Die Gartenlaube (1885)/Heft 25
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No. 25. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Trudchens Heirath.
Acht Tage später kehrten die Eisenschimmel mit dem geschlossenen
Wagen in scharfem Trabe vom Kirchhofe zurück. Im Fond
saß, neben dem Onkel, Arthur Fredrich mit verweinten Augen;
gegenüber Linden. Sie hatten Trauerflor um die Hüte und
Trauerflor am linken Arm.
Der Winter war vor dem Scheiden noch einmal in voller Herrlichkeit erschienen; es schneite, und die großen Flocken legten sich auf ein kleines frisches Grab in der eisenumgitterten Familiengruft der Baumhagen. Jenny’s blonder Liebling war todt!
Im Wagen sprach Niemand ein Wort, und als die drei Herren ausgestiegen waren, ging jeder nach einem stummen Händedruck seinen eigenen Weg; Onkel Heinrich, um einen Kognak zu nehmen, Arthur zu seiner trostlosen jungen Frau und Linden hinauf zu Trudchen. Er fand sie nicht in der Wohnstube; sie war wohl noch bei der Schwester. Dann glaubte er nebenan etwas rascheln zu hören; er schritt über den weichen Teppich und trat in die geöffnete Thür des Erkerzimmers.
„Trudchen,“ sagte er bestürzt, „um Gotteswillen, was ist das?“ – Sie lag knieend vor ihrem kleinen Sofa, den Kopf in ihre Arme geborgen; ein wunderliches Zucken und Beben ging durch ihren Körper, wie wenn man weint ohne Thränen.
„Trudchen!“ Er faßte sie und wollte sie emporziehen, da hob sie den Kopf und stand auf. „Aber sprich doch, sprich, was ist denn geschehen?“ forschte er, „giebst Du Dich so dem Schmerze um den kleinen Liebling hin? Ich bitte Dich, Trudchen, nimm Dich zusammen, fasse Dich – Du machst Dich krank!“
Sie hatte nicht geweint, sie sah nur leichenblaß aus und ihre Hände lagen eisigkalt in den seinen.
„Komm,“ sagte er, „erzähle mir, weine Dich aus!“ Und er zog sie an sich.
Sie schmiegte sich fest in seine Arme, wie sie es noch nie bisher gethan. „Nun bin ich bei Dir,“ flüsterte sie, „nun ist es gut.“
„Hast Du Dich gefürchtet? Hat Dir Jemand etwas gethan?“ fragte er zärtlich.
Sie nickte. „Ja!“ sprach sie hastig, „vorhin – da hörte ich ganz zufällig ein paar Worte an zwischen Mama und der Tante Stadträthin – sie kamen von Jenny herauf, sie vermutheten mich wohl nicht hier – ich weiß es nicht. Mama weinte noch immer sehr um den Kleinen und – dazwischen sagte sie, Jenny müsse aus dem Hause – sie müsse zerstreut werden – diese apathische Ruhe sei so gefährlich. Du weißt ja, sie hat seit drei Tagen noch kein Wort gesprochen – und – ich müsse sie begleiten auf eine längere Reise – damit ich –“ Sie stockte und biß die Lippen auf einander.
„Damit Du mich womöglich vergessen sollst?“ fragte er ernst.
[402] Er legte die Hand unter ihr Kinn und blickte in ihre Augen. Sie antwortete nicht; aber er las die Bestätigung in dem thränenumflorten Blicke.
„So gern möchte man mich hier fortdrängen? So stark ist die Abneigung, Trudchen? – Und Du?“ Er fühlte, wie sie zitterte.
„O!“ sprach sie mit einer Heftigkeit, vor der Linden fast erschrak – „o – ich – siehst Du, es giebt Momente, wo ein Dämon Gewalt über mein Herz bekommt; ich bin hinein gelaufen im hellen Zorn, ich – ich weiß nicht mehr, was ich Alles gethan und gesagt habe – ich schäme mich jetzt; ich hätte still sein müssen, sie können uns ja gar nicht trennen, nein – sie können es nicht! Nun liegt Mama drüben in ihrem Schlafzimmer und die Sophie ist zu dem Doktor geschickt. Ach, Franz, ich habe so lange Jahre Alles geduldig getragen – ist es denn so große Sünde, wenn endlich das unterdrückte Gefühl durchbricht, wenn einmal die Selbstbeherrschung mich verließ? Ich bin heftig gewesen – ich habe mich stets für so ruhig gehalten – wie ein Sturm rissen die Worte mich hin, die ich gehört; ich weiß nicht, wie schwer meine Vorwürfe waren gegen die Mutter. – Und heute, gerade heute, wo sie den einzigen Sonnenstrahl hinaustrugen, der für mich im Hause war!“
„Wir wollen zur Mama gehen, Trudchen, und sie bitten, uns zu verzeihen, daß wir uns so lieb haben – komm!“
Er hatte das so gesprochen, um sie zu trösten, und weil er fühlte, daß irgend Etwas geschehen müsse. Am liebsten hätte er das Mädchen an die Hand genommen und sie hinausgeführt über diese Schwelle.
Sie machte sich los und sah ihn erstaunt an. „Um Verzeihung bitten? Deßhalb?“
„Trudchen, verstehe mich nicht falsch!“ Er wurde fast verlegen vor ihren großen verwunderten Augen. „Ich meinte damit, daß Mama es auf eine angemessene Art erfährt, wie wir von einander nicht lassen werden. Sag’ ihr ein gutes Wort wegen Deiner Heftigkeit. Komm, ich gehe mit Dir.“
„Das kann ich nicht!“ rief sie. „Ich kann nicht um Verzeihung bitten, wenn man mich so gekränkt hat in dem, was mir das Heiligste, das Liebste ist. Ich kann nicht!“ wiederholte sie und trat an ihm vorüber in den Erker.
Er ging ihr nach und faßte nach ihrer Hand; es war ihm wunderlich zu Muthe. Er hatte bis jetzt nur das ruhige maßvolle Weib in ihr gesehen. Aber sie verstand ihn falsch.
„Nein!“ sagte sie, „bitte mich nicht darum, Franz; ich thue es nicht, ich kann es nicht, ich habe es nie gekonnt! Auch als Kind nicht, obgleich sie mich stundenlang eingesperrt haben in eine dunkle Stube.“
„Ich wollte Dich nicht bitten,“ sagte er, „laß mir nur Deine Hand; ich muß doch wissen, daß Du es noch bist, Trudchen.“
Sie beugte sich hernieder auf seine Rechte und drückte einen Kuß darauf. „Wenn Du nicht auf der Welt wärst, Franz, wenn ich hier allein stehen müßte heute!“ flüsterte sie innig.
„Aber Du hast doch um meinetwegen den Kummer,“ erwiderte er gerührt.
Sie schüttelte den Kopf. „Verkenne mich nur nicht,“ sprach sie weiter, „und habe Nachsicht mit meinen Fehlern. Nicht wahr, Franz, das versprichst Du mir?“ Es klang wie Angst aus dieser Bitte. „Sieh, ich bin so trotzig, wenn ich mich gekränkt fühle; hart werde ich dann aus Trotz wie ein Stein, alles Gute schweigt in mir; hassen kann ich, wenn mir niedriges Denken entgegentritt! Franz, Du weißt es nicht, was ich schon gelitten habe darunter.“ –
Sie standen noch immer Hand in Hand. Draußen wirbelte der Schnee vor den Spiegelscheiben in der Dämmerung des vergehenden Wintertages. Es war so still hier drinnen, so warm und traut.
„Franz!“ flüsterte sie.
„Mein Trudchen!“
„Du bist mir nicht böse?“
„Nein! Nein! Wir wollen unsere Fehler ertragen, und wir wollen sie schon bessern; wenn wir uns nur erst ganz allein haben.“
„Du hast keine Fehler,“ sagte sie stolz und überzeugt und schmiegte sich an ihn.
Er war ernst. „Doch, Trudchen; ich bin ein maßlos heftiger Mensch, heftig bis zum Jähzorn.“
„Das sind nicht die schlechtesten Männer,“ meinte sie und schlang den Arm um seinen Hals.
„Weißt Du das so genau?“ erkundigte er sich und sah ihr lächelnd in das liebliche Antlitz, das jetzt so weich in der Dämmerung vor seinen Blicken verschwamm.
„Ja! Die Großmutter behauptete es immer,“ nickte sie.
„Die Großmutter aus der engen Gasse?“
„Dieselbe, Liebster; hättest Du sie doch gekannt! Aber Deine Mutter möchte ich sehen,“ fügte sie dann hinzu.
„Wir reisen hin, Liebling, sobald wir Mann und Frau. Wann wird das sein?“
„Franz,“ bat sie statt der Antwort, „laß uns nicht gleich reisen, laß es mich erst wissen, wie es in einer Heimath ist, wo Liebe, Vertrauen und gegenseitiges Verstehen bei einander wohnen! Laß mich erst wissen, was Friede ist!“
„Ja, mein Trudchen! Wollte Gott, ich könnte Dich morgen hinaus holen in das alte Haus.“
„Gertrud!“ rief es schrill aus dem Nebenzimmer.
Sie fuhr empor. „Mama!“ flüsterte sie, „komm!“
Sie gingen hinüber. Frau Baumhagen stand neben ihrem Schreibtische; eben brachte Sophie die Lampe, und ihr Schein beleuchtete das runde, verweinte Antlitz der Mutter, in dem sich heute eine ganz ungewohnte Entschlossenheit ausprägte.
„Es ist gut, daß Sie hier sind, Linden,“ redete sie den jungen Mann an, während sie die Klappe des Schreibtisches herunterließ und Platz davor nahm. „Wieviel Zeit gebrauchen Sie, um Ihr Haus so in Stand zu setzen, daß Gertrud dort wohnen kann?“
„Nicht lange,“ erwiderte er. „Einige Zimmer sind mit neuen Tapeten zu versehen und dergleichen Kleinigkeiten – das wäre Alles.“
„Schön! Mir kann es recht sein,“ erwiderte sie kühl, „so haben Sie die Güte, morgen Ihre Papiere dem Herrn Oberprediger zuzusenden und das Aufgebot zu bestellen. Ich reise in drei Wochen mit meiner ältesten Tochter nach dem Süden und wünsche, vorher diese – diese Angelegenheit geordnet zu wissen.“
Linden verbeugte sich. „Ich danke Ihnen, gnädige Frau!“ – Gertrud stand bleich bis in die Lippen, aber sie sah nicht herüber zu ihm; er fühlte nur das Eine deutlich, sie litt furchtbar durch diese Scene, um seinetwillen.
„Ich möchte jetzt noch Einiges mit meiner Tochter besprechen,“ fuhr Frau Baumhagen fort, „es betrifft die Ausstattungsgelder und den Ehekontrakt.“
Er war sofort zum Gehen bereit, küßte die Hand seiner Braut und sah sie bittend an. „Bleibe ruhig!“ flüsterte er.
Trudchen aber legte hinter dem Rücken der Mutter die Hand auf des Bräutigams Mund. „Ich will keinen Ehekontrakt!“ sagte sie dabei laut.
„So lebt Ihr in Gütergemeinschaft,“ klang es zurück.
„Das ist das Richtige,“ erwiderte sie. „Wenn ich mich selbst gebe, werde ich mein Geld nicht ausschließen; es käme mir vor wie ein Widerspruch.“
Frau Baumhagen zuckte die Schultern und wandte sich um. Sie standen dicht an einander geschmiegt, die Beiden, und das bittere Wort erstarb ihr auf den Lippen.
„Dein Vormund mag mit Dir darüber reden,“ sagte sie. „Wollen Sie so freundlich sein, Linden, und meinen Schwager aufsuchen? Ich möchte mit ihm sprechen!“
Er küßte Trudchen auf die Stirn und nahm seinen Hut, dann ging er. Gott sei Dank! Er durfte sie aus dieser Lieblosigkeit bald in sein Haus hinüberretten, das arme stolze Mädchen, das ihn so lieb hatte!
Rasch schritt er über den Markt; die frische Luft that ihm wohl. Er war im innersten Herzen empört, daß man sie hatte trennen wollen, Meilen und aber Meilen zwischen sie legen; und wie leicht ist ein Mißverständniß angebahnt; wie leicht, bei dem Charakter dieses Mädchens, dem ein Schein niedriger Gesinnung schon genügen würde zu trotzen, zu hassen, zu verachten. Wie manches Paar, das sich von Herzen liebte, war schon auf diese Weise für immer geschieden. Er wagte es nicht auszudenken, was mit ihm geworden, wenn es so gekommen wäre.
„Pst! Pst!“ scholl es hinter ihm, und als er sich auf dem schlüpfrigen Trottoir umwandte, sah er Onkel Heinrich die Stufen [403] der Hôteltreppe herunter steigen; er hatte offenbar dinirt und sein joviales Gesicht bot ein wunderliches Gemisch von Trauer und Behagen.
„Ich habe zu Mittag gespeist, Linden,“ begann er und legte seinen Arm in den des jungen Mannes, „mir war mehr wie plundrig nach der Affaire heute früh. Sie denken doch nicht falsch von mir? He? Ich bin keiner von denen, die aus Betrübniß den Appetit verlieren; ich lobe mir unsere Voreltern, die ihren Leichenschmauß hielten. Ich bitte Sie, Linden, das war gar kein so unästhetisches Gebahren, als was es leider unsere heutige Welt auffaßt; man gebe den Todten alle Ehre, der Lebende aber will sein Recht, und zu diesem gehört das Essen und Trinken, es hält Leib und Seele zusammen. O, la la! Mir fällt ein Begräbniß immer gleich auf den Magen. Das kleine gute Kerlchen! Aber glauben Sie mir, ich liebte es darum nicht weniger. Sie sind sicher noch nüchtern? Frauenzimmer essen ja bekanntlich nie bei derartigen Evenements.“
„Ich wollte Sie aufsuchen,“ erwiderte Linden, „meine Schwiegermutter läßt Sie bitten zu ihr zu kommen. Wir – heirathen in drei Wochen.“
Der kleine Herr im Nerzpelz blieb stehen und sah Linden an, als traue er seinen Ohren nicht. „Wie? – Was? Sie ist ja geschwind andern Sinnes geworden, hat Trudchen die weiche Stimmung benutzt oder –?“
„Das würde Trudchen nie thun. Nein, Frau Baumhagen wünscht mit ihrer ältesten Tochter zu verreisen, auf lange Zeit, da –“
„O, la la! Und Trudchen sollte nicht mit?“
„Im Gegentheil – aber sie wollte nicht.“
„Aha! Jetzt dämmert es mir, es hat etwas gegeben! Sie, Serenissima, hat versucht – hm, ich verstehe schon – Reisen, andere Gegenden, andere Menschen – aus den Augen, aus dem Sinn! Ha, ha, ’s ist eine geborne Diplomatin. Nun, ich komme, lassen Sie uns nur einen kleinen Umweg machen, mir thut die frische Luft so gut. Aber es freut mich, es freut mich von Herzen, also in drei Wochen?“
Die Herren gingen stumm neben einander durch das Schneegestöber, in den Straßen war es trotz des lebhaften Verkehrs merkwürdig still, Menschen und Wagen schienen auf der weißen Decke förmlich zu schweben. Die Luft war mild, wie nach Frühjahr duftend, und Franz Linden dachte an sein Daheim und an das kleine Zimmer neben dem seinigen, das nun nicht lange mehr unbewohnt bleiben würde.
„Ganz ergebenster Diener!“ sagte da eine Stimme, und an ihnen vorüber schob sich ein kleines Männchen, den Hut schwebend über den kahlen Scheitel haltend, eitel Freundlichkeit das spitze Gesicht. Linden grüßte, Onkel Heinrich berührte nachlässig den Rand seines Hutes.
„Woher kennen Sie denn diesen Monsieur Wolff?“ fragte er, dem Dahineilenden nachblickend, der sich unglaublich behende durch die Menschen wand. „Sehen Sie, Linden, der ist auch so Einer, der, treffe ich ihn vor Tische, mir den Appetit beinahe verderben kann.“
„Ich stehe oder stand vielmehr mit ihm in Geschäftsverbindung durch meinen alten Onkel, er hatte Geld von ihm auf Niendorf,“ erklärte Linden.
„Von diesem Kravattenfabrikanten? Der Alte ist wohl unklug gewesen!“
Linden erwiderte nichts. Sie waren eben in eine stille Seitenstraße eingebogen.
„Steht das Geld noch darauf?“ fragte Herr Baumhagen.
„Nein, die Schwester meines Freundes hat die Hypothek übernommen.“
„So! Warum haben Sie es mir nicht gesagt? Sie hätten überdies von Trudchens Geld –“
Franz Linden machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.
„Na – ich hab’s dem Kinde versprochen; sie hatte mich beauftragt, Ihnen ein Kapital zur Verfügung zu stellen,“ erläuterte der alte Herr.
„Ich danke!“ erwiderte Linden kurz; „in meine Brautschaft mag ich keine Geldgeschichten hineinspielen lassen.“
„Und der Bau in Niendorf?“
„Trudchen weiß, daß kein Feenpalast sie erwartet; es läßt sich übrigens ganz gemüthlich dort wohnen, in den alten Zimmern, wenn sie auch niedrig sind und klein. Einen Gartensaal habe ich, der sehr hübsch ist, und das, was vor den Fenstern liegt, findet man so bald nicht wieder, und reist man noch so weit.“
„Ei, das Kind ist schon zufrieden, freilich!“ stimmte Herr Banmhagen bei, „aber Serenissima?“
„Es ist mir immer noch lieber, sie sagt: ‚Mein Kind ist in ein Bauernhaus gezogen‘, als ‚Wir haben erst bauen müssen‘,“ bemerkte Linden trocken.
Der alte Herr lachte vergnügt in sich hinein. „Ja ja, so spricht sie, so macht sie’s. Und verreisen will sie – ’s ist wunderbar. Meine liebe selige Mutter suchte Trost in der Arbeit, als mein Vater starb, das war noch die gute alte Sitte, die Heutigen reisen. Dem armen Ding, der Jenny thät’s besser, sie trauerte recht tief innerlich in der Stille. Nein, da wird sie hinausgerissen, damit das Pfeifen der Lokomotive ihr die letzte Erinnerung an die Stimme des Kleinen übertönt. Linden!“ Der alte Herr blieb stehen und legte die Hand auf seine Schnlter. „Die Trudchen ist anders, Sie können’s glauben! Sie ginge nicht fort von dem kleinen Grab da draußen, jetzt nicht! Sie hat auch ihre Fehler, das Kind, aber – hier drinnen,“ er zeigte auf seine Brust, „da ist’s richtig bei ihr. Wollte Gott, daß sie recht glücklich würde bei Ihnen, in dem alten Neste; sie hat’s verdient, schon um ihre Jugend – um ihren Vater.“
Franz nickte. Er wuße es ja so genau, was der alte Egoist ihm da erzählte.
„Na, nun kommen Sie aber,“ fuhr Onkel Heinrich fort, „meine Schwägerin wird mich sprechen wollen wegen der Hochzeit.“
„Ich denke, wegen des Ehekontraktes,“ meinte Franz Linden, „und da wollte ich Sie bitten, auch Gertrud zu bestimmen, daß sie sich den Wünschen ihrer Mutter fügt; es ist mir lieber so.“
„Hm!“ Der alte Herr räusperte sich. „Ich füge mich, Du fügst Dich, er fügt sich, sie – fügt sich nicht! Sie ist ein Trotzkopf – pardon! Na, bange machen gilt nicht, das hat sie von meinem Bruder, er war ein praktischer, ein tüchtiger Kaufmann, aber sobald das Herz ins Spiel kam – vorbei mit Klugheit, Vorsicht, Berechnung, was weiß ich’s! O, la la! Aber da wären wir ja!“
Frau Baumhagen empfing die Herren sehr ruhig, Gertrud war nicht bei ihr. „Sie ist in ihrem Zimmer,“ erklärte sie Linden, der sich wie suchend umblickte, „und erwartet Sie.“
Er fand das Mädchen im Erker, es brannte noch kein Licht, nur der Schein der Ofenflammen leuchtete über den Teppich.
„Gertrud,“ sagte er, „wie soll ich Dir danken!“ Und als er ihre Hände ergriff, brannten sie heiß in den seinen.
„Wofür?“ fragte sie.
„Für Alles, Trudchen! – Du warst doch ruhig Mama gegenüber?“ setzte er dann ruhig hinzu, als sie schwieg.
„Ganz ruhig!“ erwiderte sie, „ich dachte an Dich, aber fest bin ich geblieben, ich will keinen Ehekontrakt!“
„Du thörichtes Mädchen! Ich kann ja Unglück haben, schlechte Ernten oder dergleichen – dann leidest Du mit?“
Sie nickte und lächelte. „Freilich – und helfe Dir mit Allem, was ich besitze. Und wenn wir schlechte Ernten haben und nichts, nichts glücken will, gar nichts mehr unser ist, dann –“ sie hielt inne und sah ihn glückselig an aus den lieben verweinten Augen, „dann hungern wir zusammen, nicht? Du?“
Und der Hochzeitstag kam; anders als sonst ein solches
Freudenfeft hub er an. Es war unheimlich still in dem Hause,
das noch in tiefster Trauer stand.
Die Zimmerflucht hatte man geöffnet und erwärmt, und über Trudchens Thür hing eine Guirlande aus ernstem Tannengrün. Gestern war unermüdlich die Thürklingel gezogen worden und ein kostbares Geschenk nach dem andern eingetroffen, die ganze Pracht an schwerem Silberzeug, Majoliken, Teppichen und anderen kostbaren Dingen hatte man auf eine lange Tafel gestellt im Erkerzimmer, ein Gärtnerbursche hantirte noch leise im Saal, um den improvisirten Altar mit Orangerie zu dekoriren. Der feine Duft von Räucherwerk schwebte in der Luft und die Flammen des Kamins spiegelten sich in den Glasbehängen des Kronleuchters und dem glänzenden Parkett des Fußbodens. Draußen aber wehte trügerische weiche Luft, es war der erste März.
Frau Baumhagen hatte schon seit dem Morgen geweint und gestöhnt, und zwischen den Anordnungen für die Trauung waren [404] Befehle erlassen, die Reise betreffend. Die großen häuserartigen Koffer standen, fertig gepackt, in der Garderobe; übermorgen sollte es fortgehen, zunächst nach Heidelberg zu einem berühmten Arzt.
Um Trudchens Aussteuer hatte sich die Mutter nicht bekümmern können; mochte sie sich die Einrichtung selbst aussuchen. Trudchens Geschmack war ja so wie so höchst wunderbar; wenn sie blau gewollt, hätte das Mädchen sicher roth gewählt, so war es von je her. Ach, dieser Tag war ein schrecklicher in ihren Augen, und er beschloß qualvolle Wochen. Seit dem Begräbniß des Kleinen, wo die Tochter eine so leidenschaftliche Scene gemacht, war man noch kälter denn sonst an einander vorüber gewandelt. Gertrud’s Augen konnten so groß, so fragend blicken, es stand immer die leise Anklage darin: ‚Warum störst Du denn mein Glück?‘ – „Wenn man doch erst im Koupé säße!“
Jetzt waren die Damen alle bei der Toilette, um fünf Uhr sollte die Trauung stattfinden. Die alte Sophie half Trudchen heut; sie wollte es sich nicht nehmen lassen.
Das bedeutungsvolle Kleid hatte Trudchen schon angelegt, nun kniete Sophie vor ihr und knöpfte die weißen Atlasschuhchen zu.
„Fräulein Trudchen,“ seufzte die Alte, „wie wird’s so öde werden im Hause! Das Walterchen todt, und Sie nun fort.“
„Ich werde so glücklich sein, Sophie!“ Die weiche Mädchenhand strich über das runzlige Gesicht, welches traurig zu ihr empor sah.
„Das walte Gott! Das walte Gott!“ murmelte die alte Frau gerührt und erhob sich. „Nun kommt wohl Schleier und Kranz? Aber Fräulein, dazu bin ich zu ungeschickt, das wird – da ist Frau Fredrich schon.“
Frau Jenny kam eben durch das Wohnzimmer des jungen Mädchens, sie war in tief schwarzer duftiger Krepp-Robe und aus den blonden Haarwellen leuchtete eine weiße Kamelie. Sie sah erschreckend bleich aus und hatte roth geweinte Augen.
„Ich will Dir helfen, Trudchen,“ sagte sie matt und begann den Schleier auf dem braunen Haar der Schwester zu befestigen. „Wenn ich denke, Trudchen, wie Du mir den Kranz aufgesetzt hast, weißt Du noch? Ach, wenn man in der Stunde ahnen könnte, welch unendlichem Leid man entgegengeht!“
„Jenny,“ bat Trudchen, „weine nicht so viel; sieh’, wie ich herunter kam, als Walterchen gestorben war und Arthur Dich so treu im Arme hielt, dachte ich, welch eine Fülle von Trost Ihr noch hättet in Euch selbst. Das ist doch erst das rechte wahre Glück, wenn Zwei so bei einander stehen in Kreuz und Noth.“
„O,“ sagte Frau Jenny, und um ihre Lippen zuckte es verächtlich, „glaube mir doch, Arthur ist schon halb getröstet; er kann von etwas Anderem reden, er kann essen und trinken und ins Geschäft gehen, er hat sogar Skat gespielt. Dieses vielgepriesene Glück! Lieber Gott!“
„Ach Jenny, Du darfst nicht die tiefe Trauer von ihm verlangen, wie sie ein Mutterherz empfindet; er –“
„Du wirst es auch noch einsehen,“ unterbrach die junge Frau. „Die Männer sind alle Egoisten!“
Trudchen erhob sich jäh von ihrem Sessel; sie schwieg, doch ihre Augen hefteten sich vorwurfsvoll auf die Schwester, als wollte sie sagen: „Sind das Deine Segensworte, die Du mir auf den Weg mitgiebst?“
Aber ihre Lippen sagten nur: „Nicht alle, ich weiß es besser!“
Jenny stand wie verlegen. „Ich möchte nun zu Arthur hinunter, er wird sonst wieder nicht zur rechten Zeit fertig; und dann ist’s auch soweit, daß ich zum Empfang der Gäste heraufkomme.“
Wie ein dunkler Schatten rieselte die Schleppe ihres Kleides über den Teppich.
Trudchen setzte sich still noch einmal in den Erker; in schimmernden Falten floß die weiße Seide um die schöne Gestalt, und aus dem duftigen Schleier tauchte das ernste junge Gesicht wie aus einer Wolke empor. Sie hatte die Hände gefaltet und sah des Vaters Bild an; „Dich nehme ich mit heut Abend, Papa!“ Und ihre Gedanken flogen zu dem stillen Landhause: sie kannte es noch nicht, nur wenn sie auf einer Landpartie durch das Dorf gefahren, hatte sie ein spitzes Ziegeldach und graues Gemäuer aus den Bäumen auftauchen sehen; wer ihr gesagt, daß dies einst ihre Heimath sein würde!
Es war wohl herzlos, daß ihr der Abschied aus dem Vaterhause nicht schwerer wurde. Und von der Mutter? – Ach, die Mama! Papa hatte sie ja doch lieb gehabt, sehr lieb einmal. Sollte sie fortgehen von hier ohne eine Mutterthräne, ohne ein herzliches Wort? Und Trudchen vergaß Alles in dieser glückseligen Stunde, sie dachte nur noch an das Gute, an das Traute, an die Zeit, da sie ein glückliches Kind gewesen, und die Mutter sie noch zärtlich geküßt hatte; sie wollte versöhnt scheiden.
Sie erhob sich, raffte die lange Schleppe des Brautkleides zusammen und ging durch den halbdunklen Flur zum Schlafzimmer der Mutter hinüber. Leise pochte sie an und gleich darauf trat sie ein.
Frau Baumhagen stand vor dem großen Ankleidespiegel im schwarzen Moireekleide, schwarze Spitzen und Federn auf dem noch immer blonden Scheitel. Trudchen konnte das Antlitz im Spiegel sehen; es war dick mit Puder bestreut, und eben wurde mit einer Hasenpfote das feine Reismehl in die Haut gerieben.
Frau Baumhagen sah sich um und betrachtete ihre Tochter. Es war die holdeste, die lieblichste Braut, weit imposanter als Jenny – und das Alles für diesen Linden! Sie sagte nichts, sie seufzte nur laut und wandte sich wieder zum Spiegel.
„Mama,“ begann Trudchen, „ich möchte Dich um Etwas bitten.“
„Gleich!“
Trudchen verharrte ruhig, bis der letzte Strich mit der Puderquaste über die Schläfe gethan war, dann nahm Frau Baumhagen die langen schwarzen Handschuhe, setzte sich auf die Chaiselongue zu Füßen ihres großen roth dekorirten Himmelbettes, und begann den ersten überzustreifen.
„Was willst Du, Gertrud?“
„Mama, was ich will? Ich wollte Abschied nehmen von Dir.“ Sie setzte sich neben die Mutter und nahm ihre Hand.
Frau Baumhagen nickte ihr zu. „Ja, wir werden uns längere Zeit nicht sehen.“
„Mama, bist Du mir noch böse?“ fragte das Mädchen stockend, und ihre Augen wurden feucht. „Vergieb mir in dieser Stunde,“ bat sie, „ich war manchmal heftig und trotzig, aber –“
„O laß – laß doch!“ wehrte die Mutter. „Ich wünsche nur von Herzen, daß Du glücklich werdest und diesen Trotz, diesen Eigensinn nie zu bereuen brauchst.“
„Niemals!“ sagte Trudchen mit innigster Zuversicht.
Frau Baumhagen knöpfte an den Handschuhen weiter. Es war im Zimmer ein so betäubender Geruch von Lavendelwasser und Patchouli, dazu krachte leise die schwere Seide, wie sie sich eifrig mühte, die Knöpfe zu schließen. Sie antwortete nicht.
„Darf ich noch eine Bitte – Mama?“
„Gewiß!“
Das Mädchen faltete unwillkürlich die Hände im Schoße. „Mama, sei ein wenig freundlich zu Linden, habe ihn ein wenig lieb, mache ihm den heutigen Tag zu einem wirklichen Ehrentage! Sieh, Mama,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „das Herz würde es mir zerschneiden mit tausend Messern, würde er heute gekränkt, liebe Mama –.“ Ein paar schwere Thränen zitterten in den Wimpern.
Sie mußte noch einmal fragen: „Ja, Mama?“
Frau Baumhagen war just fertig; sie streckte ihre beiden kleinen Hände vor, besah sie innen und außen und sagte ohne aufzublicken:
„Freundlich? – natürlich; lieb haben? – das läßt sich doch nicht erzwingen, mein Kind; ich kenne ihn ja kaum.“
„Um meinetwillen!“ drängte es Trudchen zu rufen. Aber sie besann sich; die Tage der Kindheit waren vorüber, und seitdem –?
Frau Baumhagen erhob sich. „Es ist bald fünf Uhr,“ bemerkte sie, „geh’ hinüber in Dein Zimmer, Linden wird gleich kommen.“ Sie küßte Trudchen auf die Stirn, dann rasch auf den Mund. „Geh’, mein Kind – ich lasse mich überhaupt nicht gern weich machen; Gott schenke Dir alles Glück!“
Trudchen kam hinüber in ihr Zimmer, erkältet bis ins innerste Herz. Da trat aus dem Erker eine hohe Gestalt rasch auf sie zu und ein fester Arm zog sie an sich. „Du!“ sagte sie aufathmend, und eine Rosengluth überflog ihr Antlitz.
[405]
Wahnsinn und Verbrechen.
(Schluß.)
Unter dem Drucke einer Wahnidee steht auch in vielen Fällen eine gewisse Kategorie von Leuten, welche glauben, daß ihnen Seitens einer Behörde ein Unrecht zugefügt sei, welche einen Proceß ungerecht verloren zu haben glauben u. dergl. „In ihrem Drange,“ so charakterisirt Casper sie treffend, „ihr vermeintliches Recht zu erreichen, vergeuden sie ihr Vermögen, bestürmen die Rechtsinstanzen, studiren Tag und Nacht die Landesgesetze und zerrütten sich in ihrem innern und äußern Leben immer mehr. Ihre zahllosen Schriftstücke zeichnen sich charakteristisch aus durch ihre Weitschweifigkeit, die vielfach unterstrichenen Worte und Sätze, durch zahlreiche Interjektionen und Einrückungen, Citate von Gesetzesstellen, Randbemerkungen, nachträgliche Benutzung des freien Raums des Papiers, damit ja nichts unbeschrieben bleibt.“ Dabei strotzen dieselben von Beleidigungen und Invektiven gegen Beamte und selbst gegen die Majestät des Landesherrn. Das ist es dann, was sie vor das Forum des Strafrichters führt und die Frage ihrer Zurechnungsfähigkeit zur Erörterung kommen läßt. Diese Frage wird in vielen Fällen verneinend ausfallen müssen, da dieser Querulantenwahnsinn, wie man ihn technisch wohl bezeichnet, vielfach in Verfolgungswahn und am letzten Ende in paralytischen Blödsinn ausgeht. So wurde in der vor dem königl. bayerischen Bezirksgerichte in D. im Jahre 1867 verhandelten Proceßsache gegen den Querulanten Vitus D. wegen Majestätsbeleidigung durch das Gutachten des Medicinalkollegiums der Universität München festgestellt, daß Vitus D. an Querulantenwahnsinn leide und in Bezug auf all Das, was in den Bereich desselben falle, als selbstbestimmungsunfähig zu erachten sei. Ist der Wahn einmal tief eingewurzelt, werden zuerkannte und verbüßte Strafen ihn nur verstärken. Das Martyrium der eigenen Ueberzeugung, gegenüber der sich im Unrecht befindenden ganzen Welt, wird sich im Angeklagten nur noch mehr befestigen.
Aus den moralischen Zuständen unserer modernen Gesellschaft heraus haben besonders englische und amerikanische Aerzte eine besondere Art des Irrsinns konstruirt, die sie als moralischen Wahnsinn, moral insanity, bezeichnen, indem sie behaupten, daß die Entartung der moralischen Anschauungen innerhalb unserer Gesellschaft in manchem Menschen das Gefühl von Recht und Unrecht alterirt und theilweise aufgehohen hätte. Die intellektuelle Seite, sagte man, sei dabei nicht gestört; es seien auch keine Wahnvorstellungen vorhanden, aber das Gefühls- und Gemüthsleben sei pathologisch entartet, indem die natürlichen Gefühle eine krankhafte Richtung nahmen und der moralische Sinn in seiner Entwickelung eine Hemmung erlitt. Diese Wahnsinnsart spielte besonders in dem Processe Huttington in New-York vor einigen Jahren eine sensationelle Rolle und fand da auch ihre ärztlichen Vertheidiger. Huttington, ein „ehrenwerthes“ Mitglied der Asser-Gesellschaft, stand unter der Anklage schwerer Urkundenfälschung. Derselbe suchte nun auszuführen, er habe die Fälschung als solche seiner krankhaften moralischen Anschauung nach, nicht für ein Verbrechen gehalten. Die Geschworenen hatten aber schließlich doch eine andere Ansicht von der Sache, und ebensowenig haben die meisten unserer deutschen Aerzte sich mit dieser neuen Species befreunden können, welche zuletzt auch geeignet gewesen wäre, den Massenmörder Thomas der Bestrafung zu entziehen.
Auch die bedauernswerthen Opfer der Epilepsie (Fallsucht) haben insbesondere in der Zeit kurz vor oder während ihrer Anfälle Anspruch auf Prüfung der Zurechnungsfähigkeit ihrer Thaten, denn die Einwirkung dieser Krankheit auf das Selbstbestimmungsvermögen ist eine so starke, daß dasselbe vielfach aufgehoben erscheint, um so mehr, als nach neuerer Annahme der Hauptsitz der furchtbaren Krankheit das Gehirn ist! Nun besteht dabei das Eigenthümliche, daß in vielen Fällen die Epilepsie keine echte, sondern eine geheuchelte ist, indem sie benutzt wird, das Mitleid des Richters, des Gefangenwärters und Anderer zu erwecken. Die Täuschung ist hier oft eine ganz frappante.
Als eine der bedauerlichsten Ursachen des Irrsinns erscheint die Erblichkeit. Richter und Arzt werden sich, wenn ihnen unerklärte Thaten entgegen treten, immer zuerst mit fragen müssen, ob die Vorfahren des Thäters schon einmal dem Wahnsinne ihren Tribut gezollt haben. Dieser hereditäre Wahnsinn tritt nicht immer gleich als solcher hervor, er erscheint zunächst nur als erbliche Anlage. Die „erblich belasteten“ Individuen treiben nach einer ärztlichen Schilderung allerhand Bizarrerien, zeigen bei oft großen intellektuellen Fähigkeiten frühzeitig Excentricitäten in Gedanken, Gewohnheiten und Neigungen. Beim großen Haufen gelten sie oft als Originale, verrückte Genies und halbe Narren. Es bedarf aber zuweilen nur eines geringfügigen Beweggrundes, eines heftig angeregten Affekts, um sie zu Handlungen zu treiben, welche den schlummernden Wahnsinn unverkennbar zu Tage fördern. Nur bei niederen Naturen dokumentirt sich die krankhafte Anlage frühzeitig schon als einen unaustilgbaren Hang zu Lüderlichkeit und Verbrechen.
Ein eklatantes Beispiel lieferte in dieser Beziehung der bekannte Mordproceß des Grafen Chorinsky, welcher der Theilnahme an dem von seiner Geliebten ausgeführten Giftmorde seiner Gattin beschuldigt war. Die hochangesehene Familie des Grafen bemühte sich, diesen der Schmach des Kerkers oder dem Arme des Henkers dadurch zu entziehen, daß sie ihn besonders in Folge erblicher Belastung für wahnsinnig erklärte. Der französische Arzt Morel, der das Gebiet des erblichen Wahnsinns zu seinem Specialstudium gemacht hatte, sagte schon während der Verhandlung voraus, daß Graf Chorinsky, wenn er nicht schon als wahnsinnig gelten könne, doch unfehlbar noch dem Wahnsinne verfallen würde. Diese Voraussetzung traf in der That ein. Der Verbrecher war, weil die ärztlichen Meinungen über seine Zurechnungsfähigkeit getheilt waren, zwar verurtheilt worden, vertauschte aber sehr bald die Zelle des Gefängnisses mit der des Irrenhauses.
Die Erkenntniß der Geisteskrankheit wird für die entscheidenden Faktoren noch wesentlich dadurch erschwert, daß der Wahnsinn, wie bereits bemerkt, von schlauen Verbrechern simulirt, geheuchelt wird, um von der drohenden Strafe loszukommen, und zwar geschieht dies, namentlich in den Formen der Tobsucht und des Blödsinns, oft mit solchem Geschick, daß diese falschen Irren schon die erfahrensten Irrenärzte auf lange Zeit hinaus getäuscht haben. Ja es kommt vielfach der Fall vor, daß wirkliches und geheucheltes Irrsein neben einander hergehen und mit einander abwechseln. Selbst der wirklich Irre gefällt sich oft darin, die von ihm wahrgenommenen Auslassungen der anderen Geisteskranken nachzuahmen. Daß die simulirte Geisteskrankheit aber auch in die wirkliche übergehen kann, beweist das traurige Geschick einer französischem Schauspielerin, dessen die forensischen Handbücher Erwähnung thun. Sie war bei der Darstellung einer Wahnsinnsscene ausgepfiffen worden. Im Aerger darüber begab sie sich zu einem berühmten Irrenärzte und ließ sich von ihm in das Studium der Geisteskrankheiten, besonders jener Form, welche sie in der betreffenden Scene darzustellen hatte, einführen. Sie ging in diesem Studium förmlich auf und eignete sich die Merkmale des Irrseins aufs Treueste an. Dann trat sie in jener Rolle wieder auf. Ihr wahrhaft erschütterndes naturwahres Spiel riß das Publikum zu stürmischem Beifalle hin. Aber der Wahnsinn, den sie so treu kopirt hatte, hielt sie fest; er ließ sie nicht wieder los. Schon am Ausgange ihres Spiels zeigten sich sehr bedenkliche Symptome – und ihr auf die Bühne eilender Lehrer konnte schon an dem Abende feststellen, daß sie dem Irrsinne unheilbar verfallen war.
Ein unter den Aerzten sensationell gewordener Fall einer Simulation ist der des Reiner Stockhausen, über welchen besondere Abhandlungen geschrieben wurden. Dieser dem Trunke ergebene Vagabund beging eine Reihe schwerer Diebstähle unter Umständen, die an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließen. Man untersucht ihn; zwei Aerzte erklären ihn für einen Simulanten, ein dritter für geisteskrank. Hierauf wird er ein Jahr zur Beobachtung in eine Irrenanstalt gesteckt. Der Direktor derselben erklärt, es liege Simulation vor, da keins der bei ihm wahrgenommenen Symptome unter die Hauptformen des Irrsinns gebracht werden könne. In [407] Folge dessen wird Stockhausen nunmehr vor das Schwurgericht gestellt, verurtheilt und dem Zuchthause überwiesen. Hier tritt nach kurzem Aufenthalte in jetzt nicht mehr angezweifelter Weise der Irrsinn zu Tage. Casper erzählt die Geschichte eines Verbrechers, der elf Jahre lang zwischen Gefängniß und Irrenhaus hin- und hergeschleppt wurde.
Die Schwierigkeit der Beurtheilung geisteskranker Zustände wird für den Richter ferner noch dadurch erhöht, daß, wie wir schon oben andeuteten, bei periodischen Geistesstörungen oft sogenannte lichte Zwischenräume (lucida intervalla) vorkommen, in denen der Kranke scheinbar wieder ganz im freien Gebrauche seiner Seelenkraft sich befindet; aber diese Freiheit ist doch immer nur eine scheinbare. Bezeichnend für diese Art des Wahnsinns ist der nachfolgende von den Amerikanern Wharton und Stillé mitgetheilte Fall:
„Ein gewisser John Billman, der wegen Pferdediebstahls im Eastern Penitentiary von Pennsylvania saß, ermordete seinen Wächter mit großer Brutalität, benahm sich aber dabei mit solcher Schlauheit, daß er dem Verdachte des beabsichtigten Mords entging und beinahe unvermerkt die Flucht ausführte. An der Außenseite des schmalen Fensters, das an den Zellenthüren dazu dient, von außen in die Zelle zu sehen, hatte er eine Schlinge angebracht, und er bestimmte nun seinen Wächter, nach einem draußen auf dem Korridor gerade am Fuße der Zellenthür befindlichen Gegenstande hinzusehen, wobei der Kopf durch die Schlinge gesteckt werden mußte; er selbst zog in diesem Augenblicke die Schlinge an, und es fehlte nicht viel, so wäre der Mann erwürgt worden. Trotz dieses vorausgegangenen Versuchs ließ sich der nämliche Wächter ein paar Tage später wiederum allein in die Zelle locken, weil Billman krank sein wollte, und dieser tödtete ihn durch einen Schlag auf den Kopf mit einem Stück von einem Waschbrete. Billman entkleidete den Gemordeten, zog dessen Kleider an, legte den Todten in einer Stellung auf das Bett, daß es aussehen sollte, als läge er selbst darauf, schritt in der so erlangten Kleidung ganz unbefangen über den Korridor, richtete leichthin eine Frage an den Pförtner und schlenderte sorglos in die Straße hinein, in welche die Pforte sich öffnete. Er wurde aber alsbald wieder eingebracht. Seine Irrsinnigkeit jedoch konnte nicht dem geringsten Zweifel unterliegen; auf Grund einer genauen ärztlichen Untersuchung überzeugte sich die Untersuchungsbehörde von Billman’s Unzurechnungsfähigkeit, und bei der gerichtlichen Verhandlung wurde Freisprechung wegen Irrsinnigkeit beantragt. Billman wurde in der pennsylvanischen Anstalt in Gewahrsam gebracht. Einige Zeit darauf rückte er in einer sprachseligen Stimmung mit der Mittheilung heraus, daß er vor einer Reihe von Jahren seinen Vater ums Leben gebracht habe, und erzählt bis ins kleinste Detail mit einigen Zusätzen ausgeschmückt die nähern Umstände. Es wurde der Sache nachgeforscht, und die Wahrheit der Erzählung stellte sich dadurch heraus. Man hatte den Vater im Bette erwürgt gefunden, und der Sohn war als des Verbrechens verdächtig eingezogen worden; er war aber mit solcher Verschlagenheit bei dem Morde zu Werke gegangen, daß er freigesprochen werden mußte. Er ermöglichte nämlich durch einen raschen Ritt um Mitternacht den Beweis des Alibi und wollte auch in einem Zimmer geschlafen haben, wo hinein er durchs Fenster geklettert war. Billman fühlte sich also nicht blos schuldig, er erwog auch scharfsinnig die Folgen der ihn bloßstellenden Verhältnisse, und klar genug giebt sich die langgehegte Absicht und der fein angelegte Plan zu erkennen. Dennoch war er – wie in nicht zu bezweifelnder Weise festgestellt wurde – wahnsinnig.“
Schließlich darf man ja wohl behaupten, daß sich Niemand beständig auf ganz normaler geistiger Basis bewegt. „Eine absurde Idee,“ bemerkt in dieser Beziehung Casper, „kommt Jeden einmal im Leben an. Wenn ein solcher Gedanke vergessen wird, sich zurückdrängen läßt und an der Macht entgegengesetzter Vorstellungsmassen zerschellt, ist er nicht krankhaft. Erst wenn er nicht mehr bezwungen werden kann, wenn er haftet und Wurzeln schlägt, dem Individuum sich immer und überall aufdrängt, nicht korrigirt werden kann, nennen wir ihn krankhaft.“ Wie oft trifft in Folge einer äußerlich angeregten Ideenverbindung, eines lebhaften Phantasiespiels ein verbrecherischer Gedanke blitzartig unser Gehirn! Wir stehen mit Andern auf einem hohen Thurme oder Bergvorsprunge. Wie wäre es, fliegt es da durch unsere Gedankenreihe, wenn du dich oder den, der neben dir steht, hinabstürztest! Wir erschrecken vor solchen Gedanken und wendest uns im nächsten Augenblicke mit Abscheu von denselben ab, aber sie waren doch da. Lichtenberg, dieser kühle verständige Kopf, schreibt einmal von sich: „Ich fand oft ein Vergnügen daran, Mittel auszudenken, wie ich diesen oder jenen Menschen ums Leben brächte oder Feuer anlegte, obgleich ich nie den Entschluß faßte, so etwas zu thun.“
Man darf sich nicht verhehlen, daß derartige Erwägungen, in ihre äußersten Konsequenzen verfolgt, schließlich zu durchaus unannehmbaren Resultaten führen können, zu Annahmen, wie die des französischen Arztes Piquard: es sei jede verbrecherische Handlung der Ausfluß momentanen Wahnsinns – eine Ansicht, unter deren Konsequenzen sich alle unsere Zuchthäuser in Irrenhäuser zu verwandeln haben würden.
In den neuesten Errungenschaften der medicinischen Wissenschaft auf dem Gebiete der Krankheiten der Seele haben wir jedoch die sichere Gewähr, daß derartige Uebertreibungen vor dem richterlichen Stuhle nicht geduldet werden, und daß der Schutz des humanen Gesetzes nur denjenigen Beklagenswerthen zu Gute kommt, die ihn thatsächlich verdienen.
Romeo und Julia in der Garnison.
Von Karl Hecker.
I.
(Romeo und Julia II. Akt. 6. Sc.)
Nördlich von Verona irgendwo in deutschen Landen liegt die Stadt X.; wenn auch keine Festung ersten Ranges, ist es doch ein ansehnlicher Waffenplatz. Alles, womit man in Kriegszeiten den Feind schreckt, als da sind: Generale, Stabs-, Subalternofficiere und Gemeine, Kanonen, Gewehre und anderes Rüstzeug, ist in Massen dort angehäuft. Zur Zeit, als ich mich noch selbst zu jenen Schrecknissen zählte, war die Garnison noch mehrere tausend Mann stark, und daneben fristete noch ein Häuflein Beamte und Bürger sein wenig bemerktes Dasein. Die Wohnungsgelegenheiten ließen damals Manches zu wünschen; weitaus am besten waren die Kanonen und Gewehre daran, welche ein großes massives Zeughaus mit im Renaissancestil gehaltener Façade bewohnten. Sonst behalf man sich so gut es eben ging, denn man war damals noch nicht so anspruchsvoll wie heute. Ueberdies war die Stadt auf allen Seiten von prächtigen Lindenalleen umgeben, was den Aufenthalt im Freien [in] der guten Jahreszeit sehr angenehm machte.
Leider muß [ich] hier meine Schilderung abbrechen und auf das lokale Kol[orit,] dem manche neuere Romane gerade ihre Berühmtheit verdanken, Verzicht leisten. Eines Dichterdenkmals darf ich jedoch nicht vergessen, denn ich habe den Sänger des Tell – er hat bessere – oft im Stillen darum beneidet. Ja, sollte es mir vom Schicksal bestimmt sein, daß ich mich je wieder dauernd in X. aufhalte, so wär’ mir’s gleichfalls am liebsten, wenn dies in Erz oder in karrarischem Marmor geschähe.
Ein Dragoner- und ein Ulanenregiment waren die vornehmsten Truppentheile der Garnison; sie hatten beide fürstliche Chefs und zählten sich daher so halb und halb zur Garde; Gut und Blut des Landes waren ist beiden gleichmäßig vertreten. Gerade diese beiden Regimenter trennte jedoch ein unheilbarer, über ein Jahrhundert alter, sozusagen historischer Zwiespalt. Sie hatten einmal, ich weiß nicht mehr in welcher Schlacht Friedrich’s des Großen, vereinigt eine kühne Attake auf den Feind geritten, welche dieser mit empfindlichen Verlusten zurückwies. Wer die Schuld daran trug, blieb unaufgeklärt, doch wurde sie von jedem der beiden bis dahin stets siegreichen Regimenter dem andern zugeschoben, die Quelle jenes traditionellen Hasses, der sich seitdem von Geschlecht [408] zu Geschlecht forterbte. Dienstlich war der gegenseitige Wetteifer zwar von den besten Erfolgen begleitet, anders stand es jedoch außer Dienst. Begegnungen, welche die geringe räumliche Ausdehnung der Stadt unvermeidlich machte, führten manchmal zu blutigen Raufereien unter den Gemeinen. Bei Bällen und Gesellschäften beanspruchten beide Officierkorps den Vortanz, und war man auch nothgedrungen zu einer Verabredung über die abwechselnde Ausübung dieser Prärogative gelangt, immer wieder gab es Einzelne, die sich daran nicht kehrten. Besonders schroff trat der Zwiespalt in Sachen des Geschmacks und der Mode zu Tage. Trugen zum Beispiel die Ulanen ihre Mützen nach hinten umgestülpt, schief auf dem Ohre, so konnte man sicher sein, die Dragoner mit hochaufgerichteter, schnurgerade sitzender Kopfbedeckung einherwandeln zu sehen, und fanden es diese dem hohen Stande militärischer Bildung entsprechend, das oberste Knopfloch am Ueberrocke uneingeknöpft zu lassen, gleich knöpften die Ulanen das unterste auf und behaupteten, hieran den Maßstab zeitgenössischer Kultur zu erkennen.
Da nun jedes der beiden Regimenter wieder seinen Anhang hatte, so entstand dadurch eine heillose Begriffsverwirrung, und der Riß, der die beiden Korps trennte, ging manchmal mitten durch die Garnison.
Keine vorgesetzte Behörde hatte bisher etwas dagegen vermocht. Nur zwei- bis dreimal im Jahre kam es zu einer Art Waffenstillstand, nämlich, wenn der gemeinsame Divisions- oder Brigadekommandeur Besichtigung abhielt, wobei sich der Mützensitz genau nach den bestehenden Vorschriften zu richten hatte und auch bezüglich der Knopflöcher eine wohlthuende Gleichförmigkeit herrschte. Diese Besichtigungen schloß gewöhnlich ein gemeinsames Liebesmahl, dem die Generale beiwohnten, und wobei es an den üblichen Toasten auf Korpsgeist und Kameradschaft nicht fehlte. Dazu schmetterten die vereinigten Trompeterkorps ihre betäubendsten Fanfaren, die Kommandeurs schüttelten sich die Hände und die Lieutenants tranken sich große Quantitäten erbfeindlichen Getränks aus einem silbernen Pokale zu, dessen prompte Leerung mit technischen Schwierigkeiten verknüpft war.
Allein etwas mehr oder weniger Lob bei der vorhergegangenen Kritik gespendet, etwas mehr oder weniger Sekt, der in dem Pokal zurückgeblieben, genügte, schon andern Tags den alten Streit zu neuen Flammen anzufachen und die Nothbrücke, welche des Generals Anwesenheit über den Abgrund geschlagen, bis zu dessen nächstem Besuche wieder abzubrechen.
Wie die Männer, so die Frauen. Jedes Regiment bildete in sich eine geschlossene Familie und die Zugehörigkeit wurde im Gespräche durch Vorsetzen des Wörtchens „unser“ vor Alles, was in dem Verbande stand, betont. So zum Beispiel sagten die Damen: „Unsere Rittmeister sind sehr angestrengt“ – „Unsere Lieutenants haben sich die Magen verdorben“ – „Unser kleiner Fähnrich tanzt Sechsschritt“, und ebenso ungenirt bedienten sich die Herren des persönlichen Fürworts, wenn von den Damen die Rede war, was hier nicht mit Beispielen belegt werden soll. Blieb sich nun auch der männliche Effektivbestand, wie ihn der Etat vorschreibt, allezeit ziemlich gleich, so war doch der weibliche manchen Schwankungen unterworfen, es dienten oft bei einem Regimente mehr Familienväter, beim andern mehr Junggesellen, und auf ein Dutzend kourfähiger Damen auf der einen Seite kam oft nur ein Paar auf der andern. Während dieses Paar sich nun von einem ganzen Schwarm huldigender Lieutenants umworben sah, mußten sich jene zwölf mit drei bis vieren von der Sorte begnügen und blieben daher beim Tanze häufig sitzen, wenn sich die anderen fast die Schwindsucht an den Hals rasten.
Es konnten auch die geselligen Elemente in beiden Officierkorps ungleich vertheilt sein, sodaß sich die Lieutenants des einen als düstere Misanthropen in den Saalecken herumdrückten oder gar – dies freilich selten ohne die verdiente Enttäuschung – gastronomischen Studien oblagen, indessen die des andern sich wie trainirte Rennpferde geberdeten. Eine streuge Disciplin konnte da Hilfe schaffen. Hatten aber die Grazien gar ihr Füllhorn einseitig über das „Ewig Weibliche“ ausgeschüttet, so ergaben sich Situationen, die nach einem Tragödiendichter schrieen.
Eine solche war eingetreten zu Anfang des Jahres Achtzehnhundertund – es war der letzte Wille des längst verschiedenen Freundes, dessen Nachlaß ich diese Aufzeichnungen verdanke, daß das genauere Datum verschwiegen bleibe. Damals also stand die weibliche Flora des Ulanenregiments in geradezu überraschender Blüthenfülle, während sie bei den Dragonern einen entschieden herbstlichen Charakter trug. Dagegen war der jüngste Nachwuchs tanzender Lieutenants, der bei jenem Vieles zu wünschen ließ, bei diesen ganz vorzüglich gerathen, namentlich aber verfügte das Dragonerregiment über einen Officier von so vielseitigem gesellschaftlichen Talente, daß er, selbst vom Feinde anerkannt, als eine erste Kraft, als der maître de plaisir der Garnison galt. Es war dies der Lieutenant von Sternau.
Schlank, blond, mit veilchenblauen Augen, entbehrte Herr von Sternau äußerlich nur einer derjenigen Eigenschaften, welcher der Lieutenant im Kampfe ums Weiberherz, dieser für ihn so wichtigen Episode des Kampfes ums Dasein, bedarf, allerdings einer der wirksamsten, nämlich des Schnurrbarts. Doch war es nicht der Geiz der Natur, der ihn dieser Zierde beraubte, nein, er selbst hatte sie geopfert auf dem Altar der Kunst. Der Drang zur Kunst war ein Erbtheil aller Sternaus, und einige Vorfahren hatten ihm nicht nur ihre Schnurrbärte, sondern auch den größten Theil ihrer beweglichen Habe geopfert, sodaß auf unsern Helden nicht viel mehr, als gerade dies Erbstück kam. Wie aber wußte er es zu nützen! Die Idee des universellen, alle bisher isolirten Gattungen in sich vereinigenden Kunstwerks war ihm schon aufgegangen zu einer Zeit, da man von Richard Wagner kaum sprach, und mit diesem Meister theilte er die Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel, die rastlose, durch nichts zu beirrende, alle Hindernisse besiegende Energie. Schauspieler, Dichter und lustige Person in einer verschmelzend, war er des Erfolges im Voraus sicher. Die Aufführungen, die er veranstaltete, erfreuten sich daher auch eines Rufs weit über die Grenzen der Garnison hinaus und erregten den Neid der selbstverständlich davon ausgeschlossenen Ulanenfamilie.
Aber auch ein leicht entzündbares Künstlerherz schlug in seiner Brust. Seine Verehrung des andern Geschlechts hatte einen großen Zug; unabhängig von dem wechselnden Naturspiele der Haar- und Augenfarbe, entsprang sie eben jenem allgemeineren Drange zum Schönen, und er liebte es, ihr in schwungvoller Rede Ausdruck zu geben. Dafür fehlte nun leider seiner Umgebung das Verständniß, und die Kameraden nannten ihn scherzend den Romeo.
Der Rosalinden, für welche dieser Romeo geschwärmt, waren es verschiedene, keine hatte seine Gluth getheilt, ja, wenn man den bösen Zungen glauben durfte, hatte er sich zu den vielen Lorbeeren seiner Stellung auch bereits einen und den andern Korb geholt.
Sternau war, wie schon bemerkt, nicht mit Glücksgütern gesegnet. Die Familie besaß zwar ein Rittergut und er konnte mit vollem Recht zu seiner Zukünftigen sagen: „Komm auf mein Schloß mit mir!“ was er natürlich unter allen Umständen gesungen hätte. Doch würde ihn die Annahme der Einladung in Verlegenheit gebracht haben, denn die Zahl derer, mit denen er sich in den werthvollen Besitz theilte, war so groß, daß auf ihn selbst nur ein Paar Kämmerlein in höchster Lage mit allerdings vortrefflicher Aussicht kamen.
Nicht seine Mittellosigkeit war es jedoch – wo hätte die je eines Lieutenants Siegerschritt gehemmt! – die seinem Glück bei den Frauen im Weg stand, vielmehr gerade die bevorzugte Stellung, welche er ihnen gegenüber einnahm. Keiner stand mit ihnen auf so vertrautem Fuß wie er; die Mütter verhätschelten ihn und die Töchter versicherten ihm bei jeder Gelegenheit: „Das haben Sie reizend gemacht, lieber Sternau, es war ganz entzückend, zum Todtlachen, wir haben uns göttlich amüsirt!“ und was dergleichen Redensarten mehr sind. Er war ihnen unentbehrlich, aber eben weil er vor ihnen allen der Reihe nach auf den Brettern schon gekniet, hatten sie sich gewöhnt, seine Gefühlsergüsse auch im Leben für nichts Anderes als besonders gelungene Kunstleistungen zu nehmen. Ihn heirathen wäre ein Raub an der Gesellschaft gewesen, dessen sich keine schuldig machen wollte.
Weibliche Vertraulichkeit, wenn sie eine gewisse Grenze überschreitet, ohne sich zur Liebe zu entwickeln, ist immer ein zweifelhaftes Geschenk, geradezu eine Beleidigung aber, wenn ihr Gegenstand ein Lieutenant ist. Kann man sich etwas Ungereimteres denken, als wenn Tiger und Gazelle, Wolf und Lamm, Lunte und Pulverfaß ein Bündniß schlössen, sie wollten sich in Freundschaft harmlos mit einander vertragen?
[409]
[410] Dieses Widersinnige seiner Stellung empfand auch Sternau, und wenn er es, wie die Dinge augenblicklich bei seinem Regiment lagen, weniger schmerzlich empfand, so gewährte ihm andererseits auch seine Kunst nicht mehr die frühere Befriedigung. Sein Personal war zusammengeschrumpft in jeder Beziehung, die besten Kräfte hatten sich anderwärts mit lebenslänglichen Kontrakten gebunden; die jugendliche Liebhaberin war für ihre Rolle nicht gewachsen, das Fach der Naiven ganz unbesetzt. Keiner empfand die Trostlosigkeit der Lage so tief wie Herr von Sternau.
Wie anders war es, wenn er den Blick nach jener Seite richtete, wo die leider verbotenen Früchte so verlockend über die Schranken des Paradieses herüber nickten, vor dessen Pforten die Engel der Thorheit und des Vorurtheils mit blitzenden Flammenschwertern Wache hielten! Was mußte mit solchen Kräften zu leisten sein! Der Mensch und der Künstler in ihm sehnten sich gleich stark dort hinüber.
Solches Sehnen war freilich der reine Hochverrath und Sternau hütete sich wohl, seine geheimen Gedanken im Kreise der Kameraden laut werden zu lassen; nein, da schürte auch er den Familienhaß um so eifriger, je mehr sich sein schwaches Herz zur Liebe geneigt fühlte. Denn es war nicht beim Gedanken geblieben, er hatte sich seiner Richtung folgend schüchtern erst und vorwurfsvoll, aber in immer engeren Kreisen bis dicht an jene Schranken herangeschlichen und zwar an einer Stelle, wo sie in Gestalt eines zierlichen Gitters den Garten des Ulanen-Kommandeurs, des Obersten von Helmkron, umschlossen. Dort stand an vorspringender Ecke ein Kiosk und in diesem ein Tisch und eine Bank, und auf der Bank saß, seit die Abende milder wurden, nicht selten eine allerliebste junge Dame, gewöhnlich mit einem Buch und einer Handarbeit, meistens aber über beide hinweg sehnenden Blickes nach Süden schauend.
Diese Augen, die so weltvergessen „das Land der Griechen mit der Seele suchten“, hatten’s ihm angethan. Nun darf zwar nicht verschwiegen werden, daß dieselben, als sie auf ihrer Reise ins Land der Ideale zuerst einem so realen Hinderniß, wie es ein Dragonerlieutenant immerhin ist, begegneten, sich sofort abwandten, ihre Besitzerin aber erröthend unter Mitnahme von Buch und Handarbeit den Platz verließ. Allein sie erschien doch am nächsten Tage wieder, und nach der dritten Begegnung hatte der Rückzug schon den Charakter der Panik verloren, nach der vierten erfolgte er mit Zurücklassung des Gepäcks, nämlich des Buchs und der Handarbeit. Unser Held machte von dem Recht des Siegers Gebrauch und es gelang ihm, indem er seinen Arm zwischen den Gitterstäben durchzwängte, von der Handarbeit zwar nur ein Flöckchen Seide zu erwischen, das er sofort an seinem Herzen barg, dagegen das Buch ganz ins Bereich seines Sehvermögens zu rücken.
Es war ein Band von Shakespeare, die aufgeschlagene Stelle der zweiten Scene des zweiten Aktes von „Romeo und Julia“, wo Julia am Fenster dem im Garten lauschenden Romeo ihre Liebe verräth.
„O Romeo! warum denn Romeo?
Verleugne Deinen Vater, Deinen Namen;
Willst Du das nicht, schwör’ Dich zu meinem Liebsten,
Und ich bin länger keine Capulet!“
War das Zufall oder Absicht? Unser Romeo hatte nicht viel Zeit darüber nachzudenken; ein Geräusch von Schritten veranlaßte ihn, das Buch eiligst an die alte Stelle zurück zu schieben und sich hochklopfenden Herzens einige Schritte vom Schauplatz seines Frevels zu entfernen. Hier ward er der unfreiwillige Zeuge folgenden Gesprächs, das sich zwischen dem Obersten von Helmkron und seiner Gattin entspann: „Aber, bester Schatz, zur Liebe kann ich sie nun doch einmal nicht zwingen, wenn ihr der Hagedorn nicht gefällt.“
„Was hast Du an ihm auszusetzen? Ist er nicht ein pflichttreuer Officier, in seinem Fach erfahren wie wenige? Hast Du mir nicht oft selbst seine große Gewandtheit in der Behandlung von Pferden gerühmt?“
„Gewiß, die bestreitet ihm Niemand, aber zwischen Pferden, Schatz, und –“
„Und Menschen ist ein Unterschied. Das wußte ich, ehe ich das Glück hatte, die Gattin eines Kavallerie-Obersten zu werden.“
„Nicht so heftig, Sophiechen, Du hast doch gewiß keinen Grund, Dich über Dein Schicksal zu beklagen.“
„Nicht? Ich entschließe mich, nicht ohne Bedenken darf ich sagen, ein lange treu bewahrtes Gelübde zu brechen, meine Freiheit, einen geachteten, ja berühmten Namen zu opfern, einen Wohlthätigkeitssinn, ein Beglückungsbednrfniß, das außerdem der ganzen leidenden Menschheit zugute gekommen wäre, auf den engen Raum einer kleinen Familie zu beschränken, und mein erster Schritt, hier Gutes zu wirken, stößt auf den Widerstand einer eigensinnigen Stieftochter, mit dem sich die Schwäche des Vaters verbündet.“
„Du thust mir Unrecht, liebe Sophie. Ich geb’s ja zu, Hagedorn ist ein tüchtiger Officier, ein ehrenwerther Charakter, obwohl mir sein hitziges Temperament, seine Rauflust schon manche Unannehmlichkeit bereitet haben.“
„Das sind Eigenschaften des Blutes, Fehler, wenn Du so willst, die sich in der Ehe am leichtesten verbessern. Er entstammt einem ritterlichen Geschlecht, meinem eigenen nahe verwandt. Aber nicht dies, sondern ganz allein die Sorge für Juliens Glück hat meinen Blick auf ihn gelenkt. Die Auswahl ist hier wahrhaftig nicht groß, Julie in den Jahren, wo man an Vermählung denkt. Giebt es eine passendere Partie für sie, als Herr von Hagedorn, ein hübscher Mann, ein vornehmer, begüterter Mann, der nächste am Rittmeister? Was hat sie gegen ihn einzuwenden?“
„Weiß ich das, Sophie? Aber laß ihr nur Zeit, sie ist ja noch jung, hat noch so wenig mit Männern verkehrt. Mag er selbst doch das Eis brechen, an Gelegenheit fehlt’s ihm ja nicht und meine Zustimmung ist ihm gewiß.“
„Es ist nicht Abneigung, was sie so spröde gegen ihn macht, sondern der pure Eigensinn, den sie stets allen meinen Wünschen entgegensetzt und der auf die Dauer meine mütterliche Autorität gefährdet. Eben deßhalb muß ich auf Deine energische Unterstützung rechnen.“
„Was in meiner Kraft steht, soll in der Sache geschehen, das versprech’ ich Dir. Horch, Sophiechen, da ruft uns der kleine Hans!“
Mit hörbarer Erleichterung sprach der tapfere Oberst diese Worte, zu denen ihm ein heftiges Kindergeschrei vom Haus her die willkommene Veranlassung bot.
„Möge sein Ruf Dich Deiner Pflicht gemahnen!“ erwiderte ihm die Gattin.
Das waren die letzten Worte, die der Lieutenant vernahm; die Stimmen verklangen, das Geräusch der Schritte entfernte sich rasch und so that auch Herr von Sternau. Aber je weiter er sich von dem gefährlichen Ort entfernte, um so langsamer wurde sein Gang, um so nachdenklicher seine Haltung. So, ganz Romeo, umwandelte er dreimal den lindenbepflanzten Stadtwall, wo ein nachdenklicher Lieutenant immerhin einiges Aufsehen erregte.
„He Romeo, wohin? Für welche Spröde schwärmst Du schon wieder? Komm mit und laß Dir die Grillen in lustiger Gesellschaft austreiben!“ riefen ihn einige des Weges kommende Kameraden an. Er entschuldigte sich mit Unwohlsein, aber sie glaubten’s ihm nicht, daß er den Abend zu Hause bleiben und Thee trinken werde.
Doch blieb er wirklich zu Hause, trank Thee, sehr starken Thee und besonders wohl war’s ihm auch nicht bei der Beschäftigung, der er sich hingab und die darin bestand, daß er die Rückseiten von Verlobüngs- und Beerdigungsanzeigen mit einem Chaos verworrener Schriftzeichen bekritzelte. Allmählich schälte sich jedoch aus diesem Chaos ein Gebild hervor, und als Fräulein von Helmkron am nächsten Tag wieder ihr Lieblingsplätzchen im Garten aufsuchte, fand sie dort ein artig zusammengefaltetes Papier und darauf die folgenden Verse:
„An Julia!
Trennten Berge uns und Schluchten,
Nicht verzagt’ ich theures Kind;
Aber daß es die verfluchten
Kleinen Vorurtheile sind! –
Schied ein Meer uns von einander
Sturmbewegt und abgrundtief,
Ich durchschwämm’ es wie Leander,
Da ihn Hero’s Fackel rief!
Aber daß zu Deinen Füßen
Ich nicht stürze, wie mich’s drängt,
Daß mein Mund nicht an dem süßen
Wonnequell des Deinen hängt,
Daß, die düstre Nacht zu hellen,
Mir nicht strahlt Dein holder Blick,
Alpen nicht, noch Dardanellen
Dank ich solches Mißgeschick.
Maulwurfshügel, seichte Pfützen,
Wahn, zur Satzung aufgebläht,
Sind die Schranken, die Dich schützen,
Die ein freier Sinn verschmäht.
Julia, Julia, laß Dich sprechen,
Gieb ein Zeichen, wann und wo;
Sind die Schranken nicht zu brechen,
Bricht mein Herz!
Dein Romeo.“
[411] Verse müssen schon ungewöhnlich schlecht sein, was man von den vorstehenden hoffentlich nicht behaupten wird, sollten sie, im richtigen Moment an den Mann, vielmehr an die Frau gebracht, ihre Wirkung verfehlen. Julia von Helmkron, welche außer den schon erwähnten Augen einen anmuthigen Blondkopf auf schlankem, wohlgebildetem Körper besaß, war nur vier Jahre älter als ihre Namensschwester in Verona, also achtzehn Jahre alt, sie hatte unlängst erst ein größeres Mädchenpensionat verlassen und war daher für die Poesie des Lebens besonders empfänglich. Die Prosa war in Gestalt einer Stiefmutter an sie herangetreten und bereits hatte sie sich in die Zärtlichkeit ihres Vaters mit einem kleinen Brüderchen zu theilen. Dies und die Oede des geselligen Lebens in X., deren Gründe sie wohl kannte, aber keineswegs billigte, stimmte sie oft recht traurig.
Die zweite Frau von Helmkron, während ihres Jungfernstands eine geschworene Feindin der Ehe, kannte, seitdem sie sich zu ihr, als einer letzten Verjüngungsgelegenheit entschlossen, kein größeres Vergnügen, als das, andere möglichst rasch unter die Haube zu bringen. Der Tochter gegenüber wurde das Vergnügen zur Pflicht. Da sie aber auch eine herrschsüchtige Frau war, die über die Damen des Regiments ihr Scepter so schneidig schwang, wie der Oberst, ihr Gatte, über die Herren, so suchte sie den Schwiegersohn möglichst im Bereich dieses Scepters und fand ihn.
Der Lieutenant von Hagedorn, ein entfernter Verwandter ihrer Familie, genoß als kühner Reiter und Pferdekenner eines bedeutenden Ansehens im Regiment. Keiner verstand es, wie er, die Natur zu korrigiren und die scheinbar mißgestaltetsten ihrer Geschöpfe durch Pflege und Dressur zu wahren Prachtexemplaren der Gattung umzuschaffen, als welche er sie großmüthig den jüngeren Kameraden abtrat. Er leitete auch den Fechtunterricht, seine Quarten galten als unfehlbar und in den Händeln mit den Dragonern hatte er schon wiederholt blutigen Gebrauch davon gemacht. Dies, seine gewaltigen Stimmmittel und eine ebenso große als ausdauernde Vorliebe für die Freuden der Tafel erhoben ihn zum bewunderten Führer der ledigen Jugend. Hatte er sich zur Aufgabe dieser Führerschaft nur schwer entschlossen, indem er auf die Pläne seiner Kousine einging, so hielt er es nun für Ehrensache, das begonnene Unternehmen siegreich durchzuführen, und trotz Julias Zurückhaltung, die er für weibliche Schüchternheit hielt, zweifelte er nicht einen Augenblick an dem Erfolg. Er war ein stattlicher Mann, das gerade Gegentheil von Sternau, ein Hüne von Gestalt mit gebräuntem Gesicht, dunklem Haar und mächtigem dolchscharf gespitzten Schnurrbart. Zu dem Seelengemälde jedoch, das sich Julia von ihrem Ritter entworfen, paßte er nicht und nur mit Widerwillen konnte sie an eine Verbindung mit ihm denken. Allein vergebens suchte sie den Anspielungen der Stiefmutter, denen sich bald auch die Ermahnungen des Vaters beigesellten, auszuweichen. Nach solchen Auftritten flüchtete sie in den Garten und blickte so sehnsüchtig nach Süden, als müßte ihr von dort ein Retter kommen.
Ach, der Frühling kam ja von dort und in den Damenkreisen des Regiments stand es bereits fest, daß er mit dem großen Avancement, das Hagedorn zum Rittmeister beförderte, der Welt auch dessen Verlobungsanzeige bringen werde.
Arme Julia! Da plötzlich tauchte Sternau in ihrem Gesichtskreis auf, und seine Erscheinung berührte sie gleich das erste Mal angenehm. Als sie nun aber hörte, daß man ihn im Freundeskreis, wenn auch nur scherzend, den Romeo nenne, da fühlte sie sich wundersam berührt. Sie nahm aus dem Bücherschrank ihres Papas den betreffenden Band der Werke des großen Briten, las die tragische Geschichte des berühmten Liebespaares unter Thränen durch und ließ das Buch – ob aus Zufall oder Absicht, wer wagte das zu entscheiden? – auf dem Gartentisch liegen. Und eben daselbst fand Sternau als Antwort auf sein feuriges Poëm eine frisch duftende Rose, die er entzückt und begeistert an die Lippen preßte.
Die edle Kegelei im „Malkasten“ zu Düsseldorf.
Soweit die deutsche Zunge reicht, steht das edle Kegelspiel bei allen Ständen hoch in Ehren, und die Zahl der Vereine und der „geschlossenen Gesellschaften“, die allabendlich den hölzernen König mit seinen acht plumpen Trabanten zu stürzen trachten, dürfte selbst diejenige der Skatjüngerwelt übertreffen; denn der Kegelkönig herrscht überall im Norden wie im Süden, am tiefen Meeresstrande und hoch in den Bergen, allwohin der Skat noch lange nicht gedrungen ist. Bis jetzt hat man sich allerdings mit der Geschichte des wackeligen Monarchen und mit der Statistik seiner Macht nur wenig oder gar nicht befaßt, und erst vor Kurzem haben die deutschen Kegler der Anregung des Dresdener „Sandhasen“-Klubs Folge geleistet und beschlossen, in der reizend gelegenen Hauptstadt des gemüthlichen Sachsenlandes einen großen deutschen Keglertag abzuhalten. Vielleicht wird dieser Tag System in den Kegeldilettantismus bringen und das Vernachlässigte emsig nachholen.
Doch wenn die strenge Wissenschaft der edlen Kegelei so viel schuldig geblieben ist, von der Kunst kann man dies nicht behaupten. Sie hat das Kegelspiel in zahllosen Gemälden verherrlicht, und Jünger der Kunst waren es auch, die vor Kurzem einen förmlichen Kegeltempel errichten ließen. Im Hause des berühmten Künstlervereins „Malkasten“ in Düsseldorf ist eine Kegelbahn zu schauen, wie solche ihres Gleichen in deutschen Gauen wohl nicht wieder findet.
Von dem „Malkasten“ selbst, von dem trefflichen Geist, der ihn belebt, von den prachtvollen Festen, die er veranstaltet, und von den humanen Zwecken, die er verfolgt, hat die „Gartenlaube“ schon mehrmals berichtet.[1] Der Zauber der Kunst, der jetzt über dem grünen Park und dem Hause ruht, ist kein neugebackener. Eine Fülle schöner litterarischer Erinnerungen knüpft sich an diese Stätte. Vor etwa hundert Jahren gehörte das weite Besitzthum dem Philosophen Friedrich Jacobi, dessen Bruder Georg neben Goethe als einer der besten deutschen Lyriker geschätzt wurde. Seine glänzende Gastfreundschaft, seine menschenfreundliche und herzliche Gesinnung lockten in sein Haus eine Schar auserlesener Gäste herbei, die hier schöne Tage verlebten, wie Goethe es so anmuthig in „Wahrheit und Dichtung“ geschildert. Außer ihm, dem Dichterfürsten, weilten hier noch Wilhelm Heinse, der Verfasser des „Ardinghello“, Jung-Stilling, die Grafen Stolberg, Georg Forster, die Fürstin Galitzin und Hamann, der Magus des Nordens. Noch heute ist das alte Jacobi’sche Haus als Hinterbau des „Malkasten“ vollständig in seinem ursprünglichen Zustande erhalten, und durch sein Erdgeschoß gelangen wir in die berühmte Künstler-Kegelbahn, die im Winter des Jahres 1882 eröffnet wurde mit dem Festspiel des Malers und Humoristen Eduard Daelen, welches den Sieg der Kegel über die Karten feierte.
Ueber den Flur hinweg kommen wir zunächst in das heutige Billardzimmer, dessen Stuckdecke im Rokokogeschmack uns daran gemahnen soll, daß wir im Theezimmer der weiland Familie Jacobi uns befinden. Da klingt uns schon Stimmengewirr, Gelächter, neben dem Rollen der Kugeln, dem Geräusche der fallenden Kegel entgegen.
Die nächste Thür durchschreitend befinden wir uns in der Künstlerkegelbahn. Ein kleiner, niedriger Raum, mit schwerer Holzarbeit verziert und reich im Renaissancestile gehalten, zeigt sich schmuckkästchenartig unseren Blicken. Vorwiegend jugendliche Gestalten, zwischen die sich auch zuweilen ein munter blickendes silberhaariges Haupt gesellt, drängen sich in dem gemüthlich engen Raume, von welchem zwei prachtvolle Bahnen in langer Dehnung auslaufen. Die künstlerische Jugend hat da unten ihren eigentlichen Stammsitz, und durch das Gelärme der Kegel und Kugeln dringt an unser Ohr von einem der erhöhten Sofas her, wo sich die Gruppen müßiger Zuschauer niederlassen, auch manches Wort ernsten Strebens, heißblütiger Hoffnungen, manche scharfe Kritik – denn rasch fertig ist die Jugend mit dem Worte. [412] Neben der jungen Künstlerschaft tummelt sich aber auch in diesem Raume manch angesehenes Mitglied der Bürgerschaft, und auch die bewaffnete Macht, Infanterie und Kavallerie, übt gern den Arm im kühnen Wurfe. Da, wie wir uns eben ein bischen zurechtgefunden, fällt unser Blick auf einen der beiden vergoldeten Gaskronleuchter. Die sonderbare Gestaltung macht unser Stilgefühl irre. Sollte das wirklich echte Renaissance sein? Dort – wir sehen weiter – blicken uns aus allen Ecken und Enden der Kegel und die Kugel entgegen, als Ornament, als Säule, als Seitenstütze. Die auf unserem Bilde vortretende Hauptsäule giebt das absonderliche Motiv in Schaft und Kapitäl am klarsten, bündigsten wieder.
Von hier aus finden wir überall das Motiv bis in die kleinsten architektonischen Momente durchgeführt und mit sinnigster Phantasie nicht nur, sondern auch mit sicherer Beherrschung der symmetrischen Regeln verwerthet, und in genialer Weise ist dieser absonderlichen Struktur doch der Ton und Charakter des Renaissancestiles täuschend aufgeprägt, wozu insbesondere auch die trefflichen Sinnsprüche und die humoristischen Intarsien ergänzend mitwirken. Diese Intarsien nun erkennen wir bald als überaus geschickte, geniale Nachahmungen der Holzbildnerei, nicht so bald aber entdecken wir die geistreiche Methode, nach welcher die reich komponirte Decke die Täuschung eines kostbaren, massiven Holzkunstwerkes macht. Der geniale Schöpfer dieser in ihrer Art einzigen architektonischen Humoreske, deren kühne Erfindung und ebenso kühne Durchführung nur der Fachmann vollauf würdigen kann, ist der junge Düsseldorfer Architekt Josef Herwig.
Man kann sich nicht satt sehen an der verblüffend burlesken Phantastik dieses Baues, der eine Merkwürdigkeit Düsseldorfs ist, und stets kehrt der Blick auf diese oder jene Theile desselben zurück, wenn er zeitweilig von dem munteren Treiben um uns her davon abgelenkt wurde, oder wenn wir uns in die humoristischen altdeutschen Regeln des „Kegel-Turniers“ vertieft haben. Lustig geht es da zu dicht neben den Räumen, wo ehedem Philosophie und Schöngeisterei ihren Sitz hatten, zumal an den Karnevalstagen, wo neben dem Kegelspiele allerlei Mummenschanz getrieben wird. Dann sorgt auch die Pudelkasse dafür, daß Niemand verdurste, denn sie dient dem edlen Zwecke, Freibier in unendlicher Fülle fast jeglichen Samstag zu liefern. Des Sommers aber, wenn der wunderbare Malkastenpark mit seinen alten, weitgipfligen Bäumen, seinem lauschigen Venusteiche und seinen Laubgängen ins Freie lockt, dann geht auch die Keglerzunft auf die Sommerkegelbahn, und der groteske Wunderbau Herwig’s bleibt leer und verschlossen. Schlicht und einfach ist diese Sommerkegelbahn, aber des künstlerischen Schmuckes konnte sie doch als Künstlerkegelbahn nicht entrathen. – Der rühmlich bekannte Zeichner Grot Johann hat einen prächtigen Fries an die Wand gemalt, der allerdings noch der völligen Vollendung harrt. Der Leser findet auch dieses köstliche Kunstwerk in unseren Illustrationen wiedergegeben und erkennt unschwer, daß der Künstler aus dem vollen Leben des Malkastens selbst geschöpft, obwohl die einzelnen Gestalten in altdeutscher Tracht erscheinen, als ob sie gerade von einem der [413] berühmten Kostümfeste des Malkastens in die Kegelbahn hineingestürmt wären. Da vorn am ersten Tische hat sich eine Skatbrüderschaft niedergelassen in ihren drei Schattirungen des Stürmischen, des Siegesbewußten und des schlau Berechnenden, daneben ist die wohlvergnügliche Bowlengesellschaft zu sehen, fruchtfröhliches Volk, kontrollirt und geleitet von einem der Sache wohl kundigen alten Knaben. Zwischen die beiden Gruppen gesellt sich ein Duo von Fremdlingen, die mit absonderlicher Neugier des vielgerühmten Malkastens Kuriositäten betrachten und in jedem Sinnsprüchlein sich den Künstlerhumor um die Philisternase wehen lassen. Vor ihnen sitzt das auch in der Künstlerschaft gedeihende absonderliche Gewächs des Zeitungsfressers. Kurse liest ein deutscher Künstler nicht, aus Romanen macht er sich auch nicht viel, wohl aber giebt es unter unseren Malern etliche Politiker mannigfacher Färbung und oft recht hitzigen Temperamentes. Oder sollte der Mann etwa gar eine „Kunstkritik“ lesen? Armer Mann! Den Schluß dieser Abtheilung des Gemäldes bildet ein phlegmatischer Nikotin-Gourmand, der hinter der Bowlengesellschaft vergnügt und behaglich dasitzt.
Der gewaltige König des edlen Kegelspieles scheidet nun die misera plebs der nichtkegelnden Menschheit von den edlen Keglern. Das Schwein und der Pudel, diese beiden dem Kegler wohl bekanntesten Thiergattungen, tragen die Säulen seines Reiches. Nun reiht sich daran des Kegelspieles ganze Lust und ganzer Schmerz: das ekle Zahlen, der tiefsinnige Disput und die große Hauptaktion, die der schwarzhaarige, schnauzbärtige Historienmaler mit aller Verve unternimmt, während der sinnige Landschaftsmaler seinen Plan vorsichtig überlegt und der behaglich fette Genremaler nach gethanem Kraftwurfe im Hintergrunde verschwindet. Vorne aber auf der Bank, da sitzen zwei junge Gesellen. Sie haben noch kein Bild verkauft und kennen nicht den Schmerz des „Nichtverkaufthabens“, aber in ihrem Kopfe, da wimmelt es von Entwürfen, da lebt eine ganze Gemäldegallerie, und zumal der blonde Schwärmer trägt neben der platonischen Liebe, die in solchem Alter üblich, Entwürfe im Kopfe herum, die ihres Gleichen suchen und ihm ein Denkmal in Düsseldorf wie Schadow und Cornelius sichern sollen. Der Andere ist ein Thunichtgut, hat neben malerischen Entwürfen allerlei Schabernak im Kopfe, hält’s nicht mit Plato, sondern faßt ein rundes Düsseldorfer Kind, wenn er es erwischen kann, fest beim Kopfe und küßt es herzhaft ab, aber er „haut“ schon heute eine flotte Studie nur so hin und wird unseres Erachtens einmal noch mehr zu Stande bringen, als der blonde Schwärmer.
Wie oft kann man hier ähnliche Scenen während des Sommers fast tagtäglich in Wirklichkeit beobachten! Wenn es aber kühl wird und der Herbstwind in den Wipfeln rauscht, dann geht es wieder zurück in Herwig’s kleinen köstlichen Wunderbau. – In wenig Strichen haben wir hier eine auserlesene Stätte deutscher Kegelei geschildert zur Freude und Erbauung aller Freunde des edlen Kegelspieles. Sie finden in deutschen Gauen keinen Kegeltempel gleich dem des Düsseldorfer „Malkastens“, woselbst aber auch, wie schließlich noch bemerkt werden mag, nicht blos die Bahnen, sondern auch die Kegler gut sind. K. von Perfall.
[414]
Bad Landeck in Schlesien.
Immer neue Bäder tauchen auf, welche von der Mode des Tages begünstigt werden: so möge man der altbewährten nicht vergessen, die bereits mehreren Geschlechtern Hilfe und Segen gebracht haben, mögen sie auch etwas abseits liegen von der großen Heerstraße des bequemsten Weltverkehrs. Zu diesen gehört das schlesische Bad Landeck, in der Grafschaft Glatz gelegen, in einem nach Norden und Osten von hohen Waldbergen umrahmten Thalkessel, ein preußisches Königsbad; denn hier badete Friedrich II. im Jahre 1765, nachdem er eine Revue in Schlesien abgehalten, um seine durch die Feldzüge angegriffene Gesundheit wieder herzustellen; hier hielt sich Friedrich Wilhelm III. während des Waffenstillstandes im Jahre 1813 sechs Wochen lang auf und empfing hier einen Besuch des Kaisers Alexander, der im Waldtempel, diesem prächtigen von hohen Fichten überschatteten Lieblingsplatz der Badegäste, festlich bewirthet wurde.
Doch Landeck braucht nicht blos von seinen historischen Erinnerungen zu zehren; ein so gesuchtes Bad bedarf keines publicistischen Nothschreis; es gilt nicht die Trommel zu rühren, um „Menschen in die hohlen Läger zu sammeln“. Davon kann sich jeder überzeugen, der sich in das Gedränge der Brunnenpromenade in der Lindenallee hinter der stattlichen Albrechtshalle mischt, oder der bei Vormittags- und Nachmittagskoncerten unter den hohen Lärchenbäumen des Kurparkes sich von der hochgehenden Fluth des fashionabeln Verkehrs treiben oder auf der Bank unter der breitästigen Tanne, beim Geplätscher des Wassers, das der Marmorlöwe vom hohen Piedestal ergießt, die Menge an sich vorüberziehen läßt. Da hört man ebenso viel Polnisch wie Deutsch sprechen; denn überaus zahlreiche Gäste aus Posen, Russisch- und Oesterreichisch-Polen sind hier stets anwesend: da sieht man elegante Toiletten, stattliche Männer- und Frauenerscheinungen. Der schlesische Adel giebt sich hier zur Sommerszeit in jeder Saison ein Rendez-vous; die Badeliste weist stets Vertreter der hervorragendsten Familien auf. Breslau sendet seine Gelehrten, Beamten und Kaufleute; Berlin in der Regel ein Kontingent von Badegästen aus seinen jetzt mit Hochdruck arbeitenden Ministerien. Doch in Mittel-, West- und Süddeutschland ist dies im deutschen Osten so anmuthig in seinen Waldungen versteckte Bad nicht genugsam bekannt.
Landeck hat allen Anspruch darauf, ein Modebad zu werden; denn seine Quellen sind wie wenige heilkräftig für die verbreitetste Krankheit unserer Gesellschaft, die man als die Säkularkrankheit bezeichnen könnte: die Ueberreizung der Nerven, die durch unsere ganze Kultur großgezogen wird, durch ihre stillen und lauten Leidenschaften, durch das Fieber des Ehrgeizes auf der politischen und künstlerischen Laufbahn, den stürmischen Wetteifer auf allen Gebieten, die krampfhafte Spannung, welche die leisesten Schwankungen des Züngleins an der Börse verfolgt oder athemlos auf den Ausgang gewagter Spekulationen harrt. Und zu dieser Nervenerregung kommt diejenige der weiblichen Natur, die ihr zum Theil anerzogen wird durch die Anforderungen der Gesellschaft, durch manches Raffinement der Mode und der Salons. So viele junge Schönheiten sind erschöpft durch die Wintercampagne, wenn sie sich tapfer durch eine Saison durchgeschlagen, durchgetanzt, durchgeliebt haben. Da erscheint ihnen der Lenz mit seinen Blüthen und Liedern durchaus nicht so herzerquickend, wie er in den Albums der Dichter geschildert ist, die auf ihrem Toilettentische liegen, und im Sommer bedarfs der Erholung für die angegriffenen Nerven. Hierzu kommen die großen Krisen des weiblichen Organismus, die auch einer gesunden Natur unwillkommene Störungen ankränkeln. Diese alle suchen und finden Heilung bei den Landecker Thermen.
Wohl begegnet man auch hier einzelnen Schwerkranken, da sich die Bäder auch gegen Lähmungen wirksam erweisen; doch die überwiegende Mehrzahl der Badegäste macht durchaus keinen an den ganzen Jammer der Menschheit erinnernden Eindruck; wir bewegen uns unter den guten Bekannten der Salons, grämlichen Hypochondern, Hysterischen von wechselnder Stimmung, die ihre Krampfanfälle im stillen Zimmerchen abmachen, unter einer großen Zahl von Durchschnittsmenschen, deren Nerven durch Arbeit oder Vergnügungen übers Maß erregt und angespannt wurden. Das alles hat nichts Unheimliches, nichts Beängstigendes und Niederdrückendes, sollten sich auch unter der Menge hier und dort Einzelne finden, deren psychisches Räderwerk nicht mehr ganz im richtigen Gange ist; denn Landeck hat den Ruf der Heilkraft für die Vorstadien der Seelenstörungen.
Die Bäder von Landeck gehören zu den indifferenten Thermen, wie diejenigen von Wildbad und Schlangenbad. Die Quellen enthalten Schwefelwasserstoffgas und Stickgas, doch ist der Gehalt an Schwefel so gering, daß er wohl kaum in Rechnung gezogen werden kann. Ausnehmend wirksam ist die kühle Temperatur der Bäder (22–23° R.) Es sind in Landeck drei große Bade-Etablissements: das älteste, das Georgenbad, ein unregelmäßiger Bau mit einem von grau-blauem Marmor eingefaßten Bassin, das Steinbad mit 22 Badekabinets und den Vorrichtungen für Moorbäder, und dann das Marienbad, der architektonische Glanzpunkt Landecks; das neuere im Jahre 1880 vollendete Prachtgebäude ist vielleicht der schönste Bau, der sich in deutschen Bädern findet; es erhebt sich aüf einem Sockel von cyklopischem Mauerwerke und besteht aus einem doppelten Gebäudering, dessen Mitte durch eine 48 Meter hohe Kuppel gekrönt wird. Der Grundriß stellt zwei in einander gelegte Ringe dar, in die ein gleichschenkliges Kreuz gelegt ist. Im äußeren Ringe befinden sich 38 Wannenkabinets, zu denen schöne luftige Korridore führen. Wenn man das prächtige Vestibül geradeaus durchschreitet, so gelangt man zu einem zweiten Korridore im inneren Gebäuderinge, um den die 38 Ankleidekabinets für Diejenigen angelegt sind, die im Bassin baden. Der Blick auf das ringförmig im inneren Kuppelraume liegende Bassin hat etwas Feenhaftes. Aus der Einfassung mit karrarischem Marmor schäumt das Wasser der Marienquelle in der Tiefe klar und durchsichtig und bläulich gefärbt und von den perlenschnurartig aufsteigenden Gasblasen durchzogen: Marmorstufen von blendender Weiße führen zu ihm herab. Schlanke Stuckornamente zieren die Wände des Ueberbaues, der sich über dem Bassin erhebt; 16 Säulen aus grauschwarzem belgischen Marmor tragen den Oberbau und die mächtige Kuppel mit ihrer lichten Wölbung, welche durch eine auf den Säulen ruhende schön konstruirte Glasdecke, die vor Zugluft schützt, dem Blicke der Badenden nicht entzogen wird.
In der That, dies Marienbad ist ein echter Gesundheitstempel; es badet sich prächtig da unten in der kühlen blauen Fluth, in der marmornen Rotunde, und es macht einen befreienden Eindruck auf das Gemüth, wenn man dabei den Blick nach der hohen lichten Kuppel richtet. Wem aber die kühlen Najaden des Marien- und Georgenbades noch zu temperamentvoll sind, der findet in Landeck selbst auch eine kältere Erquickung, in der trefflich geleiteten und komfortabel eingerichteten Kaltwasserheilanstalt Thalheim.
Landecks gesellschaftliche Freuden haben ihren Mittelpunkt im Kursaale, einem großen Speisesalon mit Spiel-, Lese- und Billardzimmer, nach dem Kurgarten zu mit einer reichgemalten Veranda geziert, zu der eine Freitreppe hinaufführt. Im rechten Winkel an den Speisesaal angebaut ist der Tanz- und Koncertsaal, der Loüisensaal, der eine Länge von etwa 85 Fuß besitzt. Hier finden die allwöchentlichen Réunions statt, bei denen die schlesischen und polnischen Schönheiten ihre ganze Grazie und bisweilen zum Schrecken der Bade-Aerzte eine Unermüdlichkeit entwickeln, welche an einem Sonnabend wieder zerstört, was die ganze Woche über aufgebaut worden.
Auch als Luftkurort verdient Landeck empfohlen zu werden wegen seiner belebenden Gebirgsluft und der meilenweiten Tannenwälder, welche rings die Höhen bedecken. Was die landschaftlichen Schönheiten der Umgebung des Bades betrifft, so hat sich ein berühmter Naturforscher, Leopold von Buch, hierüber in einer Weise ausgesprochen, welche den Schwung der lyrischen Dichter beschämt.
„Mögen doch Feeenromane ihre Phantasie aufbieten, eine Gegend bezaubernd und reizend zu schildern: sie werden ihre Dichtungen hier als Wirklichkeit finden.“ In der That ist die Gruppirung der umliegenden Berge überaus malerisch, und wo man auch wandern mag – jede Wendung des Weges zeigt neue [415] anmuthige Landschaftsbilder. Schon das Bad selbst ist sehr malerisch gelegen und bietet anziehende Veduten innerhalb seines Weichbildes. Dazu trägt besonders der tiefe Einschnitt des durchströmenden Baches bei. Ueber ihn hinweg sieht man vom Kurgarten aus die Albrechtshalle mit ihrem säulengetragenen Vorbaue, darüber den schöngeformten Thurm der Kapelle Maria Einsiedel. Ein reizendes Bild giebt das Bielathal vom Garten der beiden Generalhäuser und ihrer schmucken Veranda aus gesehen: die Mühle an der schäumenden Fluth, tief unten im Vordergrunde hohe Gebäude, weiterhin das Seitenberger Thal, im Hintergrunde der Schneeberg, der den schönen Grund majestätisch abschließt. Einen weiteren Rundblick, aber nicht von so intimem Reize, bietet die in den anmuthigen neuen Anlagen gelegene Prinzessin-Karls-Höhe.
In die Waldberge ringsum führen überall Promenadenwege, mit Bänken versehen und mit Angabe der Entfernung. Die Einrichtungen der Musteranstalt des Dr. Brehmer, Görbersdorf in Schlesien, haben an verschiedenen Orten verdiente Nachahmung gefunden. In meist bequemen Krümmungen steigen die Waldwege die steilen Höhen hinan. Da giebt es allerlei Felswunder, wie den Schollenstein, hoch oben den weit sichtbaren Dreiecker, den Zollernfels, den schönsten Aussichtspunkt, von wo der Blick nach der einen Seite den Landecker Thalkessel mit Stadt und Bad übersieht, auf der andern den hochragenden Schneeberg, seine Nachbarberge und das Thal der Biela mit seinen Schlössern, Fabriken und dicht die Hand sich reichenden Dörfern. Höher liegen, vom dichten Walde überwuchert, die Trümmer des alten Raubschlosses Karpenstein, das zweimal von dem Adel und von den Städten Schlesiens zerstört wurde. Einstmals gehörte Landeck den Schloßherren, die dort oben hausten. Wer aber nicht auf die Berge klettern will, der wandert die Promenadenwege im Thal zum Waldschlößchen oder schöpft frische Waldluft im Waldtempel, am rauschenden Bache oder in der offenen Schweizerhalle, wo zwei kräftige Appenzellerinnen, echte Alpentöchter, die Gäste bedienen. Das ist hier ein lauschiges Plätzchen, wenn nicht Musik die lärmende fashionable Welt versammelt, und wer unter dem hohen Kuppeldache des Badetempels seine Nerven beruhigt hat, der mag hier unter dem Tempeldache des Waldes beim Rauschen der Bäume und beim Murmeln des Baches das erquickende Gefühl der Genesung mit doppeltem Behagen empfinden.
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Eine Maschinenküche. Wir Deutsche sind, gleich den Amerikanern, im Erfinden von Küchen- und Hausgeräthen unermüdlich. Ungezählt sind die in den letzten Jahren ausgeheckten Wasch- und Wringmaschinen, Messerputzmaschinen, Obstentkerner, Schälapparate, Kochmaschinen und Kochtöpfe, Flaschenspülvorrichtungen und wie die Geräthe alle heißen mögen. Unseres Wissens ist aber bisher kein Speisewirth im Deutschen Reiche oder im Lande der Yankees auf den Gedanken gerathen, bei den Vor- und Schlußarbeiten in der Küche die Menschenhand nahezu systematisch auszuschließen und obendrein die verschiedenen Küchenapparate durch Gasmotoren direkt oder unter Einschiebung von dynamo-elektrischen Maschinen zu treiben. Dieses Verdienst gebührt dem Pariser Restaurateur Marguery. Verdienst sagen wir. Nicht daß wir für die Maschinenarbeit an sich sonderlich eingenommen wären, sondern weil, wie wir sehen werden, die Sauberkeit, eine bei dem Küchenbetriebe im Großen nur zu oft vermißte Tugend, dabei entschieden gewinnt.
Der Genannte ist der Besitzer eines ausgedehnten Speisehauses, in welchem täglich an tausend Personen den Hunger und Durst zu stillen pflegen. Da kann man sich denken, daß die Küche allein eine zahlreiche Schar von dienstbaren Geistern beschäftigt. Hier werden Gemüse aller Art geputzt, Kartoffeln geschält und zerquetscht, Knochen zerrieben, Krebsschwänze und Schalen zerpulvert etc., während andere Abtheilungen mit Abwaschen der Teller und Gläser, mit dem Putzen von Messern und Gabeln, mit dem Spülen der leeren Flaschen die Hände voll zu thun haben. Daß bei einem so großen Betriebe nicht Alles immer hergeht, wie es sein soll, versteht sich von selbst. Die Materialvergeudung ist eine ungeheure, und das jahraus jahrein zerbrochene Geschirr allein repräsentirt ein kleines Kapital.
Schließlich wurde es selbst dem doch abgehärteten biederen Marguery zu toll und Staatsstreichgedanken reiften in seinem Gehirne. Von dem Gedanken zur That war nur ein Schritt, und der Rubikon ward kühnen Muthes überschritten. Eines schönen Tages erschien ein Bataillon Arbeiter, welches in dem Hause Alles umkehrte. Bald drehten sich im Keller zwei Gasmaschinen, die ihrerseits mittelst Treibriemen oder gar elektrischer Leitungen mit einer stattlichen Reihe mechanischer Küchenmädchen und Küchenjungen in Verbindung gesetzt wurden. Dort in der Ecke arbeitet jetzt emsig ein kleiner Apparat, welcher die ihm anvertrauten Knochen im Nu zerkleinert; weiterhin dreht sich ein Maschinensieb, dem Marguery’s Gäste die sicherlich unübertrefflichen Saucen und Puréen verdanken, welche mit möglichst unverständlichen Bezeichnungen auf der Karte prangen.
In einem anderen Raume erblicken wir eine ebenfalls durch die Gasmaschine getriebene Kaffee-Röst-Trommel sowie in der eigentlichen Küche zahlreiche Spieße, welche sich mit der größten Regelmäßigkeit drehen.
Noch interessanter sind die Reinigungsmaschinen. Zwar bietet der Messerputz-Apparat an sich nichts Besonderes; desto eigenthümlicher ist die hier abgebildete Tellerwasch-Maschine, welche acht Teller mit einem Male gründlich reinigt. Der von dem Arbeiter in die Maschine gesteckte unreine Teller wird sofort am Rande von einem dreizackigen Greifer gepackt und in kochendes Wasser getaucht, worin er eine Weile verbleibt und dabei tüchtig gerüttelt wird, damit sich die Fetttheile ablösen. Der Teller geräth alsdann von selbst unter Bürsten, die ihn energisch bearbeiten, und gelangt alsdann in fortwährend erneuertes kaltes Wasser, wo er von allen Unreinigkeiten vollends befreit wird. Derselbe Arbeiter ergreift ihn endlich mit der linken Hand und steckt ihn in die rechts sichtbare Abtropf-Vorrichtung. Die Maschine wäscht an 4000 Teller täglich ab und bietet den großen Vortheil, daß das Geschirr stets von frischem Wasser bespült wird, niemals mit einem bereits gebrauchten Spülwasser in Berührung kommt. Auch zerbricht sie, im Gegensatz zu den meisten Dienstmädchen, nichts.
Die in demselben Etablissement aufgestellte Flaschenspülmaschine ist nicht blos an sich, sondern auch durch den Umstand interessant, daß sie von einer kleinen, dynamo-elektrischen Maschine getrieben wird. Die Flaschen drehen sich in dem Apparat 300 Mal in der Minute, was so viel heißt: jeder Theil der Wandung kommt während des 36 Sekunden dauernden Aufenthaltes in der Maschine mit den Bürsten etwa 180 Mal in Berührung! Wenn das nicht genügen sollte, so müßte man auf die Flaschenreinigung überhaupt verzichten. Die Spülung erfolgt mit stets frischem Wasser; ebenfalls ein Vorzug, der ins Gewicht fällt. Mit Hilfe des Apparates können zwei Mann und ein Junge stündlich 400 Flaschen reinigen. Auch diese Maschine zerbricht nichts und liefert Alles unversehrt wieder ab. Daran mögen sich Küfer und Küchenfeen ein Beispiel nehmen!
Knopflochapparate an Nähmaschinen. Wie eine gelehrige Schülerin unter guter Leitung überraschende Fortschritte macht, so wird auch die „eiserne Nähmamsell“, die Nähmaschine, von Jahr zu Jahr vollkommener und bietet jetzt Leistungen, die unerreichbar schienen. Die schwierigsten Probleme der Nähkunst werden allmählich von der Technik überwunden, und selbst der Zierstich und die überwendliche Naht, die noch vor Kurzem nur von Menschenhand ausgeführt werden konnten, sieht man heute mit staunenerregender Sicherheit unter dem Räder- und Hebelwerk kleiner Apparate entstehen. So ist es auch mit dem mühseligen und zeitraubenden Nähen der Knopflöcher geworden. Schon seit längerer Zeit waren zwar Apparate entstanden, welche der Frauenhand diese Arbeit abnahmen und die besten Knopflöcher in kürzester Zeit lieferten. Diese Maschinen konnten jedoch nur in größeren Etablissements angewandt werden, da ihr Preis für den Familiengebrauch zu hoch war.
Aber auch diesem Uebelstande wurde abgeholfen; man ersann
kunstreiche Apparate, die mit den gewöhnlichen Nähmaschinen in Verbindung
gebracht wurden, deren Preis ein verhältnißmäßig niedriger ist und die
zu jeder Zeit den Zierstich, die überwendliche Naht und das Nähen der
[416] Knopflöcher besorgen. Wohl den hervorragendsten Platz unter Neuerungen
dieser Art nimmt der vor Kurzem patentirte, mit einer Singer-Nähmaschine
verbundene Knopfloch-, Ueberwendlich- und Zierstich-Apparat der deutschen
Nähmaschinenfabrik Seidel und Naumann in Dresden ein, und fast wie
ein Märchen klingt die Behauptung, daß eine geübte Arbeiterin mit diesem
Apparate im Laufe eines einzigen Tages 1000 Knopflöcher nähen kann.
Wir müssen solche Fortschritte, die nicht allein den großen Centren der
Industrie zugute kommen, sondern auch bis in den Schoß der kleinsten
Familie ihre segensreiche Wirkung tragen, mit Freude begrüßen, denn sie
liefern auch dem „kleinen Manne“ und der einsamen Nähterin Waffen,
mit denen sie den schwierigen Kampf gegen fabrikartige Betriebe mit
Aussicht auf Erfolg unternehmen kann. Auch sind sie kleine Triumphe
der deutschen Industrie, die, wenn auch in engerem Maßstabe, Anerkennung
verdienen. – i.
Blutpulver. Ein schauerlicher Name! Aber wie anders soll man
jenes neue Futter benennen, das jetzt Lämmern und Kälbern verabreicht
wird? In einigen großen Schlächtereien ist man auf die Idee gekommen,
das viele Blut, das dort fließt, zu besseren Zwecken als zum Dünger etc.
zu verwenden. Eine Zeit lang verordnete man in Paris das Trinken
frischen Blutes als vortreffliches Mittel zur Stärkung der Gesundheit,
und siehe da, die Blutkuren kamen in Mode, und in glänzenden Karossen
hielt die vornehme Damenwelt vor den Schlächtereien, um die abgespannten
Nerven zu stärken. Aber solche Modekuren, die übrigens schon die alten
Römer kannten, kommen und schwinden. Kapitalisten können mit
denselben nicht gut rechnen. Unternehmende Köpfe haben darum neuerdings
beschlossen, den Nährwerth des Blutes anders zu verwenden,
das Blut in besonders dazu konstruirten Oefen einzutrocknen, die trockene
Masse zu Pulver zu zerstoßen und dieses mit Runkelrüben oder
Futtermehl gemischt unsern Hausthieren zu verabreichen. Kälber sollen dieses
Gemisch besser vertragen als Hammel, die dafür in einem Heuaufguß
gekochtes Blut recht gern einnehmen. Lämmer mit Blut aufgefüttert, das
ist in der That ein erwähnenswerthes Resultat der Fortschritte und
Erfindungen der Neuzeit. – i.
Blätter und Blüthen.
Am Waldessaum. (Mit Illustration S. 405.) Eine Lust ist es, im Frühling am Saume des Waldes dem lieblichen Koncerte zu lauschen, mit welchem die kleine befiederte Sängerwelt den werdenden Tag begrüßt. Da summen Tausende von Maikäfern durch die Wipfel der Bäume, daß man wähnen sollte, man wäre in einem Dome und hörte Orgelklang; das ist die wirkungsvolle Begleitung zu dem vielstimmigen Liede, das aus jedem Busche und Strauche ertönt. Merkwürdig, wie das Alles so harmonisch klingt, trotzdem jeder Vogel eine andere Melodie und eine andere Tonart wählt. Aber zuweilen gellt auch eine Dissonanz dazwischen. Der grämliche Hypochonder Waldkauz hält es für seine Pflicht, mit höhnischem Gelächter die kleinen lustigen Gesellen daran zu erinnern, daß sich oft gerade am heitersten Himmel Gewitterwolken aufthürmen. Aber die gefiederten Sänger lassen sich in ihrer Morgenandacht nicht stören, sie sind Kinder des Augenblicks und jubiliren lustig weiter. Schön ist es, das anzuhören. Wenn man aber als Jäger sich an einen Baum lehnt und Büchsenlicht erwartet und auf der Esparsette vor sich einen röthlichen Schatten, ein Stück Rehwild, hin und her treten sieht und noch nicht erkennen kann, ob es ein Gehörn trägt, ein Bock ist, dann achtet man kaum des Vogelgesanges. Auch ich achtete nicht auf ihn, als ich mich mitten aus der Lust eines Polterabends geschlichen habe, weil der Brautvater verrieth, daß er trotz eigener und aller Nachbarjäger Anstrengung keinen Bock im Keller habe. Hochzeit im Hause des besten Jägers und kein Rehbock auf der Tafel! Ja! die Dame Diana ist viel koketter, als uns die Sage glauben macht. Sie liebäugelt mit jedem Jäger, aber im gewünschten Augenblick, da läßt sie ihn im Stich. Die bittere Erfahrung bleibt keinem ihrer Anbeter erspart.
Es wurde heller und heller und zwischen den Lauschern des Stückes (Ohren des Wildes), das ich in der Schußweite sah, immer lichter. Ach! wenn ich doch Stangen dazwischen entdecken könnte, und wären sie auch dünn wie Bleifedern — ja, auch nur ganz geringe Knöpfchen — heute wäre ich mit Allem zufrieden. Die Augen thränten mir schließlich vor Anstrengung, aber sie fanden auch nicht die kleinste Erhöhung – es war ein Schmalreh.
Jetzt geht’s in den Wald, um auf dem Pürschgang das Glück zu versuchen. Das Pürschen ist des Jägers größte Lust. Welche Wonne, am thauicht frischen Morgen auf moosigem Waldwege den Bock zu beschleichen! Alles mußt du im Auge haben, kein Reis darf unter deinen Füßen knacken, und nur auf das Eine darf dein Gedanke gerichtet sein: den Bock zu sehen, bevor er dich eräugt — sonst gelingt es nicht. Und dann das Heranwaidewerken! Noch ist er zu weit zum Schuß — wie hämmert das Herz vor Erwartung, ob es glückt!
Da steht Hans Urian an einem Pulverholzbusch und schlägt muthwillig sein Gehörn durch die Zweige oder reibt es am Stämmchen — er fegt — sagt der Jäger; oder er scharrt mit einem Vorderlauf den Boden — er plätzt; aber du trittst einmal unvorsichtig auf — es knackt und raschelt im dürren Laube — der Bock wirft auf, gewahrt dich und flüchtig geht’s den Berg hinan. Vielleicht bist du auch glücklich herangekommen. Hundert Schritt, das ist die richtige Pürschweite. Aber du hast ihn immer noch nicht! Die Hauptsache kommt noch. Du ziehst den Kolben an die Backe — was ist das? Wie tanzt das Korn auf dem Bocke herum! Bald hast du den Kopf gefaßt, bald den Lauf — bald die Luft, bald den Boden — ach wenn’s doch erst knallte! Ja! es knallt, und die Kugel schlägt auch — aber nicht mit einem festen Klatsch — sie hüpft von einem Stämmchen zum andern, es lautet, als wenn ein Specht am Baume hackt — und der Bock? er lacht dich mit seiner kurz abgestoßenen bellenden Baßstimme noch obendrein wegen deines Jagdfiebers aus.
Ich aber hatte nicht das Glück, einen Bock zu sehen, und mißmuthig machte ich mich auf den Heimweg. Wiederum komme ich an den Waldessaum. Durch Buschwerk und Brombeergerank geht er hier in eine Wiesenfläche über. Eine Quelle ist am Wege. Ein frischer Trunk — die heiße Stirn wird benetzt — die Hände werden gekühlt — das bekommt gut nach Tanz und Pürschgang. Da bewegt sich etwas Rothes vor mir im Gebüsch — ein Stück Rehwild ist es unzweifelhaft. Wieder Enttäuschung. Eine Ricke hat sich niedergethan — neben ihr das buntgefleckte Kitz; zwar sonst ein anziehendes Bild, aber heute – ich mochte es gar nicht sehen. Da ruckst ein Tauber im hohen Ort, vielleicht komme ich auf den zu Schuß, denn mit dem Rehbock ist es heute Morgen ja doch nichts. Ich locke: Huku — huku! hukeru — huku — — Die Ricke rührt sich nicht — aber im Gebüsch poltert’s und auf einer freieren Stelle verhofft (stutzt) — ein starker Bock. (Siehe das Bild.) Aufgeworfen (hochaufgerichtet) steht er da und äugt nach mir herüber — wie blinken die weißen Endenspitzen der Stangen in der Morgensonne! Die Büchse fliegt an die Wange — Herz einen Augenblick ruhig! die Zähne auf einander gebissen! — 80 Schritt spitz von vorn, da heißt es ruhig Blut! Jetzt liegt das Korn dicht unterm Brustkern — es knallt — und klappend ruft mir der Kugelschlag zu, daß ich meine Schuldigkeit gethan. Karl Brandt.
Auflösung des Bilder-Räthsels „Die Treppe als Wegweiser“ in Nr. 23: Zum „Richter“. Denn das sind die mittelsten Buchstaben folgender Wörter: uri, nil, act, uhu, öta, leo, ara.
Inhalt: Trudchens Heirath. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 401. – Wahnsinn und Verbrechen. Von Fr. Helbig (Schluß). S. 406. – Romeo und Julia in der Garnison. Aus den Memoiren eines Lieutenants. Von Karl Hecker. I. S. 407. – Die edle Kegelei im „Malkasten“ zu Düsseldorf. Von K. von Perfall. S. 411. Mit Illustrationen S. 409, 412 und 413. – Bad Landeck in Schlesien. Von Rudolf von Gottschall. S. 414. Mit Illustration S. 401. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit: Eine Maschinenküche. Mit Abbildung. – Knopflochapparate an Nähmaschinen. S. 415. – Blutpulver. S. 416. – Blätter und Blüthen: Am Waldessaum. Von Karl Brandt. S. 416. Mit Illustration S. 405. – Allerlei Kurzweil: Bilder-Räthsel. – Auflösung des Bilder-Räthsels „Die Treppe als Wegweiser“ in Nr. 23. S. 416.
Nicht zu übersehen!
Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.- ↑ Vergl. Jahrg. 1863, S. 585; 1869, S. 183 und 1877, S. 698.