – und er lebt noch? Und sein Henker verhilft dem Gefangenen zur Flucht? Unerhört! nicht zu glauben, nicht zu fassen! Doch Geduld, Carrier ist in der Nähe und wird Euch richten. Alle – Alle! und wenn ich selber den Henker machen müßte.“
Rasch zog er sich an, jagte die harrenden Diener, welche voller Angst den Wuthausbruch des schrecklichen Menschen mit angehört hatten, hinaus, ihm und dem wackeren Jacobiner Wein und Speisen zum Frühstücke zu bringen, denn in einer Viertelstunde müsse er zu Pferd und auf der Straße nach Tours sein. Und nicht eher wolle er ruhen noch rasten, bis die elenden Feinde der Republik sammt und sonders ihre Verrätherei auf der Guillotine gebüßt hätten.
„Der André, der eitle Narr, schläft noch und wird noch Stunden schlafen,“ so murmelte er schließlich mit einer grimmen Verachtung vor sich hin, „und langt er in Tours an, so wird dort die Arbeit gethan sein.“
Wie freute Le Borgne sich dieser wildzornigen Energie, und um die Rückkehr keine Minute zu verzögern, verschlang er förmlich die Speisen, welche ihm vorgesetzt wurden. Als das kräftige Frühstück verzehrt worden war, eilten Beide in den Schloßhof nach den Ställen. Carrier befahl, den Bürger Saint-André nicht zu wecken und, wann er endlich aufgewacht sein würde, ihm zu sagen, daß er, Carrier, nach Tours vorausgeritten sei. Dann wurden zwei Pferde der Husaren gesattelt und ohne Rücksicht auf die Widersprüche der Soldaten von Carrier und Le Borgne bestiegen, die dann in raschem Trabe das Schloß und die Stadt verließen, um über die Loire La Croix-Verte und die nach Tours führende Straße zu erreichen.
Ihr Auszug war indessen von Saint-André nicht unbemerkt geblieben, denn Carrier hatte in seiner Stube wie im Hofe laut genug geschrieen und getobt, um von den Schläfern im Schlosse gehört zu werden. Kaum hatte daher der Commissair des Wohlfahrtsausschusses Näheres über den frühen und scharfen Ritt seines Gefährten erfahren, als er, Unheil witternd, sofort seinen Leuten Befehl gab, den Wagen anzuspannen und sich zur Abreise bereit zu machen. So kam es, daß keine halbe Stunde später auch Saint-André mit seinem Gefolge sich auf dem Wege nach Tours befand.
Stephen Grover Cleveland.
Seit der ersten Erwählung Abraham Lincoln’s war der Kampf um die Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika nicht so heftig wie in diesem Jahre, so lauten übereinstimmend alle Nachrichten aus der Union. Seit Monaten haben die Vorgänge bei diesem Ringen um die Macht auch Europa in Spannung erhalten. In Deutschland insbesondere nahm man mehr als vorübergehenden Antheil an der Entwickelung der Dinge, und es ergab sich die ihrer Seltenheit wegen auffallende Thatsache, daß in der Beurtheilung der amerikanischen Wahlvorgänge alle Parteien, wie weit sie auch in Bezug auf uns viel näher liegende Dinge aus einander gehen, in diesem Falle sich in merkwürdiger Uebereinstimmung befanden. Von den Zeitungen, die mit Eifer und einer besseren Sache werther Begeisterung für die Rückkehr zu veralteten Zuständen eintreten, bis zu den Kämpen der Socialdemokratie fand nur der eine Wunsch Ausdruck, daß Grover Cleveland gewählt werden möge, der Mann, den wir im Bilde heute den Lesern vorstellen, und der am 4. November dieses Jahres in der That als der Erwählte der amerikanischen Nation aus der Urne hervorgegangen.
Auf vier Jahre hinaus ist Grover Cleveland berufen, die Regierung des großen amerikanischen Freistaats zu leiten. Der Wunsch, etwas Näheres über ihn zu erfahren, ist demnach ein berechtigter. Aber nur in geringem Maße kann diesem Wunsche Rechnung getragen werden. Ist Cleveland ein großer Staatsmann, haben seine hervorragenden diplomatischen Eigenschaften die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt? Durchaus nicht, denn er hat bisher keine Gelegenheit gehabt, solche Eigenschaften zu bethätigen. Ist er ein in der Parteigeschichte seines Landes erprobter Politiker, ein Führer, der schon zum Siege geführt hat? Auch das nicht, denn er hat sich von jedem Eingreifen in das politische Getriebe fern gehalten. So ist er vielleicht ein Großindustrieller, der durch tiefen Blick und furchtlosen Unternehmungsgeist sich einen Namen gemacht? Auch das wäre falsch, denn bis vor wenigen Jahren war er nur Advocat in der Stadt Buffalo, jener Stadt, die, an der Schwelle der Niagarafälle gelegen, von allen europäischen Touristen Amerikas besucht wird. Auch als Redner hat er keine Erfolge aufzuweisen. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Schweiger, der während der langen Monate des Kampfes auch bei den glänzendsten Ovationen kaum ein paar Worte des Dankes gesprochen. Fragt man nun aber, was in aller Welt Grover Cleveland denn eigentlich sei, wenn alles Das verneint wird, was in erster Reihe bei der höchsten Auszeichnung, die ein Land zu vergeben hat, in Frage zu kommen pflegt, so kann die Antwort in drei Worten gegeben werden: Er ist „an honest man“ – ein ehrlicher Mann.
Seit dem Ausbruche des Bürgerkrieges in der Union, seit 1860, als der unvergeßliche Abraham Lincoln gewählt wurde, hat sich – ein in der Geschichte der Vereinigten Staaten noch nie dagewesener Fall – die republikanische Partei ununterbrochen in der Regierung behauptet. Es war ihr eine heilige und weitausschauende Aufgabe zugefallen. Der Befreinng der Neger aus schmählicher Knechtschaft mußte die Sicherstellung gegen ihre früheren Besitzer, ihre Erziehung folgen. Den Männern, welche ihre Ketten zerbrachen, fiel ganz naturgemäß die Aufgabe zu, sie in den Stand zu setzen, sich ihrer Freiheit auch zu erfreuen. Und nicht allein das! Im besiegten Süden gährte es noch lange. Mit starker Hand mußte jeder Versuch einer neuen Erhebung niedergehalten werden. Es galt, durch eine vernünftige Finanzwirthschaft den verpfändeten Credit des Landes einzulösen, die gewaltige Schuldenlast zu tilgen. Es kam darauf an, die ruhige, friedliche, glückverheißende Weiterentwickelung des Landes wieder anzubahnen, welche durch die Secession der Südstaaten eine so lange und gewaltsame Unterbrechung erlitten. Wem anders konnte diese Aufgabe zufallen, als der Partei, welche den Zerfall der Union verhindert hatte?
Mit gewaltigen Majoritäten entsandte denn auch die amerikanische Nation nach der zweimaligen Erwählung Lincoln’s zweimal den Generalissimus der Armee, General Grant, in das Weiße Haus zu Washington. Schon damals machten sich starke Anzeichen bemerklich, daß der lange Besitz der Macht – es waren nun sechszehn Jahre vergangen – die Inhaber der Regierungsgewalt übermüthig gemacht. Grant selbst ging leider nicht ohne Makel aus dem Amte. Während seiner Verwaltung griff das Piratenthum unter den Beamten in erschreckender Weise um sich. Er selbst, so beschuldigen ihn seine Gegner, hat es nicht verschmäht, sich auf Kosten der Nation Vortheile zu verschaffen. Das war’s auch vornehmlich, was ihn beim dritten Versuch, das Amt zu behaupten, unterliegen ließ, denn damals schon beschlossen die um das Heil ihrer Partei besorgten Republikaner, reine, makellose Männer als Candidaten aufzustellen, indem sie darin die einzige Möglichkeit fanden, den etwas locker gewordenen Halt im Volke zu befestigen. Zweimal hinter einander gelang das auch. Rutherford B. Hayes [804] und der von Guiteau’s Kugel niedergestreckte James A. Garfield waren Männer, die, wenn sie auch die Corruption innerhalb der Partei nicht ganz zu beseitigen vermochten, so doch mit aller Kraft für die Unterdrückung des Uebels eintraten. Auch der durch Garfield’s frühen Tod in seine Stelle aufrückende nachmalige Präsident Arthur erwies sich als ein unentwegter Feind der Corruption.
Es war nothwendig, so weit auszuholen, um die jetzige gewaltige Erhebung des Volkes verständlich zu machen. Seit jenem Zurückschlagen Grant’s bei seiner dritten Bewerbung um die Präsidentschaft erschien jedesmal in der Nationalconvention der Republikaner eine Anzahl republikanischer Männer, die sich freiwillig als eine Art politische Polizei constituirt hatten. Unter der ausgesprochenen Führung unseres Landsmannes Karl Schurz wachten sie darüber, daß zu dem höchsten Amte nur ein Mann in Vorschlag gebracht werde, dessen Ruf makellos und unantastbar ist. Bei Hayes und Garfield gelang es ihnen; in diesem Jahre aber unterlagen sie mit ihren Reformvorschlägen, und der übermüthig gewordene Theil der Republikaner proclamirte als seinen Candidaten für die Wahl James A. Blaine.
Der republikanische Candidat ist ein Mitglied des Senats; er war unter Garfield zuerst Minister des Auswärtigen. Er ist ein Mann von hinreißender Rednergabe, der seine Hörer berauscht, er übt eine bezaubernde Gewalt auf die Massen aus. Seine Begabung ist eine phänomenale; er hat sich als Schriftsteller bewährt; ehrgeizig und hochstrebender Pläne voll, hat er stets dahin gearbeitet, den Einfluß der Union auf die südliche Hälfte des amerikanischen Continents auszudehnen.
Ein felsenfester Republikaner, ließ er sich nicht um Haaresbreite vom Programm seiner Partei abdrängen. Und doch erhob sich bei den unabhängigen Republikanern und in den Reihen der Deutschen in der Union ein sofortiger tausendstimmiger Protest, denn es war in einigen früheren politischen Processen erwiesen worden, daß James A. Blaine alle diese glänzenden Eigenschaften in den Dienst des Eigennutzes gestellt zu haben schien, daß er zum Mindesten von dem Verdachte, aus amtlichen Handlungen persönlichen Vortheil gezogen zu haben, nicht frei sei.
Unmittelbar unter dem Eindruck dieser Candidatur schwenkten Tausende von Republikanern ab. Aber sie erklärten, zunächst keinen eigenen Candidaten aufstellen zu wollen, sie gaben deutlich zu verstehen, daß sie abwarten wollten, wen denn die Demokraten auf den Schild erheben würden, denn mittlerweile war in den Reihen derselben bereits der Name Grover Cleveland’s aufgetaucht.
Und damit sind wir bei dem Gegenstand dieser Skizze angelangt. Grover Cleveland’s Lebensgeschichte ist in wenigen Zeilen erschöpft. Er steht jetzt in seinem fünfzigsten Lebensjahre, wurde von Hause aus – einer nicht unbemittelten Familie entstammend – zum Advocaten bestimmt, schlug diese Laufbahn ein, ließ sich in Buffalo als Advocat nieder und prakticirte dort, ohne viel von sich reden zu machen. Vor sechs Jahren zuerst übertrugen ihm seine politischen Freunde das Amt des Sheriffs der Stadt Buffalo. Der Sheriff ist der Director des Gerichts-Vollziehungsamtes. Der Posten gilt in der Sprache der amerikanischen Politiker als ein „fetter“. Wer da versteht, die Rechte nicht wissen zu lassen, was die Linke thut, kann aus diesem Amte, wenn er es wenige Jahre versehen, als wohlhabender Mann herausgehen. Cleveland’s Amtsführung aber war eine musterhafte. In der Stadt erkannte man bald, daß man in ihm einen ehrenhaften Beamten besitze, und als nach Ablauf seiner Dienstzeit es sich darum handelte, einen Bürgermeister zu wählen, der Ordnung in die verfahrenen Angelegenheiten der Stadt bringen sollte, fiel die Wahl auf ihn, und er wurde mit einer überwältigenden Mehrheit gewählt. Was der Sheriff versprochen, das hielt der Mayor. Unter seiner Verwaltung verbesserten sich die Finanzen der Stadt. Unnachsichtig verfolgte er jedes Unrecht, auch wenn es von Parteifreunden begangen worden. Die Straßen wurden verbessert, das Schulwesen gehoben, vielfach vorhandene Mängel abgestellt, dabei verminderten sich die Kosten der Verwaltung, kurzum Buffalo zog die Augen des ganzen Staats New–York als eine musterhaft verwaltete Stadt auf sich. Und nach wiederum zwei Jahren, im Jahre 1882, boten ihm die Delegirten der demokratischen Partei das Amt des Gouverneurs des Staats New–York an, zu dem er mit etwa 150,000 Stimmen Mehrheit gewählt wurde.
Wie in der Stadt Buffalo, so unterzog er sich dann auch in dem Staate New-York der Riesenaufgabe, den Augiasstall der Corruption zu säubern. Wo immer er seinen Fuß hinsetzte, fuhr er zwischen den alten Schlendrian wie ein reinigendes Gewitter. Rücksichtslos gegen seine Genossen, wenn sie ihm unwürdig erschienen; selbstlos und von peinlichster Gewissenhaftigkeit, nahm er keinen Anstand, sich auf Seite der politischen Gegner zu stellen, wenn die Sache es erforderte. Ob er sich selbst dadurch die Gunst mächtiger Freunde verscherzte, galt ihm gleich. Und er erlebte es denn auch, daß bei seiner Candidatur für die Präsidentschaft sich zuerst eine heftige Opposition bei einer Fraction seiner ehemaligen Parteigenossen, bei der sogenannten Tammany-Hall-Demokratie des Staats New–York kund gab, auf deren unsaubere Absichten als Gouverneur von New–York einzugehen er sich geweigert hatte.
So erhielt er die Ernennung zum Candidaten der demokratischen Partei auf einen sehr einfachen Titel hin: Ein ehrlicher Mann! Nicht mehr, nicht weniger! „Er hat keine Erfahrung in großen politischen Dingen,“ so riefen die Gegner. „Thut nichts,“ antworteten die Freunde, „er wird den rechten Weg schon finden, wie er ihn bis jetzt gefunden, denn er ist ein ehrlicher Mann.“ In der That ist seine Carrière eine selbst für amerikanische Verhältnisse verblüffend schnelle. Vor sechs Jahren noch ein ziemlich unbekannter Advocat, in der Zwischenzeit Sheriff, Mayor, Gouverneur und jetzt Präsident! Im Sturmschritt hat er die Leiter zum höchsten Amte in den Vereinigten Staaten erklommen, und was die Gegner ihm auch vorwarfen, wie sehr man ihn auch bemängelte und seine Befähigung bezweifelte, das Volk jauchzte ihm zu, wo er sich blicken ließ, und jubelte dem Banner zu, das ihm voraus flatterte: Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit!
Dann, wie die Zeit bis zur Wahl vorschritt, mehrten sich die Anklagen gegen den republikanischen Candidaten Blaine in erschreckender Weise. Immer zahlreicher wurden die Beschuldigungen der Mißbräuche seiner amtlichen Thätigkeit, und in demselben Maße, wie er befleckt erschien, wurde der Schild Cleveland’s reiner und glänzender. Ein seltsamer Enthusiasmus kam über das Volk. Das Zauberwort: „Wir haben einen ehrlichen Mann“ lockte die Hunderttausende hervor, die, trauernd über den Verfall der guten Sitten, sich für Jahre abseits von der Politik gehalten. Sie alle kamen wieder hervor und stellten sich in den Dienst Cleveland’s und der von ihm ausgegebenen Parole. In hellen Haufen gingen die unabhängigen Republikaner und die Deutschen zu ihm über. Die hervorragendsten Geistlichen sprachen öffentlich zu seinen Gunsten, selbst die Thatsache, daß in irgend einem Standesregister ein Knabe eingetragen war, dessen Mutter er zu seinem Weibe hätte machen sollen, vermochte ihn nicht zu schädigen. In der Wahlcampagne hat dieses Kind eine große Rolle gespielt. Es wurde Monate lang durch die Spalten der Zeitungen geschleift, die Mutter war, nachdem sie längst sich mit Hülfe Cleveland’s ein bescheidenes Heim gegründet, der Schande preisgegeben; eine Jugendverirrung wurde benutzt, um den widerlichsten Schlamm persönlicher Besudelung aufzurühren. Aber all das hatte keinen Erfolg. Man hatte geglaubt, daß der tausendköpfige Riese Corruption nicht mehr getödtet werden könnte, aber der Erfolg hat gezeigt, daß ein Volk, wenn es nur den ernstlichen Willen hat, im Dienst der Wahrheit zu kämpfen, auch mit den anscheinend unüberwindlichsten Gegnern fertig wird.
Darum hat Grover Cleveland’s Erwählung auch eine weit tiefergehende Bedeutung, als es auf den ersten Anblick scheint. Sie ist ein Sieg nicht des einen Candidaten über den andern, nicht ein Sieg der einen Partei über die andere, sie ist ein Sieg des guten Genius des Landes über die finsteren Gewalten, die sich seiner zu bemächtigen drohten. Das ob seines Materialismus verschrieene Amerika hat bewiesen, daß es sich für eine ideale Aufgabe sehr wohl noch begeistern kann. Grover Cleveland, der Erkorene, hat die Ehre gehabt, der Bannerträger in dieser Bewegung zu sein und ihr seinen Namen zu geben. Er ist unverheirathet, eine Nichte wird die Pflichten der Repräsentation im Weißen Hause übernehmen.
Die Wünsche des deutschen Volkes aber geleiten ihn auf seinem neuen Wege. Nahmen doch unsere Brüder jenseit des Oceans seit Jahren in dem Kampfe gegen die Corruption eine so hervorragende Stellung ein, daß die im Trüben fischenden, von Bestechungen lebenden Gegner die ganze Reformbestrebung höhnisch „eine deutsche Idee“ nannten, um sie bei den Yankees verhaßt zu machen. Möge nun diese deutsche Idee, die dem deutsch-amerikanischen Namen nur zur Ehre gereicht, unter der Regierung Cleveland’s den endlichen Sieg davontragen! Möge dem „ehrlichen Manne“ seine große Aufgabe, strenge Zucht auch in der Verwaltung der ganzen Union einzuführen, so gut gelingen, wie in seinem Heimathstaate und in seiner Heimathstadt!
[805]
Die neue Aera der Colonialpolitik.
Es gab eine Zeit, und sie liegt kaum ein paar Jahre hinter uns, in welcher eifrige Patrioten warnend ihre Stimme erhoben und von einer „Lebensgefahr der deutschen Nationalität“ sprachen, die in der zunehmenden Ausbreitung der englischen Colonialmacht zu suchen wäre. Die Politiker der alten Schule schüttelten ihre Häupter ob dieser sonderbaren Warnung, denn sie konnten nicht begreifen, daß der wachsende überseeische Einfluß Englands und seine Alleinherrschaft auf dem Meere dem deutschen Volke jemals gefährlich werden könnten. Es erhob sich auch bald ein heftiger Streit, und lange Reden für oder wider deutsche Colonien wurden gehalten und dicke Bücher über die Frage geschrieben. Aber diesmal sollte die neue Strömung nicht spurlos verrinnen, rasch folgte dem Worte die That, und über alle Erwartung schnell war Deutschland in die Reihe der colonialen Mächte eingetreten.
Und die Sache war nicht so schlimm, wie man befürchtete. Die Entfaltung der deutschen Fahne in überseeischen Ländern rief keinen Krieg hervor. Im Gegentheil, am deutschen Herde sammeln sich heute die Völker, um friedlich über die Lösung schwebender colonialer Fragen zu berathen; und nur wenige folgten widerwillig dem Rufe des deutschen Kaisers, als Freunde sind die meisten gekommen, selbst der gallische Erbfeind ist als Bundesgenosse erschienen, und sogar in erster Reihe, denn er war es, in dessen Gemeinschaft Deutschland die ersten Schritte für die Conferenz unternahm.
Im Hause des deutschen Reichskanzlers, wo vor fünf Jahren die Diplomaten über den Frieden des Orients entschieden, wird heute über das Schicksal Afrikas berathen, und denkwürdig für lange, lange Zeiten wird der 15. November d. J. bleiben, an welchem Fürst Bismarck in Berlin die westafrikanische Conferenz eröffnete.
Das schlichte Bild, welches den Anfang unseres Artikels schmückt, spiegelt in der That einen Vorgang wieder, der als Verkörperung einer großen geschichtlichen Wendung gelten muß, einer Wendung, die nicht allein für Deutschland, sondern für die ganze Welt von unberechenbarer Tragweite ist. Denn die Conferenz, an welcher außer europäischen Mächten auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika theilnehmen, hat eine weltumspannende Bedeutung; von ihren Beschlüssen wird in Zukunft das Geschick eines ganzen Welttheils abhängen, und sie ist berufen, ein neues Recht auf einem Gebiete zu schaffen, auf dem bis jetzt zumeist Willkür und Waffengewalt herrschten.
Ein solches Ereigniß fordert unwillkürlich zu geschichtlichen Betrachtungen heraus, denn man kann einen Wendepunkt der Zeit nur dann richtig beurtheilen, wenn man die Vergangenheit kennt und dadurch klar in die Zukunft schaut.
Die Geschichte der Colonisationsbestrebungen an der Westküste von Afrika datirt nicht von wenigen Jahrzehnten, wie man meinen möchte. „Aethiopien“ war schon einmal das Hauptziel europäischer Kaufleute und der Zankapfel europäischer Staaten.
In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden einzelne Theile jener Küste von den Portugiesen entdeckt. Damals sann Prinz Heinrich der Seefahrer im Schlosse Sagres, wie er den Seeweg zu dem Reiche des Erzpriesters Johannes, dem sogenannten dritten Indien, eröffnen könnte. Die von ihm entsandten Schiffe umsegelten zuerst das früher gefürchtete Cap Bojador, entdeckten den Senegal, den berühmten Strom der Schwarzen, und drangen bis zur Goldküste vor. Nach dem Tode des verdienten Prinzen lebte die von ihm angeregte Lust zu Entdeckungen in den Portugiesen fort, und gerade vor vierhundert Jahren entdeckte Diogo Cão, den der Deutsche Martin Behaim begleitete, den großen Fluß Zaire, den heutigen Congo, und gelangte mit seinen Schiffen bis über das Cap Frio hinaus, wo er ebenso wie am Congo steinerne Säulen mit dem portugiesischen Wappen errichtete und durch diese Ceremonie das Land für Portugal in Besitz nahm.[1]
[806] Den portugiesischen Entdeckern folgten naturgemäß die portugiesischen Kaufleute, und noch vor dem Ende des 15. Jahrhunderts hatten die Portugiesen längs der ganzen afrikanischen Westküste, am Senegal, am Gambia, am Rio Grande, an der Goldküste, im Golf von Benin und am Congo Handelsfactoreien errichtet. Allmählich erweiterten sie ihren Besitz, drangen in das Innere des Landes ein, schlossen Freundschafts- und Handelsverträge mit den Häuptlingen, verbreiteten das Christenthum und trieben dabei in schwunghafter Weise – Sclavenhandel.
Namentlich am Congo blühten ihre Factoreien. Das Land, welches jetzt in einen afrikanischen Freistaat umgewandelt werden soll, trug damals den stolzen Namen des „Königreiches Congo“. Es zerfiel in sechs Provinzen, die von einzelnen Häuptlingen regiert wurden, denen die Portugiesen die klingenden Titel eines Herzogs, Grafen oder Marquis beilegten. San Salvador, südlich vom Congofluß gelegen, war die Hauptstadt des Reiches und soll zur Zeit der höchsten Blüthe desselben, im Anfang des 17. Jahrhunderts, 40,000 Einwohner gezählt haben. Die Stadt hatte auch einen Bischof, ein Jesuitencollegium, ein Kapuzinerkloster, eine Kathedrale und zehn kleinere Kirchen. Die portugiesischen Patres tauften das Volk in großen Massen, ein einziger von ihnen soll während seines zwanzigjährigen Aufenthaltes am Congo allein 100,000 Taufen vollzogen haben, aber sie scheinen ihr Christenthum mehr in äußeren Formen als in guter Belehrung bethätigt zu haben, denn schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts war jede Spur der christlichen Religion in jenen Ländern verschwunden.
Die Herrlichkeit des Königreiches Congo brach denn auch in kläglicher Weise zusammen. Die „Könige“ von Congo vertrieben die Ansiedler und Missionäre und zerstörten die Kirchen, von denen hier und dort heute nur noch spärliche Ruinen vorhanden sind. Als nach hundert Jahren, 1857, Adolf Bastian die Hauptstadt San Salvador besuchte, fand er in der Königin ein gewöhnliches Negerweib und rings um sie ein „zerlumptes Negergesindel, das sich gegenseitig als Herzöge, Grafen, Marquis etc. titulirte und sich mit angehangenen Kreuzen brüstete, die als Christus-Orden bezeichnet wurden“.
Das ist in kurzen Zügen die Geschichte der Portugiesen am Congo, das sind die Großthaten, auf welche jetzt Portugal pochen möchte, um von den Mächten die Anerkennung seiner Hoheitsrechte über das Land, das inzwischen durch Stanley neu entdeckt und der Cultur erschlossen wurde, zu erwirken! Wenn auch die portugiesische Regierung die steinernen Säulen am Congo wieder aufstellen ließ, so wird man über diese Ansprüche einfach zur Tagesordnung übergehen, denn die Anerkennung solcher verjährter Forderungen würde heute nur die größte Verwirrung hervorrufen. Mit demselben Rechte könnten ja die Portugiesen auch Aden für sich beanspruchen, denn dort und am Cap Guardafui hatten sie im Jahre 1503 zur Wahrung ihrer Handelsinteressen Schiffe aufgestellt, die alle aus dem Rothen Meere auslaufenden Fahrzeuge überfallen sollten.
Das war schon reine Piraterie, und man muß leider bekennen, daß sie dem damaligen Zeitgeiste entsprach, denn je weiter wir jetzt in die Geschichte des westafrikanischen Handels eindringen, desto weniger erfreulichen Bildern begegnen wir lange Zeit hindurch in derselben.
Den Portugiesen folgten bald andere Völker nach Westafrika.
Den Reigen eröffnete Thomas Wyndham, der 1551 ein englisches Schiff dorthin führte. Er brachte von seiner Expedition 75 Kilogramm Goldstaub mit und veranlaßte dadurch einige Kaufleute zur Ausrüstung zweier stattlicher Schiffe, die unter seinem und des Portugiesen Pinteado Befehl wirklich nach Afrika absegelten. Aber bei der Uneinigkeit der Führer nahm die Expedition ein klägliches Ende. Glücklicher war John Lok, der im Jahre 1554 Madeira, Teneriffa, Barbas und den Fluß Sestos besuchte und mit 200 Kilogramm Goldstaub, 250 Elephantenzähnen und 36 Faß Guineapfeffer heimkehrte.
Ein wenig erbauliches Bild der damaligen Zustände bietet uns die nachfolgende Expedition William Towrson’s.
Auch die Franzosen hatten damals die Goldküste aufgesucht, und die Handelsfahrer erscheinen plötzlich als regelrechte Piraten, die sich gegenseitig überfallen und selbst förmliche Seeschlachten liefern. So begegnete jener Towrson, noch lange bevor er an die afrikanische Küste gelangt war, einem portugiesischen Schiffe, das er „erbeutete und ungestraft hätte vernichten können, hätte ihn nicht ein gewisses Mitgefühl für seine Gefangenen veranlaßt, ihnen diejenigen Vorräthe, deren er selber bedürftig war, abzukaufen und sie dann ungehindert segeln zu lassen“. Im nächsten Jahre vereinigte sich derselbe Towrson aber mit drei französischen Schiffen zu einem Angriff gegen eine kleine portugiesische Flotte.
Die Portugiesen hielten wieder alle fremden Schiffe, die an der Westküste von Afrika erschienen, für unberechtigte Eindringlinge in ein Gebiet, das laut der päpstlichen Schenkung[2] ihnen gehörte, und suchten mit den Waffen in der Hand ihr „gutes Recht“ zu vertheidigen. Aber die anderen Völker ignorirten einfach jene Theilung der Welt unter die Spanier und Portugiesen, und England war das erste Land, das seinen Unterthanen Patente zum Handel mit Westafrika ausstellte.
Als dann im Jahre 1591 Richard Reynolds und Thomas Dassel nach England heimgekehrt waren, konnten sie bereits berichten, daß die Portugiesen am Senegal von den Negern vertrieben worden und die Franzosen sich in Senegambien festgesetzt hätten.
Es herrschte eben Faustrecht in Westafrika, und wie man damals Handels- und Entdeckungsreisen machte, davon giebt das Schicksal der Thomson’schen Expedition ein abschreckendes Beispiel. Am Anfang des 17. Jahrhunderts wollten die Engländer den Weg zu den sagenhaften Goldminen und dem großen Markt Timbuctu im inneren Afrika finden, und George Thomson fuhr zu diesem Zwecke auf Booten den Gambia hinauf. Inzwischen aber überfielen die Portugiesen das an der Mündung des Flusses zurückgelassene Schiff und tödteten die Mannschaft. Eine andere Expedition konnte nach wenigen Jahren nur den Tod Thomson’s feststellen und mußte unverrichteter Dinge zurückkehren.
Bald darauf erschien an der Westküste Afrikas ein neuer Feind der Portugiesen: die Niederländer, die inzwischen das spanische Joch abgeworfen hatten.
Im Jahre 1621 erhielt die „Westindische Compagnie“ von den Generalstaaten das Privilegium, alle Länder zwischen dem Wendekreis des Krebses und dem Cap der guten Hoffnung erobern zu können. Sie machte von diesem Privileg einen gründlichen Gebrauch, suchte wirklich zu erobern, was sie erobern konnte, und verdrängte bald die Portugiesen von allen wichtigeren Punkten.
Mit dieser Compagnie mußte auch die Besatzung der einzigen damaligen deutschen Colonie an der afrikanischen Küste einen harten Strauß ausfechten (wir haben über die Geschichte von Groß-Friedrichsburg in Nr. 23 dieses Jahrganges ausführlich berichtet). – In solchen unaufhörlichen Kämpfen verliert sich die erste Epoche der afrikanischen Handelsgeschichte, welche treffend als der Krieg Aller gegen Alle bezeichnet wurde.
Aber ein neuer Tag stand bevor. Das Frühlicht einer besseren Zeit erglänzte über dem „dunkeln Welttheil“. Im Jahre 1788 wurde zu London von Sir Joseph Banks die „British-African Association“ gegründet, deren Programm die Beförderung der Entdeckungen im Innern Afrikas, der Civilisirung der Einwohner und der Hebung des Handels war, und am 17. April 1807 wurde abermals in England die „African Institution“ zur Abstellung des Sclavenhandels und zur Beförderung der Civilisation der afrikanischen Völker errichtet.
Es begann nunmehr ein neues Zeitalter der Entdeckungen; edle, hochherzige Männer aller Nationen stellten sich in den Dienst der geographischen Wissenschaft und unternahmen zahllose Reisen nach allen Richtungen des afrikanischen Welttheils. Sie lenkten von neuem die Aufmerksamkeit der Handelswelt auf jene volkreichen Länder und ihnen folgte bald ein besserer Stamm von Kaufleuten, der grundverschieden war von jenen Raubhändlern früherer Jahrhunderte. Sie fanden kaum Spuren der alten Factoreien, die Castelle und Forts verlassen und zerstört, die Grenzen früherer Besitzungen zum größten Theil verwischt. Es gab am Atlantischen Ocean wiederum unermeßliche Strecken herrenloser Länder.
Allen diesen Kaufleuten bot die westafrikanische Küste den denkbar weitesten und freiesten Tummelplatz für ihre Handelsunternehmungen. Die zu erschließenden Gebiete waren so unermeßlich, daß Jeder, der in ihnen erschienen war, genügenden Raum für sich finden und, ohne dem andern den Weg zu kreuzen, nach eigener Lust schalten und walten konnte. Aber mit der Zeit mehrten sich überall die Handelsniederlassungen, und mit ihrem [807] Wachsen begann auch der Neid der Concurrenz zu keimen. Nachdem der Gelehrte die Länder entdeckt hatte und der Kaufmann ihm gefolgt war, rief der Letztere die Regierung seines Staates herbei, damit sie ihm Schutz gewähre. So wurde ein Stück der Küste nach dem andern von den europäischen Mächten annectirt, bis endlich, als auch Deutschland zum Schutze seiner Interessen seine Flagge in Kamerun und Angra Pequena aufhißte, Jeder sich beeilte, das noch freie Land zu besetzen, und die Grenzen der einzelnen Colonien auf diese Weise vielfach hart an einander rückten. Außerdem erblühten an dem unteren Laufe des Congo die Anfänge einer vielverheißenden Cultur. Unterstützt von der Brüsseler Association und dem hochherzigen König Leopold II. von Belgien hat der „Steinbrecher“[3] Stanley nicht weniger als 45 Stationen im Congobecken angelegt, fahrbare Straßen auf Hunderte von Kilometern gebaut und für Handel und Ansiedelung bequeme Wege geebnet.
Ein neues Congoreich war im Entstehen, aber sein Gründer schaute bang in die Zukunft hinaus, denn wiederum drohten dem Handel in Westafrika unabsehbare Gefahren. Zwar brauchte man nicht die Wiederkehr des Faustrechts zu befürchten, aber der Concurrenzneid der Völker hat moderne Mittel erfunden, um den Gegner zu ruiniren oder ihm den Zutritt zu dem Innern des Landes zu verschließen. Wer ein Stück Küste in Afrika besaß, wer namentlich sich an den Mündungen großer Ströme niedergelassen hatte, der begann seine Macht den Angehörigen anderer Staaten dadurch fühlbar zu machen, daß er auf ihre Waaren hohe Zölle legte und dadurch ihren Handel lähmte. Was früher durch Forts und Kanonen erreicht wurde, das sollten jetzt Zollhäuser zuwege bringen. Die Zollchicanen an der afrikanischen Küste sind übelberüchtigt.
Nun plante England, das sich schon im Besitze der Nigermündung befindet und durch den Nebenfluß des Niger, den Benuë, einen freien Weg in das Hinterland von Kamerun sich erschließen kann, auch am Congo, einer der wichtigsten Verkehrsadern Afrikas, Zollschranken zu errichten. Klug wußte es das kleine Portugal für seine Zwecke zu gewinnen und erkannte dessen frühere Rechte über das Königreich Congo an, um ihm jetzt die Herrschaft über die Congomündung zu sichern, die dann den Engländern ausgeliefert werden sollte.
Aber es hat diesmal die Rechnung ohne den Wirth gemacht. England allein hatte Afrika nicht erschlossen. Seinen afrikanischen Associationen stehen heute „Die deutsche Gesellschaft zur Erforschung Aequatorial-Afrikas“ und die „Afrikanische Gesellschaft in Deutschland“ gegenüber; der Ruhm englischer Entdecker und Forscher strahlt nicht glänzender als derjenige der deutschen und französischen Afrikareisenden, und England hat nirgends in Afrika ein Culturwerk aufzuweisen, das sich mit den Großthaten eines Stanley am Congo messen könnte.
So ist gegenwärtig die Lage der Dinge in Afrika beschaffen, und aus ihrer Kenntniß erhellen deutlich die Ziele der westafrikanischen Conferenz.
Sie wird zunächst verhüten, daß der Niger und der Congo, die beiden Hauptthore und Hauptadern des afrikanischen Handels, von eigennütziger Zollpolitik verschlossen werden, und sie wird den Anlaß geben, die Handelsfreiheit auch auf andere afrikanische Ströme auszudehnen. Sie wird ferner Gelegenheit bieten, die Grenzlinien zwischen den einzelnen Congomächten, zwischen der internationalen Association, Frankreich und Portugal genau festzustellen, und sie wird endlich, um internationalen Reibungen vorzubeugen, die Rechtsprincipien verkünden, nach welchen in Zukunft die Besitzergreifung „herrenloser Länder“ vor sich gehen muß, wenn sie allgemein gültig sein soll.
Die Regelung der letzten Frage ist von außerordentlicher Bedeutung, denn Afrika ist noch lange nicht „weggegeben“. Zwar haben die Engländer bis jetzt von der Westküste 2100 Kilometer an sich gerissen, 1200 Kilometer sind im Besitze der Franzosen, 1000 Kilometer werden von den Portugiesen beansprucht und etwa 1000 Kilometer stehen unter deutschem Schutze – aber noch immer befinden sich zwischen dem Senegal und dem Cap gegen 1200 Kilometer Küstenlinie im Besitze der Eingeborenen. Diese Länderstrecken sollen in Zukunft nur demjenigen angehören dürfen, der, nachdem er von ihnen Besitz ergriffen, sie auch wirklich durch Gründung von Handelsniederlassungen oder Ansiedelungen und durch das Gewähren eines hinreichenden Schutzes der Cultur erschließt.
Endlich wirkt die Conferenz noch in edlem humanen Sinn, indem sie nach dem Antrage Deutschlands den betheiligten Mächten die moralische Verpflichtung auferlegt, „an der Unterdrückung der Sclaverei und besonders des Sclavenhandels mitzuwirken, die Arbeiten der Missionen und alle jene Einrichtungen zu fördern, welche dazu dienen, die Eingeborenen heranzubilden und ihnen die Vortheile der Cultur begreiflich und schätzenswerth zu machen.“
So dürfen wir mit Recht wiederholen, was wir im Anfang dieses Artikels betont haben: mit dem Jahre 1884, in welchem Deutschland zur Colonialmacht wurde, beginnt[WS 1] eine neue Aera der Colonialpolitik, in welcher an die Stelle der Willkür und Gewalt Ordnung und Gerechtigkeit treten werden. Siegfried.
Ein Kampf gegen den Schmutz.
Weit billiger als mit Schmutz und Unordnung wird ein Haushalt geführt mit Reinlichkeit und Ordnung, deshalb sollten diese zwei lieblichen und untrennbaren Schwestern überall, namentlich in die Wohnungen der Armen einziehen; Gesundheit, Wohlstand und Familienglück werden ihnen bald folgen.“ Das sind in der That wahre und goldene Worte, die man nicht oft genug wiederholen kann, und deren Erfüllung jeder aufrichtige Menschenfreund erstreben sollte, denn wie groß auch die Fortschritte der Neuzeit sein mögen, wie hoch die Cultur in unserem Jahrhundert gestiegen ist: trotz der Canalisation und der Gasbeleuchtung der Städte, trotz ihrer Versorgung mit Wasserleitungen und ihrer Verschönerung durch Parkanlagen und Promenaden, trotz all des äußeren Glanzes, der unser Auge besticht, giebt es in jeder Stadt, groß oder klein, enge dunkle Gäßchen mit baufälligen Häusern, in denen der Schmutz des Elends wie eine Giftpflanze wuchert. Die in denselben enthaltenen finsteren Wohnungen sind gewöhnlich nur dem Polizeidiener oder barmherzigen Armenpfleger bekannt, der Mensch aus den besseren Ständen weiß sie in der Regel sorgfältig zu meiden. Nur wenn ein begabter Schriftsteller einmal die Feder ergreift und schauerliche Schilderungen der Proletarierviertel vor dem leselustigen Publicum entrollt, werden sie zu einem sensationellen Gegenstande der Unterhaltung; nur wenn eine pestartige Krankheit von solchen Straßen aus gegen die „Stadt“ ihre tödlichen Pfeile entsendet, ertönt der laute Angstruf, man solle diese Pesthöhlen aus der Welt schaffen! Dann soll der Staat kein Geld sparen, die Häuser aufkaufen, die Einwohner in die gesunden Vorstädte bringen, um die Gesellschaft vor den ihr drohenden Gefahren zu retten.
Sonst aber, in gewöhnlichen Zeitläuften, wenn keine Anhäufung verbrecherischer Thaten, keine Epidemie die Gemüther in Unruhe versetzen, denken die Wenigsten daran, jene Stätten des Elends aufzusuchen und in ihnen Werke der Menschenliebe zu verrichten; sonst hören die Meisten geduldig den Worten zu, die wir in unserer Einleitung wiedergegeben, und antworten, mit den Achseln zuckend: „Fromme Wünsche! Es ist ein leeres Verlangen, die Armuth aus der Welt zu schaffen!“ So urtheilt die große Masse. Ihr gegenüber steht ein kleines Häuflein aufopferungsvoller Männer, die es als ihre Pflicht erachten, das Loos der Armen zu mildern, und die Dank ihrer Ausdauer mit geringen Mitteln Segensreiches geschaffen haben.
Einige von ihnen haben nun vor Kurzem auch dem Schmutz und der Unreinlichkeit, die mit dem socialen Elend unzertrennbar verbunden zu sein schienen, den Krieg erklärt, und wir sind in der freudigen Lage, unsern Lesern über die ersten Siege in diesem Feldzuge gegen einen großen gemeingefährlichen Feind zu berichten.
Vor einiger Zeit erhielten wir durch die Post ein kleines gedrucktes Heft, und an der Handschrift der Widmung erkannten wir unsern alten Freund aus Darmstadt, der uns schon früher Anregungen zu den Artikeln über die Pfennigsparcassen und über die Volksküche in der Familie gegeben, Artikeln, die, wie wir aus [808] zahlreichen Zuschriften erfuhren, an vielen Orten des Vaterlandes großen Nutzen gestiftet haben.[4] Ebenso wichtig, ebenso überraschend ist die letzte Nachricht unseres Darmstädter Freundes, die wir unserem Leserkreise mittheilen möchten.
Der Verein gegen Verarmung und Bettelei in Darmstadt geht nach eigener Beobachtung von der Ueberzeugung aus, daß Armuth und Unreinlichkeit nicht nothwendig zusammengehören. Man muß nur das Uebel an der Wurzel fassen und die Armen selbst zur Ordnung und zur Reinlichkeit erziehen. Freilich ist eine solche Erziehung ungemein schwierig, denn der Schmutz erweist sich als die unterste Stufe des socialen Elends, und wer in ihn versunken ist, der hat auch zum größten Theil den frohen Lebensmuth und die Energie des Willens verloren. Es giebt eben Wohnungen, die vom Schmutz so durchsetzt sind, daß selbst Geschenke von neuen Kleidern und Betten den Sinn für die Reinlichkeit bei den Bewohnern nicht zu wecken vermögen. Die halbfaulen Fensterrahmen, die morschen Dielen und abgebröckelten Wände lassen sich nicht rein und blank halten, und wenn auch ein Versuch zum Bessern unternommen wird, so wird er durch die unsaubere Umgebung im Keime erstickt.
In der That sind in diesem Kampfe die Gesunkenen viel zu schwach, um durch Selbsthilfe allein den Feind bezwingen zu können. Sie sind auf fremden Beistand angewiesen, und dieser sollte ihnen dadurch gewährt werden, daß man energisch mit der Neuherstellung so verwahrloster Wohnungen vorgeht.
Der erste Versuch nach dieser Richtung hin ist in Darmstadt in glänzendster Weise gelungen. Zwei Freunde, Mitglieder des Vereins, kauften ein altes Haus, das für diesen Zweck geeignet erschien, und beschlossen, in demselben Ordnung zu schaffen. Und in welchem Zustand befand sich die alte Baracke!
„Das Haus ist in der Langegasse, inmitten der Altstadt, also passend gelegen,“ sagt der Bericht, „enthält 7 Wohnungen, und sein in jeder Hinsicht mangelhafter Zustand gab ein gutes Bild des Durchschnittswerthes solcher Häuser und Wohnungen für den vorliegenden Zweck, auch in der Hinsicht, daß während des Umbaues überall Schäden zu Tag kamen, welche vorher nicht sichtbar waren. Da waren, in Folge schadhafter Bedachung, zerbrochener Wasserrinnen und Mangel an Luftzug, Balken halb oder ganz verfault, Mauern geborsten, fast alle Fensterrahmen, Fußböden und anderes Holzwerk verwittert; das mußte Alles erneuert, verbessert, Luft, Licht und Bequemlichkeit geschaffen und zuletzt Tünche und Anstrich neu hergestellt werden, wenn das Werk gut, schön und dauerhaft sein sollte, erhöhte aber natürlich die Kosten ansehnlich.
Während unseres Umbaues machten wir nun eine ganze Reihe werthvoller Erfahrungen. Den sämmtlichen Bewohnern war verkündigt worden, daß der Umbau stattfinden und für sie viele Belästigungen mit sich bringen werde, und daß man an sie das Verlangen stellen müsse, nicht nur sich in Alles zu fügen, sondern auch überall hülfreiche Hand zu leisten, wo es die Umstände erfordern würden. Dagegen wurde ihnen ein Nachlaß der Miethe während der Bauzeit (etwa 2 Monate) in Aussicht gestellt. In diese Bedingungen fügten sich Alle, und ihre eifrigen und freudigen Dienste trugen nicht wenig zur Förderung des Werkes bei.“
Das Haus steht jetzt fertig da; sein Aeußeres ziert die enge Gasse; im Innern aber ist da, wo man vorher über dunkle, gebrechliche, von dicker Luft erfüllte Treppen ging, jetzt möglichst Luft und Licht geschaffen, und durch helle Gänge tritt man in freundliche Wohnräume, in welchen man die Freude über die Veränderung auf den glücklichen Gesichtern der Bewohner lesen kann.
Um aber in dem renovirten Hause die Reinlichkeit dauernd zu erhalten, wurde eine besondere Hausordnung entworfen, deren strenge Handhabung der eingesetzte Verwalter – in diesem Falle ein Mitglied des Vereins – zu überwachen hat.
In dieser Hausordnung befindet sich auch eine segensreiche Einrichtung, die überall nachgeahmt zu werden verdient.
Man hielt es für nützlich, ja für nothwendig, daß von Familien, welche von kleinen täglichen oder wöchentlichen Einnahmen leben, die Miethe wöchentlich gezahlt werde, um die Leute nicht in Schulden gerathen zu lassen. An jedem Sonnabend Abend wird diese Miethe in dem Hause erhoben und in einem Büchlein quittirt, welches von dem Verein geliefert wird. Diese Erhebung findet in Darmstadt durch zwei Damen, die dem Verein angehören, statt, die bei ihren wöchentlichen Besuchen werthvolle Gelegenheit finden, heilsamen Einfluß auf die Familien der Armen auszuüben.
An der vollen und rechtzeitigen Zahlung der Miethe kann von den Erheberinnen nichts nachgelassen werden; in besonderen Nothfällen muß der Miether rechtzeitig die Hülfe des Vereins anrufen, sonst wird ihm die Wohnung sofort gekündigt.
So gewöhnen sich die Leute allmählich nicht nur an Ordnung, sondern auch an Pünktlichkeit in Erfüllung ihrer Verpflichtungen.
Aber – wird wohl mancher von den Lesern den Einwand erheben wollen – das ist Alles sehr schön, die beiden Menschenfreunde haben den Armen neu hergestellte Wohnungen geschenkt, das können nicht alle Hausbesitzer thun, nicht Jeder kann Geld ausgeben, ohne für diese Ausgabe einen Gewinn zu beanspruchen. Darauf können wir erwidern: die beiden ungenannten Menschenfreunde haben den Armen geholfen, aber sie haben ihnen nicht einen Pfennig geschenkt; sie hatten ihr Geld früher in Staatspapieren angelegt, jetzt steckt es in dem Hause, und es trägt ebenso gute Zinsen wie früher, nur haben die beiden Männer, von denen der eine das nöthige Geld vorgeschossen und der andere mit Sachkenntniß die Arbeit geleitet, mehr reine Freude an ihrem edlen Werke, als an dem Abschneiden der Coupons.
Wahrlich, das ist eine neue Art der Anlage des Capitals, die ihrem Erfinder zum Ruhme gereicht, sie stellt den Besitz in den Dienst der Besitzlosen, ohne irgend Jemand zu schädigen, sie hilft den schroffen Gegensatz zwischen Arm und Reich mildern; sie fördert im stillen Wirken die guten Sitten und die Wohlfahrt des Volkes kräftiger als tausend Zukunftsprogramme über die sociale Frage. Wir rufen laut hinaus in’s deutsche Land an Alle, die ein Herz haben für ihre armen Brüder und Schwestern:
Brausejahre.
Tief bewegt von dem Einblick, den die äußerlich immer frohe Thusnelda ihm in ihr Gemüthsleben gewährt, und voll inniger Theilnahme für ihre aussichtslose Neigung saß Goethe nachdenklich dem Herzog gegenüber und schaute wortlos in die webenden Schatten der Dämmerung.
„Trotz alles Scherzes und Gespöttes Thusneldens,“ sagte Karl August nach langer Pause, „ist mir’s doch unmöglich, nach solchem ergreifenden Ereigniß gleich wieder zur glatten Tagesordnung zurückzukehren. Mein Herz sehnt sich, mehr denn je, nach etwas Ungekanntem, nie Besessenem! Es ist ein Drang in mir, der mich an Deine Freundesbrust treibt und sich vielleicht in einem ernsten Gespräch mit Dir Genüge verschafft.“
„Darf ich als treuer Freund diesem Drange Richtung und Namen geben?“
„Nun?“
„Es ist nichts Neues, was ich Ihnen nenne, mein theurer gnädiger Herr, nur ein lieber, lange gekannter Name: Luise!“
„Luise?“ sprach Karl August sinnend, „mir ist, als hätte ich sie lange nicht gesehen. Sie lebt nur für ihr Kind und zieht sich jetzt ganz aus der Welt und Gesellschaft zurück. Seit ein paar Monaten ist sie in Belvedere, ich war nur selten da und nie allein mit ihr.“
„Und ist die Kleine Ihnen noch immer nichts?“
„Was willst Du? Ein rosenrothes Fröschlein, wie kann das einen Mann interessiren?“
„Sie müssen dem lieben kleinen Menschengeschöpf Zeit lassen, zu werden.“
„Ja, wenn es ein Sohn wäre! Jemand, für den man arbeitet, sorgt, der die eigenen Ideen und Pläne weiter führt!“
[809]
[810] „Ich denke, Sie können auch an einer Tochter Freude erleben, sie zu einem edlen, trefflichen Wesen erziehen, und der Sohn und Erbe kommt hoffentlich später.“
Nach einer Pause sagte der Herzog, indem er mit großen Schritten den engen Raum des Altans durchmaß:
„Denkt wohl, das stete Tröpfeln höhlt den Stein? Nun, einen Stein fühle ich hier in meiner linken Seite just nicht. Und Du magst Recht haben, daß den schmerzlichen Drang, mich nach all dem Herzbewegenden anzuschließen, ein Weib am besten stillen könnte. Sind es doch Weiber, von denen der Schmerz ausgeht. Erst die Lügnerin, die wiedererstandene Milli, und nun dies arme Wasserjüngferlein! Das war ein wunderbarer Tag! Also, Luise heißt die Summe Deines Trostes? Nach ihr sehen kann ich ja morgen.“
„Thun Sie das; und gebe Ihnen Gott eine glückliche Stunde!“
Seit der Geburt der kleinen Prinzessin war die Herzogin Luise weniger zurückhaltend; sie liebte es jetzt, mit anderen jungen Müttern über die Pflege und das Gedeihen kleiner Kinder zu reden, umgab sich nicht mehr so ängstlich abschließend mit ihren Hofdamen und hatte sich besonders in Freundschaft – so viel sie deren geben konnte und bedurfte – Frau von Stein angeschlossen. Sie correspondirte mit ihr, wenn sie nicht an demselben Orte waren, und sah sie oft bei sich.
Frau von Stein empfand von je her eine liebevolle Verehrung für die edle, sittenstrenge junge Fürstin und hatte es oft versucht, ihr näher zu treten. Sie ging daher jetzt mit Vergnügen auf die Artigkeiten Luisens ein und folgte am Morgen nach dem Todestage der armen Christel von Laßberg einer Aufforderung der Herzogin, sie zu besuchen.
Die beiden Damen saßen im Gesellschaftssalon an den offenen Flügelthüren, die auf Terrasse und Park hinausführten. Die Wiege der kleinen Prinzessin, welche jetzt sieben Monate alt war, stand zur Seite, und friedlich schlummerte das liebliche kleine Wesen in den weißen Kissen.
Frau von Stein erzählte ausführlich von den gestrigen Ereignissen, von denen nur unvollkommene Kenntniß in die Einsamkeit der hohen Frau gedrungen war.
Schwermüthigen Blicks lauschte diese dem Bericht der Vertrauten, die wohl wußte, daß Emilie von Werthern in der Herzogin ein ganz anderes und viel größeres Interesse wachrufen mußte, als die arme kleine Laßberg. So verweilte sie auch länger bei der Schilderung von Emiliens Rückkehr mit allen darauf bezüglichen Nebenumständen.
Die Herzogin hing ihren Gedanken nach und hörte endlich kaum noch auf das Geplauder der Freundin.
Also Milli, welche sie sich in dem nächsten Verhältniß zu ihrem Gatten gedacht hatte, ließ sich damals von einem andern Liebhaber entführen? Sie mußte diesem schon zu jener Zeit sehr nahe gestanden haben, da sie ihm freudig in die ungewisse Ferne folgte. Mit Beschämung fiel ihr die Stunde ein, in der sie voll eifersüchtigen Stolzes, in reizbarer Aufwallung jenen großen Riß zwischen sich und dem Herzog herbeiführte, der noch heute nicht ganz geschlossen war.
Wie oft hatte sie sich seitdem gesagt: die Möglichkeit einer rechten Liebe zu ihrem Gemahl sei mit Milli von Werthern im Erbbegräbniß zu Leitzkau eingesargt! Und nun war diese Milli erstanden, unter Umständen, die Karl August freisprachen! So hatte sie also, in ungerechtem Trotz und falschem Scheine folgend, drei Jahre lang ihr Herz dem verschlossen, der ein geheiligtes Recht auch auf ihre Liebe besaß! O, wie sollte sie diese Pflichtverletzung, dies traurige Mißverständniß wieder gut machen? Wie sollte sie ihren Gemahl von der für ihn aufwallenden warmen Empfindung überzeugen?
„Meine liebe Stein,“ sagte sie plötzlich, „hörten Sie vielleicht, wie der Herzog die Rückkehr der Werthern aufnahm?“
„Er schalt auf den Betrug, und mit Recht.“
„Ja, das ist’s! Wollte die Frau durchaus ihre Ehe lösen, so mußte sie es voll mutiger Offenheit und in loyaler Weise thun.“
„Die Scheidung soll jetzt, wie ich höre, eingeleitet werden, und Herr von Einsiedel bewirbt sich um eine Anstellung. Diesen Morgen lauteten auch leider die Nachrichten über den Zustand der trefflichen alten Frau von Werthern, die Milli jetzt pflegt, äußerst bedenklich.“
In diesem Augenblicke meldete der Lakai den Wagen der Frau Oberstallmeister.
Beide Damen erhoben sich. Luise war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um die Freundin noch zurückhalten zu mögen; sie schlug jedoch vor, man solle den schöneren und längeren Weg über die Terrasse und durch den Park nach dem vorderen Hofplatz wählen, wo der Wagen am Portal hielt.
Wenige Minuten, nachdem die Damen durch die Terrassenthür den Salon verlassen hatten, trat der Herzog, aus dem vordern Schloß kommend, in das leere Gemach.
Er hatte, als er vom Pferde stieg, mit Befriedigung gehört, daß Frau von Stein bei seiner Gemahlin sei: noch immer empfand er eine unbestimmte Scheu vor dem Alleinsein mit Luisen. Jetzt, da er Niemand im Zimmer fand, athmete er erleichtert auf.
Er hatte sich Goethe’s neue Erinnerung vielfach überlegt; die Liebeleien, welche sein Herz anderweitig gefesselt hatten, waren sämmtlich in Nichts verflogen. Milli, Gretchen und alle die Frauen und Mädchen, die seine Phantasie beschäftigten, denen er vorübergehend huldigte, ließen ihm keinen tieferen Eindruck zurück. Der Freund traf doch vielleicht die Wahrheit, wenn er sagte, daß Luise die Reizendste von allen sei. Vielleicht gelang es ihm auch, noch ihre Kälte zu besiegen und mit ihr sich zu einem unbefangen traulichen Bunde zu vereinigen, wie er es so lebhaft begehrte. Der Versuch dazu mußte noch einmal gemacht werden, hierin hatte Goethe Recht.
Als der Herzog sich in dem leeren Salon umsah, traf sein Blick auf die Wiege, in der sein Kind schlief. Er fühlte sein Herz lebhafter schlagen in einer plötzlichen und natürlichen Regung für dies kleine Geschöpf, an dem er bislang so wenig Theil genommen hatte. War es doch sein und zugleich ein natürliches Band zwischen ihm und Luise! Er schämte sich, ein so gleichgültiger Vater gewesen zu sein, und freute sich, daß er hier ganz unbeachtet der sich lebhaft regenden Herzensempfindung folgen konnte.
Er schlug die Umhänge des Bettchens zurück und neigte sich über das Kind. Aber das war ja kein röthliches Fröschlein mehr! Weiß, rund und reizvoll in jeder Form lag ein kleines Engelsbild vor ihm. Jetzt schlug es ein Paar lachende blaue Augen auf, hob das Köpfchen aus dem Kissen und griff nach seinen Wangen. Er beugte sich tiefer und bedeckte das zarte Gesicht mit vorsichtigen Küssen.
„Du liebes, süßes Geschöpf,“ murmelte er, „und ich wußte kaum von Dir und kümmerte mich nicht um Dich!“
Als er sich jetzt wieder empor richtete, streckte die Kleine ihre Arme höher nach ihm aus. Er hatte nie ein kleines Kind berührt, nun aber, als das hülflose Wesen ihn anlachte und allerlei drollige Laute plapperte, umfaßte er es, hob es heraus, drückte den weichen kleinen Körper innig an sich und erwiderte das wortlose Geplauder des Kindes auf seine Weise.
„Du beklagst Dich, armes Carolinchen,“ sagte er zärtlich, „daß Du solch einen schlechten Vater hast, der sich gar nicht um Dich kümmert, und Du bist doch ein so hübsches Prinzeßchen, wie man sich nur wünschen kann. Ja, ja, armes Ding, das soll nun besser werden, wir sind jetzt gute Freunde, Du bist mein Schätzchen, mein Herzenskind, und sollst es bleiben!“
Wer weiß, wie lange der junge Vater, dieser ersten liebevollen Regung folgend, sich noch der Unterhaltung mit seinem Kinde hingegeben, wenn nicht eine weiche, zitternde Frauenstimme dicht hinter ihm „Karl!“ gerufen hätte.
Er sah sich um, Luise stand da und sah ihn freundlich an.
Sorgsam legte er die Kleine wieder in ihre Wiege, dann trat er tief bewegt auf seine Frau zu:
„Vergieb mir,“ sagte er, ihre Hand ergreifend, „daß ich Euch Beide vernachlässigte. Wie das möglich war, weiß ich in diesem Augenblicke wirklich nicht zu sagen.“
„O, ich wollte ja Dich um Vergebung bitten! Eben bin ich mir bewußt geworden, daß ich Dir mit meiner Eifersucht auf Milli bitteres Unrecht gethan, daß ich in allen den Jahren ohne rechten Grund verschlossen und kalt gegen Dich gewesen bin.“
„Luise, liebes Weib! So sollen wir uns endlich wirklich angehören?“ rief er, sie beglückt in seine Arme schließend.
Inniger als es je geschehen, zärtlicher als in der ersten Zeit ihrer Ehe fanden sich ihre Lippen, umfaßten sie sich gegenseitig.
[811] Dann saßen sie Hand in Hand an der Wiege ihres Kindes und fingen nun an, wie ein Brautpaar, welches sich nach vielen Hindernissen vereinigt, ihre Herzen zu erschließen.
„Mich kennst Du,“ sagte Karl August in seiner schlichten, offenen Weise, „ich habe es nie verstanden, mich zu verstecken, mich besser zu machen, als ich bin; ich habe oft gefühlt, daß Dir meine Art mich zu geben nicht gut genug sei, vermochte meine Natur aber nicht auf den Kopf zu stellen.“
„Vergieb, wenn ich Dich je dergleichen fühlen ließ! Suche mich zu entschuldigen. Ich fühlte immer, daß wir uns nicht verstanden. Ich konnte Dir nichts sein, nichts mit Dir theilen, und das bedrückte mich unsäglich! Jetzt weiß ich, daß es Besseres giebt, als höfische Form, als Glanz und Gepränge –“
„Und das wäre, Luise?“
„Ein häusliches Glück, Dein Beifall, Deine Liebe.“
„Also wirklich? Du könntest schlicht und herzlich sein?“
„Ich möchte es lernen. Lange fürchtete ich, daß meine abgeschlossene Existenz auf Dich nicht wirken könne; in tiefer Verzweiflung grübelte ich über mich selbst. Zerstreuende Arbeit ist ja ein den Prinzessinnen gänzlich versagtes Glück, so saß ich und sank immer mehr in unthätige Schwermuth. Da schenkte Gott mir das Kind, unsern kleinen Engel! Mit Carolinchen fange ich neu an zu leben und hoffe nun auch Dich zu gewinnen; das ist ein Segen über mein Verdienst!“
„Du hast mich oft durch kühle Strenge von Dir entfernt, Luise; vielleicht konntest Du nicht anders? Dann wieder empfand ich auch Respect, weil Deine Individualität von einer besonderen Consequenz und Ueberzeugungstreue getragen wurde. Versuchen wir’s nun, wie weit wir Jeder dem Andern auf seinem Wege aus Liebe entgegen kommen können!“
Als der Herzog am andern Tage dem Freunde die gute Nachricht von der endlichen, wahren Vereinigung mit seinem Weibe brachte, als er sich einen glücklichen Gatten und Vater nannte und sich in hoher Gemüthserregung an Goethe’s Brust warf, feierte der Getreue mit ihm ein Fest der innigsten Genugthuung.
„Mag Luise kein aus den Wolken herab gesenktes Ideal sein,“ rief Karl August begeistert, „als welches ich sie oft ansah – Gott sei Dank, daß sie es nicht ist! Aber eines der herrlichsten Geschöpfe, wie diese Erde sie selten hervorbringt, aus der wir Alle entsprossen, das ist sie!“
In der nächsten Zeit hielt der Herzog sich unausgesetzt bei den Seinen in Belvedere auf und feierte jetzt recht eigentlich seine Flitterwochen.
Dann aber, im Spätherbste, glaubte er, daß seiner rastlosen Natur das häusliche Behagen dauernd nicht gesund sei. Er wollte nicht, daß die neue, süße Kost ihn übersättige, und so schlug er Goethen eine Reise vor.
Dieser ging mit Freuden auf den Plan ein. Konnte er doch nach einer neuerlichen leidenschaftlichen Unterredung mit Frau von Stein in kein ruhiges Geleise mit ihr kommen. Immer wieder brach sein erregtes Gefühl durch und wurde stets auf’s Neue von ihr zurückgewiesen; das gab ein seltsam verstörtes Zusammensein.
„Lassen Sie uns einen abenteuerlichen Zug in die Schweiz machen, lieber gnädiger Herr,“ bat Goethe. „Das Anschauen der großartigen Natur, ein Aufenthalt in dem mit Gottvertrauen und Herzenseinfalt gesegneten Lavater’schen Familienkreise wird uns wohlthun und einen reinen Natursinn in uns stärken. Gewiß wird eine neue Epoche Ihres und meines Lebens von diesem nothwendigen Abschnitt anfangen!“
„Ja, Du hast Recht, mein Wolf, ein solcher Abschluß mit der Vergangenheit ist gut! Neugeboren werden wir heimkehren,“ sagte der Herzog zustimmend.
Mit ernstem Sinnen entgegnete Goethe: „Die Zeit, welche ich seit dem November 1775 hier im Treiben der Welt zubringe, getraue ich noch nicht abschließend zu übersehen. Gott helfe weiter und gebe Licht, daß wir uns nicht selbst zu viel im Wege stehen, lasse uns vom Morgen zum Abend das Gehörige thun und gebe uns klare Begriffe von den Folgen der Dinge! Möge die Idee des Reinen immer lichter in uns werden!“
Es bleibt nicht viel hinzuzufügen, da die „Weimarschen Brausejahre“ mit der Schweizerreise, nach welcher der Herzog sowohl wie Goethe in ruhigere Bahnen lenkten, ihr Ende erreichten.
Das treue Freundesverhältniß zwischen Goethe und Karl August blieb ungetrübt bis an ihr Ende; auch die Herzogin Luise erkannte endlich in Goethe einen stets aufrichtig ergebenen Freund, dem sie später dankbar zugethan war. Die kleine am 3. Februar 1779 geborene Prinzessin starb 1784, im Jahre 1789 ward dem damals eng verbundenen Paare Ersatz zu Theil in einer andern Prinzessin, Caroline Luise – der Mutter der Herzogin Helene von Orleans –, welcher noch zwei Prinzen folgten.
Die Herzogin Amalie erhielt sich lange ihre lebensvolle Frische und blieb unzertrennlich von ihrer muntern Thusnelda.
Prinz Constantin, endgültig von seiner Jugendliebe getrennt, knüpfte auf seinen Reisen weit unpassendere Verbindungen an, die den Seinigen manche Verlegenheiten bereiteten, und starb jung.
Knebel vermählte sich später mit Luise Rudorf, der bescheidenen Sängerin, zog sich vom Hofe zurück und lebte glücklich mit ihr in ländlicher Stille.
Corona Schröter wagte es nie, sich zu vermählen; Einsiedel blieb ihr treuer Freund, doch zog sie später mit ihrer Wilhelmine nach Ilmenau. Von dem Grafen von Saint Germain hörte man die wunderbarsten Gerüchte; in Weimar ward er nie mehr gesehen.
Wedel heirathete bald nach der Schweizerreise die längst geliebte Henriette von Wöllwarth und wurde mit dem verständigen Mädchen äußerst glücklich.
Emilie von Werthern erlangte die Scheidung von ihrem Gemahl, beerbte ihre Schwiegermutter, die das alte Testament zu Emiliens Gunsten zufällig nie geändert hatte, und verband sich endlich legal mit Moritz von Einsiedel, der eine Wiederanstellung durchsetzte. Ihr gewesener Gemahl, der Rittmeister von Werthern, heirathete ein Fräulein von Ziegesar in zweiter Ehe.
Als die Altensteiner Höhle unweit Liebenstein und Barchfeld entdeckt wurde, wußte der Herzog Karl August, in welchen „Hörselberg“ Saint Germain ihn einst geführt hatte, und lachte jetzt herzlich über sein jugendliches Interesse an des Wundermannes Persönlichkeit. Stets rechnete er aber dies Abenteuer zu seinen ergötzlichsten Erinnerungen.
Vom Weihnachtsbüchermarkt.
Unter den Geschenken, welche dem Weihnachtstisch ein sinniges und höheres Gepräge verleihen, beansprucht das Buch eine große Bedeutung, denn keine Gabe vermag den offenen oder geheimen, zärtlichen oder ehrfurchtsvollen, freundschaftlichen oder conventionellen Beziehungen zwischen Geber und Empfänger beredteren und getreueren Ausdruck zu geben, als eben das Buch, von der Lyrik bis zum Specialwerk des Fachgelehrten. Und unser blühender Buchhandel sorgt dafür, daß allen diesen Ansprüchen in jeder Form und Weise Genüge geschehe.
So überreich ist aber die Fülle darin, daß wir nur einem geringen Theile der zu Weihnachten erschienenen Werke hier eine Besprechung widmen können. Wir haben deshalb eine Auswahl getroffen, die wir mit gutem Gewissen unseren Lesern zu Geschenken empfehlen können; mögen sie selber unter den hier angeführten Werken Umschau halten und sich das Passende aussuchen.
Die Pracht- und größeren illustrirten Werke, welche auf dem diesjährigen Weihnachtsbüchermarkte, sei es in erstmaligem Erscheinen, sei es in neuer Auflage sich präsentiren, beweisen wiederum, daß das Streben nach dem Schönsten und Besten, dem wirklich künstlerisch Vollendeten das ausschlaggebende Moment bei den meisten neueren Hervorbringungen auf diesem Gebiete ist.
Als eine der hervorragendsten, wenn nicht geradezu die hervorragendste Novität dieses Jahres möchten wir „Die Kunstschätze Italiens“, geschildert von C. von Lützow, mit zahlreichen Radirungen und Textillustrationen bedeutender Künstler (Verlag von J. Engelhorn in Stuttgart) bezeichnen. Die Fülle unvergänglicher, classischer Schönheit, welche in diesen durch Radirung und Holzschnitt trefflich wiedergegebenen Meisterwerken der Malerei, Plastik, Architektur geboten wird, zusammen mit den klar und übersichtlich gruppirten, ebenso instructiven als fesselnden textlichen Erläuterungen Lützow’s machen diese Kunstschätze Italiens in der That zu einem begehrenswerthen Schatze für jedes kunstsinnige deutsche Haus.
Einen hervorragenden Platz beansprucht ferner die Hinterlassenschaft eines Künstlers, der Tausenden unvergeßliche Stunden voll reinster Freude und Heiterkeit bereitet hat. Wir meinen die im Verlage von M. Hendschel [812] in Frankfurt am Main erschienene „Neue Folge der Blätter aus A. Hendschel’s Skizzenbuch“, enthaltend 50 Photographien nach bis jetzt noch nicht veröffentlichten Originalzeichnungen des verstorbenen Künstlers. Der köstliche Humor und die packende Lebenswahrheit, welche die bisher bekannten Zeichnungen des so früh dahin geschiedenen Meisters beleben, prägen sich auch in diesen Skizzen aus, von denen wir einige unseren Lesern darzubieten in der Lage sind.
Spiegelt sich hier die Gegenwart getreu wieder, so giebt eine andere Sammlung eine wohlgelungene Sitten- und Trachtenmalerei des 18. Jahrhunderts, wie sie nur der beste Schilderer jener Zeit, der bekannte und berühmte Maler und Kupferstecher Daniel Nicolaus Chodowiecki (geboren 1725 zu Danzig, gestorben 1801), in seinen feinen, anmuthigen und lebenswahren figürlichen Darstellungen zu bieten vermochte. Der Verlag von Mitscher und Röstell in Berlin veranstaltete eine „Auswahl aus des Künstlers schönsten Kupferstichen. 136 Stiche auf 30 Carton-Blättern, nach den zum Theil sehr seltenen Originalen in Lichtdruck ausgeführt von A. Frisch in Berlin“. Dem Kunstverständigen, dem Kenner und Liebhaber werden diese charakteristischen geistvollen Blätter, die von den Originalen des unübertroffenen Danziger Sitten- und Seelen-Malers in ihrer sorgfältigen und genauen Wiedergabe kaum zu unterscheiden sind, einen hohen und köstlichen Genuß gewähren.
Wenden wir uns aber nun den zeitgenössischen Künstlern und ihren Werken zu, so finden wir dieselben in einem mit erlesenem feinen Geschmacke ausgestatteten und auf hoher Stufe künstlerischer Vollendung stehenden Prachtbande vertreten, der aus dem Verlage von E. A. Seemann in Leipzig hervorgegangen ist und den Titel führt: „Moderne Kunst. Studien zur Kunstgeschichte der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Münchener, Berliner und Pariser Ausstellungen im Jahre 1883. Von Friz Bley. Mit Illustrationen in Holzschnitt, Radirung und Heliogravüre.“ In geistreichen Essays lenkt der Verfasser den Blick nicht nur auf die einzelnen Künstler und die Stellung, welche dieselben in der gesammten Culturbewegung ihrer Zeit und Nation einnehmen, sondern vermittelt auch das Erkennen tiefer liegender Erscheinungen und Fragen, die man zum Verständniß des modernen Kunstlebens erfassen muß. Die Schöpfungen der ersten Meister sind in vorzüglichen Wiedergaben vertreten.
In einem engeren Rahmen spiegelt sich das zeitgenössische Kunstleben in der „Münchener bunten Mappe“ wieder, „Originalbeiträgen Münchener Künstler und Schriftsteller, herausgegeben von Max Bernstein (Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vormals Fr. Bruckmann in München)“. Ein glänzendes Zeugniß für den regen und frischen Kunstsinn der bayerischen Residenz! Dichter wie Ganghofer, Greif, Heigel, Heyse, Lingg, Stieler und manche andere besten Namens haben hier einem Defregger, Diez, Grützner, Kaulbach, Lenbach, Mathias Schmid, Alexander Wagner und Anderen die Hand gereicht zu einem Bunde, dem ein eigenartiges und prächtiges Kunstwerk entsprungen ist, welchem es an Beifall nicht fehlen wird.
Unter den Prachtwerken historischen und culturhistorischen, länder- und völkerkundlichen Inhaltes müssen wir in erste Linie stellen das in J. G. Bach’s Verlag in Leipzig erschienene großartige Werk: „Die Kreuzzüge und die Cultur ihrer Zeit. Von Dr. Otto Henne am Rhyn. Prachtausgabe in Folio mit 100 ganzseitigen Illustrationen von Gustav Doré, verschiedenen ganzseitigen Illustrationen deutscher Künstler, und über 100 Text-Illustrationen.“ Eine wahrhaft imponirende Leistung, die hier Verleger, Künstler und Schriftsteller geben, von einer Gediegenheit in allen Darbietungen, die das höchste Lob und die weiteste Anerkennung verdient.
Warmer patriotischer Hauch durchzieht das von der Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft in München herausgegebene, reich illustrirte und würdig ausgestattete Werk: Die Hohenzollern und das deutsche Vaterland von Dr. R. Graf Stillfried Alcantara und Professor Dr. Bernhard Kugler. Illustrirt von den ersten deutschen Künstlern,“ von welchem nunmehr eine billigere Volksausgabe vorliegt. – Camphausen, Menzel, Thumann, Werner und andere unserer besten Meister haben bekanntlich den fesselnden und geistvoll behandelten Text illustrirt.
Von neuen geographischen Prachtwerken, einer Species, die sich heutzutage ganz besonderer Beliebtheit und Bevorzugung erfreut, sind in dem bekannten Verlage von Heinrich Schmidt und Carl Günther in Leipzig erschienen: „Neapel und seine Umgebung. Geschildert von Rudolph Kleinpaul. Mit 142 Illustrationen,“ und „Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung. Geschildert von Max Ring. Zwei Bände mit über 300 Illustrationen.“ Das erstere Werk zeichnet sich, wie alle Arbeiten Kleinpaul’s, des feinen, geistreichen Kenners und Beurtheilers italienischen Lebens, durch eine fesselnde, höchst interessante Darstellung aus, während Max Ring ein ebenso treues als gelungenes Bild der Hauptstadt des Deutschen Reiches und ihres Lebens und Treibens entwirft.
„Hermann Kaulbach’s Opern-Cyclus. Nach Original-Oelgemälden photographirt. Begleitender Text von Karl Stieler. Federzeichnungen von F. Kruse (Verlag von Karl Brack und Keller in Berlin)“, „Das Heimchen auf dem Herde. Eine Elfengeschichte von Charles Dickens, illustrirt von Conrad Beckmann (Verlag von Adolf Titze)“ und „Friz Reuter-Gallerie mit Bildern von Conrad Beckmann und Text von Karl Theodor Gaedertz (Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vormals Friedrich Bruckmann in München)“ mögen die Reihe der hier erwähnten Prachtwerke in Prosa beschließen. Hermann Kaulbach’s Schöpfungen sind bekannt und beliebt, sie bilden mit dem anmuthigen Text von Karl Stieler ein ansprechendes Buch, ebenso die prächtige Elfengeschichte Boz Dickens, während die Friz Reuter-Gallerie uns die lebenswarmen anheimelnden Figuren der Dichtungen [813] Reuter’s in einer Auffassung vor Augen führt, welche den dichterischen Gebilden eine durchaus entsprechende, sympathische Gestaltung zu verleihen scheint. So und nicht anders müssen Onkel Bräsig und Lining und Mining, die beiden herzigen Blondköpfe, dem Dichter vorgeschwebt haben; so und nicht anders kann man sich die von uns reproducirte Scene vorstellen, wie Hanne Nüte dem Bäckermeister, der dem lütten Pudel an den Kragen wollte, die rechten Wege – allerdings etwas handgreiflich weist; so und nicht anders müssen Dörchläuchting und die Schultsch sich gegenübergestanden haben: es ist wunderbar, wie hier überall der Humor des bildenden Künstlers den Empfindungen des Dichters sich anzuschmiegen und für sie den Dolmetsch zu machen verstanden hat.
Dasselbe vermögen wir auch von den weiter folgenden Prachtwerken zu sagen, deren Bilderschmuck sich mit poetischem Texte verbunden hat, wie bei dem „Deutschen Frauen-Album in Wort und Bild. Herausgegeben von Dr. Rudolf von Gottschall. Mit sieben Vollbildern von C. Karger, H. Kaulbach und sechs Vignetten von C. Karger und F. Stuck (Verlag von Gustav Hoefler in Leipzig).“ Das Kaulbach’sche Bild einer wunderbar lieblichen Mädchenknospe, von dem wir vorseitig eine Holzschnittnachbildung geben, ist von Ernst Scherenberg mit einem stimmungsvollen Gedichte von hoher poetischer Schönheit begleitet, und denselben Werth beanspruchen die übrigen für diese Anthologie von dem Herausgeber mit feinem Geschmack ausgewählten Dichtungen.
„Aennchen von Tharau. Ein Lied aus alter Zeit, von Franz Hirsch. Pracht-Ausgabe, illustrirt von Georg Knorr (Verlag von Carl Reißner in Leipzig)“ zeichnet sich durch die in vorzüglichem Lichtdrucke wiedergegebenen trefflichen Compositionen Knorr’s, des bekannten Königsberger Malers, sowie durch die elegante und würdige Ausstattung aus, welche der Verleger dieser ansprechenden Dichtung gegeben.
Die „Abenteuer und Schwänke. Alten Meistern nacherzählt von Rudolph Baumbach. Mit Holzschnitten nach Zeichnungen von Professor Mohn (Verlag von A. G. Liebeskind in Leipzig)“ werden in der meisterhaften Form, welche Baumbach denselben verliehen hat, und mit den vorzüglichen Illustrationen Mohn’s Jedem, der am altdeutschen derben, aber lustigen Leben Gefallen und Geschmack findet, sicher recht behagen, und die „Lustige Jagd. Fünfundzwanzig Zeichnungen von Hugo Engl mit Gedichten in oberbayerischer Mundart von Conrad Dreher (Verlag von Adolf Bonz und Comp. in Stuttgart)“ wird in den weitesten Kreisen sich Freunde werben bei ihrem ausgelassenen, echten Humor in Vers und Bild.
Dem Naturfreund bietet sich ein Genuß dar in dem reich ausgestatteten Verlagswerk der Arnoldischen Buchhandlung: „In der Blüthenzeit. Ein Liederstrauß mit neun Illustrationen in Farbendruck nach Aquarellen von Julius Hoeppner“, einem Buche, in dem heller Sonnenschein und köstlicher Blumenduft weben und wallen und das ein zartes Geschenk für junge Mädchen bildet. Denselben Cultus der Natur pflegt das in fast zu reichem Bilderschmuck prangende, im Verlage von Ferdinand Hirt u. Sohn in Leipzig erschienene Prachtwerk „Im Wechsel der Tage. Unsere Jahreszeiten im Schmuck von Kunst und Dichtung. Eine Auswahl aus den Werken unserer besten vaterländischen Dichter, herausgegeben von Adolf Brennecke. Mit zahlreichen Holzschnitten nach Zeichnungen hervorragender Künstler.“ Eine Anthologie, welche dem geschmackvollen und feinsinnigen Herausgeber Erfolg und Beifall sichert.
Ein besonderes Interesse unter den Prachtwerken des diesjährigen Weihnachts-Büchertisches wird bei Vielen das Werk einer gekrönten Dichterin, der Königin von Rumänien erregen: „Mein Rhein. Dichtungen von Carmen Sylva, illustrirt von E. Doepler dem Jüngeren nebst 20 landschaftlichen Radirungen unter Leitung von Hans Meyer ausgeführt von F. Krostewitz und R. Heinrich (Verlag von Adolf Titze in Leipzig)“. Ein an poetischen Schönheiten reiches Buch, dem die genannten Zeichnungen und Radirungen einen besonderen Werth verleihen und das in sangesfroher Begeisterung für den „Vater Rhein“ sich manchen Verehrer erwerben wird.
Wie wir diese Besprechung von Prachtwerken mit einer der classischen Kunst gewidmeten Erscheinung begannen, so wollen wir sie auch mit einer solchen schließen, mit der im Verlage von Braun u. Comp. in Dornach (Vertreter: Hugo Grosser in Leipzig) erschienenen „Dresdener Gallerie“, von welcher bis jetzt 3 Lieferungen von zusammen 120 Blatt (Photographien) vorliegen, ausschließlich Meisterwerke in meisterhafter
Weise reproducirt. Eine Extra-Ausgabe aus dieser Sammlung, Raffael’s sixtinische Madonna, welche in verschiedenen Größen, neuerdings sogar in der Größe des Originals, zu haben ist, wird man wohl mit Recht als eines der schönsten und kostbarsten Festgeschenke bezeichnen können. – r.
Wir gehen nun über zu dem Weihnachtsbüchertisch für die Jugend. So ein Weihnachtsbüchertisch für die liebe Jugend ist eine rechte Lust. Besonders im gegenwärtigen Jahre ist die Zahl der neu erschienenen Jugendbücher eine sehr große, und eines derselben tritt immer in verlockenderem Kleide auf, als das andere. Aber daß nicht Alles Gold ist, was da glänzt, lehrt schon ein altes Sprüchwort; und daß nicht Alles für die Jugend geeignet ist, was für sie dargeboten wird, kann nicht genug betont werden. Unter den älteren Büchern ist im Laufe der Zeit eine Scheidung schon vorgenommen; rathlos aber stehen zahlreiche Eltern den Novitäten gegenüber: diese zu sichten und den Rathsuchenden einen Wegweiser zu bieten, soll deshalb unsere Aufgabe sein. Möge neben dem guten Neuen freilich auch des bewährten Alten nicht vergessen werden! Für unsere ganz Kleinen bringt der Weihnachtsmann zwei Bücher, die nicht nur hübsche Bilder und sinnige Sprüchlein enthalten, sondern die auch besonders dauerhaft ausgestattet sind: „ABC“ und „Bilderbuch“ (Eßlingen, Schreiber), beide auf Leinwand und mit Lackanstrich. (Da derselbe Verleger eine ganze Reihe von Bilderbüchern herausgegeben hat, ist es nöthig, bei dem ersten die Nr. 6, bei dem letzteren die Nr. 25 anzugeben.) Auch das „Unzerreißbare Märchenbuch für die ganz Kleinen“ (Stuttgart, F. Loewe’s Verlag) mit 12 Farbendruck-Bildern von C. Offterdinger und das „Goldene Schatzkästlein für kleine Kinder“ (Eßlingen, Schreiber) sind in Rücksicht auf die oft etwas unzarte Behandlung seitens der kleinen Eigenthümer sehr dauerhaft (auf starkem Carton) hergestellt und dürften sich so, gleich den beiden ersten, ziemlich widerstandsfähig erweisen.
Ganz besonders reich ist der diesjährige Weihnachtsmarkt an Märchenbüchern und Büchern mit verwandtem Inhalt für das Jugendalter von 6 bis 9 Jahren. Hierher gehören die mit prächtigen Farbendruckbildern von Offterdinger, Flinzer und Anderen geschmückten und von Luise Pichler textlich bearbeiteten Märchenbücher „Feen in den Lüften“, „Silberflocken“, „Lustiger Klingklang“, „Märchenpracht und Fabelscherz“ und „Gnomen und Riesen“ (Stuttgart, W. Nitschke), sowie ferner „In’s Zauberland“ von Franz Kamberg und „Deutsche Kindermärchen“, Verlag von W. Effenberger (F. Löwe) in Stuttgart. Alle diese Bücher werden bei den leselustigen Kleinen, Knaben wie Mädchen, freudigen Anklang finden. Gute neue Märchen in Andersen’scher Manier bieten die „Erträumten Märchen“, erzählt und illustrirt von Marie Beeg, verlegt von E. Twietmeyer in Leipzig.
Eine bunte Reihe von kinderfreundlichen Schriftstellern und Künstlern ist es, die ihre Stoffe direct dem Leben des Kindes entnommen hat und nun ihre reizenden Gaben den Lieblingen darbietet. Vor Allem gehört hierher das liebliche „Aus der Kinderwelt“ (Stuttgart, Gebrüder Kröner) mit seinen classischen Kindergeschichten von der trefflichen Ottilie Wildermuth, vorzüglich illustrirt von E. Kepler, E. Klimsch und Oscar Pletsch. Aber auch „Hans und Käthchen, ein neues Buch für Knaben und Mädchen“ von M. Hilscher (Dresden, C. Schwager), „Im Sonnenschein“ von W. Claudius und Joh. Trojan, „Wie’s am Tage geht“ von W. Claudius und Julius Lohmeyer (Dresden, Meinhold und Söhne), „Was in der Sonne lebt“ von C. Goddard (Stuttgart, G. Weise), „Lust und Leid der Kinderzeit“ und „Die Kinderstube zur Dämmerstunde“ von M. Beeg (Stuttgart, W. Nitschke) sind mit ebenso hübschen Bildern ausgestattet, als mit lebendigen, kindlich-schlichten Versen versehen, die der kleine Leser gern auswendig lernen wird. Unter dem Titel „Willkommen!“ bringt Theo. Stroefer’s bekannter Kunstverlag in München ein „neues Malbuch für das kleine Volk“, will sagen: ein Buch mit schwarzen Bildern, die das Kind – wenn es die nöthige Ruhe besitzt – selbst zu coloriren vermag. Ein eleganter Carton mit der Aufschrift „Bibliothek für die Kleinen“ (aus demselben Verlag) birgt in seinem Innern vier reizende Bändchen auf einmal, deren Texte [814] und Illustrationen in verschiedenen Farben (roth, grün, blau und braun) gedruckt und so sorgfältig ausgeführt sind, daß sie nicht nur die im Titel genannten, sondern auch die „großen“ Leser fesseln werden. Ein weiteres empfehlenswerthes Buch ist „Aennchens Badereise nach Frankenhausen“ von M. Lahneck (Halle, J. Fricke). Dasselbe ist zum Besten der Kinderheilanstalt in Frankenhausen in Thüringen herausgegeben und verdient sowohl seines guten Zweckes wie des wirklich lobenswerthen Inhalts wegen eine hervorragende Beachtung.
Gesondert anführen möchten wir zwei speciell auf Weihnacht bezügliche Geschenkbücher: „Das Weihnachtsbuch“ von Heinrich Adami (Stuttgart, W. Nitschke) und „Christkind“ von Paul Mohn (Berlin, Georg Stilke). Beide wählten die Geburt Christi zum Gegenstand ihrer Darstellungen, und beide sind empfehlenswerth – in erster Reihe jedoch das ausgezeichnete Buch V. P. Mohn’s. Der treffliche Künstler führt den Kindern die Kindheit Christi in ihren Hauptmomenten so vor, wie sie dem deutschen Gemüth am nächsten liegt; alles, was an eine besondere confessionelle Auffassung erinnern könnte, ist vermieden, so daß jede christliche Familie sich an diesen Blättern in gleicher Weise erfreuen kann. Alle, welche die früher erschienenen „Kinder-Lieder und Reime“ Mohn’s kennen zu lernen Gelegenheit hatten, werden auch das „Christkind“ dieses echten Künstlers mit aufrichtiger Freude willkommen heißen.
Unser Schatz an Erzählungen für das erste Kindesalter von 6 bis 9 Jahren ist wenig reich. Doch hat der diesjährige Weihnachtsmarkt uns zu den empfehlenswerthen „Kleinkindergeschichten“ von Franz Wiedemann (Dresden, Meinhold u. Söhne) zwei neue Bücher gebracht, die warmer Anerkennung werth sind. Das eine: „Für’s Kind“, Geschichten von Dietrich Theden (Leipzig, E. Twietmeyer) enthält 14 kleine märchenhafte Erzählungen, die dem Kinde leicht verständlich sind und sicher gern von ihm gelesen werden; das andere: „Eine kleine Musterwirthschaft“ von Emma Biller (Stuttgart, Jul. Hoffmann) ist eine größere Erzählung, die sich in guter Darstellung mit allerlei kleinen Erlebnissen aus der Kinderwelt beschäftigt. Vorzügliche Ausstattung ist ein Schmuck, der beiden Büchern gemeinsam ist.
In der glücklichsten Lage befindet sich in Rücksicht auf die Reichhaltigkeit ihres Weihnachtsmarktes die reifere Jugend. Diese ist geradezu mit allem bedacht, was sie sich nur wünschen kann. Ja, kennten die Schelme alle die ihnen zugedachten Herrlichkeiten, so würden die bekannten „Wunschzettel“ sich gewiß recht oft als „zu klein“ erweisen. Da ist zunächst das prächtige Buch: „Der Wunderborn“, eine Sammlung der schönsten Märchen und Sagen aus deutschen Gauen von Karl Seifart (Stuttgart, Gebrüder Kröner), ein Buch mit zahlreichen echt künstlerischen Illustrationen des unvergeßlichen Eugen Neureuther, welches in jedem deutschen Hause Eingang zu finden verdient und gewiß auch überall, wo es denselben einmal gefunden hat, als ein guter Hausfreund hochgeschätzt werden wird. Da ist ferner der „Elfenreigen“ von Villamaria (Leipzig, Otto Spamer) mit seinen deutschen und nordischen Märchen, von dem Verfasser vorzugsweise der deutschen Mädchenwelt gewidmet; da sind auch „die schönsten Parabeln und Legenden des Morgen- und Abendlandes“ von Hermann Mehl (aus dems. Verlag) – gewiß der Fundgruben genug für anregende Unterhaltung und Belehrung. Ja auch die „Orientalische Märchenwelt“ (ebenda) von C. Michael, der geschätzten Mitarbeiterin der „Gartenlaube“, kann in den Dienst der gereifteren Jugend gezogen werden, wenn einer ihrer erwachsenen Freunde sich die gebotenen Stoffe zu fesselnder Erzählung anzueignen versteht.
Lebendige Erzählungen aus dem täglichen Leben bietet Isabella Braun unter dem Titel: „Aus meiner Jugendzeit“ (Eßlingen, J. F. Schreiber), drei Bändchen; ferner Emma Laddey in „Feenhände“, Hedwig Pohl in „Brauseköpfchen“ (Stuttgart, E. Hänselmann) und O. Schwahn in „Tante Lottchen und ihr Hofstaat“ (Berlin, Winckelmann u. Söhne), diese lezteren jedoch vorzugsweise für Mädchen geeignet. Die im Verlage von Fr. Andr. Perthes in Gotha erscheinende „Sammlung von Kindergeschichten“, herausgegeben von dem bewährten Jugendschriftsteller G. Chr. Dieffenbach, ist um mehrere Bändchen bereichert, von denen wir die „Kleinen Geschichten“ von Aurelie, „Aus der Kinderwelt“ von L. Fehr, „Zwei Erzählungen“ von M. Dieffenbach und in „Waldheim“ von L. Schneider besonders nennen. Auch die „Gebrüder Saus und Braus in Hüll und Füll“ von C. A. Becker (Leipzig, O. Spamer) und „Kleine Schelme“ von Alice (Leipzig, G. Brauns) seien angeführt. Besondere Beachtung verdienen als passende Geschenkbücher für Knaben und Mädchen im Alter von etwa 10 bis 14 Jahren: „Im Wintermond“, culturgeschichtliche Märchen und Erzählungen von Stefanie Keyser, „Aus goldner Zeit“, Erzählungen von Julie Ludwig, und „Weihnachtsgrüße“, Erzählungen und Märchen von Amélie Godin (Stuttgart, Gebrüder Kröner), drei Erscheinungen der Weihnachtsliteratur von dauerndem Werthe mit künstlerischen Illustrationen und einem geschmackvollen Aeußern. Amélie Godin ist eine ebenso bekannte und bewährte Jugendschriftstellerin als geschätzte Novellistin, Stefanie Keyser, die rasch beliebt gewordene Erzählerin der „Gartenlaube“, führt sich mit dem „Wintermond“ auch als Jugendschriftstellerin auf das Glücklichste ein, und Julie Ludwig ist als Mitarbeiterin an Lohmeyer’s, „Deutscher Jugend“ längst geschätzt als eine unserer feinfühligsten Jugendschriftstellerinnen.
An geschichtlichen Erzählungen, denen von vielen Lehrern und Freunden der Jugend vor andern das Wort geredet wird, ist auch in diesem Jahre kein Mangel, und die nachfolgend angeführten, zu deren Verständniß ein vorgeschrittenes Alter erforderlich ist, sind entschiedene Bereicherungen unserer Jugendliteratur. Die weibliche Jugend wird bei dieser Gattung von Erzählungen etwas kärglich bedacht; vorzugsweise für sie geeignet ist nur Brigitte Augusti’s „Edelfalk und Waldvöglein“ (Leipzig, F. Hirt und Sohn), eine culturgeschichtliche Erzählung aus dem 13. Jahrhundert, die den Zweck hat und auch erfüllt, dem jungen Mädchen das Frauenleben der genannten Zeit vorzuführen. Das Buch bildet den selbstständigen Anfang einer Serie, deren weitere Bände ebenfalls der Darstellung des Frauenlebens gewidmet sein sollen und denen im Interesse unserer weiblichen Jugend ein gedeihliches Fortschreiten nur zu wünschen ist. „Die Helden der deutschen Wanderzeit“ von L. Pichler (Eßlingen, Schreiber) bieten anziehende Erzählungen aus der Geschichte der Völkerwanderung: „Der Retter in der Noth“ von derselben Verfasserin (Stuttgart, E. Hänselmann) spielt im Anfang dieses Jahrhunderts; in seinem Buche „Unter dem Joche der Casaren“ (Leipzig, Hirt und Sohn) schildert Oscar Höcker die Zeit des Kaisers Hadrian und in „Durch Kampf zum Frieden“ (ebenda) diejenige der Christenverfolgung unter Diocletian und der friedlichen Verbreitung des Christenthums unter Constantin. „Wulfhilde“ (Leipzig, O. Spamer), eine fesselnde Erzählung von Adolf Glaser, spielt in der bewegten Zeit der Hohenstaufen, „Schlitzwang“, von demselben Verfasser, zur Zeit Karl’s des Großen. Unter dem Titel „Kämpfe und Helden“ von Fedor von Köppen (Kreuznach, R. Voigtländer) finden wir Erzählungen aus der gesammten deutschen Geschichte, während Wilhelm Osterwald in „Sang und Sage“ wieder sein Gebiet begrenzt und sich der deutschen Vorzeit zuwendet. Ebenfalls begrenzte Gebiete behandeln Hermann Jahncke und Ferdinand Schmidt, ersterer in „Up ewig ungedeelt“ (Breslau, Woywod) die Befreiungskämpfe in Schleswig-Holstein, letzterer in seinen „Bildern aus den Befreiungskriegen“ (Düsseldorf, Bagel) die Jahre 1813 bis 1815. „Unser Kronprinz in Spanien und im Morgenlande“ von G. Stein (Berlin, Walther und Apolant) schildert in anziehender Weise die bekannte Reise des deutschen Kronprinzen. [815] Mit einem vorzüglichen Buche beschenkte M. Barack die Jugend. Dasselbe führt den Titel „Die deutschen Kaiser“ (Stuttgart, Julius Hoffmann) und bietet auf 29 Tafeln die in schönem Farbendruck ausgeführten Portraits der sämmtlichen deutschen Kaiser.
Nicht minderes Lob verdienen auch die aus dem Hoffmann’schen Verlage hervorgegangene Erzählung „Erich Randal“ von Otto Hoffmann, eine Geschichte aus der Zeit der Eroberung Finnlands durch die Russen, „Vom Stamme der Inkas“ von Rudolf Scipio (Stuttgart, E. Hänselmann) und „Tambour und General“ von Karl Oppel (Leipzig, O. Spamer), letztere beide mit Liebe geschriebene Erzählungen aus der gewaltigen Geschichte des amerikanischen Freiheitskrieges. Ausschließlich mit der Gegenwart beschäftigt sich „Unter der Kriegsflagge des deutschen Reichs“ von P. G. Heims (Leipzig, Hirt und Sohn), ein Buch, das gereiftere Knaben auf das Lebhafteste anziehen wird.
Ebenfalls besonders für Knaben geeignet sind einige ethnographische Werke: A. W. Grube’s „Thier- und Jagdgeschichten“ (Kreuznach, R. Voigtländer) und J. H. O. Kern’s „Bei Freund und Feind in allen Zonen“, 3. Band (Stuttgart, Rieger’sche Verlagshandlung). Der verstorbene A. W. Grube war ein so hervorragender Jugendschriftsteller, daß sein Buch einer besonderen Empfehlung nicht mehr bedarf, und Kern hat sich durch die beiden ersten Bände seiner Zonenbilder so gut eingeführt, daß es genügt, auf das Erscheinen des dritten: „Der Flüchtling im Gran Chaco“ kurz hinzuweisen. Die „Landschaftlichen Charakterbilder der hervorragendsten Gegenden der Erde“ von J. W. Otto Richter (Leipzig, O. Spamer) bilden eine wesentliche Ergänzung zu den bekannten geographischen Charakterbildern von Grube und werden deshalb bald Eingang finden.
„Donauhort“, Geschichten aus alter und neuer Zeit von Ferdinand Zöhrer, „Oesterreichisches Sagen- und Märchenbuch“ von demselben und „Von der Adria und aus den Schwarzen Bergen“ von K. von Zdekauer (Teschen, Karl Prochaska) sind specifisch österreichische Jugendschriften, die aber werthvoll genug sind, um auch anderswo gelesen zu werden.
Eines vorzüglichen Jahrbuches für die deutsche Jugend, des Wildermuth’schen „Jugendgartens“, haben wir bereits in Nr. 45 der „Gartenlaube“ gedacht. Weisen wir heute noch auf „Das neue Universum“ (Stuttgart, W. Spemann) und die „Deutsche Jugend“ von Julius Lohmeyer (Leipzig, Alphons Dürr) hin, so haben wir auch nach dieser Richtung hin berechtigten Ansprüchen Genüge gethan. Von dem „Neuen Universum“ liegt der 5. Band vor, die „Deutsche Jugend“ beendet mit diesem Jahre ihren 25. Band. Wünschen wir derselben in glücklicher Weiterentwickelung zunächst auch das Jubiläum des 50. Bandes! Ihr künstlerischer Leiter ist bekanntlich Professor Oscar Pletsch.
Einen eigenartigen Zweig unserer Jugendliteratur bilden die Schriften für das sogenannte „Backfischalter“, deren Berechtigung ebenso oft bestritten wie vertheidigt wird. Es fehlt uns für die Darlegung unserer diesbezüglichen Ansichten der nöthige Raum; durch Empfehlung einer Reihe einschlägiger Novitäten wollen wir uns jedoch als Verfechter dieser Literatur, die in der That gute Blüthen getrieben hat, bekennen. Neben den guten Schriften „Schule und Leben“ und „Wollt ihrs hören?“ von Adelheid Wildermuth, sowie „Daheim und Draußen“ von Marie Calm (Stuttgart, C. Krabbe), „Der Trotzkopf“ von Emmy von Rhoden (Stuttgart, G. Weise), „Verloren und gefunden“ von Olga Eschenbach und „Lebenswege“ von T. von Heinz (Berlin, Winckelmann und Söhne) möchten wir noch besonders auf das neueste Buch der trefflichen Jugendschriftstellerin Johanna Spyri: „Sina“ (Stuttgart, C. Krabbe) aufmerksam gemacht haben.
An guten Gedichtsammlungen, bei deren Herausgabe eine besondere Rücksicht auf die Jugend obwaltete, giebt es verschiedene ältere, die in neuen Auflagen vorliegen und in Erinnerung gebracht zu werden verdienen: Colshorn, „Des Mädchens Wunderhorn“ und „Des Knaben Wunderhorn“, sowie G. Emil Barthel, „Des Mägdleins Dichterwald“ (Halle, Gesenius) und Echtermeyer, „Deutsche Gedichte“ (Halle, Waisenhaus).
Marie Beeg’s „Gedenkbuch für junge Mädchen“ (Stuttgart, W. Nitschke) ist ein elegant ausgestattetes Tagebuch, welches zahlreiche Illustrationen und mit Sprüchen geschmückte weiße Blätter für jeden Tag des Jahres enthält; ebenso auch das minder kostspielige „Kleine Tagebuch“ von Julius Höppner (Leipzig, E. Zehl).
Nun noch ein Wort!
Wir können unsere Rundschau nicht schließen, ohne noch nachdrücklich auf ein Unternehmen hingewiesen zu haben, das die rückhaltslose Anerkennung aller wahren Freunde und Berather unserer Jugend verdient: die „Universalbibliothek für die Jugend“ von Gebrüder Kröner in Stuttgart. Die bis jetzt vorhandenen zahlreichen Bändchen der Bibliothek sind auf das Vorzüglichste ausgestattet, ihre textliche Bearbeitung wurde nur den bewährtesten Jugendschriftstellern und Pädagogen anvertraut, und die illustrative Ausschmückung derselben ist auf das Sorgfältigste überwacht. Nach dem Grundsatze, daß für die Jugend nur das Beste gerade gut genug, haben die Herausgeber alles Mittelmäßige und das, was noch darunter, ferngehalten, das Gute aber in glücklicher Wahl herangezogen. Die besten Jugendschriftsteller der Gegenwart lieferten Beiträge, wie dies die Namen von Mitarbeitern wie Victor Blüthgen, Luise Pichler, Oscar Höcker, Rich. Roth, C. Michael, Isab. Braun, Franz Bonn, O. Wildermuth, Gustav Plieninger etc. schon zur Genüge darthun, neben denen aber auch die schönsten Erzählungen und Märchen der verdientesten älteren Schriftsteller wie Jacobs, Weisse, Gellert, Pfeffel, Campe, Musäus etc. in zeitgemäßen Neubearbeitungen der Bibliothek einverleibt wurden. Ein überaus billiger Preis erleichtert die Beschaffung einzelner Bände oder der ganzen Bibliothek noch ungemein, sodaß die Sammlung besonders auch für Schul-, Orts- und Armenbibliotheken dringend zu empfehlen ist. Als Geschenk, als Schulprämie etc. wird jeder der in rothen Callico mit Schwarz und Goldprägung gebundenen Bände der „Universalbibliothek“ stets bewillkommnet werden. — th.
Hamlet und die Schauspieler. (Mit Illustration S. 800 und 801.)
„Ist’s nicht erstaunlich, daß der Spieler hier
Bei einer bloßen Dichtung, einem Traum
Der Leidenschaft, vermochte seine Seele
Nach eignen Vorstellungen so zu zwingen,
Daß sein Gesicht von ihrer Regung blaßte,
Sein Auge naß, Bestürzung in den Mienen,
Gebroch’ne Stimm’, und seine ganze Haltung
Gefügt nach seinem Sinn ...“
Mit diesen Worten schildert Hamlet in dem Monolog (Act 2, Scene 2) das Auftreten des Schauspielers, der auf sein Verlangen ihm kurz vorher aus Aeneas’ Bericht an Dido diejenige Stelle recitirte, wo er von der Ermordung des Priamus spricht. Diese allgemein bekannte Scene giebt unsere Illustration in trefflicher Weise wieder, und wenn wir nicht irren, wollte der Maler denjenigen Augenblick fixiren, in welchem der Schauspieler das Leid der Hekuba schildert. Außer Hamlet und der Gruppe der Schauspieler sehen wir auf dem Bilde noch den alten Polonius, dem die ganze Geschichte „zu lang ist“ und der an der „schlotterichten Königin“ seine Freude hat, und links neben Hamlet die beiden traurigen Gestalten von Rosenkranz und Güldenstern.
Kampf zwischen zwei angeschossenen Keilern wahrend eines Jagens in der Göhrde. (Mit Illustration S. 809.) Bei Gelegenheit der im December 1883 in der Göhrde abgehaltenen Hofjagd ereignete sich gleich zu Anfang des Saujagens ein höchst interessantes, allerdings nur wenige Augenblicke dauerndes Schauspiel. Das Horn des Rüdemanns verkündete soeben die Eröffnung der Jagd, als gleich darauf die leichte Avantgarde des Schwarzwildes in Form einer Anzahl von Ueberläufern und Frischlingen über den Laufplatz stürmte. Die Mehrzahl der raschen Flüchtlinge erreichte das tödliche Blei vor dem Jagdschirm des Kaisers, und radschlagend wie Hasen im Treibjagen stürzten sie verendend in der hohen Haide nieder. Nach kurzer Pause erscholl abermals Hörnerklang, und begleitet vom lauten Ho, Rudoh und dem betäubenden Lärm der Hunde tauchten aus der dämmernden Tiefe des Nadelwaldes die mächtigen Gestalten zweier „groben Sauen“ auf. Näher und näher kamen die beiden grimmen Bestien in wilder Flucht – die Bürzel hoch gehoben und die Köpfe tief herabgesenkt, stürmten sie trotzig schnaubend und pustend ob der unliebsamen Störung kurz hinter einander auf der verhängnißvollen Bahn des Laufplatzes heran – da krachten kurz auf einander zwei Schüsse aus dem Kaiserstande und im selben Moment stürzte zunächst der erste Keiler wie vom Blitz gerührt nieder, während unmittelbar darauf sein Gefährte sich plötzlich niederließ und, augenscheinlich am Hintertheil gelähmt, in sitzender Stellung verharrte. Im nächsten Augenblick erwachte der vordere Keiler aus seiner Betäubung, raffte sich auf und machte kurz kehrt, um dies gefährliche Terrain schleunigst zu verlassen. Aber schon beim ersten oder zweiten Sprunge rannte er unverhofft mit seinem hinter ihm sitzenden Gefährten zusammen.
Sofort entspann sich ein wüthender Kampf zwischen den Beiden – in blinder Wuth schleuderten die ergrimmten Keiler die schweren Köpfe mit den scharfen weißen Gewehren rechts und links gegen einander, augenscheinlich glaubte jeder der Beiden von seinem treulosen Gefährten verletzt und an der Flucht verhindert zu sein. Unter zornigem Schnaufen und Prusten schoben und drängten sie sich auf kurzem Raume hin und her bis eben nach wenigen Augenblicken zwei weitere Schüsse aus dem Kaiserstande dem sonderbaren Zweikampfe ein plötzliches Ende bereiteten.
Als der Pulverdampf sich verzogen, sah man die ritterlichen Kämpen lang ausgestreckt in der hohen, braunen Haide regungslos und friedlich neben einander liegen! L. B.
Christbaumhalter mit Spielwerk. Mit einem originellen und hübschen Christbaumhalter ist die Firma J. C. Eckhardt in Stuttgart in diesem Jahre auf dem Weihnachtsmarkt erschienen. Auf einem runden nickelplattirten Kasten ist eine Vorrichtung zum Befestigen des Weihnachtsbaumes
[816] und in dem Kasten selbst ein Spielwerk angebracht, welches die beiden beliebtesten Weihnachtsmelodien „O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit“ und „Stille Nacht, heilige Nacht“ spielt, während der Baum sich langsam dreht. Der Christbaumhalter kann Bäumchen bis zu sechszig Pfund Gewicht tragen und seine Musik dürfte nicht allein den Kindern Ueberraschung, sondern auch älteren Leuten Freude bereiten. – – i.
Bock’s „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ erscheint in neuer Subscriptionsausgabe, welche alle vierzehn Tage eine Lieferung zum Preise von 75 Pfennig darbietet – eine bequeme Anschaffungsweise, die auch dem Minderbemittelten gestattet, dieses vortreffliche und bei richtiger Benützung so segenbringende Hausbuch sich zu kaufen. Die neue Auflage ist von Dr. med. M. J. Zimmermann erweitert und – entsprechend den Fortschritten der Wissenschaft – vielfach überarbeitet.
Adolf Neumann, der durch so viele treffliche Portraits die früheren Jahrgänge der „Gartenlaube“ bereichert hat. ist am 20. November in Leipzig gestorben. Seine Biographie brachten wir im Jahrgang 1876, S. 331. ein treues Andenken bleibt ihm in den Herzen unserer Leser gesichert.
Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 47: Deines Herzens Grund mach’ Niemand kund.
Kleiner Briefkasten.
L. R. in M. „Aus dem Leben meiner alten Freundin“ von W. Heimburg können Sie durch jede Buchhandlung beziehen. Einen kurzen Beitrag aus der Feder der geschätzten Mitarbeiterin bringen wir schon in nächster Nummer, eine längere Erzählung im nächsten Jahhre.
V. G. in H. Das von uns im vorigen Jahre als Weihnachtsgeschenk für die Jugend empfohlene billige Universal-Taschenmikroskop von Paul Wächter in Berlin (Köpnickerstraße 115) ist in neuester Zeit noch verbessert worden, sodaß auch die Reinigung der inneren Gläser möglich ist. Auch Mikroskope älterer Construction, die auf Grund unserer Empfehlung gekauft wurden, werden übrigens von der Firma gegen geringe Vergütung mit der neuen Vorrichtung versehen.
Treu bis zum Tod.[5]
Der Bahnzug rasselt auf eisernem Strang
Dahin durch die herbstlichen Felder,
Er rasselt die schweigenden Thäler entlang
Und jagt durch die ragenden Wälder.
Es zittert die Brücke, es zittert der Steg,
Der Zug fliegt donnernd darüber hinweg,
Er fliegt über Brücken und Bogen,
Von qualmendem Rauche umzogen!
Das rasselt, das gleitet so herrlich dahin –
Die Höhen, die Thürme, die Bäume,
Sie huschen so flüchtig vorüber dem Sinn
Wie flatternde, neckende Träume.
Vorüber die Berge, vorüber die Höh’n!
Wie schön ist doch heute das Reisen – wie schön,
Sich behaglich im Polster zu wiegen
Und dabei durch die Länder zu fliegen!
Zur Rechten, zur Linken, bei Tag und bei Nacht,
Die nervige Faust an den Weichen,
Reiht Mann sich an Mann zur besonnenen Wacht
Und lauschet auf jegliches Zeichen.
Das Leben von Allen, die also durchs Land
Hinsausen, sein ist es, er hat’s in der Hand,
So oft auf den Schienen die Wagen
Vorbei ihm, die donnernden, jagen.
Er wohnt im niedrigsten, ärmlichen Haus
Und klebt an der dürftigen Scholle;
Die Andern, sie jagen 1n’s Weite hinaus
Und stürmen in’s Leben, in’s volle.
Vorüber die Berge, vorüber die Höh’n!
Wie schön ist doch heute das Reisen – wie schön,
Sich behaglich im Polster zu wiegen
Und dabei durch die Länder zu fliegen!
Der Bahnzug rasselt. Den Fels und die Fluth
Durchbricht er mit dröhnendem Schalle.
Das Feuer geschürt, daß die sprühende Gluth
Der qualmenden Esse entwalle!
So sauste der Drache, voll Gier auf das Mahl,
Mit feurigen Nüstern einst wild durch das Thal,
Entfauchend versengende Hauche,
Mit rasselnden Schuppen am Bauche.
Und immer noch jagt wie im Sturme der Zug
Das Land hin, Meilen um Meilen,
An Hütten und Häusern vorüber im Flug,
Vorbei ohne Rast und Verweilen.
Und siehe, jetzt steigt aus dem dunstigen Flor
Der Ferne das Ziel schon, die Stadt schon empor,
Und klarer stets hebt sich und freier
Ihr Bild aus dem rauchigen Schleier.
Und hastend erhebt sich der Reisenden Troß,
Man eilt, nach der Habe zu greifen,
Zieht straffer den Riemen, sieht prüfend zum Schloß,
Knüpft fester den Mantel, die Schleifen.
Vorüber die Berge, vorüber die Höh’n!
Wie schön ist doch heute das Reisen, wie schön!
Nur Geduld noch die winzige Strecke!
Die Curve noch, hier noch die Ecke!
Und also zum Schluß! Schon klappert und fällt
Da, dort ein Fenster hernieder –
Da rasselt die Leine am Dach, da gellt
Ein Pfiff – und jetzt wieder – und wieder!
So anders als sonst! Man erschrickt – aufreißt
Ein Schaffner die Thür: „Der Zug entgleist!
Aus dem Wagen heraus! Nur Secunden
Noch gilt’s!“ Und schon ist er verschwunden.
Entsetzen! Entsetzen! Welch schreckliches Droh’n!
Sie stehn mit erstarrtem Gesichte,
Als bliese ein Engel mit schmetterndem Ton
Die Posaune am jüngsten Gerichte!
Verderben und Tod! Sagt, war das ein Geist?
Doch hinaus, wer sich lieb hat! Der Zug entgleist!
Und rasselnd donnern die Wagen
Dahin, wie vom Sturme getragen.
Und Rasseln und Schreien durchschüttert die Luft,
Der Schrecken lähmet die Glieder.
Wer wagte den Sprung auch hinab in die Gruft,
In das Grab, in die Tiefe hernieder?
Da drängen die Letzten – der Erste fällt –
Nachstürzen die Andern – ein Wehruf gellt
Und rasselnd donnern die Wagen
Dahin, wie vom Sturme getragen.
Doch der Schaffner, der Schaffner, der treffliche Mann,
Er sah’s: an der Curve, der Ecke,
Da stand – o Himmel, halt an, halt an! –
Ein Zug auf der nämlichen Strecke.
Schon sauste die Leine, schon gellte der Pfiff,
Da sprang wie ein Held er heraus schon und griff
Sich weiter auf schwindelndem Brette,
Daß nach Kräften er helfe und rette.
Und näher und näher jetzt saust es hinan,
Als ob in die Hölle man führe;
Der Schaffner, der Schaffner, der herrliche Mann.
Er tastet von Thür sich zu Thüre.
Hinrasseln die Wagen noch immer im Flug –
O Schaffner, o Schaffner, nun ist es genug!
Du rettetest Viele! Nun rette
Dich selbst durch den Sprung von dem Brette!
Vom Sturmwind umschüttelt, so drängt er sich dicht
An die Stangen im Vorwärtsstreben.
Hindonnern die Wagen; er achtet es nicht,
Hoch über der Tiefe zu schweben.
Er öffnet die Thüren: Heraus! Heraus!
In’s Rädergerassel! In’s Wagengebraus!
Wem bangt noch um Beine und Arme?
Hofft immer, daß Gott sich erbarme!
Und jetzo das Ende! O braver Gesell,
Zum Heile von Vielen geboren,
Jetzt denk’ auch an dich und jetzt rette dich schnell,
Sonst bist du für immer verloren!
Du treuer Schaffner, du braver Clauß,
Jetzt denk’ an dein Weib und die Kinder zu Haus!
Umsonst! – Da krachen in Flammen
Auflodernd die Züge zusammen.
Ein Schrei, der die Herzen der Hörer zerreißt!
Wie ein Chaos dann bricht es hernieder,
Zersplittert, zerstampft, was so stolz erst gegleißt,
Verstümmelte, zuckende Glieder.
Und Rauch und Dampf und flackernde Gluth,
Am tiefsten aber von Allen ruht
Im Wirrsal der Balken und Bretter
Der Helfer, der Warner, der Retter. –
Sie tragen zur Gruft ihn, zerschmettert, zerdrückt,
Der unendlichen Ruhm sich erworben.
Ich weiß nicht, ob Lorbeer den Sarg ihm schmückt,
Doch ist wie ein Held er gestorben.
So senken zur Ruhe in’s nächtliche Haus
Sie den braven Schaffner, den wackern Clauß,
Der herrlich vor Vielen erlesen,
Getreu bis zum Tode gewesen.
- ↑ Vergl. „Martin Behaim, der große Kosmograph“. „Gartenlaube“ Nr. 11. dieses Jahrgangs.
- ↑ Vergl. „Die Theilung der Erde“. „Gartenlaube“ Nr. 47, S. 771 d. J.
- ↑ Ehrentitel, den die Eingeborenen Stanley gegeben.
- ↑ Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1880, S. 764 und Jahrgang 1883, „Zwanglose Blätter“, Beilage zur „Gartenlaube“ Nr. 13.
- ↑ Wohl allen unseren Lesern schwebt noch das entsetzliche Eisenbahn-Unglück bei Hanau. vom 14. November d. J. in der Erinnerung. Nicht allen dürfte aber die Heldenthat des Schaffners Clauß bekannt sein, der einer großen Anzahl von Reisenden dadurch das Leben rettete, daß er – den sichern Tod vor Augen – längs der Trittbretter der dem Verderben entgegensausenden hinkletterte, die Coupéthüren aufriß und den im Wagen Sitzenden zurief: „Alles herausspringen, der Zug entgleist!“ Leicht hätte er sich selber durch einen Sprung in Sicherheit bringen können – er that es nicht! Er starb auf seinem Posten, ein Opfer muthiger, treuer Pflichterfüllung. Der Mann hinterläßt eine Frau mit sieben unversorgten Kindern! Bedarf es weiterer Worte, wo die Thatsachen in so herzbewegender, erschütternder Weise sprechen?! Wir glauben es nicht. Zuversichtlich stellt die „Gartenlaube“ hiermit für die Wittwe und die Waisen Clauß den Opferstock auf und wird über jede eingehende Gabe öffentliche Quittung ablegen. Die Redaction.
Inhalt: Das Urbild des Fidelio. Erzählung von Ernst Pasqué. (Fortsetzung). S. 797. – Stephen Grover Cleveland. Von Max Horwitz. S. 803. Mit Portrait S. 804. – Die neue Aera der Colonialpolitik. Historische Randglossen zur westafrikanischen Conferenz. Von Siegfried. S. 805 – Ein Kampf gegen den Schmutz. S. 807. – Brausejahre. Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe (Schluß). S. 808. – Vom Weihnachtsbüchermarkt. S. 811. Mit Illustration S. 812, 813, 814 und 815. – Blätter und Blüthen: Hamlet und die Schauspieler. S. 815. Mit Illustration S. 800 und 801. – Kampf zwischen zwei angeschossenen Keilern wahrend eines Jagens in der Göhrde. S. 815. Mit Abbildung S. 809. – Christbaumhalter mit Spielwerk. S. 815. – Bock’s Buch vom gesunden und kranken Menschen. – Adolf Neumann †. – Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 47. – Kleiner Briefkasten. – Treu bis zum Tod. Ein neues „Lied vom braven Mann“. Gedicht von Hermann Oelschläger. S. 816.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: beginnnt