Die Gartenlaube (1884)/Heft 50
[817]
No. 50. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wir saßen wie allabendlich im Gastzimmer zur „Goldenen
Sonne“ in dem kleinen Honoratioren-Stüblein am
Stammtische, aber die rechte Stimmung wollte uns
nicht kommen. Wir waren soeben von einem Begräbnisse
zurückgekehrt; in unseren Ohren mochte noch
immer der dumpfe Fall der Erdschollen nachtönen, die auf den
Sarg hernieder gerollt, in welchen sich ein junges Menschenkind
gelegt, freiwillig gelegt, als sei es geflüchtet aus diesem Leben
mit all seinen tausendfältigen Variationen von Kummer und Herzeleid.
Er war ein guter Freund von uns gewesen, hatte bis
vor wenig Tagen hier am Tische mit uns gesessen, und Niemand
hatte ihm den grausen Entschluß von der Stirn gelesen. Vor
wenigen Wochen erst war er ein Verlöbniß eingegangen mit einem
braven wohlhabenden Mädchen aus hiesiger Stadt; er, der Sohn
nicht unbemittelter Eltern, – was konnte ihm, dem in anscheinend
so geordneten glücklichen Verhältnissen lebenden Menschen,
die Waffe in die Hand gedrückt haben? Man verläßt doch am
Ende seinen Posten nicht ohne zwingende Gründe!
Schon oft in diesen Tagen war jene Frage aufgeworfen worden, und Keiner hatte sie zu beantworten gewußt. Auch jetzt fand man die Lösung nicht.
Wir waren Alle noch jung; der Aelteste von uns mochte vielleicht dreißig Jahre zählen, er war Arzt; zwei Andere bekleideten Lehrerstellen am fürstlichen Gymnasium. Ich, der Jüngste unter ihnen, lebte erst seit einem Jahre in dem thüringischen Städtchen, wo ich als Techniker die Bahnbauten zu leiten hatte.
„Haben die Herren noch nie gehört, daß Jemand in den ordentlichsten, respectabelsten Verhältnissen zu Grunde gehen kann?“ fragte plötzlich eine leise Stimme. Ein alter Herr, der regelmäßig am Nebentische seinen Platz einnahm, hatte sich erhoben und legte seine Hand auf die Schulter des Arztes, der ihm zunächst saß.
Uns war er fast ganz fremd, der alte einsame Mann, obgleich er täglich in demselben Zimmer zur „Sonne“ neben uns seinen Schoppen trank. Ich kannte ihn unter dem Namen Doctor Johann Rüdiger und wußte, daß er in der Zimmergasse ganz allein ein stattliches Haus bewohne, dessen Garten an den fürstlichen Schloßpark stieß und als ein kleines Wunderwerk geschmackvollster Anlage gerühmt wurde. Im Uebrigen galt er für einen Sonderling; er sprach selten, pflegte gar keines Umganges, und unser Verkehr hatte sich bis jetzt nur auf einen achtungsvollen Gruß von unserer Seite beschränkt, welcher von ihm mit der formellen altmodischen Höflichkeit einer längst vergangenen Zeit erwidert wurde.
Man sagte ihm nach, er besitze werthvolle Sammlungen und sei ein grundgelehrter Kauz, – das Volk nannte ihn „überstudirt“. Er war ein Arnsteiner Kind, hatte aber lange Zeit im Auslande gelebt; mehr wußten wir nicht von ihm, die wir Fremdlinge in diesem Lande waren.
Heute Nachmittag nun war er dicht hinter dem Sarge hergeschritten, just als wollte er die Stelle des Geistlichen vertreten, der dem Selbstmörder seine Begleitung versagte, und er hatte es auch gewissermaßen gethan; denn nachdem ein dem Verstorbenen nahe stehender Herr ein paar bewegte Worte gesprochen, war er an die Gruft getreten und hatte mit lauter Stimme ein „Vaterunser“ gebetet, wobei er absonderlich betonte: „Und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“
Wir wußten, er hatte den Verstorbenen nicht näher gekannt; um so mehr gewann er unsere Sympathie, und Einer nach dem Andern waren wir hinzu getreten, ihm die Hand zu drücken.
Jetzt stand er plötzlich vor uns, und aus seinem blassen anziehenden Gesichte sahen die noch jugendlich klaren Augen still fragend zu uns herüber.
„Verzeihung, meine Herren; mich interessirt der Heimgegangene mehr, als Sie vielleicht ahnen.“
Der Arzt hatte einen Stuhl herbeigezogen und das Seidel des alten Herrn auf unsern Tisch gestellt. Nun saß er zwischen uns, als wäre es nie anders gewesen.
„Ich meine, daß Kränklichkeit ihn in den Tod getrieben,“ sagte Doctor Werner, einer der Lehrer.
„Unsinn!“ erwiderte der Arzt. „Ein gesunder Kräutlein ist nirgends gewachsen. Nein, diesmal hat Ihre Pathognomik in’s Blaue geschossen – er war kerngesund.“
Der alte Herr nickte mit dem Kopfe. „Kerngesund!“ wiederholte er halblaut.
„Wer weiß, was da faul war im Staate Dänemark?“ meinte der College vom Gymnasium. „In solchen Geschäften hängt’s oft an einem Haar, besonders bei den jetzigen bewegten Zeiten; hat sich doch schon Mancher vor einem Bankerott – –.“ Er machte einen Griff nach der Kehle.
„Ei behüte!“ widersprach der Arzt. „Das Geschäft steht bombenfest! Und jetzt, wo er mit der Verheirathung ein kolossales Vermögen hereingekriegt hätte – – Nein, wissen Sie, meine Herren,“ und er sprach leiser, „er war ein kleiner Schwerenöther, hatte irgendwo hier herum eine etwas ernste Liebschaft und – das Frauenzimmer wird Lärm geschlagen haben, als er sich anderweit verlobte – so habe ich wenigstens gehört.“
[818] „Meine Herren!“ Die Stimme des alten Mannes unterbrach das Gespräch ziemlich hastig; „was es auch gewesen sei, das den Beklagenswerthen zu jenem Schritte trieb – urtheilen wir milde, lassen wir den Schleier darüber! Es müssen nicht immer die beiden großen Triebräder der Menschennatur sein, die einen verzweifelten Entschluß zur Ausführung bringen, – ich meine, man kann auch durch andere Ursachen als Hunger oder Liebe soweit kommen, es für vortheilhafter zu halten, die Erde mit dem unbekannten Jenseits zu vertauschen.“
Die Zeit war über dem Geplauder dahingegangen. Meine Freunde wurden daheim erwartet, zwei von ihnen hatten Weib und Kind; den Arzt trieb es zu seinen Kranken. Ich saß plötzlich allein mit Herrn Johann Rüdiger in dem dämmernden Gastzimmer; nun erhob er sich.
„Ich komme mit, wenn Sie es gestatten,“ sagte ich und nahm den Hut vom Pflocke. Und so schritten wir stumm neben einander her den schlecht gepflasterten Markt entlang, vorüber an dem rauschenden Brunnen, der von lärmenden Kindern umspielt wurde, in eine stille Straße, an deren Ende finster und schweigend das fürstliche Schloß ausgebreitet lag. Es war ein Mai-Abend, noch im Anfange des Monats, und die fürstlichen Gärten sandten einen Strom von Duft zu uns herüber; eine Wonne, ihn einzuathmen. Ich nahm mir vor, noch einen Gang durch den menschenleeren Park zu thun, um die Nachtigallen schlagen zu hören; denn ich befand mich just in der Stimmung heute, und zudem – die stets einsamen Gärten mit den herrlichen Bäumen waren immer meine Freude gewesen.
Ich glaube, ich sagte etwas Dergleichen zu meinem Begleiter, der still neben mir herwanderte, das Haupt gesenkt, als zähle er die Steine des Pflasters. Er sah mich an und blieb stehen.
„Wenn Ihnen, mein Herr, etwas an dem Dufte des Flieders liegt, so machen Sie mir die Freude, in meinen Garten zu treten,“ sagte er mit gewinnender Freundlichkeit; „noch zwei Schritte, und wir stehen vor meinem Hause. – Sie stören mich nicht, nein, wirklich nicht!“ redete er mir zu, als er sah, daß ich eine höfliche Einwendung machen wollte. Und in weiteren zwei Minuten war ich der unerwarteten Einladung wirklich gefolgt und durchschritt an der Seite des alten Mannes einen mächtigen Flur, der das ganze Haus durchmaß, ging mit ihm über einen von Nußbäumen beschatteten Hof und stand bald in dem vielbesprochenen Garten, der mir in der That einen Ausruf der Bewunderung entlockte, obgleich die leichte Dämmerung bereits einen Theil seiner Schönheit verhüllte.
Es giebt Gärten, so traulich, so heimlich, so voller Poesie, voll echter deutscher Poesie, daß man kein Herz haben müßte, wenn man nicht der Lieder gedächte, die das Volk singt von seinem Lindenbaume, oder von einer dunklen Laube, darinnen es flüstert – Gärten, in denen man träumt von Freude, von Weltabgeschlossenheit und stillem Glücke, und ein solcher Garten lag vor mir. Da rauschten im Hintergrunde uralte Linden und beugten flüsternd ihre Zweige zu den fürstlichen Nachbarn hinüber, die jenseit der hohen epheuübersponnenen Mauer standen; Kastanien weckten die Erinnerung an die Kinderspiele im Garten des Vaterhauses, rings umher blühten Flieder und Jasmin und hauchten ihre Düfte mir entgegen, und in edler unvergänglicher Schöne hob sich blendend weiß eine marmorne Pallas Athene von der dunklen Taxuswand, und über alle diesem lag der Maienzauber.
„Wie glücklich müssen Sie hier sein!“ sagte ich und folgte dem alten Herrn auf die Terrasse am Hause. Er nahm den Hut ab, und ein stilles Leuchten innerer Befriedigung glitt über sein Gesicht.
„Empfinden Sie es schon, daß Einsamkeit Glück ist?“ fragte er; „es ist ein wenig zeitig, will mich bedünken.“ Er lächelte dabei und klopfte mich auf die Schulter. „Nun wollen wir aber den Mai-Abend feiern. Bücken Sie sich einmal, mein junger Freund – dort rechts nach der Vertiefung unter dem Fenster – so ist’s richtig, greifen Sie nur zu. Er ist immer kühl da,“ fuhr er fort, als ich zu meiner Verwunderung eine schlanke Rheinweinflasche erfaßt hatte, „immer die richtige Temperatur, und man braucht nicht erst in den Keller zu steigen; die Steinplatte hält gut frisch. Und hier“ – er langte, sich auf dem Stuhle wendend, nach der Fensterbank, wo umgestürzt zwei alte grüne Römer standen, und setzte sie auf den Gartentisch – „sind die Gläser. Es wird gut thun, ist doch jetzt die duftige Maiweinzeit, die Scheffel so wunderbar in seinen durstigen Liedern besingt.“
Und nachdem er die Gläser gefüllt, stieß er mit mir an. „Dem Todten, den wir heute begruben,“ sagte er, „möge ihm die Erde leicht sein!“ Und langsam und andächtig trank er das Glas leer; dann blickte er starr in den Garten hinaus, lange Zeit, ohne zu sprechen.
„Sehen Sie,“ begann er endlich, „da wird nun kein Mund im Städtchen sein, der nicht irgend eine Vermuthung ausspricht, warum dieser Mann aus der Welt gegangen. Es wird viel Blödsinniges behauptet, viel Schimpfliches erfunden werden, das den Armen noch unter seinem stillen Hügel empören könnte, wenn ihm nicht Menschenwitz und Menschenwort zu wesenlos erscheinen müßten jetzt, und wenn anders er es noch erfährt, was man auf dieser Welt von ihm sagt. Aber mich empört es, dieses Fragen, Flüstern, Zweifeln, – und deshalb trat ich heute an seine Gruft. Der Mann hat schwer gekämpft, dachte ich, nein, – ich weiß es sogar, obgleich ich ihn nicht näher gekannt, in keinerlei Beziehung zu ihm gestanden habe. Sie, Herr Baumeister, waren ja sein Freund.“ Er zögerte einen Augenblick. „Ist Ihnen nie eine Ahnung gekommen, warum er –?“
„Nein!“ gab ich rasch zurück, einen Augenblick durch den Gedanken verlegt, daß der alte Herr mich vielleicht zu dem Zwecke eingeladen habe, mich auszufragen; „er lebte, wie ich bereits bemerkte, in geordneten, sogar recht guten Verhältnissen – es ist mir ein Räthsel –“ schloß ich dann.
„In geordneten Verhältnissen!“ wiederholte er leise. „Ja, Sie sagten es schon; – aber darf ich Ihnen einmal meine Behauptung von vorhin illustriren und somit beweisen, daß man auch in den sogenannten ‚geordnetsten Verhältnissen‘ soweit – nun ja, soweit – kommen kann? Denn daß im letzten Augenblicke noch ein rettender Zufall – das ist ja Nebensache.“
Ich bot ihm schweigend die Hand, und er begann, sich in den Sessel zurücklehnend:
„Droben auf dem Obermarkte unseres Städtchens, dem Rathhause vis-à-vis und just neben der Löwenapotheke, liegt der Schauplatz meiner Geschichte. Seit langen Jahren ist in dem stattlichen Hause ein sogenanntes Schnittwaarengeschäft betrieben worden; die Goldene Elle heißt es noch heute, und es mag auch, mit Ausnahme des modernen größeren Ladens und der entsprechenden Spiegelscheiben, noch genau so aussehen wie vor nahezu hundert Jahren, da einer meiner Vorfahren seinen Kram darinnen aufgethan.
Dort wurde ich geboren, so um die Weihnachtszeit des Jahres 1815. Zwei Kinder hatten schon vor mir das Licht der Welt erblickt, der Bruder Friedrich und meine Schwester Emilie. Die Mutter hat mir später einmal erzählt, ich sei ihr recht unpaß gekommen, denn gerade in der Weihnachtszeit sei sie so nöthig gewesen drunten im Geschäfte, und sie habe mit einer solchen Unruhe da oben neben meiner Wiege gelegen, daß sie sich gar nicht so recht über das kleine schreiende Hinderniß habe freuen können.
Nun, und mit diesen Worten war das Motto gegeben für unser gegenseitiges Verhältniß – sie hat sich nie so recht über mich freuen können.
Sie war eine energische, immer thätige Frau, die, wie man so sagt, die ganze Wirthschaft gründlich unter der Fuchtel hielt, den Vater nicht ausgenommen. Er hatte sie sich aus Erfurt heimgeholt, und zwar gegen den Willen seiner Familie, denn sie war eines preußischen Feldwebels Tochter, und schwer mußte sie sich ihr Terrain in unserer stolzen Sippe, zu welcher der Bürgermeister und zwei Rathsherren gehörten, erst erkämpfen. Aber sie war eine Soldatentochter, in schwerer Zeit herangewachsen, und es dauerte nicht gar zu lange, da hatte man der resoluten, tüchtigen, allzeit gesprächigen Frau den ihr gebührenden Platz eingeräumt, und sie saß so fest und mit einer so stattlichen Würde darauf, wie nur eine Honoratiorentochter unserer Stadt es gethan haben könnte.
Unter ihrer Leitung bekam das Geschäft einen großen Aufschwung; sie sorgte, daß modische Sachen auf Lager waren, daß nur streng reelle Waare verkauft wurde, und sie hatte eine Art, mit den Kunden umzugehen, daß den Leuten das Herz im Leibe lachte und Jeder von ihr bedient sein wollte. Wie sie so dastand hinter dem Ladentische, den Stoff zu schönen Falten gerafft in der hochgehaltenen Linken, mit der rechten Hand an dem Gewebe [819] herunter streichend, darüber ihr rundliches, stets heiteres Gesicht mit den blitzenden dunklen Augen – so sehe ich sie noch und höre noch immer die bekannten Redensarten, die sie von Preußen mit herüber gebracht hatte: ‚Wie geht’s, Frau Meier? Papa mobil? Kinder mobil? Alles mobil?‘ Womit sie sagen wollte, ob die Familie gesund sei?
Auch eine andere Redensart hatte sie, die mich manche Thräne gekostet und manch heimliches Fäusteballen veranlaßte. ‚Es ist kein’ Schneid darin,‘ sagte sie, wenn ihr eine Sache nicht gefiel; ach, und wie oft hat sie es von mir gesagt! – Meine Mutter! Aber gut war sie doch, sie verstand es nur nicht anders, und der sonderbar stille, immer verträumte kleine Gesell mußte ihr wie ein recht unnützes Etwas in der Welt erscheinen. Besonders neben dem Friz; der war ein Bengel, so roth und weiß, mit den blizenden Augen der Mutter und dem dunklen Kraushaare, und so voll des übermüthigsten Lebens, daß es sich nicht zu lassen wußte in Seele und Leib und im unbändigsten Gebahren nach außen trieb. ‚Da ist Schneid drin!‘ sagte die Mutter zum Vater, wenn sie den Buben nach Herzenslust abgeprügelt hatte für irgend einen dummen Streich, und ihre Augen lachten vor Seligkeit.
Jungen und Prügel gehören zusammen, denn wenn so ein Bub nicht im Stande ist, sich eine Tracht Schläge zu verdienen, ist er ein Waschlappen und bleibt es – so war ihre Meinung; und ich – ich verdiente keine Prügel, absolut nicht; man konnte doch unmöglich den Jungen dafür strafen, daß er so mäuschenstill mit seinem Spielzeug einhersaß oder, was ihm das Allerliebste, auf den Stufen der Hausthür über seinem Bilderbuch träumte, nur dann und wann einmal einen fremden Blick thuend in die lärmende Schaar, die unter Anführung des Bruders im lautesten Gejohle um den steinernen immer sprudelnden Brunnen und über den Marktplatz stürmte, wenn sie, wie üblich, Franzosen spielten oder Räuber und Gensd’arm.
In der Schule hielten wir uns aber tapferlich neben einander, der Fritz und ich, obgleich ich drei Jahre jünger war. Eines Abends, als wir nach geschlossenem Geschäft in der Ladenstube saßen, an dem runden Tisch mit unseren Schulaufgaben beschäftigt, sagte der Vater, der schweigend und nachdenklich seine Pfeife geraucht: ‚So wird’s am besten, Karoline; der Friedrich wird ein Kaufmann unserer Branche, und der Hans mag studiren.‘
‚Ich meine, das Geschäft nährt Zwei,‘ erwiderte die Mutter, ihm einen ärgerlichen Blick zuwerfend.
‚Hat vorläufig noch keine Eile, Lienchen!‘ Und der Vater im geblümten Zitzschlafrock, mit dem langen Weichselrohr im Munde und dem gestickten Hauskäppchen auf dem Kopfe, schlug freundlich die Mutter auf die Schulter und ging in die Sonne zum Abendbier, just in das Stüblein, wo wir heute gesessen. Auf der Mutter Gesicht aber wechselte Röthe und Blässe, es mußte sie mächtig erregt haben.
‚Kommt einmal her, Ihr Jungen!‘ rief sie. Und als wir vor ihr standen, da zog sie uns nahe heran und hielt jeden von uns mit einem Arme umfaßt, nur daß der Friedrich auf der Herzensseite stand.
‚Sagt einmal an, was wollt Ihr werden? Du zuerst, Friedrich!‘
Der Fritz wiegte den Lockenkopf, sah zu den Balken empor, um den Augen der Mutter auszuweichen, schlug mit den Hacken aus wie ein übermüthiges Füllen und that, als ob er sich sehr besinnen müsse. Endlich erklärte er: ‚Wenn es so Räuber geben thäte wie der Rinaldini, am liebsten dann ein solcher; wenn aber das nicht – na, dann Soldat, um die Franzosen über den Kopp zu hauen.‘
‚Dummer Junge!‘ rief meine Mutter und gab ihm eine Ohrfeige, ‚meinst Du, der Mensch ist nur in der Welt, um zu raufen?‘ Aber ihre Augen sahen dennoch mit leidenschaftlich zärtlichem Ausdruck in sein blühendes Gesicht.
‚Na, dann meinetwegen Ellenritter,‘ gab er zu.
‚Ich werde gleich die Elle auf Deinem Rücken tanzen lassen, Du nichtsnutziger Spottvogel!‘ Und sie strich ihm mit der Hand die Haare aus der Stirn und gab ihm einen Kuß. ‚’s ist ein guter Stand und ein nobler Stand,‘ fuhr sie lobend fort; ‚ein Soldat ist ein Unding im Frieden, und der Napoleon ist todt, – kann lange dauern, bis der zweite kommt. Und nun Du, Hans?‘ Sie wandte mir ihr ernst gewordenes Antlitz zu; ‚sieh, nun sag’ ’mal was recht Gescheidtes!‘
Mein Herz war zum Ueberlaufen voll und pochte in raschen Schlägen. Unwillkürlich faltete ich die Hände in einander; wie in purpurrothem Nebel sah ich nur noch das ernste Frauengesicht vor mir. Ich wollte eine Bitte stammeln, eine Bitte, die mein ganzes Sein erfüllte, aber ich brachte nur stockend und leise die Worte heraus: ‚Magister Schröder –‘
Ein schallendes Gelächter der beiden Geschwister tönte mir in die Ohren, und die schreiende Stimme des Bruders hob an:
‚Schnipp, schnapp Magisterlein
Hat zwei Stelzen statt der Bein;
Magister zieh die Strümpfe stramm,
Weil wir heute Wäsche han.‘
Die Mutter aber hatte mich mit einem Ruck losgelassen, war aufgestanden und kehrte mit der Elle aus dem Laden zurück, die sie uns Kindern drohend wies. ‚Ruhe!‘ gebot sie, ‚oder –‘; und sie setzte sich wieder und zog mich noch näher zu sich.
‚Also ein Tagedieb möchtest Du werden, Hans?‘ fragte sie. Seltsam unheimlich klang mir ihre Stimme. ‚Ein Mensch, der sich den Kopf mit lauter gelehrtem Kram vollstopft, der Keinem auf der Welt etwas nützt! So ein armes überstudirtes Gespenst zu sein, scheint Dir begehrenswerth?‘ – Und da ich schwieg, fuhr sie fort: ‚Statt frischer, gedeihlicher Arbeit – das Brüten über staubigen Büchern in dumpfer Stube; statt eines gesunden Körpers – abgemagerte Glieder! Bengel, woher hast Du die unglückliche Idee? Aber, nicht wahr, ’s ist nicht Dein Ernst?‘ schmeichelte sie, ‚Du hast Dein Mütterchen foppen wollen, wie es der Fritz gethan mit den Räubern?‘
Ich schüttelte den Kopf und sah sie an, und die Thränen liefen mir über die Wangen.
‚Ich hatt’ immer gemeint – da draußen über der Hausthür – sollte einmal stehen: ‚Gebrüder Rüdiger‘,‘ flüsterte sie vor sich hin.
‚Plärre nicht, Junge!‘ fuhr sie mich dann plötzlich an und stieß mich zurück; ‚hätt ich Dir die Elle zur rechten Zeit zu kosten gegeben, wahrscheinlich hättest Du mehr Schneid’ in Dir. Vorwärts, geht zu Bette; das Weitere wird sich finden!‘ Und marsch, mußten wir hinaus.
Wir gingen, und ich warf mich auf mein Lager; der Kopf brannte mir vor tausend Gedanken, und die Sehnsucht wollte schier überhand nehmen nach – ja, ich konnte kaum Namen dafür finden.
Wie ich auf den ‚Magister‘ gekommen? Ach, das ist ja das beglückendste Geheimniß meiner Kinderzeit! Er war eines Tages in den Laden getreten und hatte in seiner gewöhnlichen freundlichen Art ein Stück des feinsten Tuches zu einem damals modischen Frack gekauft, und ich hatte das Paket eine halbe Stunde später nach der Zimmergasse in sein Haus tragen müssen.
Der Magister war ein alter Herr dazumal schon; er vertrat die Stelle eines Vorlesers bei der Fürstin Anna Katharine, die zu jener Zeit ein freudenloses, einsames Wittwenleben im Schlosse drüben führte. Eine hochgebildete Frau, mit dem geistreichen Hofe zu Weimar stets nahe liirt gewesen und Freundin Goethe’s, hatte sie ein fast schwärmerisches Interesse für Literatur und Kunst, einen starken Hang zur Philosophie, und ihr treuer Führer bei diesen Streifzügen auf das Gebiet des Schönen und Erhabenen war der Magister Schröder. Aeußerlich spielte er eine wunderliche Figur; er war mit seiner Toilette noch halb in dem verwichenen Jahrhundert verblieben, denn seine dürren Beine steckte er noch immer in schwarzseidene Strümpfe und Schnallenschuhe, während sein Obertheil den unkleidsamen Frack mit den hochgepolsterten Aermeln und blanken Knöpfen der neuesten Mode acceptirt hatte. Weil dies nun gar komisch zusammenpaßte und weil die schwarzseidenen Strümpfe in allerlei traurigen Falten herabhingen, so fehlte es nicht an mancherlei Neckereien. Mein Ideal aber war und blieb er; was kümmerten mich die bespotteten Strümpfe? Ich sah nur das feine blasse Antlitz und jene zwei großen nachdenklichen Augen, aus denen seine schöne Seele sprach. Er ist mein Wohlthäter geworden, denn ohne ihn –“ Der Erzähler stockte plötzlich. „Doch ich wollte ja berichten, wie ich seine Bekanntschaft machte.
Ich war mit meinem Paket bei glühender Sommerhitze durch die Straßen getrabt und in das kühle Haus des Magisters getreten; ein prächtiger weißer Pudel war mir da entgegen gekommen, sonst Niemand. Ich ging durch den Hausflur, über den Hof und,
[820][822] da ich Stimmen hörte, auch weiter in den Garten, von wo sie mir entgegenschallten. Dort, an der Hofthür steht eine kleine Steinbank – sehen Sie, es ist dieselbe noch unter dem nämlichen Hollunderbaum – weiter kam ich nicht, denn durch die Büsche erkannte ich in ihrem Fahrstuhl die Fürstin, und eine zweite Dame als ihr junges Hoffräulein, Baronesse von Rettberg, die unter dem Namen ‚die schöne Rosa‘ im ganzen Städtchen bekannt war. Den Magister sah ich nicht, aber ich hörte ihn bald – er las.
Mein Lebtag werde ich nicht vergessen, welch eine Fülle von Licht und Wonne in das dürstende Kinderherz fiel, wie Musik umschmeichelte es mich; ach, so etwas hatte ich nimmer geahnt. Meine Mutter hielt wohl nie in ihrem Leben ein Buch in der Hand, außer Bibel, Gesangbuch und Kalender; mein Vater las das Wochenblatt und eine größere Provinzialzeitung, das war schon ungeheuer viel. Wir Kinder lernten auch in der Schule Gedichte hersagen, aber es waren meist Kirchenlieder oder lehrreiche Parabeln aus dem Kinderfreund, und es hatte sich noch nie etwas gerührt in mir, wenn ich lernte: ‚Ein Knabe aß wie viele Knaben die Datteln für sein Leben gern.‘ Aber jetzt –
‚Es stand in alten Zeiten, ein Schloß so hoch und hehr,
Weit glänzt es über die Lande, bis an das blaue Meer –‘
das war kein Sprechen mehr, das war wirklich Musik.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen, nachdem er geendet; der Fürstin Rollstuhl war längst mit leisem Knirschen durch den Garten geschoben und in dem Pförtchen der Mauer verschwunden, leichte Dämmerung war herniedergesunken, ich saß noch immer da, bis der Magister mich verwundert fragte, was ich wolle, und, kinderfreundlich wie er war, sich mit mir in ein Gespräch einließ.
Zugehört hätte ich, gestand ich endlich, und es sei so schön gewesen!
Da ich ging, schieden wir als Freunde, und Uhland ist immer mein Lieblingsdichter geblieben.
Was Wunder, daß ich an gar nichts weiter dachte und daß des Magisters Name über meine stammelnden Lippen kam in jenem Augenblicke. Dieser Vorgang, die Frage der Mutter und meine Antwort, hatte dennoch Folgen für mich. Nach einer Familienberathung, in der mein Pathe, der Bürgermeister, den Vorsitz führte, wurde kurz nach jener Zeit beschlossen, daß ich studiren solle. Meine Mutter eröffnete mir dies, aber wohlweislich erst nachdem der Jahrmarkt vorüber, während dessen wir Brüder tüchtig im Laden helfen mußten. Vielleicht bin ich noch zerstreuter als sonst gewesen, denn wenn eine Bauerfrau einen rothen wollenen Unterrock begehrte, so dachte ich beim Anblick des Purpurs an den furchtbar prächtigen König, und bei dem sanften Himmelblau, das die junge Küstersfrau zu einem Pathenkleidchen verlangte, an die muthmaßliche Farbe des Gewandes der schönen Königin, die so süß und mild gewesen, ‚als blicke der Vollmond drein.‘
Ich war entschieden noch schlechter im Geschäfte zu gebrauchen, als gewöhnlich, aber ich bekam weder Schelte noch Ermahnung.
Zwei Tage später war der feierliche Moment, wo mir gesagt wurde, daß ich von Ostern ab das Gymnasium besuchen werde, um, meinem Wunsche gemäß, zu studiren. Glauben Sie mir, mein junger Freund, das war der seligste Tag meines Lebens!
Wie ich den Herrn Pathen gegen Abend im bedächtigen Schritt über den Markt kommen sah, wie meine Mutter ihn in das Putzzimmer führte, das im ersten Stock des Hauses sich befand, wie der Vater den Fritz rief und ihn hinter den Ladentisch stellte mit dem Befehl, daß man ihn nur rufen solle, wenn etwas ganz Wichtiges verlangt werde; wie dunkle Gewitterwolken über den Schönauer Bergen aufstiegen und die goldnen Kreuze der Marienkirche so blinkend von dem blauschwarzen Hintergrund sich abhoben – das hörte, sah und fühlte ich Alles dort oben auf unserer Giebelstube, in welcher der Fritz und ich hausten. Ich stand am Fenster, und mein Herz klopfte schwer und bang, ich weiß nicht, ob es die drückende Schwüle draußen machte oder die Erwartung von dem, was da kommen sollte.
Der Vater rief mich endlich in das Gemach, und dort stand ich eine Weile stumm an der Thür, bis die fette Stimme des Oheims nach mehrmaligem Räuspern also sprach:
‚Nun, Hans, mein Sohn, so laß Dich denn an die Krippe der Weisheit führen und verdirb Dir den Magen nicht mit dem Mengefutter der griechischen und lateinischen Gelehrtheit, möge sie Dir im Gegentheil wohl bekommen!‘
Er lachte über seinen Spruch, daß ihm das Bäuchlein wackelte, und trank sein Glas Franzwein aus. Der Vater aber nahm mich bei der Hand, strich mir über das Haar und sagte: ‚Bedank’ Dich beim Pathen, er hat Dir das Wort geredet gegen die Mutter; wär’s nach ihr gegangen, so –‘
Die Mutter schwieg; sie sah mich bekümmert an, als sei ich ein schier verloren Schäflein. ‚So ein dummer Junge!‘ sprach sie endlich.
Als ich dem Herrn Bürgermeister die Hand gegeben und dann zu ihr trat, setzte sie hinzu: ‚Hoffentlich gereut’s Dich nie, Hans. Nun kannst Du laufen!‘ Und ich lief; im Hause hätt’s mich nimmer gelitten.
Menschenleer waren die Gassen, schwer und dumpf die Luft; ich eilte, als gelte es noch vor dem Unwetter das schützende Dach zu erreichen. In stürmischer Hast drückte ich die Thür zu des Magisters Hause auf, just als der erste falbe Blitz vom Himmel herniederzuckte, und athemlos stand ich vor ihm, der, aus dem Garten kommend, eben durch den Hausflur schritt und mich nun lächelnd und verwundert betrachtete.
Er mußte mir drinnen im Zimmer Alles abfragen – erzählen, berichten konnte ich nicht. Er saß mir gegenüber im tiefen Lehnsessel an dem mit Büchern und Papieren bedeckten Tisch, der Himmel draußen war so finster, daß sein mildes blasses Antlitz das einzig Lichte in dem dämmerigen Gemach erschien, und er sprach. Er sprach von der Wissenschaft, wie sie den Menschen veredle und erhebe, er sprach von den Wundern, die mir nun erschlossen werden sollten, ‚von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt,‘ er sprach ‚von allem Hohen, was Menschenherz erhebt!‘ Und draußen rauschte der Regen zur Erde und durch die offene Thür quoll ein wundervolles Duften in das Gemach. Nie, niemals werde ich das vergessen! Ich hatte an seiner Hand den ersten zaghaften Schritt in das Land meiner Sehnsucht gethan.
Er strich mir lächelnd über die Wange, als er sich endlich erhob, und sagte, daß ihn die Fürstin erwarte; und er ging zu einem der hohen Schränke und drückte mir dann ein kleines Buch in die Hand. Eine Perle nannte er es, unter dem, was Menschengeist erschaffen, ein Werk, das ich jetzt freilich noch nicht verstehe, und an ihn solle ich denken, wenn ich dereinst mich in dieses Meer von Schönheit versenkte.
Und ich ging, das Buch in der Hand. Unter dem letzten tröpfelnden Regen wanderte ich durch die Lindenalleen, die unser Städtchen umschließen; mir war zu Muthe wie trunken. Vor dem Gymnasium blieb ich stehen und schaute zu den alten grauen Mauern hinauf in schweigender Andacht, und Homer’s Odyssee hielt ich fest an mein klopfendes Herz gedrückt.
Und die Kindheit verging unter eifrigem Lernen und dem Streben, das Versäumte nachzuholen, und das Jünglingsalter brach an. Alltäglich verlebte ich glückliche Stunden in diesem Hause, noch heute gedenke ich mit Freuden ihrer, dort drinnen, im behaglichen Zimmer, wo wir den Olymp mit all seinen Göttern und das ganze classische Griechenland um uns zu versammeln pflegten. Ich höre noch die milde Stimme des alten Mannes, mit der er jene wunderbare Sprache redete – ich sehe seine blauen leuchtenden Augen, und ich sehe sein mildes Lächeln, mit welchem er meine Verse überlas, die ersten, die ich gedichtet und die ich ihm verstohlen auf den Arbeitstisch gelegt hatte.
‚Hans, mein Sohn, was weißt Du von solchen Dingen, was weißt Du von Frauenschönheit?
‚Nicht der Grazien Reiz, nicht Eos’ strahlender Schönheit,
Nein! – Die Palme gebührt Rosa, der Herrlichen, nur!‘
Hans, mein Sohn, soll ich das dem Fräulein von Rettberg vorlesen?‘
Ja, die schöne Hofdame der Frau Fürstin war meine erste heiße wunschlose Schwärmerei. Kein Wunder, daß ich vor Entzücken fast taumelte, als mich einstmals der Herr Magister mit in das Schloß hinüber nahm, damit ich – er war plötzlich heiser geworden – der hohen Frau einige Capitel aus Walter Scott’s neuestem Roman vorlese. Das blasse stille Antlitz der Fürstin, das hohe, mit Bildern und Portraits fast tapezirte Gemach, das flackernde Kaminfeuer mitten im Sommer, die grünen schwankenden Lindenzweige vor den Fenstern und endlich die schlanke Mädchengestalt am Stickrahmen, so vornehm in jeder Bewegung, ihre tiefen traurigen Augen – das ist eine jener Erinnerungen, die mir nie erblaßten; ich war siebenzehn Jahre damals, Herr Baumeister.“
[823]
Bilder aus Spanien.
Es war an einem prächtigen Apriltage. Die Sonne neigte sich bereits dem westlichen Horizonte zu, ihr glühendes Licht durchfluthete die langgestreckte Thalflur von Granada, die von dem Genil durchströmte Vega. Es spielte auf den Schneewänden der Sierra Nevada, vergoldete die Zinnenmauern der Alhambra, warf starke Helle und tiefe Schatten auf das Häusergewirre des Albaycin. Morgen sollte Granada verlassen werden. Es war die Stunde des Abschiedes von dem phantastischen Maurenschlosse, der großartigen Landschaft, der schönsten Stätte ganz Spaniens. Ich hatte den herrlichen Löwenhof mit seinem charakteristischen auf zwölf Löwen ruhenden prächtigen Springbrunnen noch einmal durchschritten und lehnte jetzt in einer der Finsternischen jener hohen Halle, in welcher die Maurenfürsten einst Gesandtschaften fremder Mächte empfangen haben. Man trennt sich schwer von dem Landschaftsbilde, das dieser maurische Fensterbogen umrahmt.
Tief am Fuße der senkrechten Felswand, auf deren Höhe die Alhambra thront, fließt in enger Schlucht der klare, kühle Darro, halbversteckt unter Ulmen und vollkronigen Pappeln. Jenseits, uns gegenüber, erhebt sich der Albaycin, einst ein belebter Stadttheil des arabischen Granada, jetzt eine ärmliche Vorstadt von Hütten, aus deren niedrigem Gewirre die Kuppeln einzelner Kirchen sich erheben. Die alte arabische Stadtmauer zieht weit um die verlassenen Höhen, zwischen Cactusgewilder, hohen Aloestauden, Trümmergestein, selbst halb in Trümmern. Einst reichten die Bezirke des Albaycin bis zu ihr hinauf, heute füllt die Bettler- und Zigeunervorstadt kaum noch die Hälfte des befestigten Umkreises. Und rechts im Osten tritt majestätisch die Masse der Sierra Nevada hervor, links nach Westen hin breitet die fruchtbare, reich besiedelte Gartenflur der Vega blühend und saftig grün sich aus, umrandet von niederen Bergzügen. Aus diesen Fenstern konnten die Maurenfürsten den fremden Botschaftern ein Land zeigen, wie es üppiger, schöner und herrlicher kaum eines geben mochte auf europäischer Erde.
Das waren auch meine Gedanken in dieser köstlichen Abendstunde. Ein Amerikaner trat hinzu. Er hatte den ganzen Winter in Granada zugebracht, kannte Alles genau; es machte ihm sichtlich Vergnügen, anderen Besuchern Rath zu ertheilen. Er wies mir drüben auf der Höhe des Albaycin eine kleine verlassene Kirche, eine andere tiefer gelegen. Von diesen beiden Punkten sollte die Aussicht auf die Umgebung die schönste sein. Gestern hätte er einige Damen dort umhergeführt, heute wolle er mit größerer Gesellschaft den Rückweg in gleicher Richtung nehmen, dabei den Zigeunern einen Besuch abstatten. Er schien dort sehr bekannt zu sein. Ich liebe bei solchen Wanderungen große Gesellschaften nicht, doch war ein gelegentliches Zusammentreffen mir ganz erwünscht, schon um der kundigen Führerschaft willen.
Bom Alhambrafelsen führt ein schmaler, steiler Weg hinab in die Schlucht des Darro und dann jenseits aufwärts zum Albaycin. Vereinzelt liegen die Hütten an den Pfaden, die sich den Berg hinanziehen. Brunnen, wohl noch aus arabischer Zeit stammend, sieht man unter dem Geröll, zwischen Mauerbrocken, umwuchert von den saftigen Blattscheiben riesiger Cacteen. Das zerlumpte Volk holt dort in Krügen das frische, kühle Wasser, das in diesem Berglande überall reichlich hervorquillt. Die nächste Umgebung ist furchtbar traurig. Wüst, elend, schmutzig, verwildert sind Flur, Wohnungen, Menschen. Nur der Umblick auf die Landschaft erfreut. Denn allmählich tritt jetzt zu dem Uebrigen, zu Hochgebirge und Thalgarten noch die malerische alte Stadt in der Tiefe und drüben, auf der Zinne des gegenüberliegenden Bergrückens, das feste Schloß der Alhambra hervor, jene Thürme, Mauern, Steinmassen, welche das zauberhaft schöne Herrscherschloß umschließen – ein Rundblick, von dessen wunderbarem Reize weder Bild noch Wort eine genaue Vorstellung zu geben vermag. Der Amerikaner hat mit seinem sachkundigen, klugen Rathe unsern Dank verdient, wir lernen Granada von einer ganz neuen Seite kennen.
Und doch sind es bald nicht mehr diese Aussichten, die unsere Aufmerksamkeit vorwiegend in Anspruch nehmen. Die allernächste Umgebung fesselt mehr und mehr unsern Blick, unsern Schritt. An diesen Abhängen nisten Zigeuner. Dieses Volk, anderswo nur gelegentlich erscheinend, umherziehend durch ganz Europa, hat sich nur an wenigen Stätten an feste Wohnsitze gebunden, in eine gewisse Heimath gefügt, die es allerdings ebenfalls gelegentlich wechselt, wenn der Wandertrieb übermächtig in ihm wird. Dauernd fühlen die Zigeuner sich nur wohl in Gebieten, welche die Cultur noch niemals erreicht, oder wo sie der Verwilderung wieder Platz gemacht hat. Das Innere von Rußland, die weiten Fluren Ungarns und der unteren Donau, dann Spanien, eigentlich nur Andalusien, sind die Länder, in denen Zigeuner sich seßhaft gemacht haben. An dem Burgberge von Malaga, dem Gibralfarro, der sich mit den Ruinenmassen eines maurischen Castells steil aus dem Meere erhebt, sind sie festgenistet. In Gewölbe und unterirdische Gänge, in Trümmer und Höhlen haben sie ihre düsteren Wohnungen hineingeklebt. Die Oede, das zerstörte und verlassene Menschenwerk scheint sie anzuziehen, da fühlen sie sich am wohlsten. Aehnlich wie am Gibralfarro wohnen sie hier an den Abhängen des Albaycin. Wir kommen an den Hütten oder vielmehr Höhlenwohnungen vorüber. Einen einzigen fensterlosen Raum bildet das Innere. Aus allen Poren der elenden Behausung dringen Rauch und Dünste hervor, Fenster und Rauchfänge sieht man nicht.
Diese Löcher mögen wohl nur als Unterschlupf dienen bei Kälte, Regenwetter, während der Nacht. Struppige Kinder wälzen sich herum, die Weiber hocken meist müßig vor den Thüren.
Jedes Loch im Steinboden ist mit einem Vordach und mit niedriger Thür versehen; manches dient zugleich als Stall, denn es fehlt der spanischen Zigeunerwirthschaft selten ein Maulthier, Esel oder Pferd. Wir treten in den dunstigen, verräucherten, unterirdischen Wohnraum. Ein Krug zum Wasserholen, ein Topf oder eine flache Eisenpfanne, selbstgeschnitzte Holzlöffel und Messer bilden die einzige Ausstattung. Man schläft auf dem Steinboden in dürrem Kraute und meidet sonst das scheußliche Erdloch soviel als möglich. Nicht Alle aber haben es so gut, nicht für Alle reichen die Höhlen, Grotten, Ruinen des Sacro Monte aus. Die Anderen schlagen ihr Lager im Freien auf; der Esel, der Kessel oder die Pfanne müssen unter freiem Himmel aushalten, wie sie und ihr junger Nachwuchs.
Zwischen Brocken von antikem Marmorgebälk, verfallenen Resten maurischer Bogenbauten, zwischen kümmerlichen Spuren einer großen Vergangenheit hat diese elende Gegenwart sich gleich Schmarotzerthieren eingefilzt. Ob dieses halbwilde Volk arbeitet? Die Umgebung giebt davon keinerlei Kunde. Um das Haus gackern einige Hühner, eine Ziege knabbert das zwischen den Steinen wuchernde Kraut ab, ein Beet mit dicken Bohnen dicht am Hause zeigt einzig den ganzen Arbeitsaufwand von Feldbau inmitten der Wüste. Die stacheligen Cactusmassen, die überall in dem Gestein wurzeln, geben den spanischen Zigeunern oder Gitanos süße Früchte; Milch, Eier, Bohnen gewinnen sie mühelos; arbeiten dürften sie kaum.
Wo aber Zigeuner leben, in Rußland, in Spanien, dahin bringen sie Gesang und Tanz. Auch die heimischen Volkstänze in Granada sind größtentheils Zigeunertänze, die Musik ist vorwiegend Zigeunermusik. Lassen die Bewohner des Albaycin aus Arbeitsscheu auch ihre Umgebung in Schmutz verkommen, so verdienen sie doch gern Geld. Verschlagenheit und Geldgier leuchten aus den großen schwarzen Augen hervor, sobald ein fremder Wanderer sich naht. Sie schlüpfen aus ihren dunklen Räumen, die Kinder starren den Gast an, man nähert sich ihm mit allerhand Dienstfertigkeiten. Es ist, als ob durch ein stilles, geheimnißvolles Zeichen die Kunde, daß in dem Bezirke ein Eindringling weilt, dem ganzen Tribus mitgetheilt werde. Bald tauchen von allen Seiten neue Gestalten auf. Hinter den Scheibenblättern der riesigen Cactus blicken bärtige Männer hervor, alte Weiber humpeln herbei, neugierig, erwartungsvoll schaut das Zigeunervolk den Fremden an. Die Kinder betteln, die Mädchen rüsten sich zu einem ihrer Tänze, die anderen wollen Musik machen, die Männer blicken finster drein.
[824] Es beginnt etwas unheimlich zu werden in der Oede des Albaycin. Selbst der Reiz poetischer Romantik, eigenartiger, wilder Schönheit fehlt. Die Weiber tragen nicht einen Zug von der Anmuth, der sinnlichen Feinheit, der bezaubernden Elasticität der Andalusierinnen an sich, nicht eine Spur von dem Geschick, selbst in ihre Lumpen sich noch malerisch und wirksam zu hüllen. Gedrungen von Gestalt, starkknochig, mit wulstigen Gesichtern, struppigen Haaren, verblühen sie schnell in Armuth und Elend. Nur unter den Mädchen, die kaum dem Kindesalter entwachsen, trifft man gelegentlich natürlichen Liebreiz in arger Verwilderung. Ein Wollenrock, unten meist mit Streifen von anderem Stoffe besetzt, ein Tuch, um die Achseln geschlungen und hinten geknüpft, auch wohl ein Hemde, bilden ihre einzige Kleidung. Die stammt von irgend einer Städterin; geschenkt, gekauft, gestohlen? das läßt sich schwer ergründen. Eine bestimmte Volkstracht giebt es schon längst unter den Gitanos nicht mehr. Selbst der Hang nach Putz, gleißendem Flitter, farbigen Bändern scheint völlig erstorben zu sein. Eine Blume von der nächsten Hecke, eine Rose, Granate, Fliedertraube stecken sie wohl in das wirre Haar, mehr niemals. Lüstern nach Geld und Besitz, verschwenden sie das Erhaltene meist in Leckereien, in billigem Zuckerwerk, kaufen süßes Eis, kleine in Oel gebackene Kuchen von den Straßenhändlern unten in der Stadt, auch wohl einen wohlschmeckenden Schnaps; Wein niemals. Die Männer lungern den Tag über hinter den Cactushecken, sie vertreiben sich höchstens die Zeit mit dem Flechten von Basttaschen oder Körben, warten auch wohl auf Gelegenheit zu mühelosem Erwerb. Wollte man nach ihrem Aeußeren, ihren Geberden, ihren wüsten Blicken urtheilen, so müßte man sie alle für Strolche halten. In der Stadt wird der Fremde gewarnt, allein in der Oede des Albaycin umherzustreifen. Man hält das für eine geschäftliche Finte, um Führerlohn zu gewinnen, ist man aber mitten unter diese Bevölkerung gerathen, so sieht die Sache doch etwas bedenklich aus. Allein man hört nichts von Anfällen oder schweren Verbrechen. Die Zigeuner des Albaycin mögen wohl keine schlimmen Leute, keine Raubgesellen sein, höchstens einmal eine Börse, ein Taschentuch entwenden. Immer aber werden sie aus der Verlegenheit eines irrenden Wanderers Vortheil zu ziehen suchen. Daß sie bei aller Lässigkeit ein verschmitztes und gieriges Volk sind, sagt ihr Antlitz. So war es denn durchaus nicht gemüthlich hier trotz Sierra Nevada und Alhambra, die verlockend im Abendsonnenscheine dalagen. Die Zudringlichkeit der Gitanos wurde immer lästiger. Die Umgebung der Hütte war, wohl kaum absichtlich, aber doch thatsächlich, rings umstellt, umlagert. Man sollte unter das räucherige Dach treten, einen Tanz mit ansehen, Gesang und Spiel hören. Es war schwierig, sich den Liebesmühen des Bettelvolkes zu entziehen.
Da, im richtigen Augenblicke, sah ich die kleine Karawane meines amerikanischen Freundes den Berg hinanziehen. Die Zigeunergesellschaft lugte nach der neuen vielversprechenden Beute aus, zog sich aber zurück, sowie sie den Zigeunerhauptmann eines Tribus als Führer der Truppe erkannte. Mein Amerikaner war praktisch zu Werke gegangen bei dem kleinen von ihm geleiteten Ausfluge. Er hatte den „Capitano“ gedungen, und unter dessen Geleit ging es weiter aufwärts. Natürlich schloß ich mich an, nachdem ich mich bei dem vor der Hütte lungernden Volke mit einigen Kupfermünzen abgefunden hatte. Der ganze Berg scheint durchhöhlt zu sein von dem heimathlosen Stamme. Wie Maden aus einem alten Käse kribbeln die braunen Gestalten zwischen Steingeröll, Cactusgewilder, unterirdischen Löchern und Höhlen hervor. Der Sacro Monte, oberhalb des Albaycin, ist ihnen allein zugehörig. Dort hinauf bewegte sich unser Zug. An den Abhängen des Berges, zwischen Dorngestrüpp, Cactus, Aloëschaften und wilden Granaten ist der Steinboden stark durchlöchert. Ob der Kalkstein natürliche Grotten bildet, ob Keller, Vorrathskammern, Gräber in römischer oder maurischer Zeit hier künstlich angelegt worden sind, das läßt sich heute schwer errathen. Deutlicher erkennt man im Gibralfarro bei Malaga die Spuren alter unterirdischer Anlagen an den Höhlenwohnungen der dortigen Zigeuner. Hier haben sie sich eingenistet, von hier ziehen sie aus auf Erwerb, auf Beute.
Andalusien durchstreifen und bewohnen die Zigeuner seit vielen Jahrhunderten. Schon vor vierhundert Jahren und oftmals später hat man sie vertrieben, ihnen bei Leibes- und Lebensstrafe die Wiederkehr verboten. Sie warteten dann wohl eine Weile ab, bis die Zeiten unruhiger oder milder wurden, schlüpften da unversehens wieder in’s Land, bargen sich in ihren Grotten und Höhlen und scheinen jetzt zum Stamm der Bevölkerung zu gehören. Unter einander verkehren sie in ihrer Sprache, die der hindostanischen verwandt sein soll. Deshalb wohl hält man sie für Inder, für ausgewanderte oder vertriebene Parias aus dem Lande der Tschinganen oder Zinganen. Von den ihnen nachgerühmten körperlichen Reizen entdeckt man wie gesagt wenig. Entweder sind sie durch das lange Zusammenleben, durch die losen Eheverbindungen zwischen nahen Verwandten, sogar unter Geschwistern, entartet, oder durch die körperliche und moralische Verwilderung zurückgegangen. Reiner, unvermischter, als hier dürfte man aber die Zigeuner weder in Rußland, noch in Ungarn oder Italien antreffen. Mit Kindern überreich gesegnet sind ihre Verbindungen überall. In keiner Lagerstadt fehlt es an Nachwuchs, der mit den Schweinen und den Hühnern aufwächst, bis er selbst für sich sorgt. Wo die Greise, die Kranken bleiben, weiß man nicht recht. In die Versorgungsanstalten und Krankenhäuser kommen sie nur in sehr seltenen Fällen.
[825] Wir machten Halt vor dem Höhlenbezirk, den der Tribus unseres Capitano bewohnt. Die Damen unserer Gesellschaft, eine Schwedin und eine Finnländerin, fanden die wirthschaftlichen Zustände dieser unterirdischen Zigeunerstadt wenig appetitlich. Sie waren entschieden enttäuscht. Sie hatten Romantik, Poesie, fremdartigen Reiz erwartet, ein Stückchen Preciosa vielleicht, und fanden nun Schmutz, Elend, widrige Verkommenheit ohne jeden sentimentalen Zug. Diese Menschen mit den funkelnden Augen fühlten sich offenbar nicht einmal unglücklich in ihren Erdlöchern.
Doch wir waren einmal unter den Zigeunern und wollten uns ihre Künste daher nicht erst unten in der Stadt, sondern gleich an Ort und Stelle vormachen lassen. Der Hauptmann wußte für Alles Rath. Ein abgeplatteter Felsvorsprung ward zum Tanzboden. Angesichts der entzückenden Abendlandschaft, des maurischen Königsschlosses, der schon völlig im Schatten liegenden Stadt im Thale, lagerten wir uns auf die Steinblöcke umher. Braune Bursche machten mit einem Becken, einer Mandoline, einem Brummeisen Musik. Die Castagnetten klapperten den Tact dazu.
Leider blieb diese Musik nicht ohne Gesangbegleitung. Ein eintöniges Summen, das wie langausgehaltenes Gestöhne, wie Klageton klang, wurde von den zottigen, auf Steinen umhersitzenden Weibern begonnen. Die Tänzerin trat vor. Sie hatte einige Blumen in’s Haar gesteckt, sich mit einem verwaschenen, arg beschmutzten und zerschlissenen Rocke, mit einem kurzen Busentuche geputzt und war nicht ohne jene derbsinnliche Schönheit, die man bei den jugendlichen Geschöpfen ihres Volkes wohl antrifft, die aber weit verschieden ist von andalusischem Liebreiz, von der anmuthigen Geschmeidigkeit südspanischer Frauengestalten in erster Jugendfrische. Das Tanzen selbst ist eine Art Ballet. Mit den klappernden Castagnetten in jeder Hand, schreitet das Weib vorwärts und zurück, wiegt den Körper hin und her, wird feurig, leidenschaftlich, die Arme heben und senken sich in lebhafter Bewegung. Diese Schwingungen der nackten Arme sind eigentlich das Schönste an den Zigeunertänzen, die sich von denen der Südspanier kaum unterscheiden. Der ganze Körper sinkt hinab, schnellt wieder in die Höhe, beugt sich weit über, vorwärts und zurück, und immer sind es die in schönen Bogenlinien erhobenen Arme, die diesen Bewegungen erst Ausdruck und Anmuth verleihen. Ein junger Zigeuner tritt hinzu, aus dem Tanze wird eine Art Kampf, ein Haschen und Entweichen. Dazu beginnen die plärrenden Weiber tactmäßig in die Hände zu klatschen. Das Ganze gab ein fremdartig reizvolles Bild.
Drüben an den Randbergen des Genilthales sank der Sonnenball hinab. Die großen Linien der Landschaft hoben sich in tiefem Violett gegen den rosenrothen Himmel ab. Die Schneefelder der Sierra glühten. Die Steinwüste des Sacro Monte mit dem Getrümmer der alten arabischen Stadtmauer breitete sich in tiefer Oede und völliger Einsamkeit um uns aus. Die Gruppe abenteuerlicher und brauner Geschöpfe mit den wirren schwarzen Haaren, den struppigen Kindern, den offnen Höhlenwohnungen war das einzig Lebendige in der weiten Landschaft. Wir rüsteten uns zum Aufbruche. Zuvor aber klopfte das Mädchen mit ihrer Castagnette den Gästen auf die Schulter, ein anderes hielt die Schürze auf, das war eine Bitte um kleine Münze. Der Zigeunerhauptmann hatte seine Gebühr bereits empfangen, diese Spende ist nur ein Trinkgeld, für das die braunen Weiber sich Schnaps und Zuckerwerk kaufen. Zum letzten Male schnellten noch die gerundeten Arme in die Luft, die Gestalten wirbelten in wilder Erregung um sich selbst, das Klatschen der Hände, das Klappern der Castagnetten steigerte sich zu immer schnelleren Schlägen, die baskische Trommel klirrte unter den Händen der Spielleute, dann schienen Alle in tiefe Erschöpfung zu verfallen, – das Schauspiel war zu Ende.
Wir stiegen von den Abhängen des Sacro Monte hinab, bald deckten Abendschatten die Eingänge der Höhlen, die phantastisch geformten Cactusstauden entzogen das unterirdische Zigeunerdorf den Blicken, wir kamen in die engen Straßen von Granada zurück, zu unserem Gasthofe. Dort stellen sich täglich nach der Abendtafel auf vorherige Verabredung Zigeunergruppen, Tänzer, Spielleute, Sänger ein, um eine Vorstellung zu geben. Wer aber das Leben dieses halbwilden Völkchens in seiner Eigenart kennen lernen will, der muß es aufsuchen in seinen Höhlen am Abhange des Sacro Monte. Dort haust es seit der Zeit der Maurenherrschaft, dorthin kehrt es immer wieder zurück trotz aller Verfolgungen. Wie der Brombeere und den Disteln ist es ihm am wohlsten in culturlosem, mit Trümmern bedecktem Boden. Und den findet es an dem arabischen Albaycin.
[826]
Das Urbild des Fidelio.
Die Gefangenen zu Tours hatten in ihrem ruinenhaften und doch so festen Gefängniß eine traurige Nacht verbracht. Durch die ebenso kluge wie grausame Vorsorge Le Borgne’s war es ihnen nicht einmal möglich gewesen, sich der Sacristei zu nähern, um dem Grafen ein Zeichen zu geben. Geduldig mußten sie harren, bis die Stunde der Befreiung, die vielleicht die ihres Todes sein konnte, kommen würde. Doch die Zeit verging, der neue Tag drang in den wüsten Raum, und noch immer regte sich nichts, weder vor der Kirchenpforte noch in dem weiten Hofe. Stunde um Stunde schwand in gleicher beängstigender Stille dahin; der Mittag nahte heran, ohne daß Jemand sich zeigte, ihnen nur einen Trunk Wasser, ein Stückchen Brod zu bringen. Man mußte sie vergessen haben – oder sollte man sie absichtlich hier allein lassen wollen, um sie dem Tod des Verschmachtens preiszugeben? Solchen Befürchtungen verlieh Pujol Worte, dann faßte Margot, oder Blanche von Semblancay, wie wir sie jetzt nennen müssen, mit fester Hand nach ihrem von dem weiten Brusttuche bedeckten Mieder, als ob sie dort eine Waffe berge, die im Stande wäre, sie vor einem solchen qualvollen Ende zu bewahren und für immer mit dem geliebten, dem sichern Tode geweihten Gatten zu vereinigen. Doch jäh und zusammenfahrend ließ sie wieder von solchem frevlen Denken ab, und den Blick zu inniger Bitte nach oben gerichtet, faltete sie die Hände zum Gebet. Sie hoffte!
Mittag mußte schon eine ganze Weile, weit über eine Stunde, vorüber sein, da wurde es plötzlich in dem Gefängnißhof lebendig. Das große Thor schien lärmend weit aufgerissen zu werden, denn zwei dumpfschallende Schläge drangen bis in den Kirchenraum, dann näherten Stimmen sich rasch und hörbar dessen Eingang. Das alte Schloß knarrte, nun wurde ein Riegel nach dem andern aufgezogen und endlich öffneten sich auch beide Flügel der Pforte des entwürdigten Gotteshauses in ganzer Weite. Eine fanatische Menge drang in die Kirche ein, an ihrer Spitze zwei Personen, welche eher geradeswegs der Hölle entstiegen zu sein schienen, so abstoßend dünkten sie den hinter ihrem Eisengitter ihnen erschrocken entgegenschauenden drei Gefangenen. Carrier war es und sein Begleiter Le Borgne, die nach scharfem Ritt in Tours angelangt waren und sofort den Weg nach der Abtei eingeschlagen hatten, ohne sich um das zu kümmern, was hinter ihnen dreinzog und ihnen immer näher und näher rückte.
Auf der Schwelle des zerstörten Kircheninnern schrak sogar Carrier, dessen Auge und Herz sich doch an den furchtbarsten menschlichen Jammer gewöhnt haben mußte, sichtlich zusammen und zögerte weiter zu schreiten, so wüst und ekel erschien ihm das Chaos von Trümmern und Unrath, welche sein Auge zu streifen, sein Fuß zu betreten sich scheute. So drängten denn auch die sansculottischen Wächter des Gefängnisses und der Pöbel nicht weiter nach, sondern blieben draußen, den Eingang füllend, stehen, in Erwartung der Dinge, die da kommen mußten. Le Borgne, der den Weg nach dem Chor und der Sacristei einschlagen wollte, hemmte den Schritt und schaute Carrier fragend an. Dieser hatte eine erhöhtere Stelle seitwärts der Kirchenpforte erreicht und herrschte nun seinem Führer in gewohnter barscher Weise zu:
„Führe mir die Gefangenen her, hier will ich sie verhören und richten, und schnell soll es gethan sein!“
Sein Auge funkelte bei diesen Worten in schreckerregender Weise, und die Hand umkrallte den Griff seines langen Cavallerie-Säbels, den er wie ungeduldig in der metallenen Scheide lockerte, daß das scharfe klirrende Geräusch des Eisens unheimlich die Stille der weiten Hallen durchtönte. Le Borgne war nach der Sacristei geeilt, in seiner grimmen Freude mit seinen langen Beinen eilfertig die Trümmerhaufen überspringend, und als er nach kurzer Pause mit dem Grafen wieder zum Vorschein kam, da fuhr Carrier’s Gestalt hoch auf, und beide Hände auf die in ihren Riemen lenksame Waffe gestützt, schaute er mit seinen finsteren Blicken dem Gefangenen entgegen, als ob er nicht allein dessen Richter, sondern auch sein Henker wäre.
Ohne Furcht, aber mit unverhohlenem Abscheu, trat Graf René dem Manne näher, dessen Namen Le Borgne ihm genannt, mit Absicht genannt, und von dessen entsetzlichen Thaten er in seinem Versteck nur zu oft Kunde erhalten hatte. Als er vor ihm stand, eilte Le Borgne in gleicher Hast wie früher davon, die drei übrigen Gefangenen herbei zu holen.
Einige Augenblicke schauten die beiden Männer einander an, und vor dem flammenden Blick des Gefangenen mußte Carrier sein Auge senken, wodurch der Haß und Zorn in seinem Innern nur gesteigert werden konnte. Dann schüttelte die ganze Gestalt sich wie in heftigem Unwillen und in seiner frechen Weise fragte er:
„Du bist also der ci-devant Graf von Semblancay, der bei Le Mans unter dem Schurken, dem Fuhrknecht Cathelineau, gegen die wackeren Soldaten der Republik kämpfte?“
„Ich bin Graf René von Semblancay,“ entgegnete René mit einer stolzen Ruhe, als ob er die Beschimpfungen des Andern nicht vernommen hätte oder ihnen nur mit Verachtung begegnete. „Zugleich bin ich Capitain in dem Heere Sr. Majestät unseres allergnädigsten Königs Ludwig XVII., das unter Führung seines edlen Commandanten Cathelineau für Thron und Altar kämpft und jederzeit bereit ist, freudig das Leben für die königliche Sache zu opfern.“
„Das wagst Du mir zu sagen?“ schrie Carrier auf, zitternd vor Zorn und das fahle Gesicht nun mit einer flammenden Röthe bedeckt, „hast dies Alles natürlich auch Deinen Richtern gesagt und trägst trotzdem nach drei Tagen Deinen Kopf immer noch auf dem Rumpfe?!“
„Ich habe Jedem frei und offen also geantwortet, der mich darum befragte, wie es sich für einen Mann von Ehre geziemt, und ich würde keinen Augenblick anstehen, Deinen Obern, den tausendfachen Mördern und ihrem fluchwürdigen Haupt Robespierre, in gleicher Weise zu antworten.“
„Du Schuft!“ schrie Carrier sinnlos vor Wuth auf, und zugleich fuhr sein Säbel klirrend aus der Scheide.
„Stünde mir eine Waffe zu Gebot, so würde ich den Elenden, der ein solches Wort mir gegenüber wagte, passend zu züchtigen wissen,“ lautete die mit Hoheit gegebene Antwort des Grafen.
Da hob sich der Arm Carrier’s mit der blinkenden Waffe, zugleich wollte er mit einem Sprung sich auf den unbeweglich vor ihm stehenden Grafen stürzen, als er plötzlich mit einem grellen Wuthschrei innehielt und wie vor Schreck erstarrt stehen blieb. Denn Unerwartetes war mit der Schnelligkeit eines Blitzes geschehen.
Aus der längst von Le Borgne herbeigeführten Gruppe der anderen Gefangenen hatte sich Blanche gelöst und war auf den Grafen zugeflogen, den Bedrohten mit ihrem Leibe deckend. Während sie den Gatten mit dem linken Arm heftig umschlang, war die Rechte unter dem Tuch des Mieders mit einer dort verborgen gehaltenen Pistole wieder zum Vorschein gekommen, deren Mündung sie auf Carrier richtete, in demselben Augenblick, als dieser in seiner Wuth den Arm zum tödlichen Streiche auf den Grafen erhoben hatte. Zugleich rief sie mit einer Stimme, die wie der Ruf eines richtenden Erzengels in hellem ergreifenden Klang die Kirchenhalle durchtönte:
„Zurück, Unmensch! oder Du bist des Todes!“
Carrier wankte – sein Fuß strauchelte und mit dem einen Knie sank er zu Boden; sein Gesicht war erdfahl geworden, die Mündung der todbringenden Waffe sah er immerfort und unbeweglich auf sich gerichtet – den Arm mit dem Säbel hatte er vollends sinken lassen.
Ein Staunen, mit Erschrecken gepaart, hatte sich Aller bemächtigt, die Zeuge dieser Scene gewesen; der Athem eines Jeden schien zu stocken, keiner einer Bewegung fähig zu sein, bis auf die rohen Sansculotten, die draußen standen und ihre tiefe Ergriffenheit nicht zu verbergen vermochten. Selbst Graf René, der sein theures Weib, dessen Liebe und Heldenmuth so Hohes für ihn gewagt, ihm das Leben gerettet hatte, in seinen Armen wußte, selbst er vermochte im ersten Augenblick nicht einmal den Namen Blanche auszurufen.
Da durchtönte die ergreifende Stille, und die Spannung des Augenblicks lösend, eine fremde Stimme, die mit Ruhe, doch auch mit einer überlegenen Ironie sagte:
„Ei, ei, Bürger Carrier! Du liegst vor einer Aristokratin auf den Knieen? – und deshalb bist Du mir heute früh – [827] desertirt? Es ist wohl eine Wandlung mit Dir vorgegangen, aus dem sansculottischen Saulus ist ein royalistischer Paulus geworden? Oder sollte das kleine Ding in der Hand der Frau dort Deine zarten Nerven so gewaltig erschüttert haben?“
Es war der Commissair des Wohlfahrtsausschusses Saint-André, der mit seinem Gefolge gleich nach Carrier in Tours angelangt und, von dem öffentlichen Ankläger Bouilly geführt, sofort nach der Abtei geeilt war. Beide Beamten der Republik hatten die Schwelle der Kirche im entscheidenden Augenblick erreicht, und mit durchaus verschiedenartigen Gefühlen waren sie dem Auftritt gefolgt. Saint-André empfand eine nicht geringe Freude über die fatale Niederlage Carrier’s, die er jedoch nur durch seine ironischen Worte kundgab, während Bouilly’s Blicke leuchteten, nicht etwa nur aus Theilnahme: er hatte die Scene mit den Augen des Dichters, des Dramatikers erschaut.
Nach den Worten Saint-André’s, die Carrier wie mit glühenden Nadelstichen treffen mußten, hatte sich dessen Lippen ein grimmer Fluch entrungen und keuchend, zitternd vor Wuth und Schrecken, erhob er sich vom Boden. Schon redete Saint-André weiter, und mit ernstem, beruhigendem Ton wandte er sich an Blanche, die noch immer die toddrohende Waffe schußfertig in ihrer Hand hielt.
„Setzt die Waffe in Ruhe,“ so sprach er, „Ihr habt von uns nichts für den Mann an Eurer Seite zu fürchten: die Republik wird ihn richten, und ihrer Gerechtigkeit dürft Ihr vertrauen.“
Da löste sich die Starrheit der heldenmüthigen Frau in ein krampfhaftes Schluchzen auf. Die Pistole ließ sie zu Boden fallen, und beide Arme um den Hals des Gatten schlingend, ihn krampfhaft an ihre Brust drückend, stieß sie unter Weinen und Lachen nur die Worte hervor: „René, mein René!“
„Mein geliebtes, heldenmüthiges Weib! meine theure Blanche, wie kann ich Dir danken – wie Dir jemals vergelten, was Du in Deiner Liebe für mich gethan hast?!“ So vermochte René endlich zu reden, und indem er die geliebte Gattin in seinen Armen hielt und ihre Stirn küßte, wurden auch seine Augen feucht. Und er schämte sich dieser Mannesthränen nicht, hatte doch mancher der rohen Sansculotten nach den Augen fahren müssen, sich dort ein Naß wegzuwischen, das ihnen wohl schon längst fremd geworden sein mußte.
Nun grüßte auch der alte Gratien mit thränenfeuchten, doch glücklichen Blicken seinen Herrn, nur Pujol stand abseits, finster zu Boden blickend, als wenn er nicht würdig sei, sich der Gruppe der Glücklichen zu nähern.
Carrier war hinaus in den Hof gestürzt, von Le Borgne gefolgt. Nun verließen auch Saint-André und Bouilly den Kirchenraum, und scheu theilte sich die Menge vor dem buntgeputzten hohen Beamten der Republik. Da trafen sie auf Carrier, der zornwüthenden Blickes sich vor Saint-André hinstellte und ihm mit zischenden Tönen die Worte zuschleuderte:
„Ich reite direct nach Paris, um dem Comité, das Dich gesandt hat, Dich und Dein verrätherisches Thun zu denunciren!“
„Und ich begleite den Bürger Carrier, um als Zeuge gegen Euch Alle auszusagen!“ schrie Le Borgne, zugleich den Bund Schlüssel Bouilly vor die Füße werfend.
„Gehe!“ rief Saint-André mit höhnischem Drohen Carrier nach, der auf die in der Nähe des Thors angebundenen Pferde zuschritt, „und sieh Dich vor, daß Du nicht selber auf die Guillotine geschickt wirst! Doch nun ist es Zeit zu frühstücken,“ wendete er sich jetzt fast scherzend an Bouilly. „Der Satansmensch hat mir seit fünf Uhr in der Früh keinen Augenblick gegönnt, um nur einen Bissen, einen Trunk zu mir zu nehmen, was allein schon die Guillotine verdient hätte, welcher der Wahnwitzige gewiß nicht entgehen wird. Gebt rasch Eure Befehle, dann kommt, alles Uebrige besprechen wir bei Tische, denn auch ich darf keinen Augenblick mehr säumen, muß rasch ihm nach und nach Paris.“
Bouilly ließ den Hof von dem Pöbel, der eingedrungen war, säubern, dann hieß er einen der Wächter die Schlüssel an sich zu nehmen, die Kirchenpforte zu schließen und die Gefangenen einstweilen in ihrem Verwahrsam zu belassen und zu bewahren.
Carrier und Le Borgne trabten auf ihren abgetriebenen Pferden, die sie bald durch frische zu ersetzen gedachten, davon, und wenige Augenblicke später fuhr der Wagen des Commissairs der Republik, der draußen auf der Gasse gewartet hatte, mit Saint-André und Bouilly, von den Husaren gefolgt, nach dem ehemaligen erzbischöflichen Palais, dem heutigen Tempel der republikanischen Gerechtigkeit und der Wohnstätte ihres ersten Priesters.
Wiederum waren zwei Stunden vergangen, für die Gefangenen in einer hoffnungsfreudigen Erwartung, die sie vollständig vergessen ließ, daß sie seit gestern Nachmittag nichts genossen hatten. René und Blanche hatten für nichts Anderes Sinn, als für ihre Wiedervereinigung, ihre Rettung aus drohender Gefahr, doch auch die beiden alten Leute, Gratien sowohl wie den armen Pujol, ließen sie theilnehmen an ihrem Glücke, das bald in einer stillen, seligen Herzensfeier sich äußerte, bald in himmelhoch jauchzenden Freudenlauten Ausdruck zu finden suchte. Da wurde endlich die große Pforte wieder geöffnet, und der neue Schließer trat ein. Er habe Befehl, die Gefangenen vor den öffentlichen Ankläger zu führen, so sagte der Mann und forderte dann die Vier auf, ihm zu folgen.
Als sie vor Bouilly in dessen zeitweiliger prächtiger Wohnung standen, sprach dieser vorerst zu Pujol ernst und jedes Wort betonend: „Nimm die Schlüssel der Abtei wieder an Dich; entlasse die Patrioten bis auf zwei, welche als Wache für die Gebäulichkeiten genügen; die Gefangenen sollen an anderem Orte abgeurtheilt werden.“
Nachdem Pujol und dessen Gefährte sich entfernt hatten und Bouilly sich mit den drei Gefangenen allein befand, sagte er nach einigen Augenblicken der Sammlung mit einer Verbeugung zu dem Grafen:
„Durch den Commissair der Republik ist mir die Weisung geworden, Sie nach beendigter Untersuchung dem Revolutions-Tribunal zu Paris zu überweisen. Doch dürften darüber noch mehrere Tage vergehen. Bis dahin soll – meine Wohnung Ihr Gefängniß sein, wenn Sie mir Ihr Wort geben wollen, dieselbe nicht ohne mein Wissen zu verlassen.“
Ein zitternder Freudenlaut Blanche’s beantwortete diese wohlwollende Rede, und Graf René blickte freudig erstaunt auf den ehemaligen Jugendfreund und entgegnete:
„Ich verspreche es Ihnen nicht allein mit meinem Ehrenworte, sondern — gebe Ihnen auch die Hand darauf.“
Zugleich reichte er Bouilly die Rechte, die dieser gerührt ergriff und als ein Zeichen der Versöhnung mit freudigem Danke in der seinigen preßte.
Die Tage vergingen, und noch immer weilte Graf René von Semblancay mit seiner Gemahlin, nur dem Sinne nach, nicht in Wirklichkeit als Gefangener, in der Behausung des Beamten der Republik. Da nahte der 9. Thermidor, und bald langte auch von Paris die Kunde an von dem Sturze Robespierre’s und der Hinrichtung des Tyrannen und seines ganzen blutgierigen Anhangs: etwa hundert Personen, fast die ganze Pariser Commune sandten die Sieger auf die Guillotine. Die Schreckensherrschaft war vorüber, und wie Paris, athmete ganz Frankreich auf. Als Bouilly diese wichtige Kunde mit unverhohlener Freude seinem Gefangenen mittheilte, sprach er leuchtenden Blickes zu ihm:
„Nun sind Sie frei, Herr Graf, auf meine Verantwortung entlasse ich Sie, Ihre Frau Gemahlin und Ihren alten treuen Diener. Und nun hören Sie weiter, was ich mir für Ihre nächste Zukunft ausgedacht habe. Denn Vorsicht ist noch immer nöthig, und die besseren Zeiten werden wohl noch eine Weile auf sich warten lassen. In dem nahen Coudraye befindet sich das Haus meiner Eltern, es steht in der Obhut eines Mannes, der Vertrauen verdient. Eine Weisung ist bereits an ihn abgegangen, daß die Stätte meiner Geburt neue Bewohner erhalten wird, die er als Herren des Orts zu betrachten hat. Ich biete Ihnen das Haus mit Allem, was es enthält und umfaßt, als ein Asyl an, das Ihnen Sicherheit gewähren wird, und zwar für so lange, als Sie es mit Ihrer Gegenwart zu beehren für gut und rathsam finden werden. Ich hoffe, Herr Graf, daß Sie mein wohl gemeintes Anerbieten nicht zurückweisen werden, und müßte ich dazu als Beistand – die Erinnerung an alte, glückliche Zeiten in Ihrem Gedächtniß wieder wachrufen.“
Graf René war vollends besiegt. Tief gerührt entgegnete er rasch:
„Nur von einem Freunde kann und darf ich einen solchen edelherzigen Dienst annehmen, und ich thue es mit innigstem Danke für mich und meine Blanche, indem ich Ihnen betheuere, [828] daß heute mein Herz für Sie empfindet, wie in unserer schönen Jugendzeit, und mein Mund Sie wie damals mit dem Freundesnamen grüßt!“
Nach diesen Worten umarmte er Bouilly, und Gräfin Blanche reichte ihrem Retter mit dankenden Worten die Hand.
Noch an demselben Tage verließ das junge, der Freiheit und dem Leben wiedergegebene Paar in einfach ländlicher Kleidung und in Begleitung des alten treuen Gratien die Wohnung des neugewonnenen Freundes und die Stadt. Diesmal hatten sie keinen störenden Aufenthalt an dem Thore, denn Zeit und Menschen hatten sich bereits merklich geändert, und der Beamte der Republik geleitete sie, um die Freunde in ihre neue Heimath einzuführen. –
Das Revolutions-Tribunal zu Tours wurde von den neuen Machthabern aufgehoben, und Bouilly ward seiner Stelle als öffentlicher Ankläger ledig. Bald darauf kehrte er nach Paris zurück, das er von nun an nicht mehr verlassen sollte.
In Paris nahm Bouilly seine schriftstellerische Thätigkeit wieder auf, die sich mit besonderer Vorliebe, und von einem seltenen Erfolge gekrönt, der Operndichtung zuwendete. Er hatte Viel erlebt und an Stoffen fehlte es ihm nicht. So wurde er durch das nicht gewöhnliche Darstellungstalent der ersten Sängerin des Theaters Feydeau, der schönen Madame Scio, angeregt, die hochdramatische Situation, der er im Gefängnisse der Abtei zu Tours beigewohnt hatte, als Blanche von Semblancay das Leben ihres Gatten gegen den Unmenschen Carrier mit einem bewunderungswürdigen Heldenmuthe vertheidigte, dramatisch zu verwerthen. Doch mußte er dazu Zeit, Ort und Namen ändern – es wäre unmöglich, zu gefährlich und auch zu undelicat gewesen, anders zu verfahren. Er schrieb ein Opernbuch, das er „Léonore, ou l’amour conjugal, fait historique en deux actes“ (Leonore, oder die eheliche Liebe, eine historische Begebenheit, in zwei Acten) benannte, dessen Handlung in Spanien und vor etwa hundert Jahren spielte. (Erst später änderte Bouilly diese Bezeichnung und sagte „Fait historique espagnol“.) Gaveaux, der erste Tenor des Theaters Feydeau, zugleich fruchtbarer Operncomponist, setzte das Buch in Musik, und am 19. Februar 1798 wurde die Oper unter obigem Titel in dem genannten Theater zum ersten Male aufgeführt. Der Erfolg war für das Buch ein ganz bedeutender, für die Musik ein weniger guter, und deshalb hielt sich die Oper nicht lange auf dem Repertoire. Auch fand diesmal nur das Buch den Weg über die Grenze nach Deutschland. Zuerst componirte es hier der Italiener Paër, damals Capellmeister der italienischen Hofoper in Dresden, dann gelangte es in die Hände Beethoven’s, dem es Gelegenheit bot, sein Meisterwerk „Fidelio“ zu schaffen, das 1805, bei seiner ersten Aufführung verkannt, bei Seite gelegt – 1814 mit größerem Glücke, weil besser verstanden, wieder aufgenommen – erst 1822, durch die hinreißende Wiedergabe der Titelrolle durch die achtzehnjährige geniale Wilhelmine Schröder (bald darauf Schröder-Devrient) sich den bewundernden Zeitgenossen in seiner ganzen Größe, seinem vollen Glanze offenbarte, das als eines der größten musikalisch-dramatischen Meisterwerke gelten wird, so lange die Menschen Freude empfinden an dem wahren Schönen in der Kunst.
Wie ich Schriftstellerin wurde.
Vielleicht lag mir dieser Beruf im Blute. Seit Generationen ist in den Familien, denen ich entstamme, mit Tinte und Feder hantirt worden, hauptsächlich – da meine sämmtlichen Angehörigen Juristen und Theologen waren und sind – zu wissenschaftlichen Zwecken. Die Vorfahren meiner Mutter haben manches Buch in die Welt hinaus gehen lassen, und mein Vater war eine leichtbeschwingte poetische Natur; er bedurfte nichts als einer guten Cigarre, um die hübschesten Gelegenheitsgedichte aus dem Aermel zu schütteln.
Auf dem welligen Landstriche, der zwischen Thüringer Wald und Harz sich hinzieht, sind wir zu Hause. Meines Vaters Heimath war die kleine Residenzstadt Sondershausen, und er besaß den heitern Geist und den ganzen schlagfertigen Witz, der den Bewohnern dieser Stadt eigen ist; meine Mutter ist eine echte Tochter Arnstadts, mit ernstem Sinn, starker Arbeitskraft und gern spinnender Phantasie begabt. In Sondershausen bin ich als einziges Kind meiner Eltern geboren und immer wieder nach kurzen Abwesenheiten dahin zurückgekehrt.
Umgeben von Büchern wuchs ich auf. Vor der Polyglotte, deren neun Sprachen der gelehrte Großvater meiner Mutter kundig gewesen war, und vor dem Corpus juris in meines Vaters Bücherschrank wurde mir frühzeitig Ehrfurcht eingeflößt. Aber ich durfte mich an den Darstellungen im alten Evangelienbüchlein erfreuen, in welchem Satanas vierbeinig und gehörnt Unkraut unter den Weizen säete, und es wurde mehr gelacht als gestraft, als ich das Werk des alten Hexenrichters Carpzow zum Schlitten degradirt hatte, indem ich einen Strick um seinen dicken Leib band. Von meinem Spielzeug war mir das liebste ein großes Theater mit vielen prächtig geputzten Puppen vom Kaiser im Purpurmantel bis zum Bauern in Hemdärmeln.
Ich lief noch in meinen ersten feuerrothen Schuhen umher, als mein Vater zum Einzelrichter im Amt Keula ernannt wurde, das hoch über dem Eichsfeld liegt. Wir wohnten dort in einem altersgrauen burgartigen Gebäude mit riesigen Steinkaminen und hohen Thürschwellen, über die ich mit Vergnügen Turnkünste übte. Zu Johanni durfte ich mit den gutgearteten Bauernkindern unter der Dorflinde im Reigen springen, bei welchen fröhlichen Gelegenheiten ich den Dialect des Ortes mit Virtuosität sprechen lernte. Wie heimelte es mich nach Jahren an, als ich bei der Lectüre unserer mittelalterlichen Literatur im „Spiel von den zehn Jungfrauen“, das im 14. Jahrhundert in Eisenach aufgeführt worden ist, die „Brut“ und den „Brüt’gm“ statt Braut und Bräutigam wieder fand.
Eine Versetzung meines Vaters führte uns aus dem winkeligen Gebäu in das ehemalige fürstliche Jagdschloß von Ebeleben, das jetzt die Amtswohnung enthält. Dort habe ich während der Sommerzeit im altfranzösischen Garten Verstecken gespielt zwischen steif geschnittenen Hecken, in verfallenen Grotten und hinter steinernen Hirschen, Hunden und bezopften Jägern. Im Winter aber lernte ich das Gruseln; denn an einem bestimmten Decembertage sollte es in einem Saale, der einen dunklen Flecken am Fußboden trug, nicht geheuer sein, und männiglich war es bekannt, daß dort einer fürwitzigen Scheuerfrau der Strohwisch von unsichtbarer Hand eine Glockenstunde lang festgehalten worden war.
Ein günstiges Geschick fügte es, daß, als die Schulzeit für mich anbrach, mein Vater wieder nach Sondershausen zurückversetzt wurde, wo sich gute Lehranstalten befinden. Ich zeichnete mich zuerst durch Zerstreutheit, mangelhafte Rechenkünste und Tintenklekse aus; aber mit der Zeit arbeitete sich ein Talent für deutsche Aufsätze und den Vortrag schwungvoller Gedichte durch.
Zur Bereicherung meiner Phantasie trugen die öfteren Besuche bei meinem Großvater mütterlicherseits viel bei. Er war nach Eisenach als Vicepräsident an das dortige Appellationsgericht versetzt worden in der Zeit, zu welcher der Professor von Ritgen die Wartburg ausbaute, Moritz von Schwind sie mit seinen herrlichen Fresken schmückte. Noch heute webt ein poetischer Zauber um die Erinnerung an die Mondscheinabende, an denen wir in der Burg weilten. Die geistvolle Schwester meiner Mutter, die auch einen Roman veröffentlicht hat, aber früh verstorben ist, erzählte dann alle die Sagen und Historien, deren Schauplatz die alte Veste war, und in den Rundbogenfenstern des Landgrafenhauses, wo dereinst im Wettgesang zur kleinen Harfe Wolfram von Eschenbach, Heinrich von Ofterdingen und Klingsor stritten, saßen junge Künstler, ließen die thüringer Cither schwirren und sangen schwermüthige Volkslieder.
In diese schöne bunte Welt brachte meine Mutter den festen Halt. Schon in jener Zeit, in welcher die Frauenfrage noch nicht eine brennende geworden war, sprach sie den Grundsatz aus, daß auch ein Mädchen einen bestimmten Beruf haben müsse, um das Leben würdig auszufüllen. Mit dem Augenblicke, da ich confirmirt wurde, wußte ich, daß ich mir einen Wirkungskreis zu schaffen habe. Nur war mir noch unklar, welches Ziel ich mir erwählen sollte.
[829] Das Kunstleben in meiner Vaterstadt zog mich zuerst zum Theater hin. Ich vermochte äußere Eigenthümlichkeiten der Menschen schnell zu erfassen und wiederzugeben; es wurde mir leicht, mich in eine fremde Seele hinein zu versetzen und in ihrem Sinne zu denken. Bei Liebhabertheatervorstellungen und Polterabendaufführungen gefiel mein Spiel. Ich wollte Schauspielerin werden und studirte einstweilen die Beatrix in „Viel Lärm um Nichts“ und, wenn ich in ernster Stimmung war, die Thekla im „Wallenstein“.
Aber wieder erklang in die bunten Träume, die diesmal von der glänzenden Bretterwelt erfüllt waren, die Weisung: du hast noch nicht die Hälfte deiner Lehrjahre hinter dir. Wenn es sich darum handelte, zu arbeiten, hat immer ein guter Stern über meinem Haupte gestrahlt. Das bewährte sich auch diesmal. Ein genialer Musiker, der ein Vorkämpfer der Wagner’schen Richtung in unserer Stadt war, ertheilte mir Unterricht, hauptsächlich in Theorie und Geschichte der Musik; zwei gelehrte Professoren, von denen der eine längst Director eines Gymnasiums in Preußen ist, der andere als Botaniker europäische Berühmtheit genoß, ließen sich herbei, mir die geistigen Schätze zu erschließen, welche die verschiedenen Völker bei ihrem Gang durch die Jahrtausende aufgespeichert haben. Vor Allem zog mich das Studium der reichen Flora meiner von herrlichen Buchenwäldern umrauschten Heimath an. Damals wünschte ich, wenn ich die braune Orchideen-Wurzel, die man Glückshand nennt, um die Johanniszeit grub, auf dem Gebiete der Wissenschaft ein Ziel zu erreichen. Doch bald fesselte mich mehr als die Erforschung der Pflanze das, was die Phantasie der Völker um dieselbe gesponnen hat. Es ließ mich gleichgültig, daß Linné die Eiche in die einundzwanzigste Classe seines Systems, Jussieu sie in die Familie der Näpfchenfrüchtler wies; aber ich freute mich daran, daß das deutsche Volk dem Baume die Treue länger als ein Jahrtausend gehalten hat: wie es ihn einst seinem stets mit dem Hammer dreinschlagenden Donar weihte, so schmückt es noch heutzutage den Orden für Muth im Felde mit Eichenlaub. –
Zu derselben Zeit wurde ich in die Welt und die Gesellschaft eingeführt. Ich durchwanderte mit meinem geschriebenen Heft pedantisch die Glyptotheken, Museen und Gemäldegallerien unserer großen Städte; es wurde mir aber erst wirklich wohl, wenn mir beim Anblick der Sixtinischen Madonna oder in Worms vor dem Luther-Denkmal Stift und Notizbuch aus den Händen sanken. In der Schweiz spähte ich zwar nach seltenen Pflanzen aus; aber als am Urner See die Worte „Schächen“, „Rütli“ an mein Ohr schlugen, vergaß ich die Alpenrosen; es war mir, als trügen mich weder Boot, noch Bergpferd, sondern die mächtigen Schwingen des deutschen Dichters, dessen Verse das Tell-Denkmal schmücken. Zu dem Wirbel der Nebelgestalten, die den Brocken umschwebten, mußte ich leise die wilden Reime aus Goethe’s Walpurgisnacht sprechen, und unter dem Thorbogen von Rolandseck, den das Gesumme der Klosterglocken von Nonnenwörth durchzog, klangen die wehmüthigen Liebesklagen Toggenburg’s in mir wieder.
Aber nicht nur die Freuden und Leiden längst vergangener Menschen interessirten mich, sondern ebenso sehr die mit mir im rosigen Licht athmende Generation, und ich verfehlte keine Gelegenheit, die unser heimisches Gesellschaftsleben bot, um mich mit diesem recht vertraut zu machen.
Es glitt sich ja auch so leicht auf dem glatten Parquet des Ballsaales in einem en avant deux dahin, und es war ein so großer Genuß, unsere berühmten Loh-Concerte zu besuchen, wo ein Nachtigallenchor die Vorträge unserer vorzüglichen Capelle ablöst, und wo ein buntes Bild sich entfaltet, in welchem weder die eleganten Herren und fächelnden Damen fehlen, die den Walkürenritt besprechen, noch der alte pensionirte Dorfschullehrer, der den weiten Weg macht, um andachtsvoll einer Mozart’schen Symphonie zu lauschen. – Und was das Beste war: vielen bedeutenden und liebenswürdigen Menschen gegenüber glaubte ich Doctor Faust’s Zauberkäppchen zu tragen; sie erschlossen mir ihre innersten Herzensthüren.
Mit sieghafter Gewißheit ging mir die Ueberzeugung auf, daß der Mensch das interessanteste Gebilde der Natur ist. Ich ließ die Pflanzen-Biographien, die ich ausarbeitete und auch glücklich durch einen vielgenannten wohlwollenden Schriftsteller in einer Zeitschrift unterbrachte, bei Seite und begann die Novellen- und Märchenstoffe, die mich umschwirrten, mittelst des alten Zaubersaftes Tinte auf das Papier zu bannen.
In dieser Zeit traf mich ein schwerer Schicksalsschlag. Mein heiß geliebter Vater wurde mitten aus rüstigem Wirken heraus – er war zuletzt Director des Kreisgerichts in Sondershausen – uns durch den Tod entrissen.
Nun sind schon zehn Jahre vergangen, seit ich ihm seinen Lieblingsbaum, eine Linde, auf das Grab pflanzte. Die kleinen bunt gefiederten Waldsänger aus unseren Buchenhallen, die er gern um sich hegte, flattern durch ihre grünen Zweige. – Andere schmerzliche Verluste folgten. Mein gütiger Großvater schloß für immer die Augen; theure Lehrer, liebe Freunde und Freundinnen mähte der Tod dahin. – Da war es die Arbeit, die mir über die schweren Zeiten hinweghalf, die mich davor bewahrte, in dem Schmerz zu versinken, die mich dem Leben zurückgewann.
Ich nahm die Feder wieder auf und schrieb rüstig weiter.
Aber auch ich habe die Erfahrung gemacht, daß es leichter ist, Erzählungen zu schreiben, als zu veröffentlichen. Ich mußte [830] noch viel lernen, bis meine Arbeiten den Redactionen annehmbar erschienen. Doch wieder fand ich wohlwollende kluge Rathgeber und hatte endlich die Freude, daß die „Gartenlaube“ meinen „Krieg um die Haube“, dem „Glockenstimmen“ und „Fanfaro“ seitdem gefolgt sind, aufnahm. Auch die Kindergeschichten wurden in Lohmeyer’s „Deutscher Jugend“ und andern Jugendschriften abgedruckt; jetzt werden sie zu Weihnachten, mit hübschen bunten Bildern versehen, den Kindern vorgelegt.
So war denn ein Ziel erreicht.
Aber wo blieb die schrankenlose Freude, die ich mir beim Beginn meines Strebens vom erreichten Ziel versprochen hatte? Wie Viele von Denen fehlten, mit denen ich sie hatte theilen wollen! Ein kleiner Kreis nur noch ist es, der am Weihnachtsabend die Fichte umsteht, an der ich die Wachslichter anzünde. Still, in wehmüthigem Gedenken sehen wir sie niederbrennen. Aber aus dem dunklen Wipfel tönt die ernste Mahnung: „Fordere nicht mehr als ein Erdenloos. Seit zwei Jahrtausenden stehe ich an dem hohen Fest des Jahres bei deinem Volk, und ich sah allezeit Freud und Leid gemischt euch zugewogen. Glück schon war es, mit edlen Menschen in Gemeinschaft verbunden gewesen zu sein, die reine Erinnerung an sie mit durch das Leben nehmen zu dürfen.“
Und vor mir liegt ein reiches Tagewerk fröhlicher Arbeit, die Aussicht auf ein Dasein, das ich nach meiner Eigenart mir ausgestalten darf. Nicht die am wenigsten genußreichen Stunden sind es, die ich in meinem Heim verlebe. Es ist durchwebt mit vielen alterthümlichen Gegenständen; denn solche sind meine zeitgemäße Liebhaberei. Dann sitze ich in meinem Rococostübchen voll krummbeiniger, mit vergoldeten Muscheln und Schleifen verzierter Möbel und freue mich an den „Kaffeeschälchen“ von altem Meißner Porcellan und dem noch ältern Schränkchen mit Kugelfüßen und zierlich in Holz eingelegten Blumen und Früchten, das meine Münzsammlung enthält.
Und auch diese stumme Umgebung vertraut mir Manches an. In der Dämmerstunde wird Alles lebendig. Im Winkel der eiserne Harnisch eines Stadtsöldners, der aus dem Freihaus stammt, das meine Vorfahren besaßen, auf dem Bücherbord das alte Kräuterbuch, welches ein Zeitgenosse Luther’s schrieb, auf dem Riedinger’schen Kupferstich der Reiter mit dem dreieckigen Hütchen und endlich der Guckkasten meines Urgroßvaters, in dem gepuderte Damen in der Menuet knixen, schwere Staatscarossen mit Straußfederbüschen dahinhumpeln und alle möglichen Soldaten, die der alte Fritz commandirte, aufmarschiren oder dreinhauen, je nach der Waffengattung, der sie angehören.
Dann ist’s mir, als hörte ich raunen: „Eile dich; zünde die Lampe an, daß du niederschreibst, was wir dir erzählt haben; denn du bist noch lange nicht an deinem Ziel.“
Und sie haben Recht.
Auch noch in einem andern Sinne, als solch ein Dämchen mit Reifrock und Schminkpflästerchen sich träumen läßt. Denn wie man beim Hinaufklimmen erst die ganze Höhe des Berges ermißt, so sah auch ich ein, daß, was ich für das Ziel hielt, nur eine Stufe zu demselben war.
Ich erkannte, daß die poetische Arbeit nicht alleiniger Zweck sein darf, sondern daß das letzte Ziel jedes menschlichen Lebens darin besteht, die ewige Wahrheit im Wechsel der Erscheinungen zu suchen. Das thut der Componist, wenn er alle Dissonanzen in Harmonien auflöst, der Schriftsteller, wenn er die Conflicte stellt, wie das Leben sie bietet, und die Lösung sucht nach höchstem sittlichen Gesetz.
Horch! die alte Uhr hebt aus, die seit einem Jahrhundert in meiner Familie frohe und traurige Stunden geschlagen hat. Sie brummt erst ein Weilchen, wie alte Leute gern thun, dann kündet sie mit heller Stimme die Arbeitsstunde an.
Wohlauf denn! damit einst meine freundlichen Leser und Leserinnen mit gutem Gewissen sagen können: „Sie hat ihr Ziel erreicht.“ Stefanie Keyser.
Vom Weihnachtsbüchermarkt.
Wer mit dem Gedanken an seine Lieben zum Büchertisch des Weihnachtsmarktes eilt, dem schweben auf seinem Wege neben den unvermeidlichen Bilderbüchern für die Kleinen in der Regel auch Gedichte in festlichem Einbande vor Augen, und wenn er sonst das ganze Jahr die Prosa selber wäre. Da sich also mit den Christfesttagen für unsere dichterischen Schöpfungen die glückselige Zeit ihrer größten Beachtung naht, so dürfen wir nicht säumen, unsern Lesern auf dem großen Gabentische Dasjenige anzuzeigen, was sie mit voller Befriedigung im Bescheerungspakete mit heimtragen können.
Besonders beliebt als Festgeschenke sind Sammlungen aus dem Reichthum unseres Dichterwaldes. Da finden wir: „Deutsche Lyrik der Gegenwart seit 1850. Eine Anthologie mit biographischen und bibliographischen Notizen. Herausgegeben von Ferdinand Avenarius. Dresden, Louis Ehlermann, 2. Auflage 1884.“ Das Werk zeichnet sich durch die Strenge seiner Auswahl aus. Die Ausstattung im Aeußern und Innern zeugt von feinem Geschmack.
In einfacherem Gewande und mit geringeren Ansprüchen tritt daneben ein „Sächsisch-thüringisches Dichterbuch, herausgegeben von G. Emil Barthel (Halle an der Saale, Otto Hendel)“ auf. Es schließt sich würdig an das früher erschienene „Neue Münchener Dichterbuch,“ herausgegeben von Paul Heyse, an, welches allerdings berühmtere Dichternamen aufzuweisen hat. Ist das Barthel’sche Buch auch nur ein Provinzial-Musenalmanach, so kommt es doch aus dem sangreichen Herzen Deutschlands, dem es nie an Dichternamen gefehlt hat, die auch jenseit seiner engen Grenzen guten Klang haben.
Auf den Bescheerungsplatz für „höhere Töchter“ bis zu den Bräuten hinan gehört die in jeder Beziehung mit Geschmack und Pracht ausgestattete Festgabe: „Im Kranze des Jahres. Ein Gedenk- und Gedichtbuch für’s Haus. Mit 12 Illustrationen in Farbendruck, nach Aquarellen von Julius Hoeppner. 2. Auflage. Leipzig, E. Zehl.“ Wir haben mit diesem Buche nichts mehr und nichts weniger, als einen höchst eleganten Kalender vor uns. Jeden Monat führt eines der 12 Farbendruckbilder, lieblichste Genien- und Kindergruppen, ein, dann folgen 4 Seiten Gedichte, 2 liniirte Seiten zu Einzeichnungen für Gedenktage und 4 leere Blätter für Notizen etc. Der poetischen Beigaben sind es 59 von 47 Dichtern ersten Ranges.
Beiden Geschlechtern für die richtige Lenkung der Herzen zum Glück gewidmet sind: „Liebesgrüße. Blumen aus dem Garten der Poesie, gesammelt von Julie Dohmke. Mit 12 Illustrationen nach Zeichnungen von J. G. Fuellhaas. Leipzig, Friedrich Brandstetter.“ Die Herausgeberin sagt ausdrücklich, daß sie aus diesen Liebesgrüßen die Klage gänzlich verbannt habe, damit sie der Jugend einen Frühlingsgruß glücklicher Liebe und dem Alter das Echo freundlicher Erinnerungen bringen.
Die „Liebesgrüße“ gelten auch den Müttern, aber die Mutterwürde steht doch zu hoch, als daß ihr nicht ein eigenes Buch gebühren sollte. Ein solches liegt auf dem Gabentisch, und es ist da entstanden, wo die Poesie des Familienlebens schon so viel Schönes gedeihen ließ: in einem protestantischen Pfarrhause. Von Julius Hartmann empfingen wir einen „Liederschatz der deutschen Mutter. Fünfhundert den Müttern gewidmete Dichtungen aus drei Jahrtausenden gesammelt. Stuttgart, Paul Neff.“ – „Bei meinen Kindern,“ sagt der Verfasser, „unter den Augen ihrer Mutter, ist diese Sammlung im Haus für das Haus entstanden, uns Eltern eine reiche Quelle der Freude und des Trostes, Vielleicht findet auch in anderen Häusern manch gutes Wort daraus einen guten Ort.“ Die Ausstattung des trefflichen Buches ist eine ganz weihnachtfestliche.
Ein in diesem Jahre zum fünfundzwanzigsten Male erscheinendes Album ist „Deutsche Kunst in Bild und Lied. Originalbeiträge deutscher Dichter, Maler und Tonkünstler, herausgegeben von Albert Traeger. Leipzig, Berlin, Wien, Julius Klinkhardt“. Herausgeber und Verleger haben für diese „Jubiläums-Ausgabe“ das Beste geleistet. Die künstlerische Ausstattung ist die bekannte von der Kunstanstalt von J. G. Bach in Leipzig, unter den Dichtern finden wir nur gute Namen der Lyrik der Gegenwart, und die Namen der Componisten sind Victor Neßler, Franz Oberreich und Albert Tottmann. Ein Verzeichniß der Mitarbeiter am Werke seit 25 Jahren zählt 274 Dichter, 291 Maler und 45 Tonkünstler auf. Von diesen 610 schaffenden Geistern ist eine große Anzahl heimgegangen. A. Traeger’s Weihelied schließt mit den Versen:
„Mag flüchtig unser Werk verwehen,
Noch eh’ von uns der Letzte schied,
Wird doch in Ewigkeit bestehen
Die deutsche Kunst in Bild und Lied!“
Aus der Verlagshandlung von Breitkopf und Härtel in Leipzig sind drei Liederbücher hervorgegangen, welche innerlich und äußerlich ein zusammengehöriges Trifolium bilden. – Wir stellen voran „Deutsche Soldaten- und Kriegs-Lieder aus fünf Jahrhunderten (1386 bis 1871). Gesammelt und herausgegeben von Hans Ziegler“ (in Stuttgart). Ein Buch, das jedem denkenden Leser ohne weiteren Commentar das Leben und Treiben der deutschen Soldaten während eines halben Jahrtausends veranschaulicht, ist ohne Frage jetzt für jeden deutschen Jüngling und jungen Mann ein werthvolles Festgeschenk.
Als zweites nennen wir das „Allgemeine Reichs-Commersbuch für deutsche Studenten. Begründet von Müller von der Werra, neu herausgegeben von Felix Dahn und Karl Reinecke. 7. Auflage. Mit einem Titelbild von A. von Werner.“ Dieses Unternehmen verdankt sein Glück der Stimmung der Zeit, in welcher es in’s Leben trat. An der Neugestaltung desselben arbeiteten zwei Männer sich Hand in Hand, deren Namen dafür bürgen, daß sie ein würdiges Festgeschenk für die akademische Welt geliefert haben.
[831] Ueber diesen Kreis hinaus strebt das dritte, das „Liederbuch des deutschen Volkes“ in seiner neuen Auflage. Dieses Buch ist seit 1843 im Gange. Bisher aber hatte der eigentliche Urheber desselben sich nicht genannt, und erst in dieser neuesten Auflage erfahren wir, daß es kein Geringerer ist, als der nun vierundachtzigjährige Greis an Jahren und Jüngling im Herzen, der tapfere Streiter auf geistigem und geistlichem Gebiete, Karl Hase, über ein halb Jahrhundert der Stolz und Schmuck der Universität Jena. Das genügt vollauf zur Empfehlung des Buchs für Alle, welche sich freuen, zum „deutschen Volk“ zu gehören. Daß der an Geist so reiche und noch so frische ehrwürdige Herr sich für die Arbeit an der neuen Auflage die zwei bewährten Männer Dahn und Reinecke zu Gehülfen beigezogen, dient zu der Beruhigung, daß Niemand an diesem Festgeschenk einen Fehlkauf zu bereuen haben werde.
Auch die epische Poesie hat für den Weihnachtstisch manches Empfehlenswerthe aufzuweisen.
An die Spitze stellen wir das Werk eines Siebenbürger Sachsen: „Reinold. Ein Bild aus den Karpathen, von Gustav Schüller. 2. Auflage, Wien, Carl Graeser.“ Es ist ein vaterländisches Heldenlied, denn es schildert das Leben der Deutschen und ihren Kampf gegen die Türken in und vor Hermannstadt um die Mitte des 15. Jahrhunderts. So einfach die Handlung an sich ist, so mannigfach sind die auftretenden Gestalten, und die Darstellung fesselt durch ihre edle Sprache und durch die kräftigen, von feinem Humor überall rechtzeitig erfrischten Schilderungen den Leser vom Anfang bis zum Ende. Das Büchlein Schüller’s ist trotz seiner einfachen Ausstattung eines der werthvollsten Festgeschenke.
Dem Kaiser Wilhelm gewidmet ist:„Königin Luise. Vaterländische Romanzen von Gustav Weck. Paderborn, Ferdinand Schöningh.“ Der Dichter theilt den reichen Inhalt seiner Dichtung in drei Bücher: 1) Segnend und gesegnet, 2) Aus Tagen des Leids, 3) durch Kreuz zur Krone. Jede der 32 Romanzen ist eine tüchtige Leistung, alle greifen tief zu Herzen, alle sind ihres erhabenen Gegenstandes würdig; wer nur eine derselben gelesen hat, legt das Buch nicht wieder aus der Hand, bevor er sie alle gelesen.
Empfehlenswerth ist ferner die von Anna Forstenheim in Wien episch behandelte rumänische Volkssage von „Manoli“ (Wien, Carl Konegen), dem ehrgeizigen Baumeister, der bei dem Kirchenbau von Argis sein eigenes Weib einmauern ließ, wie er dem Bösen gelobt hatte, damit dieser sein Meisterwerk vollenden helfe; ebenso Ewald Böcker’s lyrisch-episches Gedicht „Melitta“ (Frankfurt am Main, C. Jügel’s Nachfolger [Moritz Abendroth]), das vor uns das ergreifende Bild eines stillen Familienschicksals – den Untergang zweier Liebenden – aus unserm letzten großen Kriege entrollt.
Neben der gewöhnlichen kleinen und der großen illustrirten Prachtausgabe von Victor von Scheffel’s „Trompeter von Säckingen“ erscheint nun bei Bonz in Stuttgart auch eine handliche kleine Prachtausgabe mit den Bildern von A. von Werner, welche auch in dieser Verkleinerung nichts von ihrer bekannten Wirkung verlieren.
Die vielen Verehrer der dichterischen Schöpfungen von Adolf Friedrich Graf von Schack erfreuen sich einer neuen Gabe desselben, die unter dem Titel „Tag- und Nachtstücke“ (Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buchhandlung) eine Reihe poetischer Erzählungen enthält, welche sowohl durch ihre interessanten, den verschiedensten Zeiten und Welttheilen entnommenen Stoffe, als durch die meisterhafte Behandlung sich auch viele neue Freunde edlerer Poesie erwerben werden.
An diese Festgeschenke schließen sich gleich würdig an: Ludwig Soyaux’ „Renate“, eine Künstlergeschichte vom Rhein (Reudnitz bei Leipzig, A. H. Payne). Scene und Staffage unterstützen den Dichter in der Vollendung eines lebensvollen Familienbildes, das reich an ergreifenden Einzelnheiten ist und überall dem Volkston sein Recht läßt. Ferner:
H. Bruns’ „König Enzio“ (Bremen, J. Kühtmann); M. E. delle Grazie’s „Hermann“, deutsches Heldengedicht in zwölf Gesängen (2. Aufl., Wien, Karl Konegen); Anna Weidenmüller’s „Schildheiß“, eine deutsche Sage in sieben Gesängen (Kassel, A. Freyschmidt); und schließlich eine neue Bearbeitung des nächst dem Nibelungenliede größten deutschen Heldengedichtes, das, wie jenes, dem deutschen Volke noch immer fremd geblieben: „Gudrunlied“. In neuhochdeutschen Versen nachgedichtet von Dr. Richard Weitbrecht (Stuttgart, J. B. Metzler) soll in dieser Form endlich auch für die weitesten gebildeten Kreise unserer Nation ansprechend und fesselnd gemacht werden, und wir freuen uns, sagen zu können, daß dem Verfasser dies gelungen ist.
Auf dem üppigsten Felde poetischer Production, dem des lyrischen Gedichts, ist die Auswahl schwerer, als auf jedem anderen, nicht nur weil die Menge des Gebotenen eine so große, sondern weil auch der Geschmack der Menschen so verschieden ist. Untrüglich kann hier nur die Empfehlung neuer Auflagen bewährter Dichter sein. Wir nennen hier vor Allen die unseren Lesern zunächst stehenden Lyriker der „Gartenlaube“, von welchen soeben erschienen:
Albert Traeger’s „Gedichte“ in der 16. vermehrten Auflage;
Emil Rittershaus’ „Neue Gedichte“ in 4. Auflage; dazu eine Sammlung: „Am Rhein und beim Wein“.
Ernst Scherenberg, „Gedichte“ und „Neue Gedichte“ in 2. Auflage.
Rudolf von Gottschall, „Friedens- und Kriegsgedichte“ („Janus“) in 2. Auflage.
Auch an die Poesie lieber Todten, R. Prutz’ „Buch der Liebe“ (5. Auflage) und L. Schefer’s „Letzte Klänge“, „Für Haus und Herz“, darf hier wohl erinnert werden. Eine neue Bereicherung desselben Verlags sind die sehr geschmackvoll ausgestatteten „Heimchen“, Gedichte von A. Ohorn.
Ebenso erfreut uns eine dritte vermehrte Auflage von Paul Heyse’s Gedichten (Berlin, W. Hertz [Besser’sche Buchhandlung]). Sollten diese von Rechtswegen auch keiner Empfehlung mehr bedürfen, so sind doch seltsamer Weise selbst die Verehrer Heyse’s so daran gewöhnt, in diesem Dichter ausschließlich den Novellisten zu bewundern, daß sie dem Lyriker kaum Beachtung schenken. Und doch sind Heyse’s lyrische Gedichte aus dem echten Golde der Poesie geprägt! Möchte sich diese Erkenntniß mehr und mehr auch in jenen Kreisen verbreiten, in welchen man leider nur zu leicht geneigt ist, glänzendes Truggold für echtes zu nehmen.
Nicht zu den alten, aber zu den beachtenswerthen Gaben der Dicht kunst gehören: „Bunte Blätter. Dichtungen aus Heimath und Fremde von Albert Kleinschmidt. (Bensheim, Lehrmittelanstalt J. Ehrhard u. Comp.) Der sehr begabte Verfasser (geborener Gothaer, jetzt Seminarlehrer zu Bensheim an der Bergstraße) zeigt sich, wie sein Geistesverwandter Hermann Lingg von ihm rühmt, eifrig bemüht, dem Gebiete der Lyrik neuen Stoff zuzuführen und sich correctester Form zu befleißigen. Je schwerer es heute einem Anfänger gemacht wird, desto mehr ist es einem so braven Ringer zu wünschen, daß er im Strom der lyrischen Erscheinungen mit obenauf komme. Wer nur ein Stück von jeder der vier Abtheilungen dieser Gedichte (Völkerleben, Zonenbilder, Im Wechsel der Tage, Liebesklänge) gelesen, wird das Buch behalten, und schon das Lied „Meiner Mutter“ muß dem Dichter die Herzen gewinnen.
Zu den jüngsten Dichterinnen der „Gartenlaube“ gehört Sophie von Khuenberg (in Graz), deren kleine, geschmackvoll gedruckte Sammlung „Frost und Flammen“ (Leipzig, A. G. Liebeskind) so reich an zarten, sinnigen Blüthen echter Poesie ist, daß sie als Weihnachtsgabe ihren Platz zieren wird.
Doppelt zu beachten, um ihres Werths und des Schicksals willen, dem der Verfasser erlag, sind die „Gedichte von Heinrich Leuthold“ (Frauenfeld, J. Huber), jenem genialen Schweizer, welcher nach einem harten, ruhelosen Leben mit unnachtetem Geist im Irrenhause Burghölzli bei Zürich am 1. Juli 1879, im zweiundfünfzigsten Jahre, gestorben ist. Die trefflich ausgestattete 3. Auflage enthält auch das Bildniß und eine Lebensdarstellung des Dichters aus der Feder Jacob Baechtold’s in Zürich, die wir als ein schönes Denkmal für das Grab des armen Dichters anerkennen müssen. Die Gedichte sind eine würdige Weihnachtsgabe.
Heinrich Vierordt’s „Lieder und Balladen“ erhielten eine Fortsetzung „Neue Balladen“ (Heidelberg, C. Winter’sche Universitätsbuchhandlung). Der junge süddeutsche Dichter versteht es, wirksame Stoffe aus dem Völker- und Fürstenleben zu wählen und bewährt Kraft und Wärme für entsprechende Darstellung. Die neuen Balladen schließen mit der trefflichen Dichtung „Der Traum von Miramar“, welche die Eigenthümlichkeiten seiner Schaffensweise nach allen Seiten darthut. Freunden der Balladenpoesie ist damit eine Festfreude zu bereiten.
Auch auf dem Gebiete des Romans, der Novelle und Erzählung wird von Autoren und Verlegern für die Weihnachts- und Neujahrszeit fleißig gearbeitet, und es liegt uns auch von diesen des Preiswürdigen Vieles vor. Wir behalten uns vor, in unserer nächsten Nummer darüber kurz zu berichten. Fr. Hfm.
Zum Schluß möchten wir die Aufmerksamkeit unserer Leser auf die jenigen Erzeugnisse des Buchhandels lenken, die praktische Ziele verfolgen: auf die populär-wissenschaftliche Literatur und Werke, welche zu allerlei nüblichen Beschäftigungen anleiten sollen.
Wir denken zunächst an die populäre Naturwissenschaft. Sie weist eine stattliche Reihe von Werken auf, die nach den einzelnen Disciplinen und dem Alter der Leser in besondere Classen zerfallen. Schon für das Kindesalter weiß sie zu sorgen und liefert ihm jene unzerreißbaren Bücher, in denen es von Thieren und Pflanzen aller Art wimmelt. Für diese Weihnacht ist in diesem Genre in C. Hänselmann’s Verlag in Stuttgart die „Naturgeschichte“ erschienen, die auf 20 unzerreißbaren Foliotafeln dem Kinde 300 Thierarten vorführt. Ein Naturforscher muß über diese Thierbilder lachen, ein Künstler würde vor ihnen davonlaufen, aber der Pädagoge wird sie unbedingt als zweckmäßig loben. Die Thierbilder sind nämlich ihren Originalen in der Natur nur ähnlich und ihre charakteristischen Merkmale stark übertrieben, wir sehen sozusagen Thierschablonen. Aber gerade dadurch erreicht das Bilderbuch seinen Zweck, dem Kinde prägen sich bei dem Anblicke dieser Bilder die grellsten Farben ein: es merkt sich für immer, daß dieser Vogel einen rothen, jener einen blauen Kopf hat, und damit ist der Zweck des Buches erfüllt, die „unzerreißbaren“ Tafeln werden doch zerrissen, bevor das Knabenalter erreicht wird.
In diesem muß die Natur mit schärferem Auge beobachtet werden, jetzt muß dafür gesorgt werden, daß kein falscher Begriff, keine Unwahrheit sich dem Gedächtnisse einprägt. Das beste Unterrichtsmittel bleibt allerdings die Natur selbst, und der Knabe wandert hinaus, um Pflanzen zu sammeln und Schmetterlinge zu fangen. Da heißt es aber, diesen Trieb durch gute Hülfsmittel zu unterstützen, und nun treten an Stelle der „Bilderbücher“ gute Bilderatlanten, nun ist es an der Zeit, dem jungen Pflanzensammler ein Buch wie „Botanischer Bilderatlas“ von Karl Hoffmann (Verlag von Julius Hoffmann in Stuttgart) oder dem Schmetterlingsjäger das „Buch der Schmetterlinge und Raupen“ von Dr. H. Rockstroh (Halle, Herm. Gesenius) in die Hand zu geben. Als Leitfaden zur Naturbeobachtung und Führer auf Ausflügen und Sammelexcursionen leistet auch vorzügliche Dienste das reich ausgestattete zweibändige Werk „Deutschlands Thierwelt nach ihren Standorten eingetheilt“ von Prof. Dr. Gustav Jäger (Verlag von Gebr. Kröner, Stuttgart). Bis in das Jünglingsalter werden alsdann diese Bücher eine unerschöpfliche Quelle der Belehrung für die Beschenkten bleiben, und mit ihrer Hülfe werden die kleinen Naturfreunde etwas sehr Wichtiges lernen, die in Feld und Flur gefundenen Pflanzen und Insecten ohne Hülfe des Lehrers zu classificiren, sie werden auf ihrem Lieblingsgebiete frühzeitig zu dem, was im Leben so ungemein wichtig ist, zu selbstständigen Arbeitern.
Und wenn noch einige Jahre vergehen, so wird der Freund des Pflanzenreiches freudig nach der ihm dargebotenen Reihe von Vorträgen aus dem Gebiete der Botanik von Dr. Ferdinand Cohn greifen, die [832] unter dem Titel „Die Pflanze“ (J. U. Kern's Verlag in Breslau) erschienen sind. Er wird dem berühmten Forscher, der so geistvoll plaudern und populär schildern kann, auf ihm früher unbekannte geistige Höhen folgen und das Leben und Wirken seiner stillen Lieblinge in ihrer großartigen Bedeutung im Haushalte der Natur und im steten Gange der menschlichen Civilisation kennen lernen.
Ihn werden auch in späteren Jahren die poetischen und doch sachverständigen Schilderungen aus der Naturgeschichte und Geographie der Baumwelt fesseln, die Hermann Jäger unter dem Titel „Deutsche Bäume und Wälder“ (Leipzig, Karl Scholtze) verfaßte, und die das beste populäre Bild des deutschen Waldes geben.
Für den anderen wird inzwischen die Zeit gekommen sein, wo er fleißig in dem zweibändigen illustrirten Werke von Adolf und Karl Müller in „Thiere der Heimath“ (Vertag von Theodor Fischer, Kassel) blättert und mit den genauen Kennern unserer heimischen Thierwelt einen geistigen Bund bis in die spätesten Jahre seines Lebens schließt. Brehm’s „Illustrirtes Thierleben“, von dem die zweite colorirte Auflage vor Kurzem erschienen ist, wird alsdann seinen Gesichtskreis erweitern und ihn mit der Thierwelt fremder Zonen vertraut machen. Und wessen Geist gereift ist und Lust empfindet, die neueren Bahnen der Wissenschaft einzuschlagen, der findet in dem glänzend ausgestatteten Prachtwerke „Die Säugethiere“ von Prof. Dr. Carl Vogt (Bruckmann, München), welches der vorzügliche Kenner der Thiercharaktere Fr. Specht illustrirt hat; wichtige Aufschlüsse über die Thierarten und ihren Ursprung. Der frische Geist der modernen Forschung belebt hier das Ganze, und es unterliegt keinem Zweifel, daß „Die Säugethiere“ zu den originellsten und interessantesten Werken gehören, welche in der Gegenwart über Zoologie geschrieben wurden.
Werke, die zu nützlichen Beschäftigungen anleiten sollen, sind jetzt, wo überall von der Hebung des Kunstgewerbes die Rede ist und wo der Handfertigkeits-Unterricht der Jugend Mode geworden, wie Pilze nach einem warmen Regen aus der Erde geschossen. Als Weihnachtsgeschenke eignen sich vorzüglich die mannigfaltigen Vorlagen für Frauenarbeiten und Anleitungen zu denselben.
Als ein Werk, welches uns in die Vielseitigkeit der Arbeiten der modernen Frauenhand blicken läßt, möchten wir zunächst „Das Kunstgewerbe in Frauenhand. Blätter zur Beförderung einer guten Geschmacksrichtung in der Frauenarbeit in Schule und Haus“ von C. von Braunmühl (Ernst Heitmann in Leipzig) empfehlend erwähnen. Die Damen werden in demselben über alle jene neuen Arbeiten belehrt, die Nutzen bringen und in der Mode sind: abgesehen von der Krenzstichstickerei und der Holbeintechnik lernen sie aus demselben Tischplatten in einer Imitation von Intarsia herstellen, auf Porcellan malen und feine Servirplatten mit eleganter Aetzarbeit schmücken. Ja, das Buch steht auf der Höhe der Zeit, unsere Frauen wollen, sofern sie dazu Zeit haben, an der Hebung des Kunstgewerbes mitwirken, und wenn es unsere Frauen einmal wollen, so bleibt uns wohl nichts Anderes übrig, als die Werke ihrer schönen Hände zu bewundern.
Der solide deutsche Buchhandel ist liebenswürdig und galant genug, den Damen diese Arbeit zu erleichtern und er warf eine Kartätschenladung von Vorlagen für Porcellanmalerei auf den heurigen Weihnachtsmarkt. An irdischen Rosen, Nelken, Veilchen und anderen Blumen, an allerlei Insecten, von dem buntesten Schmetterling bis zu der unscheinbarsten Motte, ist in diesen Vorlagen kein Mangel vorhanden. Sie alle eignen sich vorzüglich, um die Vasen, Kannen, Tassen und Teller mit den reizendsten Symbolen der vier Jahreszeiten zu bemalen. Unsere Damen können getrost die rohen Porcellanwaaren aus den Fabriken beziehen und, nachdem sie dieselben mit dem nöthigen Farbenschmuck versehen, wiederum in die Fabrik zum Einbrennen senden. Wir haben dagegen nichts einzuwenden, ein Teller, mit einem solchen Schmuck versehen, wird entschieden besser behandelt werden, als das Product eines uns unbekannten Fabrikkünstlers.
Von den vielen „Vorlagen für Aquarell- und Porcellanmalerei“ sind etliche, die wir gesehen haben, so formvollendet, aber auch so sündhaft theuer, daß wir sie an dieser Stelle nicht erwähnen wollen. Recht geschmackvoll und billiger sind die von Julius Höppner herausgegebenen und in der Arnoldischen Buchhandlung in Leipzig erschlenenen Vorlagen, die wir zur „gefälligen Beachtung“ mit gutem Gewissen empfehlen können.
Dasselbe können wir auch von den „Muster altdeutscher Alphabete und moderner Monogramme“ für Kreuzsticharbeiten sagen, die von Frau Dr. M. Beeg-Aufseß und Frl. J. v. Salzberg herausgegeben wurden (Leipzig, Ernst Heitmann), obwohl wir uns mit einigen Blättern, auf denen die Buchstaben aus dem Arabeskengewilder nicht herauszuerkennen sind, nicht einverstanden erklären mögen; denn ein Buchstabe, den man nicht lesen kann, dürfte auch auf dem Taschentuch oder der Serviette seinen Beruf verfehlt haben. Bei richtiger Auswahl bietet jedoch das Werk viel Schönes und Empfehlenswerthes.
Die „Muster alter und moderner Stickereien“ (Ernst Heitmann, Leipzig), an welchen mehrere Meisterinnen und Meister gearbeitet haben, sind dagegen so hübsch in ihrer Zusammenstellung, daß ihr Besitz überall Befriedigung und Freude erregen wird. Zu bemerken ist noch, daß die in früheren Jahren rühmlichst anerkannten „Muster stilvoller Handarbeiten“ von E. Bach (R. v. Waldheim, Wien.) in ihrer neuesten Auflage ein sehr elegantes und überall willkommenes Geschenk bilden.
Ehre den Künstlern! Aber dabei müssen wir die praktischen Geschäftsleute nicht vergessen, die auf dem Wege der vervielfältigenden Kunst die Werke der Meister der großen Masse zugängig machen. Da hat A. Kramer, bekannt durch sein „Handbuch für weibliche Arbeit“, eine neue Erfindung gemacht, die wohl berufen zu sein scheint, eine Revolution in der Stickmusterfabrikation zu veranlassen. Unsere Leserinnen kennen die Gummi-Abziehbilder, mit denen die liebe Jugend Fensterscheiben, Lampenschirme und Tassen oft sehr gegen den Willen der Eltern zu schmücken pflegt. Die neue Erfindung, „Kramer’s Abziehstickmuster“ (E. Twietmeyer, Leipzig) beruht auf ähnlichem Princip. Es sind dies auf Papier gedruckte, bunte Kreuzstichmuster, welche auf Leinwand (oder sonst ein Gewebe) gelegt, mit Wasser befeuchtet und dann sofort abgezogen werden. Die Farben, mit welchen die Stickmuster gedruckt wurden, haften nun fest auf der Leinwand. Die Muster bieten also dieselben Vorlagen, wie die bekannten gleich auf Zeug vorgedruckten Muster, haben jedoch den Vorzug, daß man bei ihrer Verwendung den Stoff nach Geschmack und Bedürfniß wählen kann. Da der Verleger sich redlich Mühe gab, hervorragende künstlerische Kräfte für die Zeichnung der einzelnen Muster heranzuziehen, so wird sich diese praktische Erfindung sicher überall Bahn brechen.
Wir glauben im Vorstehenden genügende Winke für die Anschaffung praktischer und nützlicher Bücher gegeben zu haben, wir sind überzeugt, daß Niemand behaupten wird, für die oben erwähnten anerkannten und neuesten Erzeugnisse des Buchhandels unnützer Weise Geld ausgegeben zu haben. –i.
Französische Weinfälschung. Edle Menschen- und Weinfreunde
hatten in der französischen Deputirtenkammer einen das höchste Lob verdienenden
Gesetzentwurf eingebracht, welcher die Verfälschung des Weines
durch Alkohol verhindern sollte. Die Kammer zog es jedoch vor, diesen
Antrag mit 256 gegen 211 Stimmen zu verwerfen, allerdings nach einem
vier Tage währenden schweren Debattenkampfe. Es wird also nach wie
vor weiter der französische Wein durch kräftigen Alkoholzusatz ver – bessert.
Ehre und Dank aber jenen 211 Männern, die der herrlichen Gottesgabe
zu ihrem unverfälschten Rechte verhelfen wollten! Möge es ihnen in
Zukunft besser glücken und möge ihr Beispiel auch diesseit des Rheines
gute Früchte tragen! – r.
Der eigentliche Gründer der Schiller-Stiftung ist, wie Eduard Duboc in seiner Festrede zu Weimar hervorhob, nicht Julius Hammer, sondern ein einfacher Steinmetz Namens Ullmann, der 1859 für die Gedenktafel am Schiller-Häuschen in Loschwitz, die er lieferte, keine Bezahlung annahm, sondern diese Summe dem Comité überwies und dadurch den Grundstein zu der Stiftung legte – ein Beweis, wie tief Schiller im Herzen des Volkes lebt. – r.
Kleiner Briefkasten.
Ein Abonnent in Köln. Nicht die Lortzing’sche Oper „Zar und Zimmermann“ soll abgeschafft werden, sondern die falsche Schreibart Zardam für Zaandam, wie Karl Braun in Nr. 40 der „Gartenlaube“ vorschlägt. Lesen Sie die betreffende Stelle noch einmal genau nach, so werden Sie finden, daß die Schuld des Mißverständnisses lediglich auf Ihrer Seite liegt.
S. in Rosenberg. Wegen Ihrer Zähne müssen Sie sich an einen Zahnarzt, wegen Ihrer „spröden Haut“ an einen Arzt wenden. Briefliches Curiren ist Schwindel, und wir würden die Letzten sein, die sich auf denselben einlassen.
S. S. in Wien. Wir werden die eingesandten „Sprüche“ gern acceptiren. Theilen Sie uns gefl. Ihre genaue Adresse mit.
H. K. in Berlin, C. B. in Hamburg, H. M., C. W., M. D. K. in Astoria, B. v. F. in Gr. B. in Ungarn, J. 6. in Leipzig, O. D. in Wien und H. Michael: Nicht geeignet!
„Das Testament“ etc. von L. E. Wir bitten um Angabe Ihrer Adresse.
Wer kriegt wohl diese Kleinigkeit?
Und was bekommt
die Adelheidt?
Das Väterchen kriegt, „was er ist“,
Und noch dazu, damit Ihr’s wißt,
’ne „Ziege“, doch die ist nicht ganz,
Denn hinten leider fehlt der „Schwanz“.
[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]