Die Gartenlaube (1885)/Heft 32

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[517]

No. 32.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Trudchens Heirath.

Von 0W. Heimburg.
(Schluß.)


Der Weg noch Niendorf war weit, Trudchen hätte Flügel haben mögen. „Mein Gott!“ stöhnte sie auf, als sie die Anhöhe erklommen und den rothen Schein am Himmel gewahrte. Immer rascher eilte sie am Bergeshang weiter; an der nächsten Biegung Schon mußte sie Niendorf sehen – und nun stand sie dort, hochathmend; fast sinnlos irrten ihre Blicke über das Thal. Gott sei gelobt! Ja, dort wand sich noch rother Dampf zum Himmel empor, hier und da zuckte noch die Flamme auf, aber die Wuth des Elementes schien gebrochen. Zwar hallten noch Rufe und Stimmen herüber, doch schon kamen Zurückkehrende des Weges daher.

Sie trat in den tiefsten Schatten und starrte in die Thalsenkung; heil und unversehrt stand das Herrenhaus, der rothe Schein der ersterbenden Flamme spielte auf seinem grünumsponnenen Giebel und streifte die Wipfel des Gartens. Die Scheuern lagen freilich in Trümmern, aber was that das? Und wie sie so dastand und mit nimmersatten Blicken das Haus umfaßte, da flammte Licht auf hinter zwei Fenstern, und sie schauten zu ihr herauf wie zwei grüßende treue Augen. Es waren seine Fenster. Aber die junge Frau sah keinen Gruß darin. Die schreckliche Angst, die beim Anblick des unversehrten Hauses von ihr gewichen, stieg jäh aufs Neue empor in ihrer Seele. Wie kam es denn, daß in seinem Zimmer Licht war, dort unten lohete doch noch immer die Gluth? Er wäre im Hause, wo seine Hilfe noch so nöthig?

Nein, nimmer – oder er – –

Hinunter! Hinunter – nur sehen – nur von Weitem sehen, ob er lebt, ob er gesund! „Das Leben hängt an einem Faden,“ klangen Johanne’s Worte von vorhin in ihren Ohren. „Herr Gott im Himmel, sei barmherzig, strafe mich nicht so!“

An der Gartenpforte blieb sie stehen.

Was wollte sie denn hier? Dort unten war heute ihr Abgesandter eingekehrt und hatte ihm klingendes Geld geboten für ihre Freiheit. Ach Freiheit! Was hilft sie dem Menschen, wenn das Herz in Ketten und Banden geblieben ist? Und sie lief unter den dunklen Bäumen des Gartens dahin, um den kleinen Teich, auf dessen Fläche ein schwacher rosiger Schimmer des verlöschenden Brandes sich spiegelte, und nun war sie unter den Kastanien und sank erschöpft auf einen Gartenstuhl nieder; dicht vor ihr, nur über den Kiesplatz hinweg, das Haus und aus dem Gartensaal schimmerte mattes Licht.

Da droben, hinter seinen Fenstern war der helle Schein erloschen; vom Hofe scholl noch lautes Rufen und Lärm herüber, Wagen wurden geschoben, Pferde ausgespannt,


Antipoden.0 Nach dem Oelgemälde von B. Piglhein.

[518] der scharfe zischende Ton eines Wasserstrahles dazwischen. Trudchen zitterte, eine furchtbare Mattigkeit war über sie gekommen, in ihren Schläfen pochte das von Angst und raschem Lauf empörte Blut; der Brandgeruch benahm ihr fast den Athem.

Und dort saß sie unbeweglich und schaute auf die Treppe, die zum Gartensaal führte. Stufe um Stufe verfolgten ihre Augen und blieben an der Thür hängen. „Dort hinauf! dort hinein!“ pochte das Herz, aber wie mit eisernen Klammern hielten Stolz und Scham sie fest.

Allmählich war es stiller geworden auf dem Hofe, dann näherten sich Schritte, feste elastische Schritte. Mit raschem Griff packte Trudchen den Hund am Halsband. „Kusch, Diana!“ rief sie, heiser vor Schrecken. Und nun trat eine Gestalt in den hellen Schein der Fenster und ging, nahe an ihr vorüber, ins Haus hinein.

Franz! Er lebt – Gott sei Dank! Aber er war verletzt, er preßte den Arm so sonderbar an sich. Ja, er lebte! Und nun, nun konnte sie wieder gehen, still und unbemerkt, wie sie gekommen. Dort innen waren ja Hände, die ihn verbinden würden, die –

Wie ein Schüttelfrost jagte es wieder durch ihren Körper. „Komm!“ sagte sie zu dem leise winselnden Hunde, und sie stand auf und wollte in den dunklen Gartenweg biegen, aber das Thier zog ungestüm dem Hause zu, und als wisse sie nicht, was sie thun solle, ging sie vorwärts neben ihm.

Jetzt stand sie vor den Stufen, nun trat ihr Fuß schon darauf. Nur einen Blick dort hinein, nur sehen, ob er sehr leidet, daß er wirklich lebt! Und das ungeduldige Thier noch fester packend, kam sie mit unhörbarem Schritt über die Steinfliesen; und nun lehnte sie an der Thürpfoste und spähte durch die Scheiben in zitternder Aufregung, scheu wie eine Diebin, sehnsüchtig wie ein Kind am Weihnachtsabend.

Das Zimmer wie sonst, die Tapeten, die Bilder. Alles wie sie es verlassen, darinnen Menschen, die geschäftig hin und her eilten, und am Tische dort vor der Lampe, da saß er, das Gesicht voll der Thür zugewandt, schmerzverzogen und blaß. Und neben ihm, sich über ihn beugend mit der ganzen bezaubernden Anmuth einer sorgenden besorgten Frau, das kleine flinke Geschöpf im schwarzen Kleidchen und weißer Schürze, das Schlüsselbund im Gürtel, seinen Arm verbindend. Wie geschickt sie den Leinwandstreif legte, mit wie spitzen behenden Fingerchen sie die Binde befestigte, wie ihr dunkles Haar fast sein Antlitz streifte!

Und das mußten andere Hände thun als die, die hier draußen sich in einander rangen?

Da winselte es freudig neben ihr und riß sich los mit gewaltigem Ruck von ihren zitternden Fingern, und der Hund sprang gegen die Thür, daß sie klirrend erbebte. In schreckenvoller Hast wollte sie fliehen, aber sie fand nicht die Kraft; der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken, mit vergehenden Sinnen hörte sie noch, wie die Thür hastig aufgerissen wurde, dann schwand ihr das Bewußtsein!


Trudchen erwachte, als eben der Tag zu dämmern begann, aus tiefem traumlosen Schlafe. Sie war nicht krank, und sie wußte ganz genau, was mit ihr vorgegangen gestern Abend. Sie lag in Tante Rosa’s Zimmer auf dem Sofa; über ihr lächelte die Urahne in der Puderfrisur, und das ganze rosenbekränzte wunderliche Zimmerchen stand in purpurrothem Morgenscheine.

Zu Füßen des Lagers auf einem niedrigen Schemel saß ein junges Mädchen in schwarzem Kleidchen und weißer Schürze; der dunkle Kopf war gegen die Sofalehne gesunken, die Kleine schlief süß und fest.

Leise erhob sich die junge Frau. Man hatte ihr gestern Abend die durchnäßten Kleider ausgezogen und sie in einen Schlafrock gehüllt; es war ja noch allerhand Garderobe von ihr in Niendorf, auch die schmalen Pantoffeln fand sie vor dem Lager, in welche sie sonst beim Aufstehen zu schlüpfen pflegte. – Sie war sehr eilig und sehr behutsam, um das Mädchen nicht zu wecken. Wie sie aber leise die Thür aufklinkte, fuhr die Schlafende empor, und ein Paar verwunderte dunkle Augen schauten Trudchen an.

„Wo wollen Sie denn hin?“ fragte die klare Stimme.

Trudchen blieb zögernd stehen.

„Herr Linden ist so spät erst schlafen gegangen,“ fuhr Heidchen Strom fort, „er hat bis vor einer Stunde hier an Ihrem Lager gesessen – Sie wollen ihn doch nicht wecken? Es ist kaum vier Uhr.“

Ein Paar feste kleine Hände zogen die junge Frau von der Thür fort und drängten zum Sofa, und im Widerspruch zu den kindlichen Worten schauten sie ein Paar ernste Augen an, und die sagten deutlich: „Thue was Du willst – fort lasse ich Dich nicht!“

Trudchen saß wieder auf dem improvisirten Bette und biß sich die Lippen wund; das junge Mädchen aber machte sich am Nebentische zu schaffen, und bald durchzog würziger Kaffeeduft das Zimmer.

„Hier!“ sagte sie und bot der jungen Frau eine Schale des heißen Getränkes, „nehmen Sie. es wird Ihnen gut thun. Ich habe Herrn Linden auch Kaffee gekocht in der Nacht; – trinken Sie nur ruhig aus, es ist seine Tasse und ein Anderer hat sie nicht an dem Munde gehabt.“

Und als Trudchen schwieg und die Tasse, ohne zu trinken, in der zitternden Hand hielt, fuhr die Kleine fort, ohne darauf zu achten:

„Ja, das war ein böser Tag gestern, das furchtbare Wetter und der entsetzliche Schlag, und im Nu stand die große Scheune in Flammen, und ehe Hilfe kam, da brannte schon die andere, und mit Müh’ und Noth sind die Thiere gerettet. Wenn Herr Linden nicht so ruhig war und so besonnen, es hätte schrecklich werden können! Aber der ging in den Pferdestall, als ob nicht schon die Flammen hinter ihm drein züngelten, und da hat er den Gäulen das Geschirr aufgelegt, und die vorher nicht heraus zu kriegen waren, gingen mit ihm ruhig unter dem brennenden Vordache hin wie die Lämmer. Und, denken Sie nur, als nun der Tumult am allergrößten und die Flammen die sprühenden Garben in die Luft warfen, als wären es Raketen, da schreit etwas so gar arg und jammervoll aus der Luke des Futterbodens, und da ist es Lore, die große Bernhardinerhündin, die da oben ihre Jungen hat. Und wie die unvernünftige Kreatur die Menschen um Erbarmen anflehte! Ich hörte vom Fenster aus, daß Keiner hinauf wollte. ‚Um so ein Vieh!‘ sagten sie Alle. Und da auf einmal sehe ich eine Leiter, und eins – zwei – drei – eine Gestalt oben in den Flammen verschwinden. Was meinen Sie, Herr Linden hat sie Alle geholt, die Alte und die Jungen – Alle!“

Die Augen der Kleinen funkelten in Thränen. „Aber an seinem Arme spürt er es freilich,“ setzte sie hinzu, „und es war doch nur ein Hund, gelt, was könnte der erst für einen Menschen thun! – Tante Rosa war so böse mit ihm und sagte, als er blaß und von Schmerz gepeinigt herunter kam, er hätte verunglücken können. Da meinte er, so ein dummes Ding, wie sein Leben, wäre keinen Pfifferling werth! Und gerade wie er es heraus hatte, da kratzt die Diana so ungestüm an der Saalthür, und da stürzte er hin, daß ich meine, es habe wieder eingeschlagen, und wie ich hinterher renne, da hatte er Sie schon in dem gesunden Arme und sagte, er hatte es gewußt, er hätte es gewußt, daß Sie kommen.“

Trudchen stand nun doch auf und schritt zur Thür. Aber siehe, da kam ein anderes Hinderniß. Das war Tante Rosa, die aus ihrer Schlafstube trat im wunderlichsten Negligé und der riesigsten weißen Schlafhaube, die je eine alte Dame getragen. Sie nickte Trudchen zu und legte die kleine welke Hand auf ihre Schulter.

„Der liebe Gott giebt dem verstockten Herzen immer einen Fingerzeig,“ sagte die uralte Frau. „Ja, in der Noth, da wachsen dem Herzen Flügel, damit es sich hinweg heben kann über all das kleinliche Gerümpel von Stolz und Trotz. Es war gerade noch vor Thoresschluß, mein liebes Kind, denn gestern Nachmittag, nachdem ein gewisser Jemand eine Unterredung mit ihm gehabt, da habe ich die Hände gefaltet und gebetet, daß dem Manne Kraft gegeben werde, den Schlag zu ertragen. – Es sah nicht aus danach, als könnte er darüber fortkommen.“

Heidchen Strom ging jetzt leise aus der Thür, und die alte Frau blieb vor dem schönen jungen Weibe stehen, und unter ihrer mageren durchsichtigen Hand schien die hohe Gestalt fast zusammen zu sinken. Aber keine von Beidem sprach. Das Frühroth [519] glühte höher auf, und dann spielten die ersten Strahlen der Sonne auf dem braunen Haar Trudchens.

Und nun schlug sie die Hände vor das Gesicht. „Das Glück ist dahin – ich kann ihm nichts mehr sein!“ stammelte sie.

„Sagen Sie lieber: ‚Ich will ihm nichts mehr sein‘!“

„Ach ja, und wenn ich auch wollte!“ schrie sie auf. „Es wird ein so elendes Dasein!“

„Wer nicht gern und freudig etwas will, soll es lieber lassen, und Wen es zum Gebet nicht drängt, der soll die Hände nicht falten.“ Und Frau Rosa wandte sich kurz zum Fenster, setzte sich in ihren Sorgenstuhl und ergriff das Andachtsbuch. Sie überließ Trudchen sich selbst und las halblaut ein Kapitel zur Morgenandacht.

Die Worte schlugen wunderbar an das Ohr der Kämpfenden:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht –“

klang es durch das Stübchen.

„Die Liebe ist langmüthig und freundlich. Und sie erträgt Alles, sie glaubet Alles, sie hoffet Alles und duldet Alles.“

Hatte sie denn die Liebe nicht, die wahre Liebe? Ach, Glaube – Liebe – wie soll sie bleiben, wenn man so grausam betrogen wird! Und das Haus stand vor ihren Blicken, das einsame traurige Haus am Waldesrand, und das Leben der letzten Wochen, so furchtbar öde und leer.

Und „die Liebe erträgt Alles und sie hoffet Alles“ – heißt es.

„Amen!“ sagte Tante Rosa laut. Und Heidchen kam herein, und die junge Frau fühlte plötzlich ihre Hände heruntergezogen, und durch die Thränen in ihrem Auge sah sie, wie die Kleine lächelnd das Schlüsselbund vom Gürtel hakte und es ihr entgegenhielt. „So gut ich es verstand, habe ich Ordnung gehalten,“ sprach sie, „aber so ganz recht wird’s wohl nicht Alles geworden sein; Sie dürfen mir nicht zürnen.“

Sie fühlte die Schlüssel in ihrer kraftlosen Hand; hatte sie sich nicht bis in den Staub gebeugt? „Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht,“ sprach etwas in ihrem Herzen. –

„Ich will ihm vergeben,“ sagte die junge Frau laut. Aber ihr Antlitz war blaß und starr.

„Vergeben mit den Augen?“ fragte Tante Rosa. „Und was dann? Daß Sie ihm weniger glaubten, als einem ausgesprochenen – na, er ist todt, Gott verzeihe ihm – als einem Menschen, der Ihnen völlig fremd war? Nein, kleine Frau, fassen Sie das Herz zusammen und gehen Sie hinauf zu Ihrem Franz und –“

Ich zu ihm?“ klang es schneidend durch das Stübchen. „Ich?“ Klirrend fiel das Schlüsselbund zur Erde; mit bebender Hand riß sie das Kleid vom Stuhle, das sie gestern getragen, und nahm aus seinen Falten die Börse, die den Zettel, den schrecklichen Zettel barg. Ein Weilchen hielt sie das Stückchen Papier in der Hand, dann reichte sie es stumm der alten Dame.

„Ich will nicht gar so kindisch trotzig vor Ihnen erscheinen,“ sagte sie dazu.

Tante Rosa schob die Brille zurecht und las; es flog wie ein Schreck über ihre Züge; nun wie ein Lächeln. Mit unendlicher Verlegenheit sah sie dann in Trudchens Gesicht. „Heidchen,“ rief sie, „Du kannst Zeuge sein, ich war immer die ordentlichste Person mein Lebtag!“

„Ja, Großtantchen, das muß Dir der Neid lassen.“

Und um vorige Weihnacht ist es mir passirt. daß ich einen Brief verlegte. An Linden war er, von Wolff; vier Tage lang haben wir ihn gesucht wie eine Stecknadel. Warte, das war am zweiundzwanzigsten December – fort war der Brief und am sechsundzwanzigsten, da hebe ich zufällig mein Fensterkissen auf, und da liegt das Ding. Wer war froher als ich! Da blieb ich auf bis spät in die Nacht – Linden war bei Baumhagens in Gesellschaft – und wie er endlich kommt, gebe ich ihm den Brief und er steckte ihn achtlos in die Tasche und sagte: ‚Tante Rosa, Sie sollen’s zuerst erfahren, vorhin habe ich mich verlobt.‘ Und in seiner Herzensfreude nahm er mich in die Arme, als wäre ich noch einmal achtzehn Jahre. Sehen Sie, und das –“ sie schlug mit der rechten Hand gegen das Zettelchen, „das ist ein Fetzen von dem Brief, kleine Frau, es stimmt ja ganz genau mit dem Datum!“

Trudchen war schon bei ihr. „Ist es Wahrheit?“ kam es bebend von ihren Lippen.

Die alte Dame nickte. „Wahrheit!“ bestätigte sie. „Rufe mal die Dore; sie hat damals mit gesucht nach dem Briefe und sich dabei eine gehörige Bruse an den Kopf gestoßen, als sie den Schrank abrücken wollte.“

Aber Trudchen wehrte ab. Sie stand noch ein Weilchen stumm, den Kopf gesenkt, Röthe und Blässe in raschem Wechsel auf dem Antlitz, dann ging sie auf die Thür zu und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

Unhörbar schritt sie die Treppen hinauf, und das alte verdrießliche Gefüge schien die kleinen Füße zu verstehen, die so behutsam auftraten, und wagte nicht wie sonst zu knaxen und zu knarren.

Mäuschenstill war es im ganzen Hause; der Korridor stand noch im Dämmerschein, und die alten Bilder an der Wand sahen schläfrig herunter zu dem jungen Menschenkinde. Die Dielenuhr aber sagte ihr bedächtiges Tack! Tack! Das klang so wundersam in Trudchens Ohren, als sie zögernd an der braunen Zimmerthür stand und den Messingdrücker faßte.

Tack! Tack! Wie die Zeit läuft! Nicht eine Minute sollte man zögern, wenn man etwas gut zu machen hat; eine jede Minute ist ihm genommen – rasch! rasch!

Leise drückte sie die Thür auf und schlüpfte hinein. Sie hatte das Kleid eng an sich gezogen, damit die Schleppe nicht rauschte. Aus dem blassen Gesicht schauten zwei große Augen angstvoll in dem Gemach umher, das von der Morgensonne durchglüht war. Jetzt wollte ihr Herz aufhören zu klopfen, nun wieder raste es in vollen Schlägen – dort auf dem großen Stuhl – er war nicht schlafen gegangen, aber der Schlummer hatte ihn doch gefunden. Dort saß er; der kranke Arm lag auf der Lehne des Sessels, der andere stützte den Kopf. Er war noch in der beschmutzten angesengten Joppe von gestern, und ach – er sah so bleich aus, so verändert!

Der Hund, der zu seinen Füßen lag, hob den Kopf ein wenig und wedelte. Und nun kam sie herüber: „Mach Platz,“ flüsterte sie, „da muß ich jetzt hin!“ Und sie knieete vor dem Manne und faßte die leise zuckende, verwundete Hand und zog sie an ihre Lippen.

„Trudchen, was thust Du denn?“

„Vergieb mir, Franz, vergieb mir!“ flüsterte sie weinend, und wehrte seinen Bemühungen sie empor zu ziehen, „Nein, Franz, nein, laß mich, es soll so sein –“

„Verzeihen? Davon ist ja keine Rede. Gott sei gelobt, Du bist da!“

Aber ehe sie aufstand, zerpflückte sie ein Stückchen Papier in tausend Atome, dann lief sie ans Fenster und öffnete die Hand, und wie Schneeflocken wirbelte es in die Luft hinaus. Und als sie sich umwandte, schaute sie in seine ernsten Augen.

„Was war das?“ fragte er und zog sie an sich.

Da schlang sie die Arme um seinen Nacken und versteckte ihre weinenden Augen an seiner Brust. Und so standen sie am offenen Fenster im Lichte der hellsten Sonnenstrahlen. Zirpend schossen die Schwalben an ihnen vorbei, über die Wipfel der Bäume in den blauen Himmel hinein. „Wieder da! Wieder da!“ klang ihr Gezwitscher.

Und unten im Hause ward’s lebendig; ein kleines brünettes Mädchen deckte den Kaffeetisch im Gartensaal. Zwei Tassen, zwei Teller und in die Mitte ein Rosenstrauß – das letzte Mal,“ sagte sie, „nun kann sie es wieder besorgen und schaffen.“ Dann stand sie sinnend und hielt den kleinen rosigen Finger an das Näschen. „Er weiß gar nicht, wie gut er es hat, daß er eine so fügsame, lammfromme Frau bekommt, wie ich bin,“ flüsterte sie. „Freilich, ich könnte nicht in die Verlegenheit gerathen mir einzubilden, er habe mich ums Geld gefreit.“ Sie lachte plötzlich hell auf. „Das wird ’ne nette Aussteuer, wenn Tante Rosa sie besorgt!“ Und sie wirbelte die Gartenthür auf und lief hinaus in die grüne Pracht.

Die Welt war so schön, die Sonne so golden, und Heidchen hatte den kleinen Amtsrichter so lieb. Sie war verlobt, heimlich verlobt, denn der gute Mensch wollte dem Freunde nicht in lauter Bräutigamsseligkeit unter die Augen treten, wo sein Glück im Begriff war zu zerschellen. So hatten sie sich Beide heimlich Treue gelobt und sich heimlich geküßt – nach der Erdbeerbowle [520] damals. Tante Rosa störte sie nicht, sie schlief in der Sofa-Ecke, und Franz – Gott wußte allein, wo der umherlief.

Aber nun – sie besah ihre niedlichen Händchen, ja, es war Tinte daran; sie hatte es gleich nach Frankfurt berichtet: „Großes Feuer, große Angst, große Versöhnung!“

Sie stand plötzlich vor einem kleinen runden Herrn in staubgrauem Sommerüberzieher und weißem Strohhut.

„O la la! Kleine, rennen Sie mich nicht um!“ Er war sehr verdrießlich, der gute Onkel Heinrich. „Schöne Geschichten! Kommt man die Nacht von Hamburg mit dem Eilzug, kaum aus dem Koupé: ‚Herr Baumhagen, wissen Sie schon, in Niendorf war großes Schadenfeuer?‘ Hundemüde, wie man ist, setzt man sich in einen Wagen und fährt her; man kann doch nicht schlafen nach solcher Nachricht. Ich bitte Sie um des Himmelswillen, Sie machen ja ein Gesicht, als ob heiliger Christabend wäre!“

„Die ganze Ernte ist hin,“ berichtete Heidchen mit einem so freudigen Ton, als sagte sie etwa: „Wir haben das große Los gewonnen.“

„Der arme Kerl hat Pech,“ murmelte Onkel Heinrich. „Ist schon Jemand hinüber –“ er wollte den Namen nicht aussprechen – „zu – nach Waldruhe? Oder hat man die Verkündigung der freudigen Botschaft wieder für mich aufgehoben?“

„Es ist Niemand hinüber,“ antwortete der Schalk.

Onkel Heinrich faßte sie plötzlich schärfer ins Auge. „Na, was ist denn los, Sie Hexe? Irgend was hat’s gegeben!“

„Ich habe mich verlobt!“ platzte die selige kleine Braut heraus. Gott sei Dank, daß sie es aussprechen konnte!

„Sie Unglückskind!“ gratulirte Onkel Heinrich. Aber sie lief lachend davon, dem Hause zu.

„Das Frühstück ist fertig!“ rief sie von der Terrasse herunter, „Kaffee, Thee, Schinken und Eier!“

Der alte Herr, der nach dem Hofe gewollt hatte, um den Brandschaden zu sehen, schwenkte rechts um und folgte ihr. „Es ist auch wahr,“ sagte er, „es wird mir besser werden, wenn ich etwas esse, mir ist nach der Fahrt gar nicht recht im Magen.“ Und Onkel Heinrich pustete die Treppe hinan und faßte die Thür.

Ja, du barmherziger Himmel, sah er denn recht? Da sitzt Linden, den Arm in der Binde, und neben ihm – den braunen dicken Haarknoten sollte er doch kennen und die feine Gestalt, die sich herunterbiegt und ihm das Fleisch zerschneidet. Nun hebt sie den Kopf und küßt ihn auf die Stirn und setzt sich wieder still auf ihren Platz.

„Himmelsakrament! Man soll nur einmal fortreisen –!“ Onkel Heinrich läßt den Drücker fahren; es ist ihm wunderlich zu Muthe, er ist so ungern gerührt, und er stört auch nicht gern. Er möchte sich am liebsten aus dem Staube machen – vielleicht geht es noch an.

Aber nein. Da klinkt Trudchen die Thür auf. „Onkel Heinrich!“ sagt sie bittend. Und er kommt herein und thut gar nicht, als ob es hier je anders gewesen wäre. ’s ist der pure Egoismus, Alterationen bekommen ihm nicht.

„Ich wollte ’mal nachfragen bei Euch, das scheint ja ein netter Brand gewesen zu sein,“ beginnt er.

„Gottlob! – kein Mensch ist verunglückt,“ sagt nun auch Linden, „kein Stück Vieh verbrannt, die Ernte freilich ist völlig hin, aber dafür aus der Asche etwas Anderes neu erstanden!“ Und er reichte Trudchen die gesunde Hand.

„O, la la!“ murmelte Onkel Heinrich und nimmt sich hastig Schinken und Butter, „ich sage Euch, Kinder, das Reisen ist eigentlich Strapaze, und wenn in Helgoland die Hummern nicht wären und in Hamburg die Aalsuppe, so – Aber Trudchen, Du lachst ja unter Weinen! Na ja, ich bin froh, wieder daheim zu sein; es geht doch nichts über die Heimath, und wenn Ihr erlaubt, so nehme ich dieses Glas mit gutem Portwein und leere es auf Euer Wohl und Eures Hauses Frieden!“


Kulturhistorische Modebilder.

3.0 Die Geschichte vom Schlapphut und vom Cylinder.
Von Karl Braun-Wiesbaden.

Wer kennt nicht das schöne Gedicht von unserm alten braven und liebenswürdigen Fabeldichter Gellert?

Es fängt an:

„Der Erste, der mit kluger Hand
Der Männer Schmuck, den Hut, erfand,
0 Trug seinen Hut unaufgeschlagen.
Die Krempen hingen flach herab,
0 Und dennoch wußt’ er ihn zu tragen,
Daß ihm der Hut ein Ansehn gab.

0 Er starb und ließ bei seinem Sterben
0 Den runden Hut dem nächsten Erben.“

Diese zwei letzten Zeilen bilden einen Refrain, der sich bei jedem Erbübergang wiederholt und den Hut durch sechs verschiedene Hände gehen läßt.

Der Erste also trug ihn unaufgeschlagen. Der Zweite steifte zwei Krempen auf. Der Dritte errichtete noch eine dritte Krempe, machte also einen Dreimaster. Der Vierte ließ den Hut, der bis dahin seine helle Naturfarbe hatte, schwarz färben. Der Fünfte ließ ihn wenden und mit Schnüren einfassen. Der Sechste reißt die Schnüre herunter und verziert den Hut mit einem Knopfe und mit goldenen Tressen. Und so geht es weiter.

0 „Und jedesmal ward die erfundne Tracht
0 Im ganzen Lande nachgemacht.“

Und was ist die Moral der Geschichte?

„Daß ich es kurz zusammen zieh’:
Es ging dem Hute fast, wie der – Philosophie!“

Doch wir wollen die Philosophie ihrem Schicksal überlassen und nur von dem Hute sprechen.

Seit Gellert’s Zeiten hat derselbe wieder eine ganze Reihe von Wandelungen durchgemacht.

Damals war der Dreimaster Mode. Heute ist es der Cylinder. Beide für die „gute Gesellschaft“. Damals hatte der niedrige Hut breite Krempen, dieselben waren jedoch dreieckig aufgeschlagen. Heute bedient man sich, wenn man in Gesellschaft geht, des hohen walzenförmigen runden Hutes mit ganz schmalen, horizontal stehenden Krempen.

Und nun erst, wie interessant ist die Geschichte dieses Cylinders! Oder vielmehr die Geschichte seiner symbolischen Bedeutung! Denn seine Form – mag er das eine Mal hoch, das andere Mal niedrig getragen werden, mag er einmal oben sich mehr verengen oder mehr in die Breite auslaufen – seine Form ist immer so ziemlich dieselbe geblieben von 1785 bis 1885.

Aber die Bedeutung, wie hat die gewechselt!

Ursprünglich Symbol der Revolution, ist der Cylinder heute zum Symbol loyaler ordnungsmäßiger Gesinnung geworden.

Und wie Wenige giebt es, die das wissen! Nicht einmal Die, welche es zunächst angeht, die Hutmacher, haben davon Kenntniß.

Unser heutiger Cylinder stammt nicht aus Frankreich, sondern aus Nordamerika. Dort trugen ihn die Quäker, welche ihren Stolz darein setzten, sich durch eine edle Einfachheit auszuzeichnen. Der berühmte Benjamin Franklin trug einen solchen Hut, als er, direkt von Philadelphia kommend, am 7. December 1776 in Nantes an das Land stieg, um Frankreich „im Namen der Freiheit zum Beistand gegen das despotische England aufzurufen“. Dieser runde einfache Quäkerhut war der bewußte Gegensatz gegen den dreieckigen Kavalierhut, der mit goldenen Knöpfen, Tressen und Troddeln und mit bunten Federn aufgeputzt war.

Franklin hat damals acht Jahre in Paris zugebracht und seinem Vaterlande die nützlichsten Dienste geleistet. Ganz Frankreich schwärmte für ihn. Man ahmte ihn in Allem nach. Sogar sein einfacher schwarzer walzenförmiger Quäkerhut ward Mode in Frankreich. Er galt für ein Zeichen der aufgeklärten, der liberalen, ja am Ende sogar der republikanischen Gesinnung. So ergriff der Cylinder damals Besitz bei den Franzosen, und von da aus verbreitete er sich über ganz Europa, ja schließlich sogar über alle

[521]

Bodekessel im Harz.
Nach dem Oelgemälde von Hellmuth Rätzer.

[522] fünf Welttheile, und heute, wenn ein schwarzer afrikanischer König sich ganz fein machen will, schmückt er sein krauses wolliges Haupt mit dem Cylinder.

Damals aber, im vorigen Jahrhundert, war das Vordringen für den jetzt herrschend gewordenen Cylinder so leicht nicht. Er galt in den monarchisch regierten Ländern Europas, wo man von der anfänglichen Bewunderung der französischen Revolution zu Furcht und Entsetzen übergegangen war, für revolutionär, wenigstens für verdächtig. Er wurde Gegenstand polizeilicher Ueberwachnng oder Verfolgung. Hin und wieder erfolgten sogar auch Verbote, so z. B. durch einen Ukas des Kaisers Paul von Rußland, der den runden Cylinder als die Tracht der Jakobiner bezeichnete. Allein der Cylinder, obgleich er sich weder durch Zweckmäßigkeit noch durch Schönheit zu empfehlen wußte, war stärker, als die Verfolgungen und die Verbote. Er verstand es, sich Bahn zu brechen, allerdings nur dadurch, daß er immer mehr darauf aus war, seinen republikanischen Ursprung zu verleugnen, Der gelehrte und geschmackvolle Kulturhistoriker Jakob von Falke erzählt uns höchst merkwürdige Geschichten über die revolutionäre Anrüchigkeit des Cylinders am Ende des vorigen Jahrhunderts, von welchen ich hier nur zwei mittheilen will.

Im Jahre 1798 schreibt ein „kuriöser“ Reisender:

„Der runde Hut gewinnt alle Tage mehr Platz im Anzuge der Männer, selbst in den obersten Klassen. Bald wird der dreieckige aus seinem sonst so wohl begründeten Besitzthum fast ganz verdrängt und nur noch der Gefährte des Amtsrockes, des Staatskleides und der militärischen Uniform sein.“

In diesem Sinne hatte damals unter Anderm auch ein Engländer den sonderbaren Einfall, eine politische Karte von Deutschland zu entwerfen, auf welcher er den vorherrschenden Stand der revolutionären und monarchischen Gesinnungen der deutschen Städte durch einen beigesetzten runden oder dreieckigen Hut bezeichnete. Er sei auf die Hüte gereist, sagte er. In Hambnrg sei ein Huttriangel eine wahre Seltenheit, in Berlin wollte der runde Hut, vermuthlich weil das Militär dort herrschender sei, schon weit weniger gedeihen, und in Dresden getraue sich der Beamte und schon in reiferen Jahren stehende Mann, den respektswidrigen runden Hut höchstens bei einer Landpartie aufzusetzen.

Nun, dieser respektswidrige Cylinder von 1798, heute, 1885, gehört er zu den unerläßlichen Bestandtheilen eines salonfähigen Anzugs. Bei Hof, bei Feierlichkeiten, bei Festlichkeiten, in der guten Gesellschaft – überall ist der Cylinder unentbehrlich.

Ja, er gilt für loyal und konservativ, für ein Zeichen „guter Gesinnung“.

Bis zum Jahre 1848 trugen wir Alle entweder Cylinder oder „Kappen“, das ist Mützen. Die unteren Klassen und die Jugend trugen Mützen, zuweilen Zipfelmützen. Die mittleren und höheren Klassen trugen Cylinder, und zwar die Wohlhabenden neue und feine, die Aermeren alte oder solche, die der neuesten Façon nicht mehr entsprachen. Wenn’s nur ein Cylinder war! Das genügte.

Das Alles wurde über Nacht anders. Seit den Märztagen von 1848 galt der unschuldige Cylinder für frivol, für reaktionär und Wer weiß was, und dieweil damals ein Jeglicher für möglichst freisinnig gelten wollte, so verschwand die „Angströhre“ von den Häuptern der Menschen. „Angströhre“ – so nannte man nämlich damals diese Hüte, obgleich im Gegentheil schon ein gewisser Muth dazu gehörte zu jener Zeit, den von der öffentlichen Meinung verpönten Cylinder zu tragen.

An seine Stelle traten Hüte von allerlei Arten, insbesondere alle möglichen und unmöglichen Arten von Schlapphüten; und der boshafte und witzige, dabei aber von Statur kleine und bucklige Abg. Detmold von Hannover, der in dem Frankfurter Parlament saß und dort (wie denn ein Jeder der verehrlichen Mitglieder irgend einen Spitznamen führte) „das kleine Laster“ genannt ward, hat uns eine schnurrige Geschichte hinterlassen, in welcher der Hut – sowohl der Cylinder, wie auch der Schlapphut – eine beinahe welthistorische Rolle spielt. Das Buch heißt „der Piepmeier“ und ist von dem Düsseldorfer Maler Schrödter, dem wir unter Anderem auch die schönen Bilder von dem sinnreichen Junker und fahrenden Ritter Don Quixote von der Mancha und von Sir John Falstaff, dem witzreichen Fettklumpen und unermeßlichen Sekt-Vertilger, verdanken, vortrefflich illustrirt. Der „Held“, Piepmeier, ist ein erst spät durch eine Nachwahl in die Paulskirche gelangtes „verehrliches Mitglied“, das zu schönen Hoffnungen berechtigt, aber leider nicht weiß, ob es konservativ oder liberal, ob es konstitutionell oder radikal ist, und, um es mit Niemand zu verderben, sich nach der wechselnden Stimmung des Tages einzurichten bestrebt ist. Hier interessirt uns vor Allem sein Hut, welchen er als Thermometer des Tages, oder als den Laubfrosch des wechselnden politischen Wetters behandelte. Der Mann war als ein „Notabler“ des Ackerstädtchens, wo er wohnte und wo er gewählt wurde, angelangt mit einem Cylinder. Allein als praktischer Mann sah er bald ein: dieser Standpunkt ließ sich in Frankfurt nicht behaupten. Er kaufte sich daher bei einem Frankfurter Hutfabrikanten einen großen mächtigen, breitrandigen Schlapphut, indem er bei Abschluß des Kaufes den Verkäufer verpflichtete, auf sein Verlangen an dem Hut diejenigen Veränderungen vorzunehmen, welche „nach Maßgabe des jeweils herrschenden Zeitgeistes nothwendig oder nützlich erschienen“. So setzte sich der Abgeordnete Piepmeier in vollständige Uebereinstimmung mit seinem Hute.

Dieses Kleidungsstück, welches sein erleuchtetes Haupt zierte, war biegsam und schmiegsam gleich seinem Charakter. Wie sein Herz von jedem Windhauche des Tages bewegt wurde, das heißt entweder mehr rechts-, oder mehr linkswärts getrieben, so nahm auch sein Schlapphut, je nachdem die Stimmung sich mehr in konservativer oder in revolutionärer Richtung bewegte, entweder eine mehr unbiegsame steife oder eine mehr nachgiebige oder verbogene Form an. Sein Hut und sein Herz wetteiferten in Nachgiebigkeit gegen jeden wirklichen oder vermeintlichen Umschlag der öffentlichen Meinung. Als von Paris die Nachricht einlief, es sei dort die rothe Revolution ausgerufen und der Prinz-Präsident fortgejagt oder verhaftet, wirft Piepmeier in seinem Schlafkämmerlein seinen Hut, der vorher zu einer etwas steiferen Form ausgebügelt und aufgerichtet worden war, auf die Erde und bringt ihm durch unbarmherzige Fußtritte eine „zeitgemäßere“ proletarische Form bei. Als aber am andern Tage die Nachricht widerrufen und von allen Ländern – von Frankreich, von Spanien, von Ungarn, von Italien – ein Rückgang der Bewegung gemeldet wird, da geht der ehrenwerthe Piepmeier zu seinem Hutmacher, welcher den Hut wieder frei macht von den Spuren der nächtlicher Weile erlittenen Fußtritte und ihn wieder in eine solide reputirliche Form bringt. Endlich aber, als Piepmeier die Ueberzeugung gewinnt, daß „der Sieg der Reaktion leider nicht mehr zu bezweifeln“, zeigt er der Nationalversammlung seinen Austritt an, indem er zugleich bei seinem Frankfurter Geschäftsfreund und Hutfabrikanten den schmiegsamen Schlapphut umtauscht gegen einen hartgesottenen unbeugsamen Cylinder.

Damals, 1849, wies man in der Paulskirche auf diesen oder jenen Abgeordneten mit dem Finger: „Der ist es, der dem boshaften Detmold zu seinem Piepmeier Modell gesessen.“ Namentlich waren die Herren, deren Name eine Zusammensetzung mit „Meier“ als den beiden letzten Silben bildete, vor böswilliger Mißdeutung nicht sicher.

Indessen kann ich mich hier, wo ich einen Beitrag zur Philosophie der sich in Kleidnngsstücken offenbarenden Geschichte der Menschheit schreibe, auf solchen untergeordneten persönlichen Anekdoten-Kram nicht weiter einlassen, sondern gehe über zur Erzählung zweier, von mir selbst erlebter Ereignisse von diametral entgegengesetzter Richtung, wovon das eine 1850 in Heidelberg und das andere 1856 in der ungarischen Hauptstadt Budapest spielte.

Es war im Frühjahr 1850. Wir passirten Heidelberg, mein Freund E. und ich, und wollten dort einen Tag lang unsern Studenten-Erinnerungen nachgehen. Kaum hatten wir die Eisenbahn verlassen, so stürzte sich ein Polizeidiener auf meinen Freund und riß ihm seinen Schlapphut vom Kopfe. Mich ließ er in Ruhe, denn ich trug einen Cylinder. Mein Freund war sprachlos; der Polizeidiener war in einer Aufregung, als wenn er eben einen Mörder auf frischer That betroffen hätte. Ich intervenirte und fragte den Vertreter einer hohen Obrigkeit nach den Gründen seines Verfahrens. „Diese Hüte,“ sagte er, „sind strengstens verboten, sie sind das Abzeichen der Revolution.“ (Man erinnere sich, daß das Jahr zuvor im Großherzogthum Baden eine Militär-Emente stattgefunden hatte.) Ich sagte ihm, wir seien Fremde und des Verbotes unkundig. „Ja, aber Sie tragen doch einen [523] Cylinder,“ antwortete er. Seine Aufregung schien sich etwas zu legen. Als mein Freund das gewahrte, sagte er: „Wenn Sie den Hut konfisciren, dann lassen Sie mir doch das Band und die Schnalle, sie sind ein Andenken.“ Da gerieth der Polizeidiener von Neuem in Zorn. „Ja gerade die Schnalle! Das ist es, das ist das geheime Abzeichen!“; und er warf den Hut sammt Schnalle auf die Erde und trampelte darauf herum, wie wüthend. Ich sah, daß da nichts zu machen war, nahm meinen Freund am Arm und führte ihn in den nächsten Hutladen. Da kauften wir für ihn einen Cylinder. Mit dem ersten Zug fuhren wir weiter. Wir verzichteten darauf, unsere akademischen Erinnerungen aufzufrischen.

Während in Heidelberg mein Freund E. das Opfer seines Schlapphuts wurde, wäre ich sechs Jahre später in Pest beinahe das Opfer meines Cylinders geworden. Damals regierte in Wien Alexander Bach als allmächtiger Minister des Innern, und der Cylinder galt (was ich freilich nicht wußte) in Ungarn für das Symbol antinationaler, centralistischer, Bach’scher, oder wie man damals sagte „schwarzgelber“ Gesinnung. Die nationalgesinnten Männer trugen statt dessen das niedrige runde ungarische Hütchen.

Als ich nun meinen ersten Rundgang durch das schöne Pest antrat, hörte ich hinter mir allerlei Töne, sowohl in magyarischer als auch in deutscher Zunge, welche mit Flüchen und Verwünschungen eine gewisse Aehnlichkeit hatten; und als mir ein dortiger Freund auf Befragen erklärte, das gelte nicht mir, sondern meinem Cylinder, da vertauschte ich die Angströhre mit einem Schlapphut, wie sechs Jahr früher mein Freund den Schlapphut mit dem Cylinder vertauschen mußte.

Zwanzig Jahr später, im Sommer 1876, war ich wieder in Budapest als Mitglied des internationalen Kongresses für Statistik. Der Erzherzog Joseph gab uns ein Fest auf der ihm gehörenden Margarethen-Insel. Der ungarische Minister Bela Wenkheim lud uns auf die Ofener Burg ein. Natürlich sah man da Cylinder aller Nationen. Sie wurden nicht mehr beanstandet. Denn der freie Ungar hatte zwischenzeitig Frieden geschlossen mit seinem „König“ und suchte deßhalb das Bach’sche Regiment thunlichst zu vergessen. Was kümmerte ihn da noch der Cylinder? War es ja doch nicht mehr der Bach’sche Cylinder, sondern der europäische Cylinder — der Cylinder aller Welt und aller Nationen!

Und um dieselbe Zeit, wo der Cylinder seinen reaktionären Geruch verlor, verlor auch der Schlapphut seinen revolutionären. Niemand fühlt sich mehr demokratisch, wenn er einen Schlapphut, Niemand mehr legitimistisch, wenn er einen Cylinder trug.

Selbst der deutsche Reichskanzler, welcher im Dienst die gelbumstreifte Mütze oder den blinkenden Helm trägt, führt während seines Bade- und Landaufenthalts einen mächtigen, breitrandigen schwarzen Schlapphut.

Man sieht also, die vormals so feindlichen Brüder Cylinder und Schlapphut sind ausgesöhnt miteinander, und sie würden sich gerührt in die Arme sinken, wenn sie welche hätten.

Zum Schluß aber muß ich wieder auf eine ungarische Geschichte zurückkommen:

Auf einem ungarischen Jahrmarkt hatte ein Zigeuner eine goldgestickte rothe Mütze gestohlen. Erst als er sie in seiner halb unterirdischen Lehmhütte in Sicherheit gebracht hatte, kam ihm ein Bedenken: er hatte die Mütze zum Zwecke der Befriedigung seiner Eitelkeit gestohlen, aber nun fiel ihm der Gedanke schwer aufs Herz, er könne doch, ohne sich der Gefahr der sofortigen Entdeckung und Züchtigung auszusetzen, die Mütze nicht öffentlich tragen und somit den Zweck, der ihn zum Diebstahl verleitet hatte, nicht erreichen. Aber schlau, wie er ist, fand er einen Ausweg. In der Nacht verließ er das eheliche Lager, setzte die kostbare Mütze auf sein blauschwarzes Haar und stolzirte so auf und ab in dem engbemessenen Raum seiner Hütte. Seine Ehehälfte erwachte darüber und fragte:

„Jaschku, hast Du den Verstand verloren, was marschirst Du da zur Nachtzeit herum in der dunkelen Hütte?“

„Weib dummes“, erwiderte der beleidigte Jaschku, „weißt Du denn nicht, daß man nicht tragen kann bei Tag helles draußen in Welt weites Mütze gestohlenes rothes?“

Diese Anekdote beweist uns, daß Professor von Ihering Recht hat, wenn er in dem zweiten Bande seines geist- und umfangreichen Buches „Der Zweck im Recht“ behauptet:

„Das Kleid ist nicht bloß äußerlich Stimmungsträger, sondern auch innerlich Stimmungswecker.“

Die gestohlene goldgestickte Mütze konnte der Zigeuner nicht dazu verwenden, seine Stimmung nach außen zu tragen und zu bekunden — wohl aber dazu, sich selbst in eine gehobene Stimmung zu versetzen, wenn auch nur im engen unnd dunkelen Raume. So ist es jetzt noch.

Ich hoffe aber, in Zukunft wird es anders sein. Das Kleid wird die Stimmung nicht mehr machen. Das Geschick von Schlapphut und Cylinder läßt uns dies hoffen; und dann wird auch Jaschku keine rothe Mütze mehr stehlen.


Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Fischtreppen und Fischpässe. Nicht allein Menschen und Völker beherrscht der Wandertrieb. Auch für zahllose Thierarten bildet er ein eisernes Naturgesetz, vor dem sie sich beugen müssen. Hoch in den Lüften ziehen alljährlich Vögelschaaren neuen Brut- oder Nahrungsquartieren entgegen, und in den Tiefen der Meere und in den Betten der Flüsse und Ströme spiegelt sich jenes geheimnißvolle Bild der Massenwanderung wieder.

In langen Zügen verlassen einzelne Fischarten die unermeßliche See, um auf den Wasserstraßen des Festlandes bis an die Quellen der Flüsse zu gelangen. Von der Nordsee bis in die klaren Gebirgsbäche der Alpen in einer Höhe von 2- bis 3000 Fuß über dem Meeresspiegel kann man jenes rastlose Wandern, Schwimmen und Springen verfolgen.

Und es ist wohl von größerer Bedeutung, die dunklen Fischwege genau zu kennen, als die interessanten Zugstraßen der Vögel zu bestimmen, denn viele von den wohlschmeckenden Fischen, deren Fang eine wichtige Quelle des Erwerbes bildet, gehören zu jenen kühnen Wanderern.

Der wohlschmeckendste unter ihnen ist unstreitig die Forelle; an wirthschaftlicher Bedeutung wird sie jedoch von dem majestätischen, rosafarbigen Lachs übertroffen, welcher besonders im westlichen Nordamerika und in Norwegen zu den Volksnahrungsmitteln gehört und dessen Lebensgewohnheiten auch am besten bekannt sind. Zu diesen von den Feinschmeckern hochgeschätzten Wasserbewohnern gesellt sich unter Anderem der gleichfalls wandernde, geheimnißvolle Aal, dessen Fortpflanzungsweise noch immer so gut wie unbekannt ist.

Weßhalb wandern nun diese Fische? Was bewegt sie zu der beschwerlichen Reise? Woher kommt es, daß sie das gesteckte Wanderziel mit einer Hartnäckigkeit sonder Gleichen verfolgen? Nun, bei dem Lachse, der Forelle und den meisten Touristen unter dem Fischvolke ist es lediglich der Fortpflanzungstrieb, die Sorge für die überzahlreiche Nachkommenschaft, welche sie zur Wanderung antreiben. Diese Fische bedürfen nämlich zum Laichen die klaren, schnellfließenden Kiesbäche des Hügel- und Gebirgslandes. Sind sie endlich dem Quellgebiete nahe, so legen sie den Laich zwischen die groben Kieskörner, worauf sie die Rückreise antreten, bald gefolgt von der aus dem Ei geschlüpften jungen Brut, und im Meere bis auf Weiteres verschwinden.

Umgekehrt verfahren die Aale. Sie wandern aus den Flußgebieten in das Meer, um dort zu laichen, und zwar sind es fast nur Weibchen, während die Männchen anscheinend die salzige Fluth niemals verlassen. Auch reisen die Aale nur einmal, weil sie nach Abgang des Laichs, ebenso wie die Neunaugen, zu sterben pflegen. Nachdem die Jungen eine Länge von fünf bis fünfzehn Centimeter erreicht haben, wandern sie in dicht gedrängten, manchmal Tausende von Metern langen Zügen, die in Frankreich moutée genannt werden, den Flüssen zu. Bei Tage bleiben sie meistens im Kies und Schlamm versteckt und setzen ihre Wanderung fort, wenn die Schatten der Nacht ihre wehrlose Schaar den gierigen Augen ihrer Feinde entziehen. In alle Nebenflüsse und in deren Seitenläufe bis in die entferntesten Bäche und stehenden Gewässer verästelt sich der große Schwarm. Die Rückreise treten die Aale erst an, wenn sie sich gehörig gemästet haben, weßhalb die Gesetze den Fang der aufsteigenden Aale in der Regel verbieten. Früher bildete der Fang junger Aale ein lukratives Geschäft, und Redi berichtet, daß im Jahre 1667 im Arno bei Pisa an einer einzigen Stelle innerhalb fünf Stunden drei Millionen Pfund solcher Aale von drei bis zwölf Centimeter Länge gefischt wurden. Nach Karl Vogt wurden in Frankreich noch in jüngster Zeit die kleinen Fische mit Sieben und Schöpfern gefangen und meist mit Eiern zu Pfannkuchen gebacken.

Wir sprachen oben von der Hartnäckigkeit, mit welcher die Wanderfische ihr Ziel verfolgen. In einer auf Veranlassung des Deutschen Fischerei-Vereins von H. Keller herausgegebenen kleinen Schrift „Die Anlage der Fischwege“ (Berlin, Verlag von Ernst und Korn), welcher wir die Abbildungen zu diesem Aufsatze entnehmen, werden einige merkwürdige Beispiele von der Ausdauer der Fische aufgeführt.

Der Lachs überwindet die Stromschnellen des Topdallsflusses in Norwegen, deren Gefälle 16 Meter beträgt; er nimmt den fünf Meter hohen Karratunkfall in Nordamerika springend und schwimmend; ebenso bekanntlich die sehr reißenden Stromschnellen des Rheins bei Laufenburg. [524] Wir selbst haben es beobachtet, wie die kleine Forelle den etwa 25 Meter hohen, allerdings absatzförmigen Fall des Flusses Orbe in der Schweiz hinauf springt. Die Aale endlich, welche, wie bekannt, sich auch auf festem Boden schlangenartig fortbewegen, überwinden sogar den Rheinfall, indem sie an den feuchten Felsen zur Seite des Wassersturzes hinaufklettern!

Freilich gehen viele Thiere, zum großen Schaden der Fischerei, bei solchen Verzweiflungssprüngen zu Grunde, und dieser Umstand sollte für den Menschen eine Mahnung sein, den Wanderfischen durch die Zerlegung größerer Gefälle in kleinere die Erfüllung ihrer Pflichten zu erleichtern und damit den Fischreichthum zu vermehren.

Fig. 1 0 Cail’sche Fischtreppe:
Längenschnitt.

Der Mensch sollte sich dieser Aufgabe mit einem um so größeren Eifer unterziehen, als die Bedürfnisse der Industrie mit der Sorge für die Erhaltung der Fischerei jedes Jahr mehr in Widerspruch gerathen. Zu den berechtigten Forderungen der Technik gehört ohne Zweifel eine bessere Ausnutzung der in den meisten Ländern reichlich vorhandenen, wenig kostenden Wasserkräfte.

Diese Ausnutzung aber bedingt die Anlage von künstlichen Wehren in den Flußläufen, und diese Wehre bilden wiederum ebenso viele, in der Regel schwer übersteigliche Hindernisse für unsere guten Freunde, die Forelle, den Lachs, den Aal, welche ohnehin schon mit den natürlichen Stromschnellen genug zu kämpfen haben. Als eine Pflicht der Regierungen, wie der unmittelbar an der Fischerei Betheiligten, erscheint es unter diesen Umständen, unbekümmert um etwaige Klagen der Wehrbesitzer, die sich über die Wasserentziehung durch die Fischwege zu beschweren pflegen, in allen von Wanderfischen begangenen Flußläufen für ein freies Durchschwimmen dieser Fische, beziehungsweise für Veranstaltungen zu sorgen, welche die Ueberwindung von natürlichen und künstlichen Stromschnellen erleichtern.

Fig. 3 Hölzerner Fischpaß.

Solche Veranstaltungen, die leider in Deutschland noch selten anzutreffen, dafür aber in Norwegen, England und Nordamerika ziemlich verbreitet sind, heißen, je nach der Bauart, Fischtreppen oder Fischpässe.

An vielen Stellen hat die Natur selbst bei Wasserfällen oder Wehren für natürliche Fischtreppen gesorgt. Oft stürzt das Wasser auf den Felsen von Stufe zu Stufe herunter und bildet durch die Wucht seines Anpralls mitten in den einzelnen Absätzen mehr oder weniger tiefe Grundlöcher, die man Kolke nennt und die mit verhältnißmäßig ruhigem Wasser gefüllt sind. Der wandernde Fisch springt nun die kleineren Stufen hinauf, und wenn er müde geworden ist, so bieten ihm die Kolke Gelegenheit zum Ausruhen. Auf diese Wahrnehmung stützten sich nun die ersten Erbauer von Fischtreppen, deren Bau beifolgende Bildchen (Fig. 1 und 2) trefflich veranschaulichen. Diese Anlage, welche genau wie bei den für den Gebrauch des Menschen bestimmten Treppen, den Zweck verfolgt, eine Steigung ohne allzu große Mühe überwinden zu helfen, umgeht ein Flußwehr und besteht aus einer Reihe von Wasserbecken, deren der Strömung zugekehrte Wand eine Oeffnung besitzt, durch welche der Fisch schlüpfen kann. Da das Wasser in jedem einzelnen Becken ziemlich ruhig ist, so kann der Wanderer hier jedes Mal ausruhen und Kräfte zu der Fahrt durch die nächste Schlupflücke sammeln. Das Wasser ist um so ruhiger, als diese Lücken nicht einander gegenüber, sondern abwechselnd rechts und links liegen.

Fig. 2 0 Cail’sche Fischtreppe: Grundriß.

Einfacher sind die Fischpässe, bei denen keine treppenartige Absätze gebaut werden, sondern durch Herstellung einer langen Rinne die Kraft des herabstürzenden Wassers gemindert wird. Bei kleinen Wehren genügt es oft, nur einen Einschnitt in den Fachbaum des Wehrs zu machen und die Rinne mit rauhen Steinen auszulegen. Aber selbst bei größeren Wasserfällen ist die Anlage eines Fischpasses höchst einfach. Sie besteht aus einer sanft aufsteigenden Holzrinne, an deren Seitenwangen bald rechts, bald links Querbrettchen angenagelt werden, durch welche die Strömung gebrochen wird. man kann, um diese Wirkung zu erhöhen, auch in der Mitte der Rinne einige Brettchen befestigen, wie dies auf unserer Abbildung (Fig. 3) veranschaulicht wird. Der Fisch schwimmt nun in dem ruhiger gewordenen Wasser des Passes im Zickzack von der einen Oeffung zur anderen, bis er den Ausgang des kleinen Labyrinths oberhalb des Wasserfalls erreicht. Der größte Fischpaß dieser Art ist der Fischweg am Rukanfall in Norwegen. Der Fischpaß umgeht diesen Wassersturz, dessen Gefälle über 27 Meter beträgt, zum Theil in Zickzacklinie, das heißt in derselben Weise, wie die Alpenstraßen eine Höhe überwinden. Die Anlage ist zwar nur 285 Meter lang, der Fisch hat aber, wegen der Windungen in dem Paß selbst, einen beinahe drei Mal längeren Weg, nämlich 785 Meter, zurückzulegen. Dieser Aufgabe unterzieht er sich aber mit Meisterschaft, und es ist, Dank der Anlage, der obere Lauf des Sireflusses nunmehr mit Fischen reich bevölkert.

Fig. 4 0 Aalrinne in der Schwentine in Holstein.
O. W. Obere Wasserfläche — U. W. Untere Wasserfläche.

Die Aale sind, wie bemerkt, noch genügsamer. Sie brauchen nicht einmal einen Wasserweg, sondern nur einen etwas feuchten, möglichst rauhen Steg, auf dessen Unebenheiten sie bei ihren schlängelnden Bewegungen einen Stützpunkt haben. Solche Aalrinnen werden meist überdeckt, damit die Fische vor den Angriffen der Raubthiere besser geschützt sind. Beifolgende Abbildung veranschaulicht die Aalrinne für die Schwentine in Holstein. Dieselbe ist mit eingebauten Querschaltern versehen, deren Zwischenräume mit Kieselsteinen gepackt sind.

So dumm sind die Fische nicht, wie sie aussehen. Man hegte bei den ersten Fischweg-Anlagen die Befürchtung, die Wanderer würden die Einfahrt in die Rinnen nicht finden. Diese Befürchtung erwies sich indessen glücklicher Weise als eine irrige. Unsere Schwimmkünstler merkten überall gar bald, daß ein unbekannter Freund ihnen die Bergfahrt sinnig erleichtert; es wagen sich erst die kühneren, abenteuerlustigeren in die neue, ungewohnte Straße, und bald folgt der ganze Schwarm, es sei denn, daß der Baumeister überhaupt die Anlage verpfuscht hat, was leider noch häufig vorkommt.

Um gerade solchen Uebelständen künftighin abzuhelfen, hat der deutsche Fischerei-Verein die Herausgabe der im Eingang dieses Artikels erwähnten Schrift von H. Keller veranlaßt. Sie bietet zum ersten Mal eine klare und übersichtliche Darstellung der einzelnen Systeme der künstlichen Fischwege und verdient die allgemeinste Beachtung unsrer Fischfreunde.


Die Vierundzwanzig-Stunden-Uhr. Das zäheste Leben besitzt bekanntlich der Unsinn. So ist es gekommen, daß sämmtliche Kulturvölker den Tag in vierundzwanzig Stunden, den Zeitmesser dazu aber in zwölf Stunden eintheilen. Zu unserer Schande, müssen wir gestehen! Ueber das Widersinnige dieser Eintheilung ist uns erst sehr spät ein Licht aufgegangen, und zwar bei dem nicht gerade erbaulichen Studium eines Eisenbahn-Kursbuches. Trotz der als Nothbehelf eingeführten Unterstreichung der Abfahrtszeiten zwischen sechs Uhr Abends und sechs Uhr Morgens flimmerten bald die vielen Zahlen vor den Augen, und wir wußten schließlich nicht mehr, ob die Züge Abends oder in der Frühe am Bestimmungsorte eintrafen.

Weßhalb, so schoß es uns durch das Gehirn, gehen die Bahnverwaltungen nicht mit dem guten Beispiele einer Reform der Zeitgebung voran? Weßhalb werfen sie nicht den tausendjährigen Ballast der Tages- und Nachtzeiten entschlossen über Bord und bringen dadurch etwas mehr Licht in ihre Fahrpläne? Diese Fragen legten wir hierauf einem Eisenbahnbeamten vor. Dessen Antwort lautete aber nichts weniger als ermuthigend. Das Publikum sei sehr konservativ, die geringste Aenderung mache es kopfscheu, man dürfe nicht mit hundertjährigen Ueberlieferungen brechen; höchstens eigne sich die Vierundzwanzig-Stunden-Zählung für den inneren Dienst der Eisenbahnen und Telegraphen, die Leute würden sich nie daran gewöhnen etc.

Glücklicher Weise denken nicht alle Menschen wie unser am Fortschritt verzweifelnder Eisenbahnbeamter. Soeben wagt es nämlich ein deutscher Erfinder, Herr Wilhelm Osborne in Dresden, mit dem Schlendrian zu brechen, und wenn wir auch seine Ansicht nicht theilen, daß in fünfzig Jahren Niemand mehr eine Uhr mit Zwölfstunden-Eintheilung benutzen werde — die Macht der Gewohnheit ist größer, als er es sich vorstellte —, so halten wir es für unsere Pflicht, seine Bemühung um Verbesserung unserer Zeitgebung, so weit es durch die Presse geschehen kann, zu unterstützen.

[525] Abgesehen von dem Schlendrian, ist das Hinderniß gegen eine Aenderung der Zeitangabe hauptsächlich darin zu suchen, daß sämmtliche bestehende Uhren dadurch unbrauchbar werden. Zu bedenken ist auch die Eintheilung des Zifferblattes in 24 Stundentheile, daß bei kleineren Uhren das Ablesen der Zeit in Folge der Undeutlichkeit des Zifferblattes erschweren würde.

Beide Hindernisse hat jedoch Herr Osborne durch eine einfache Vorrichtung anscheinend recht glücklich beseitigt. Seine Uhr weist zwei über einander liegende Zifferblättchen auf; das erste feststehende besitzt, an Stelle der 12 Stundenzahlen, ebenso viel Ausschnitte, durch welche die 24 Zahlen des unteren beweglichen Zifferblattes der Reihe nach sichtbar werden. Von 12 Uhr Nachts bis 12 Uhr Mittags sieht das Zifferblatt der neuen Uhr wie das unserer heutigen Uhren aus; mit dem Schlage der zwölften Tagesstunde wird jedoch das untere Zifferblatt durch ein von der Uhrfeder bewegtes, leicht anzubringendes Werk derart verschoben, daß die Zahlenreihe 13 bis 24 vor den Ausschnitten erscheint. Um Mitternacht aber springt das Zifferblatt von selbst wieder zurück und es werden die Zahlen 1 bis 12 wiederum sichtbar.

Wir wünschen den Bestrebungen des Herrn Osborne den besten Erfolg und hoffen, es noch zu erleben, daß uns ein guter Freund um 20 Uhr zum Abendbrot einladet. In Italien geschieht es ja von jeher. Warum sollte es nicht auch bei uns möglich sein? G. van Muyden.     


Messung der Temperatur im Erdinnern. Zu Schladebach zwischen Merseburg und Kötzschau wurde vor einiger Zeit auf Staatskosten zu wissenschaftlichen Zwecken eine Tiefbohrung ausgeführt, bei der die außerordentliche Tiefe von 1392 Meter erreicht wurde. Dieses Resultat steht in der Geschichte der Tiefbohrungen wohl unübertroffen da. In den Plan der geologischen Untersuchung wurde auch die Messung der Temperatur des Erdinnern aufgenommen und in folgender interessanter Weise ausgeführt: Eine oben offene Glasröhre wurde mit Quecksilber genau bis an den Rand gefüllt und in einer metallenen Kapsel in das Bohrloch hineingelassen. Unter der Wirkung der steigenden Temperatur mußte sich das Quecksilber ausdehnen und ein Theil desselben über den Rand der offenen Glasröhre abfließen. Nachdem man die Glasröhre wieder zu Tage gefördert hatte, zog sich bei der gewöhnlichen Lufttemperatur das Quecksilber wieder zusammen und füllte die Röhre nur bis zu einer gewissen Höhe aus. Jetzt aber nahm man die Glasröhre mit dem Rest des Inhalts, setzte dieselbe in ein Wasserbad und erwärmte so lange, bis das Quecksilber wiederum den Rand der Röhre erreichte. Die Temperatur, welche das Wasser in diesem Augenblicke zeigte, entsprach genau der Temperatur, welche im Innern des Bohrloches das Quecksilber auf eben dieselbe Höhe ausgedehnt hatte, und diese Temperatur betrug in unserem Falle gerade 49 Grad Celsius. Würde nun die Erdwärme mit der Tiefe gleichmäßig zunehmen – was noch nicht erwiesen ist – so müßte bei etwa 3000 Meter Tiefe der Siedepunkt des Wassers, also 100 Grad Celsius, und bei 10 Meilen der Schmelzpunkt von Platina erreicht werden.


Ein neues Heilmittel. Schon seit langer Zeit empfahl man hier und dort gegen das Asthma das Rauchen verschiedenartiger Cigaretten, die in gewissen Fällen in der That dem Kranken einige Linderung zu bringen pflegen. Ein französischer Arzt, Professor Germain Sée, versuchte in letzter Zeit, das wirksame Mittel in jenen Cigaretten zu erforschen, und gelangte zu dem Resultate, daß dasselbe in einer chemischen Verbindung, dem Pyridin, bestehe, die sich beim Verbrennen verschiedener Pflanzen bildet. Er ließ die Kranken im verschlossenen Zimmer reines Pyridin athmen und fand, daß schon nach kurzer Zeit die meisten asthmatischen Beschwerden bei seinen Patienten schwanden und ruhiger Schlaf wiederkehrte. So viel bis jetzt festgestellt werden konnte, ist die Wirkung des Pyridins keine dauernde, so daß nur eine vorübergehende Linderung der Beschwerden und keine Heilung der Krankheit durch das Einathmen desselben erzielt werden kann. In geringen Mengen entwickelt sich das Pyridin auch beim Rauchen gewöhnlicher Cigarren und Cigarretten.


Unruhige Gäste.

Ein Roman aus der Gesellschaft.
Von Wilhelm Raabe.
(Fortsetzung.)

Wir haben aus diesem Tage eigentlich wenig mehr von dem Verkehr unter den Leuten im Pfarrhause zu berichten. Der Gast kam, außer beim Mittagstisch, bis zum Abend kaum noch zu einem längern Gespräch mit seinen stillen Wirthen. Der Pastor hielt sich in seiner Studirstube, und Phöbe schien der Unterhaltung mit dem neuen Freunde nunmehr sogar vorsätzlich aus dem Wege zu gehen. So war der Letztere bis zum Abend so ziemlich auf sich allein angewiesen und benutzte die Muße, die nächste Umgebung des Dorfes und seines wunderlichen, darin erworbenen Grundbesitzes möglichst genau kennen zu lernen. Das war wohl der Mühe werth, und es ging ihm kaum ein Schritt in der schönen Wildniß verloren. Aufs Gerathewohl durchstrich Veit die Thäler und stieg zu den Höhen empor, jetzt im dunkeln Walde zwischen rauschenden Wassern, jetzt über baumlose, steinige, mit phantastischen Steinblöcken bedeckte Haiden schreitend, bis er endlich bei sinkender Sonne von dem Gipfel einer steilrecht abfallenden Felswand aus die kleine Menschenansiedelung und ihren Friedhof wieder dicht vor sich hatte.

Nicht nur vor sich, sondern auch unter sich. Im Haidekraut ausgestreckt sah er nicht ohne innerlichste Betroffenheit in die unendliche Weite und auf den winzigen Punkt da unten, wo eben ein einzelner Mensch den Spaten in den Boden stieß und das erste Rasenstück aus der Grasnarbe aushob.

„Wer Dir vorgestern um diese Stunde hiervon gesagt haben würde, Veit von Bielow!“ – –

Ja wie war das vorgestern um diese Tageszeit gewesen?

Da hatte auf einer andern, weitberühmten Berg- und Felsenhöhe mit anerkannt romantisch-prächtiger und anmuthig-großartiger Aussicht sowohl in das Gebirge wie auf das offene Land ein ähnlich bunter Touristenzug, wie der vom gestrigen Abend auf der Vierlingswiese, vor dem vielstöckigen, palastähnlichen Gasthause angehalten und für den im Reisehandbuch anempfohlenen Sonnenuntergang, die Nacht und den möglichen heitern folgenden Sonnenaufgang Quartier genommen. Buntfarbiges Volk auch, doch was die Farbe der Kleider anbetraf, nicht ganz so bunt wie die Herrschaften von gestern. Viel vornehmere Leute, sehr vornehme Leute waren es gewesen, die da vorgestern Abend vor dem Hotel ihre Wanderstäbe und Schirme abgestellt hatten oder von den Reitthieren gestiegen waren. Und Veit Bielow war dort von den neuen Ankömmlingen als ein guter alter Bekannter, ja als ein langjähriger Freund jubelnd begrüßt worden und hatte der schönsten jungen Dame in der Gesellschaft die Hand küssen und ihr beim Absteigen von ihrem Maulesel behilflich sein dürfen. Er hatte auch seinen Platz bei Tische neben derselben erhalten. Das unvermuthete Zusammentreffen mit dem beliebten, heitern, geistreichen Lebensgenossen hatte Jedem im Kreise einen erhöhten Schwung gegeben; und es war für Stunden gewesen, als ob diesen allen nie ein Leid nahe getreten sei, als ob ihnen selbst ein Verdruß niemals nahe treten könne.

Auch war die Sonne wirklich prachtvoll untergegangen. Wahrlich als lachender Phöbus Apoll war der Feuerstern aus dem wolkenlosen Blau in den fernsten Duft und Dunst der Erde hinabgesunken, und der Professor und Freiherr hatte neben der schönen jungen Dame allein auf dem äußersten Felsvorsprung an der Brüstung gelehnt, und sie hatten in den Sonnenuntergang hinein von früherem Zusammentreffen

in engen Hütten und im reichen Saal –
im leichten Zelt, auf Teppichen der Pracht
und unter dem Gewölb der hohen Nacht[WS 1]

geplaudert. Fräulein Valerie war sehr freundlich, ja fast herzlich und nicht nur wie immer schön und stattlich, sondern ausnahmsweise auch unendlich anmuthig in ihrem Behagen gewesen.

„Und nun, da ich einmal wieder die Hand auf Sie gelegt habe“, hatte sie gesagt, als er ihr den Arm bot, um sie zur Abendtafel zu führen, „bleiben Sie gefälligst die nächsten Wochen drunten im Bad in meiner Nähe, mein werther Ritter Benedict. Ich habe es dringend nöthig, daß sich ein vernünftiger Mensch meiner zu Tode gelangweilten Seele annehme, Signore Professore. Papa hat uns diesmal mit einer Geleitschaft von Vettern, Kousinen und braven Freunden umgeben, die in Hinsicht auf ‚Viel Lärm um Nichts‘ nichts zu wünschen übrig läßt. Onkel Leonato ist fürchterlich, Hero wie immer lieb, aber kaum zu ertragen in ihrem holden Wechsel zwischen Herzweh und Kopfweh – eh, und Kousin Claudio aus Florenz, trotz seinem zärtlichen Verhältniß zu unserm blonden Kinde mehr für den Cirkus Renz als sonst was geeignet, und jedenfalls mir entsetzlich, einerlei ob er mich von seinem Neigen vom Herzen zu Herzen oder von seinen Pferden und Hunden unterhält. Das Erstere gewöhnlich zu Fuß neben meinem Esel, das Andere, noch furchtbarer, von oben herab für mein mäßiges Verständniß, aus dem Sattel des seinigen. Viel Lärmen um Nichts! viel Lärmen um Nichts! Bringen Sie, bester Baron, uns keinen frischen Luftzug von Padua nach Messina mit, [526] so gebe ich es auf, mich ferner für mein armes Dasein zu wehren. Also, nicht wahr, wie Sie mich vordem in Rom und Neapel aus den behandschuhten Klauen von Principe und Principessa – Konte, Kontessa und Kontessina gerettet haben, so werden Sie das auch jetzt an jenem da unter uns liegenden unheimlichen Ort moderner geselliger Sommerqualen versuchen? Nicht so? Sie bleiben in unserer Nähe die nächsten Wochen durch und konserviren die arme Valerie noch einmal für das winterliche, hauptstädtische: Spielt auf, Musikanten!?“

„Wie Sie befehlen, meine Gnädigste. Vorausgesetzt, daß Sie mir morgen noch einen kurzen Abstecher – einen Schritt vom Weg – abseits von Ihrem Wege, Valerie, zulassen wollen.“

„Einen Abstecher? Einen Schritt von meinem Wege? Wenn Sie morgen nach auch hier überwundenem Sonnenaufgang mit mir zu Thal fahren dürfen? wenn Sie mein Saumthier und mich, an Klipp und Abhang, das eine vor dem Sturz in den Abgrund, das oder die andere vor dem Versinken in die unendliche Tiefe der Konversation ihrer Weggenossenschaft bewahren können?“

„Es ist ein Zufallswunsch, dessen Erfüllung mir hier so nahe gelegt ist. Wie Einem solch’ eine Adresse durch ein Zeitungsblatt in die Hände geweht wird. Ein Universitätsfreund aus längst versunkener Bildungsepoche sitzt mir da in einem abgeschiedenen, der Welt unbekannten Bergdorfe als Pfarrer.“

„Und Sie wünschen sich einen Hauch und Schein aus seiner möglichen Idylle mit zu nehmen in den Verkehr mit uns? Nun, da wäre ich freilich die Letzte, welche Ihnen das verdenken könnte. Aber bedingungslos zähle ich gerade darum auf Ihr Wiedererscheinen übermorgen in unserer buntscheckigen Narrenwelt. Und dann berichten Sie mir so genau wie möglich von Ihrer Wald-, Fels- und Pastoren-Idylle und nehmen auch mich noch einmal möglichst tief mit hinein in dieselbige. Wie Ihr durchaus nicht genügend für mich motivirter Schritt vom Wege ausfallen mag, Sie werden mir jedenfalls von ihm etwas Anderes mit bringen als Onkel Antonio’s antiquirte Gesandtschaftsattaché-Reminiscenzen aus Wien und Byzanz und Vetter Claudio’s unerträgliche Hoppegartenhistorien und geschmacklose Hero- und Leander-Gefühlsäußerungen.“ –

Nun überdachte Veit, jetzt allein mit sich in der tiefen Stille der Natur auf dieser andern Felsenkuppe über diesem Dorfe und Kirchhofe, von welcher Idylle er demnächst dort unten an der Wirthstafel im Aktienhôtel zu erzählen haben werde, wenn er es nicht vorzog, oder wenn es ihm nicht zu schwer gemacht wurde, über seine Betheiligung daran zu schweigen. Im Ganzen, für den größern Kreis seiner guten Bekannten und Freunde und Freundinnen hätte er sich wohl in der Ueberlegung beruhigen können, wie leicht es ist, mit Worten über Etwas hinweg zu kommen, wenn nicht das Schicksal selbst Einem das Wort im gegebenen Augenblick tödtend oder erlösend aus dem Munde und aus der Seele reißt.

Das letztere war’s, was ihn nunmehr plötzlich im Sprung aus seiner Ruhe zwischen dem warmen Gestein, im Haidekraut und Duft der frischen Tannenanpflanzung um ihn her, aufjagte:

Was für ein Gesicht konnte Valerie zu seiner Eigenthumserwerbung zur Rechten und Linken des Weibes des Wilderers, des Räkels Volkmar Fuchs machen?

Er fuhr mit dem Taschentuch über die heiße Stirn, und einen Augenblick erfüllte ihn unumstößlich die Gewißheit, daß es besser sei, wenn er diesmal sein verpfändet gesellig Wort nicht einlöse und nicht dem Fräulein in den nächsten Wochen drunten im Bad als Begleiter durch den Alltag diene. Es überkam ihn sogar die Lust, seinen Stab und seine Tasche im Pastorenhause im Stich zu lassen und zu versuchen, ohne sie die nächste Eisenbahnstation zu erreichen.

Diese Stimmung konnte aber natürlich nicht anhalten. Am nächsten Morgen ist er mit Tasche und Wanderstab mit dabei gewesen, als man die Fee begrub. – –

Am nächsten Morgen, ganz in der Frühe, als die Sonne eben erst über die Berggipfel herauf kam, hat man die Fee begraben, und ihr Mann hat keinen Einspruch mehr erhoben, sondern sich jetzt vom Anfang bis zum Ende sehr gut und sogar recht höflich und als Mann von Sitten und Anstand dabei betragen. Er hat Spörenwagen’s Werk und Beihilfe in der späten Abenddämmerung ohne Weiterungen angenommen und hat auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß der Meister in dem kleinen Gefolge am Morgen von der Vierlingswiese nach dem Kirchhofe mit ging und das Hauptende des Sarges mit trug.

Wenige Leute sind bei dem Begräbniß zugegen gewesen. Für einen großen Theil der Dorfbevölkerung fand es eben zu früh statt; und übrigens hatte der Vorsteher gern Wort gehalten und seine ganze Autorität aufgeboten, Alles „was wohl schon bei Beinen war, aber sonst nichts bei der Sache zu schaffen hatte,“ zu überreden, mit seiner Antheilnahme für diesmal zu Hause zu bleiben oder höchstens sich mit ihr hinter dem Zaune zu postiren.

An der Gruft, die Veit von Bielow gestern von dem Granitblock über dem Friedhof auf seinem Eigenthume graben sah, hat auch Prudens Hahnemeyer sich mäßig gehalten und zu dem feierlichen liturgischen Staub zu Staub, Asche zu Asche nur wenige ungewöhnlich ruhige und freundliche Worte gesprochen. Sie haben Alle ihre drei Hände voll Erde auf den armen Leib der Fee geworfen, und die Träger und der Todtengräber haben die Grube rasch gefüllt. Dann sind sie Alle gegangen, der Pastor Prudens, Spörenwagen, der Kantor und seine Leute. Und auch Volkmar Fuchs mit den Kindern hat sich scheu, gebändigt und wie beschämt zur Seite weggeschlichen und sich in den Wald geschlagen. Zurückgeblieben an dem fürs Erste nur halb zugeschaufelten Grabe sind nur Phöbe und der flüchtige, aber von jetzt an mit ihr so ernster Weise diesem Orte verbundene Gast ihres Daches.

Ob das hier nur bloß ein Symbol, ein Wahrzeichen, ein Merkmal blieb, und der Räkel und seine Jungen dermaleinst sich hier niederlegten, oder ob aus dem Zeichen eine Wirklichkeit wurde und Veit für sich und die Schwester aus Halah hier das letzte sicherste Eigenthumsrecht an die Erde erworben hatte: Nachbarn, Ruhegenossen außerhalb des Werkeltages waren sie geworden und blieben sie.

„So leben Sie wohl, Phöbe, liebe, liebe Phöbe; – wir werden uns wiedersehen!“

„Nach des Herrn Willen!“ sagte die Schwester aus Halah kaum hörbar. „Er hat Dies zugelassen und wird es uns nicht als eine Vermessenheit, als eine Sünde zurechnen. Er möge uns immer und an jedem Orte bereit finden für seinen Frieden und zu seiner Ruhe! Liebe Freunde müssen wir wahrlich nun uns bleiben für alle unsere Tage auf Erden.“ –

Erst spät am Abend kam Professor von Bielow herab aus den Bergen und Wäldern. Da fand er sich im lichterglänzenden Kurhause unter dem Thürvorhange des Tanzsaales lehnend und sah Valerie im Reigen glühend, lächelnd, die Locken schüttelnd an sich vorbeistreifen. Nie in seinem Leben hatte er so zwischen Wachen und Traum mit solchem innerlichsten Bangen auf ein schönes tanzendes Mädchen hingesehen. –


13.

Die Saison war in ihrer vollsten Blüthe. Dieser beliebte Badeort für Gesunde hatte selten eine so gute Gesellschaft wie diesmal um seine unschädlichen Quellen versammelt gesehen. Sogar wirkliche „Namen“, das heißt, solche, die wenigstens augenblicklich etwas bedeuteten, waren vorhanden. Kluge Worte und alberne Redensarten in allen Mundarten des Vaterlandes, sowie auch verschiedenen fremdländischen Zungen, auf allen Pfaden, auf allen Aussichtspunkten, in den Sälen und Korridoren aller Hôtels, auf den Terrassen und unter den Veranden aller Villen! Musik am Morgen, Mittag und am Abend – das Wetter außergewöhnlich gut, und somit, wenigstens dem äußern Anschein nach, alle Welt höchlichst einverstanden mit ihrem Vorhanden- und Beisammensein in diesen heiteren, andauernd gute Witterung versprechenden Tagen und lauen, für den Längen- und Breitengrad merkwürdig angenehmen Nächten!

Andere haben dieses Alles häufig und mit Talent bis ins Einzelnste geschildert und werden es uns noch oft beschreiben. Wir haben nur zu sagen, daß Veit von Bielow nicht ohne freudige Ueberraschung in seiner Thüröffnung entdeckt und sofort in den innersten und feinsten Cirkel inmitten des allgemeinen modernen Sommersabbathgedränges hinein gezogen wurde und, nicht ungern die Erlebnisse, Bilder und Gedanken des heißen, wunderlichen Tages von sich abschüttelnd, durch die Nacht im bunten, rauschenden Strome des Lebens mitschwamm. –

„Und nun seien Sie einmal sehr liebenswürdig, Bielow, und nehmen Sie sich meiner ein wenig an. Sehen Sie dieses Volk, diese Gesichter um uns her und finden Sie selber die Entschuldigung meiner Sehnsucht nach einem vernünftigen Menschen. Aber ich [527] bitte Sie, – nicht Aesthetik, nicht Litteratur, bildende Künste, Musik und Parlamentaria! Diese Blechmusik den ganzen Tag ist mir völlig Ersatz für das Alles. O Himmel, da haben wir Professor X, Ihren Ihnen weit überlegenen Herrn Kollegen, – den Verstimmtesten unserer Melomanen, Herrn von X0X, – unsern großen Romancier X0X0X, der seit gestern Morgen, wo ich ihm meines Freundes Charles Lamb’s Versuch über Geistesgesundheit des wirklichen Genius unter die Nase rieb, mit den schwärzesten Tintenabsichten um mich herum geht. Nicht zu vergessen unsern viel gesuchten Gesellschaftsmaler X0X0X0X, dessen Portrait meiner dänischen Dogge und meiner Sammtrobe mit mir als Beigabe Ihnen und andern Leuten auf unserer letzten akademischen Ausstellung viel mehr Entzücken bereitet hat als mir! Das reicht vollkommen aus, mir die Ohren voll und das Hirn leer zu schwatzen. Da – nehmen Sie meinen Fächer; Sie scheinen mir etwas echauffirt – ja es ist recht schwül hier im Thal, und man sehnt sich wohl nach einem kühlen Luftzug. Erzählen Sie jetzt, wo Sie gestern und vorgestern gewesen sind, berichten Sie, was Ihnen Ihr Schritt vom Wege, von unserm – meinem Wege eingebracht hat. Sie erinnern sich, daß ich Sie nur unter der Bedingung losgegeben habe, mir mein Theil von Idylle hierher mitzubringen. Wie haben Sie Ihren geistlichen Freund gefunden in seiner glückseligen Abgeschiedenheit? was haben Sie dort erlebt, während wir hier wie gewöhnlich von unserm wenigen Erlebten nur zuzusetzen hatten?“

Dieses wurde am Tage nach der Ankunft Veit’s im Bade auf einer beschatteten Bank in der Nähe des Kurhauses gesprochen, während die Badeblechmusik in das Rauschen der Springbrunnen, das Geplauder und Hin- und Herwogen der Gesellschaft ihre Märsche, Tänze und Potpourris hineinschmetterte. Es war wahrlich nicht Zeit und Gelegenheit, jetzt und hier auch der schönsten und geistreichsten Bekannten und Fragstellerin über so ernste Wirkung eines Schrittes vom Wege Bericht abzustatten. Veit würde wahrscheinlich, trotz der Macht, die Valerie über ihn ausübte, den Versuch gemacht haben, sich ihr „mit Worten“ zu entziehen; wenn nicht ein neuester Bekannter sich in die Unterhaltung gemischt und sie bei dem Pfarrhause da oben in den Bergen, bei der Hütte auf der Vierlingswiese und bei dem Räkel und der Fee festgehalten hätte.

„Siehe da, mein Herr Professor!“ rief Landphysikus und Badearzt Dr. Hanff. „Also glücklich gerettet aus der Tragödie in die Komödie, aus den Mysterien der Wildniß in unsere gewöhnlicheren, aber Gott sei Dank recht gesunden Zustände? Es that mir sehr leid, daß ich nicht gestern, meinem festen Vornehmen gemäß, hinauf reiten konnte, um mir das Resultat Ihrer und Fräulein Phöbe’s Bemühungen abzuholen. Sie wissen – Brennpunkt unserer hiesigen, sonst so nüchternen, dürren Lebensführung; – angenehmste gesellschaftliche und, gottlob nicht beunruhigende amtsthätliche Verpflichtungen nach allen Seiten! Vertheilung einer bescheidenen Landdoktorexistenz bis in die vierte Dimension! Aber eben komme ich von da oben, von der Vierlingswiese, vom Vorsteher, vom Kirchhofe und den Geschwistern Hahnemeyer, und kann jetzt nur fragen: was sagen Sie zu dieser Geschichte, meine Gnädigste? Daß der Herr Baron Sie bereits in die unheimlichsten Einzelheiten derselben eingeführt und mit seiner eigensten originellen Beihilfe zur Lösung des Konflikts bekannt gemacht hat, darf ich wohl voraussetzen?!“

Da war nun kein Ausweichen mehr möglich. Es gab nun ein Wort das andere, und Valerie hatte nicht im Geringsten nöthig, von ihrer Macht über ihren Gesellschaftsgenossen Gebrauch zu machen. Er erzählte ihr, bei welchen Leuten er die letzten Tage gewesen war, und hinter welche harte, hohe, furchtbare Mauern ihn der Seitenpfad, den er so lächelnd betrat, geführt hatte. Er berichtete ihr von der Vierlingswiese, von Prudens und Phöbe, von dem Vorsteher und dem Meister Spörenwagen; und so lange der Doktor seine Erläuterungen oder gar seine Anekdoten dazu gab, saß das Fräulein bewegungslos und murmelte nur einmal, seitwärts aufblickend:

„Welche Idee!“

Als aber der Doktor sich empfohlen hatte, erhob auch sie sich, und da sie trotz der Mittagsgluth ein leises fröstelndes Zusammenziehen der Schultern nicht unterdrücken konnte, sagte sie fast finster:

„Das überkam mich nur, wie ich mir überdachte, wem in unserm Kreise ich hiervon weiter erzählen könnte.“

„Ich habe auch nur Ihnen davon gesprochen, Valerie.“

Sie stand eine Weile stumm neben ihm, dann sprach sie:

„Sie haben sich in jener Stunde recht einsam in der Welt gefühlt, Bielow. Hatten Sie denn Niemand, konnten Sie an Niemand denken, den Sie erst im Stillen fragen mußten, ob Sie ihm durch Ihren Handel und Kauf keine Betrübniß, keinen Schmerz bereiteten? den Sie nicht eifersüchtig machten durch Ihre nur für eigene Rechnung sich bindende Erwerbung von solch’ traurigem Erdengrundbesitz? He Claudio, Claudio, ungetreuester, aber sinnigster aller Vettern!“

„Du befiehlst, schöne Base?“

„Nichts als Deinen Arm, mein Lieber, und den Schutz Deines Sonnenschirmes bis zum Hôtel. Es wird wohl Zeit zur Toilette für die Table d’hôte. Wir sehen uns doch an dieser Tafel des Lebens, Herr von Bielow?“

Ohne die Antwort abzuwarten, schritt sie von ihm hinweg. Er aber sah ihr verwirrt, staunend, ja erschrocken nach:

„Was war dies?“

Er hätte ihr nachlaufen mögen, um sie an der Hand zu fassen und sie auf den fernsten, sonnigsten Berggipfel zu entführen aus dem buntfarbigen, geschwätzigen, lachenden Schwarm, durch den sie eben so stattlich, so ruhig hinging. Dort in dieser heißen Mittagsgluth unter dem blauen Himmel auf der einsamsten, stillsten Berghöhe hätte er sie fragen können:

„Was sollte dieses sein? Was hast Du da geredet, Mädchen?“

Aber da war es ihm, als höre er grade jetzt ihr helles, wohltönendes Lachen durch all den Lärm der heitern Gesellschaft um sich her, und er vermochte sich nicht von seiner Bank zu regen. Noch recht lange saß er dort und grübelte über die Frage:

„Veit Bielow, wie viel Unbedachtsamkeit, Leichtlebigkeit, Sorglosigkeit und Egoismus verbarg sich für Dich, den Gelehrten, den Lebenskünstler, den Weltmann, unter jener Augenblicksempfindung und -handlung dort oben in der Fieberhütte des Räkels an der Leiche der Fee und auf jenem kleinen, den Menschen unbekannten Dorfkirchhof an der Seite jener Dir vor drei Tagen noch so unbekannten jungen Schulschwester aus dem Idiotenrettungshause Halah?“

In diesem Augenblick fühlte er seinerseits einen eisigen Schauder durch alle Glieder; dann ein heftiges Andringen des Blutes nach Kopf und Herzen. Er griff sich an die Stirn und sah mehrere Minuten lang Alles um sich her – die Berge, die hübschen Häuser und Villen, die springenden Wasser – alle Farben an Himmel und Erde – das fröhliche Gewühl der Menschen, wie durch einen blutrothen Schleier. Und durch ein seltsames Sausen in seinen Ohren vernahm er das Rauschen der Unterhaltung der Erwachsenen und den fröhlichen Lärm der Kinder wie in immer weiterer Ferne verhallend, aber die lustige Musik der Badekapelle mit dem betäubendsten, gellendsten Mißklang wie aus dem eigenen Hirn heraus.

Doch das ging vorüber, und es blieb nur eine trübe melancholische Stimmung und längere Zeit auch ein körperliches Unbehagen, eine träge Schwere in Händen und Füßen zurück. Allgemach gelang es ihm jedoch, letzteres wenigstens wieder von sich abzuschütteln. Hastig sprang er auf und warf sich ebenfalls in den heitern Schwarm und Reigen. Lauter und lebhafter, als sonst seine Art war, mischte er sich in die Unterhaltung, beredete mit Valerie’s Vater Tagespolitik, zeigte außergewöhnliches Interesse für die Gesprächsstoffe ihrer Brüder, Vettern und sonstigen männlichen Reisegefährten und wurde bei Tisch auch von allen Kousinen und übrigen Damen aus ihrer Begleitung im Stillen für den angenehmsten, wünschenswerthesten, liebenswürdigsten aller Villeggiaturgenossen erklärt.

Dessenungeachtet wurde er keinen Augenblick das Gefühl aus der Seele los, daß er eine Kette hinter sich herschleife. Ein unbestimmtes Schuldgefühl, über das er immerfort mit sich selber zu rechten, abzurechnen hatte, drückte ihn und zog ihm den Tag und dessen wechselndes Leben zu einer unendlichen Länge auseinander. Daß Valerie in ihrem Verkehr mit ihm keine wesentliche Veränderung zeigte, sondern in gewohnter Weise ging, saß, lachte, lächelte und sprach, gab keiner langsam sich schleppenden Stunde oder Minute dieses Tags raschere Flügel, den gewohnten leichten Flug.

(Fortsetzung folgt.)

[528]

Briefe aus einem Weltbade.

Von Paul von Schönthan.0 Mit Illustrationen von H. Schlittgen.


II.

LUGINSMEER.

Auf der Estacade.

 Liebes Annchen!
Ich habe mich mit dem Meere bereits innig befreundet, es ist ein stiller, liebenswürdiger Gesellschafter, an dem man immer neue charmante Seiten entdeckt. Ein eigenartiges Vergnügen bietet es, am grasbewachsenen Uferrande zu sitzen und mit dem bewaffneten Auge viele, viele Meilen des Meeres zu beherrschen. Mein Vetter hat mich in der Flaggenkunde unterrichtet, und es gewährt viel Amusement, die Nationalität der in Sicht kommenden Schiffe zu ergründen. Man kann auf diese Weise mehrere Stunden verbringen, und darauf kommt es doch an, denn der Tag ist lang, und Lieutenant von B. bemerkte neulich sehr zutreffend: „Man ist doch am Ende keine Schildkröte, daß man in einem fort im Wasser liegen kann.“

Zur Abwechselung unternimmt man wohl auch eine Promenade auf der Estacade, einem im Osten Ostendes ins Meer gebauten Damm aus Pfählen, mit einem Leuchtapparate an seinem Ende. Hier legen die Dampfer an, Angler und Netzfischer belagern das Geländer, und sogar Damen werfen hier ihre Angel aus – versteht sich – nach Seefischen.

Bei Regenwetter bietet der Kursaal einen angenehmen Aufenthalt, ein wahrer Prachtbau zwischen

[529]

Aus dem Badeleben in Ostende.
Originalzeichnung von H. Schlittgen.

[530] dem Meere, der Avenue und dem Leopolds-Parke. Denke Dir unter einer imposanten Rotunde einen Saal, der 6000 Personen faßt; besonders am Abend, wenn 600 Gasflammen und ein Paar Sonnenbrenner diesen eleganten Raum erhellen, ist der Anblick geradezu feenhaft. Rings herum wandelt man unter Arkaden, so daß man den Anblick der geliebten See nie zu missen braucht, selbst bei Sturm und Wetter sieht man durch die Scheiben auf das unendliche, geheimnißvolle Meer. Ach, wie erhaben ist der Anblick der unermeßlichen See, mein liebes Annchen, und ganz in der Nähe ist ein Ballsaal, der 17 Meter lang und 36 Meter breit ist. Ich habe die Maße von meinem russischen Freunde, der mir auch eingeprägt hat, daß der neue Kursaal von einem Brüsseler Architekten Namens Naert erbaut wurde und daß die Anlage ein tiefes Studium und eine glückliche Hand bekunde.

Man hat mir auch die Namen der Künstler rühmend genannt, welche die Säle dekorirt und bemalt haben – aber ich habe sie vergessen. Nur Rühmliches kann ich Dir von der Kurkapelle melden. Sie besteht aus 75 tüchtigen Musikern, die sich hören lassen können. Gott, wie haben sie gestern wieder den Walzer aus „Mascotte“ gespielt, als ich mit dem jungen Grafen L. tanzte! Ein reizender, junger Kavalier! Audran ist mir unter allen Komponisten der liebste!

Aber auch die täglichen Koncerte entsprechen höheren Anforderungen, natürlich: Mr. Perrier, der Chef des Orchesters, gehörte jahrelang der Großen Oper in Paris an. Außerdem besitzt Ostende ein niedliches Theater, in welchem besonders Operetten und Vaudevilles aufgeführt werden, die reizende Judic und Coquelin vom Theatre Français aus Paris haben hier vor einiger Zeit gastirt. Vom Rennen habe ich Dir schon geschrieben – ich interessire mich nicht dafür, mir thun auch hier die armen Pferde leid, aber wie beschäftigt ein bevorstehendes Rennen die hiesige Gesellschaft! Dann ist der Strand beinahe wie abgefegt, die Zelte und Körbe sind leer und die interessanten Frauen mit dem gelben Buch – es ist immer ein französischer Roman – kommen nur in einzelnen Exemplaren vor. Die Kinder bleiben freilich zurück, aber die Herrenwelt, besonders die Engländer und Franzosen, sind an solchen Tagen vollständig mit dem Rennen beschäftigt, und tagelang hört man nichts Anderes als die abgeschmackten Namen der Rennpferde. Ebenso gleichgültig verhalte ich mich der Regatta gegenüber – allerliebst sind aber die wöchentlichen Kinderfeste mit Ball.

An gewöhnlichen Nachmittagen versammelt sich die feine Welt mit Vorliebe vor dem Kursaal. Aeltere Damen lesen – häufig haben sie die Buchdecke so umgeschlagen, daß man den Titel nicht sehen kann – ihre französischen Romane, die unschuldigere Jugend, besonders die jungen Ladies, erscheinen mit großen und kleinen, in graue Leinwand gebundenen Skizzenbüchern, und da wird nun drauf los gezeichnet und aquarellirt, aber ich glaube, es kommt nichts Rechtes dabei heraus. Der Lieutenant meinte neulich: „Man kann das Meer auch gar nicht abzeichnen, es ist viel zu unruhig.“ Es wird auch viel gemalt, fast ausschließlich in Wasserfarben, es wäre meist schade ums Wasser, wenn nicht so viel davon da wäre.

Die meisten Damen betreiben das, wie ich Dir nicht erst zu versichern brauche, aus purer Koketterie. Sobald ihnen ein Bekannter – oft ist’s auch ein Wildfremder – über die Schulter guckt, und ein paar Worte („Wie reizend! – Ah charmant! – How nice!“) an sie richtet, lassen sie den Radirgummi ruhen und die Unterhaltung beginnt.

Deine Frage, liebe Freundin, gegen welche Leiden Ostende hilft, ist nicht so einfach zu beantworten. Man kann das nicht so sagen wie etwa von Marienbad, Franzensbad, Reichenhall etc. Es heißt ja auch immer nur: „Sie müssen nach Karlsbad,“ nie aber: „Sie müssen nach der See.“ Wie lange habe ich dazu gebraucht, bis ich unsern Sanitätsrath überzeugt habe, daß mein Organismus, und vor Allem meine Nerven, dringend nach Ostende verlangen! Man ist nicht krank in Ostende, man begiebt sich dahin, um, wie der Lieutenant sagt, „den Geist ausruhen zu lassen“ – um die stärkende Seeluft zu athmen und eine Pause eintreten zu lassen, deren Jeder bedarf, der nur halbwegs im Mittelpunkt des großstädtischen Lebens steht. – Wer bedürfte nicht einiger Wochen vollständiger Ruhe, mindestens zu seiner geistigen Sammlung!

Verzeihe, daß ich schon schließe, aber es ist heute im Kursaal wieder Ball und ich muß mich noch mit meiner Toilette beschäftigen. Du glaubst nicht, wie viel man zu thun hat, wenn man, wie hier, gar nichts zu thun hat. Wie beneide ich Dich in Deiner ländlichen Abgeschiedenheit, wenn Du auch nach meiner Ueberzeugung von Deinem Sommer gar nichts hast, Du hast wahrscheinlich ein Reise- und ein Kattunkleid mitgenommen. Gott sei Dank, ich habe ausreichend vorgesorgt, und der Sanitätsrath, der Ostende genau kennt, hat mir sechs Toiletten verordnet, soviel muß man nämlich haben, wenn einem der Aufenthalt in Ostende bekommen soll und wenn man so jung und – sage meinetwegen so eitel ist wie Deine treue Freundin Grete. 


Die Deutschen in Australien.

Der Weg nach Australien ist weit. Ehe Maury’s treffliche Beobachtungen dem Schiffer die Anleitung zu richtiger Benutzung der Luft- und Meeresströmungen gegeben hatten, konnte sich die Fahrt über mehr als fünf Monate erstrecken, erst die Durchstechung der Landenge von Suez verringerte sie auf eben soviel Wochen. Und mit welchen Leiden und Entbehrungen war diese langwierige Fahrt verbunden! Nur mit Schaudern kann man an die Einrichtung und Ausstattung der Passagierschiffe vor dreißig bis vierzig Jahren zurückdenken. In den engsten Raum zusammengepfercht, auf schlechte Nahrung und noch schlechteres Wasser angewiesen, in Krankheitsfällen berathen von einem Arzt, der nie das Innere eines akademischen Lehrsaales gesehen hatte, so schwammen die Auswanderer der neuen Heimath entgegen, die manch einer niemals erreichte. Waren solche Uebelstände auf der vierzehntägigen Seereise nach New-York, Philadelphia oder Baltimore allenfalls zu überwinden, so wurden sie auf einer mehrere Wochen in Anspruch nehmenden Fahrt nach Adelaide oder Melbourne geradezu unerträglich.

Außerdem hatte sich bisher das schwachbevölkerte Land der Wälder und Steppen nur durch eine mäßige, freilich schnellwachsende Produktion von Wolle bekannt gemacht. Wer aber war so elend in Deutschland, daß er sein Los mit dem eines Schäfers in Australien hätte vertauschen mögen? Die Küste, welche England zur Ablagerungsstätte für sein sociales Kehricht bestimmte, hatte nichts Verlockendes für unsere Europamüden. Erst als ein anderer Theil des Kontinentes und zwar mit strenger Ausschließung aller verbrecherischen Elemente der Kultur gewonnen werden sollte, fanden sich unsere Landsleute zur Mitarbeiterschaft bereit.

In Preußen fühlten sich um jene Zeit viele Lutheraner durch die unter Friedrich Wilhelm III. vollzogene Union der beiden protestantischen Glaubensbekenntnisse zu einer apostolischen Landeskirche in ihrem Gewissen beschwert, und Tausende der Altgläubigen griffen zum Wanderstabe.

Gerade um dieselbe Zeit war in England der lange ventilirte Plan der Gründung einer Kolonie am Golf St. Vincent an der Südküste von Australien zur endlichen Reife gediehen. Die englische Regierung hatte die Südaustralische Kompagnie mit weitgehenden Rechten sowie mit großartigen Landbewilligungen ausgestattet. Man bedurfte der willigen Hände, diese Ländereien fruchtbringend zu machen, und die Anerbietungen unserer Landsleute, Australien zum Ziele zu wählen, wurden von den Direktoren jener Gesellschaft mit Freuden angenommen. Namentlich ihrem Begründer, George Fife Angas, paßten die Deutschen vortrefflich in seine Pläne, er sorgte für ihre Ueberfahrt und siedelte sie auf seinen weiten Besitzungen an, sehr zu seinem eigenen Vortheil, wenngleich auch die Deutschen sich bald zu Unabhängigkeit und Wohlstand emporarbeiteten.

Im Hintergrunde der südaustralischen Hauptstadt Adelaide steigt bis zur Höhe von mehr als 600 Meter ein schönbewaldeter Gebirgsrücken auf, der mit kleinen Unterbrechungen und unter wechselnden Namen bis hoch in den Norden der Kolonie hineinreicht. In kühlen, wohlbewässerten Thälern gedeiht hier manche Pflanze, die in den trockenen, heißen Ebenen der Kolonie nicht leben kann.

[531] In diesen Thälern wie an der äußeren Berglehne gründeten die Deutschen eine Reihe von Dörfern zu einer Zeit, da außer dem Hauptdorf Adelaide kaum ein englisches Dorf in der Kolonie vorhanden war. Mit Axt und Brand lichteten sie den mächtigen Eukalyptenwald und streuten ihre Saat zwischen die einsam aufragenden Stämme abgestorbener Baumriesen, deren nacktes Gezweig den verderblichen Schwärmen von Kakadus und Loris einen Schutz ferner nicht mehr bot. Wo der schwarzbraune Australier ehedem seine leichte Laubhütte aufgeschlagen hatte, da erbauten sie ihre festen Häuser, niedrige, langgestreckte Gebäude, nach dem Muster des sächsischen oder slavischen Bauernhauses, aus Fachwerk, Balken und Feldern in grellen Farben, am liebsten blau oder roth und weiß, recht scharf kontrastirend; über Alles breitete sich das tief hinabreichende Strohdach, dessen sich kreuzenden Giebelenden mit den roh geschnitzten Pferdeköpfen nur das Storchnest fehlte, um den Beschauer ganz vergessen zu lassen, daß über ihm nicht die grauen Wolken der nordischen Mark hinzogen, sondern der tiefblaue Himmel der Antipoden sich wölbte.

War diese erste Auswanderung religiösen Motiven entsprungen, so trieb die Unzufriedenheit mit den bestehenden politischen Verhältnissen den zweiten Zug übers Meer. Zwar dachte man noch nicht an Australien, als nach dem Wartburgfeste jene Periode politischer Verfolgungen über Deutschland hereinbrach, welche viele Hunderte zum Theil völlig schuldloser, zum Theil von schwärmerischer Begeisterung irregeleiteter Personen über die Grenzen des Vaterlandes hinaus trieb, um nicht das Schicksal ihrer in den Kasematten deutscher Festungen begrabenen Gefährten zu theilen. Diese Flüchtlinge wandten sich zumeist nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika. An Australien dachte man erst, als auf die zweite nationale Erhebung des Jahres 1848 ein zweiter, kaum weniger verhängnißvoller Rückschlag folgte.

Eine große Gesellschaft bildete sich zu Berlin unter der Leitung der Brüder Schomburgk und des Dr. Mücke, eine andere war schon früher in Bremen unter Eduard Delius zusammengetreten; beiden aber fehlte das zusammenhaltende Band, und sofortige Zerstreuung aller, sobald sie das neue Land betraten, war ihr unverzügliches Los. Aber die Meisten waren mit Weib und Kind hinüber gezogen, Alle mit dem festen Vorsatze, in dem neuen Lande Wurzel zu schlagen. Viele von ihnen gehörten zu den gebildeten Ständen, sie sind auch unter ungünstigen Verhältnissen ihrer Vergangenheit nicht untreu geworden, und manch Einer hat sich in hartem Kampfe einen ehrenvollen Platz in seiner Adoptivheimath erobert.

Und abermals floß ein frischer Strom deutschen Blutes nach Australien hinüber, als dieser Welttheil das alte Europa durch seine ans Märchenhafte grenzenden Goldentdeckungen elektrisirte. Waren früher Hunderte hinübergezogen, so schifften sich jetzt Tausende ein. Hatten ehedem ernste Männer und Frauen mit schwerem Herzen und nassem Auge den Staub des Vaterlandes von ihren Füßen geschüttelt, so eilten jetzt leichtherzige, von Hoffnungen berauschte Glücksjäger übers Meer, das sie bald goldbeladen auf dem Rückwege zur Heimath zu durchmessen gedachten. Bei wie Wenigen haben sich die hochfliegenden Erwartungen wirklich erfüllt! Einige sind enttäuscht zurückgekehrt, manch Einer ist verdorben, gestorben, die Meisten sind geblieben, um in bescheidenerem Maße stetig arbeitende Schmiede ihres Glückes zu werden.

Wie sich der Pulsschlag des australischen Lebens von der fieberhaften Erregung jener Goldzeiten zum normalen Gang alltäglicher Entwickelung beruhigte, floß auch der Strom europäischer, namentlich deutscher Einwanderung schwächer, bedächtiger. Wer jetzt hierher kam, der gedachte, wenn nicht für immer, so doch auf lange Jahre zu bleiben. Inzwischen hatten gerade während jener alle gesellschaftliche Ordnung umstürzenden Periode die ruhige Besonnenheit und das Ausharren auf dem einmal bezogenen Posten – Eigenschaften, die allein bei den Deutschen hervortraten – den hohen Werth unserer Landsleute als Kolonisten in so hellem Lichte erscheinen lassen, daß eine Regierung der australischen Kolonien nach der andern durch Bewilligung freier Ueberfahrt und andere Vergünstigungen dieselben für sich zu gewinnen suchte. Namentlich Queensland, die jüngste der sieben Schwestern, machte die größten Anstrengungen. Und so ist es denn gekommen, daß der Schwerpunkt der deutschen Bevölkerung, der sich geraume Zeit in Viktoria befand und später nach Südaustralien verlegt wurde, gegenwärtig in dieser nördlichsten Kolonie zu suchen ist. Freilich dürfen wir das nur gelten lassen, wenn Zahlen den Ausschlag geben.

Es ist aber schwer, den Bestand der deutschen Bewohner des Australkontinents ziffermäßig darzustellen. Den Nachwuchs der ins Land Gezogenen begreift die australische Statistik immer als Australier. Das Stammland der Eltern bleibt dabei ganz unberücksichtigt. So wurde der aus den kinderreichen deutschen Ehen entsprossene junge Stamm der deutschen Nationalität nicht mehr zugerechnet. Und sehr häufig kann er darauf auch in keiner Weise Anspruch machen.

Man hat die Auswanderer eines Landes mit einem wohlausgerüsteten Heere verglichen, welches, sobald es die Grenzen seiner Heimath überschritten hat, spurlos verschwindet. Der Vergleich trifft auch darin zu, daß das Heer aus Männern und zwar solchen in der Vollkraft ihrer Jahre besteht. So war es auch in Australien. Zogen auch, wie wir gezeigt haben, ganze Gemeinden hinaus, um drüben neue Ortschaften mit alten heimathlich klingenden Namen zu begründen, so bestand doch der Hauptstrom deutscher Auswanderung, namentlich zur Blüthezeit der Golddiggings, vorwiegend aus Männern. Der Deutsche aber mit seinem ausgesprochenen Familiensinn baut sich gern bald sein Nest, suchte sich hier seine Lebensgefährtinnen unter den Töchtern der englischen Einwanderer, und damit waren seine Kinder und sehr häufig er selber seiner eigenen Nationalität verloren. Aber auch die Kinder deutscher Eltern nahmen mit der englischen Sprache bald auch englische Sitten an.

Ehe der Schulmeister von Sadowa den Briten die Augen öffnete, war der Name German nichts weniger als ein Ehrenname, den man noch lieber durch das synonymisch geltende Dutchman ersetzte. Die oft ausgesprochene Entrüstungsfrage: Glauben Sie, ich bin ein Dutchman oder noch besser ein damned Dutchman? kennzeichnete deutlich genug die damalige englische Schätzung der deutschen Nationalität. Was Wunder, wenn sich die Jugend der herrschenden Nation mit Wärme anschloß und der eigenen den Rücken kehrte, ja oft nur mit Beschämung sich ihrer Abstammung erinnerte? Ein völliger Umschwung trat aber erst ein, als der glänzende französische Kaiserthron unter wuchtigen deutschen Schlägen in Trümmer zerfiel.

Die Nachkommen der Waffengefährten des Prinzen Eugen, Friedrich’s des Großen, Blücher’s mußten wohl einigen Respekt vor deutscher Tapferkeit haben; sie, die so manchen deutschen Künstler und Gelehrten in ihre Mitte aufgenommen hatten, konnten schon früher nicht umhin, deutsche Wissenschaft zu achten; aber diese Achtung blieb bei dem Einzelnen stehen, sie übertrug sich nicht auf das Ganze. Welcher Ausländer hätte in der Misere deutscher Kleinstaaterei, in der Periode des Liebäugelns deutscher Fürsten mit dem Auslande und der geschmeidigen Gefügigkeit gegen dasselbe eine solche Achtung wohl haben können?

Und so muß man es voll und ganz anerkennen, daß, trotz der englischen Vorurtheile, in Australien deutscher Tüchtigkeit allezeit freie Bahn gegeben worden ist. Männer wie Ludwig Leichhardt, Ferdinand von Müller, Richard Schomburgk, die höchsten Zierden des australischen Deutschthums, hätten nirgendwo sonst eine bereitwilligere Unterstützung ihrer Arbeiten finden können. Durchmustert man die Listen der Beamten und durch Ehrenämter Ausgezeichneten, so begegnet man einer stattlichen Reihe deutscher Namen. Und diese Tüchtigkeit ist in der australischen Presse wie in den Parlamenten der Kolonien jederzeit offen anerkannt worden. In den oft recht erregten Massenversammlungen, welche Protest einlegen sollten gegen die jüngsten friedlichen Eroberungen Deutschlands in Oceanien, hat sich nie eine Stimme gegen Deutschland und die Deutschen erhoben. Unsere Landsleute haben sich in jenem Welttheile eine Stellung erobert, auf die sie selber und wir mit ihnen stolz sein dürfen.

Desto schmerzlicher müssen wir es beklagen, daß diese Tüchtigkeit einem fremden Lande zugute kommt. Was die Deutschen als Ackerbauer, als Handwerker, als Kaufleute, als Gelehrte leisten – auf jedem dieser Gebiete wird ihr Name rühmend genannt – das ist dem Lande, dem sie entsprossen, verloren. Und selbst das Band, welches Sprache und Sitten noch um sie und die alte Heimath schlingen, lockert sich mehr und mehr. Zwar wo der deutsche Landsmann, wie in Südaustralien und Queensland, noch in kompakten, von keinem fremden Elemente durchbrochenen Ansiedelungen lebt, wird sich die deutsche Nationalität noch lange erhalten. Jedenfalls ist ihre Lebensdauer von den Alten, die [532] nicht Australien ihr Geburtsland nennen, nicht loszulösen. Wenn aber dieser Stamm einmal dahingegangen ist, ohne daß ein Zufluß frischen Blutes eine Verstärkung gebracht hätte, wenn die bisher reindeutschen Schulen durch die Konkurrenz billigerer englischer Staatsschulen erdrückt sind, dann wird auch hier sich eine Wandlung vollziehen trotz der deutschen Klubs, der Gesang- und Turnvereine, in welchen schon jetzt englische Elemente eine Rolle zu spielen beginnen. Der Deutsche wird in dem englischen Australier untergehen.

Für viele Deutsche hat das nichts Schmerzliches. Wenn sich der deutsche Geist mit dem fremden Geist so vermählt, daß das Produkt der innigen Verbindung eine Vereinigung der guten Eigenschaften beider wird, so nennen sie das eine geistige Auferstehung. Es ist das ein gefälligerer Name für eine angebliche Bestimmung unserer Nation, welche ein rauherer Mund mit dem Ausdruck „Völkerdünger“ gebrandmarkt hat. Möge sie unseren deutschen Brüdern jenseit des Meeres erspart bleiben! E. Jung. 


Blätter und Blüthen.

Ulysses Grant †. Seit dem 23. Juli weht halbmast das Sternenbanner in Washington; die große Republik trauert um ihren großen Sohn. Die Bürger, welche an seinem frischen Grabe standen, mochten mit getheilten Gefühlen über die Verdienste des Heimgegangenen und seine wunderbare Laufbahn nachgedacht haben, in Einem mußten sie jedoch Alle übereinstimmen: in Ulysses Grant schwand einer der größten Krieger, den Amerika jemals gesehen.

Er zählte in der That zu jenen geborenen Feldherren, die, ohne irgend welche genügende militärische Schule durchgemacht zu haben, Volksheere zum Kampf und Sieg führen. Schon im mexikanischen Kriege lenkte Grant, obwohl in untergeordneter Stellung, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sein militärisches Talent. Trotzdem trat er, sobald der Friede geschlossen wurde, nach amerikanischer Sitte ins Privatleben zurück, bis ihn der beginnende Lärm des großen amerikanischen Bürgerkrieges von dem Gerbergeschäfte seines Vaters an die Spitze eines Freiwilligen-Regiments rief. Am 17. Juni 1861 rückte er ins Feld und bewies schon nach zwei Monaten durch die Einnahme von Paducah, daß er zu den besten Feldherren der Nordstaaten gehöre.

Die Schlachten bei Yuka und Korinth und die Einnahme von Vicksburg befestigten sein Ansehn, und vertrauensvoll ernannte ihn Präsident Lincoln zum Oberbefehlshaber aller Armeen und gab ihm den Titel Generallieutenant, den nach Washington kein anderer Amerikaner getragen hatte. Und Grant wußte das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, im blutigen 11 Monate dauernden Ringen warf er den General Lee und seine Truppen nach Richmond zurück, eroberte die befestigten Linien und zwang seinen Gegner zu der berühmten Kapitulation von Appomatox-Courthouse in Virginien.

Durch diese Heldenthaten hat sich Grant unsterblichen Ruhm erworben. Wenn er auch später als Präsident der Union in der Politik weniger glücklich war, wenn dann sogar der Held zum Spekulanten wurde, so hat er seine Schuld am sorgenvollen Lebensabend schwer genug büßen müssen. Amerika ehrt jetzt nur seine Tugenden und vergißt seine Fehler, und es handelt recht so, denn es gehört der Lorbeerkranz auf den Grabhügel des Mannes, der für die Freiheit von Millionen stritt und siegte. – i.     


Frauen auf akademischem Lehrstuhle der Mathematik. Vor einiger Zeit ging die Nachricht durch die Tagesblätter: Frau Dr. Sophie Kowalewski, Privatdocentin der Mathematik an der Universität Stockholm, sei seit Kurzem „die erste Frau auf akademischem Lehrstuhle“ – und daß nach den Behauptungen der Phrenologen „den Frauen in der Regel das Organ für dieses positive, trockene und schwierige Fach fast gänzlich abgehe“. – Das ist ein Irrthum, der von dem Stockholmer Blatte „Dagens Nyhuter“ ausging. Ohne dem Ruhme der gelehrten Dame im Geringsten nahe treten zu wollen, sei hier nur an eine mäßige, immerhin aber genügende Zahl von Frauen erinnert, die auf akademischem Lehrstuhle saßen, und solche, die ein ganz ausgezeichnetes Organ für das trockene Fach der Mathematik hatten und somit den oben bezeichneten Irrthum berichtigen.

Nach dem Wiederaufblühen der Wissenschaften in Italien finden wir Maria Agnesi, die sich in der Mathematik und Philosophie in hohem Grade ausgezeichnet hat. In ihrem fünfzehnten Jahre verstand sie Französisch, Spanisch, Deutsch, Griechisch, Hebräisch; in ihrem zwanzigsten Jahre vertheidigte sie an zweihundert philosophische Thesen zu allgemeiner Verwunderung und schrieb bald darauf ein mathematisches Werk, welches so viel Aufsehen erregte, daß Papst Benedikt XIV. ihr den Lehrstuhl der Mathematik an der Universität zu Bologna zuwies, wo sie geraume Zeit mit großem Beifall lehrte.

Fast noch berühmter ist ihre Landsmännin und Zeitgenossin Laura Bassi. Sie erhielt 1732 zu Bologna in aller Form die Würde eines Doktors der Philosophie, ward von demselben Papst Benedikt XIV. zum Professor der Physik ernannt und hielt Vorlesungen, die zahlreich besucht wurden. Ihre wissenschaftlichen Studien wurden dadurch nicht beeinträchtigt, daß sie als Gattin des Arztes Verrati einem großen Hauswesen vorstand; sie war die glückliche Mutter von zwölf Söhnen, deren Erziehung sie keinem Miethlinge anvertrauen mochte. – In Padua lehrte Helene Piscopia Philosophie und verfaßte mehrere mathematische und astronomische Werke. – Ebendaselbst las Novella d’Andrea über Kirchenrecht mit großem Beifalle. Nur ein Umstand mochte die Zuhörer weniger befriedigen. Da nämlich die Frau Professorin ebenso schön wie gelehrt war, so war ihr Lehrstuhl mit einem Vorhange versehen, damit die Zuhörer durch den Anblick ihrer Schönheit nicht zerstreut werden möchten.

Von Französinnen nennen wir zunächst die Marquise du Châtelet, Voltaire’s Freundin, die mit dem deutschen Philosophen Wolff in lebhaftem Briefwechsel stand. Sie machte zuerst Newton’s System in Frankreich bekannt, und ihre Abhandlung „Ueber die Natur des Feuers“ erhielt von der Akademie der Wissenschaften den Preis. Mademoiselle Sophie Germain korrespondirte Jahre lang unter dem Namen Leblanc mit dem größten deutschen Astronomen Gauß über mathematische Gegenstände, ohne daß diesem die geringste Ahnung beikam, daß sein gelehrter vermeintlicher Freund eine Dame sei. Mademoiselle Germain erhielt auch am 8. Januar 1816 den Preis, den die französische Akademie 1809 für die beste mathematische Theorie der Chladni’schen Flächenschwingungen ausgesetzt hatte, nachdem die Aufgabe zweimal wegen ungenügender Lösung von anderen Gelehrten erneuert worden war. Der Name der schönen Blume, die im Anfange unseres Jahrhunderts aus Japan und China bei uns eingeführt wurde, erinnert an die Astronomin Hortense Lepaut, deren wissenschaftliche Verdienste französische Artigkeit dadurch ehrte, daß sie ihren Vornamen auf jene Blume übertrug. Sie war die treue Gehilfin der berühmten Astronomen Clairaut und Lalande bei den schwierigsten Rechnungen derselben.

Auch deutschen Frauen ist das Studium der Astronomie nicht fremd geblieben. Wie Frau Hevelke in Danzig ihren Gatten, so unterstützte Frau Eimmart in Nürnberg ihren Vater bei seinen astronomischen Arbeiten. Am berühmtesten ist indeß die Hannoveranerin Karoline Herschel. Sie war 31 Jahre alt, als sie 1781 ihrem Bruder Wilhelm, dem großen Astronomen, nach England folgte, um seine Mitarbeiterin zu werden, was sie 40 Jahre lang gewesen ist. Ihre Schriften sind Zeugnisse, mit welchem Eifer und Erfolg sie gearbeitet. Sie erwarb sich eine so genaue Kenntniß des Sternenhimmels, daß sie Flammstädt’s Atlas des gestirnten Himmels und den Sternkatalog nach eigenen Beobachtungen wesentlich vervollständigte. Sie entdeckte selbständig neue Kometen, unter ihnen auch den, welcher nach seinem Berechner der Enke’sche Komet heißt. Nach dem Tode des Bruders kehrte sie 1822 nach Hannover zurück. Hier war es, wo Alexander von Humboldt im Jahre 1846, als er selbst schon im 77. Altersjahre stand, die 96jährige Dame besuchte, die noch bei voller Lebenslust, nur darüber klagte, daß man aufgehört habe, sie astronomische Berechnungen machen zu lassen, da sie ohne Arbeit ungern ihre Pension beziehe. Erst zwei Jahre später, im Januar 1848, verschied sie im 98. Lebensjahre.

In neuerer Zeit, im Jahre 1847, haben zwei Frauen, Frau Rümcker in Hamburg und Mrs. Mary Mitchel in Nordamerika, gleichzeitig den 182. Kometen des Olbers’schen Verzeichnisses entdeckt. Aus unseren Tagen sei noch Signora Katharina Scarpellini erwähnt. Sie war Mitglied zahlreicher gelehrter Gesellschaften und Vorsteherin des Observatoriums der Sternwarte auf dem Kapitol in Rom. J. Loewenberg.     


Im Bodethal. (Mit Illustration S. 521.) Bädeker, der bewährte Führer, hat Recht, wenn er behauptet, daß das Bodethal der Glanzpunkt des Harzes sei und an wilder Großartigkeit nur im Hochgebirge seines Gleichen finde. Ueberall himmelanstrebende Felsenwände, grau und kalt, scheinbar ohne Ausgang. Nur das Schäumen, Kochen und Brausen der Bode unterbricht die schauervolle Einsamkeit. Aus den eisigen, bräunlichgrünen Fluthen des herrlichen Waldstroms steigen starre Klippen wie Obelisken zum Himmel empor, groteske Bildungen, die jeden Augenblick herabzustürzen drohen, die gewaltigen Trümmerhaufen zu mehren, die weithin das buschige Thal bedecken. Mächtige Rollsteine und scharfkantige Granitblöcke liegen umher, als hätten sie Berggeistern zum Spielballe gedient. Am grausigsten ist die Scenerie, wo der nach drei Seiten steil abfallende, wild zerklüftete Granitpfeiler der „Roßtrappe“ 200 Meter über der Bode emporragt, eine Riesenbastei, die von der ihr schräg gegenüber liegenden Klippenwand des „Hexentanzplatzes“ noch um 70 Meter übertroffen wird. Wenige Schritte weiter in der Felsschlucht liegt der „Bodekessel“, ein wildes, rings von 200 Meter hohen Granitmauern umschlossenes Felsenbecken, welches die brausenden Gebirgswasser, den Fuß der Klippen benagend und höhlend, ausgewaschen haben. Eine schmale Brücke, die „Teufelsbrücke“ genannt, führt in beträchtlicher Höhe über den gährenden Schlund. Bis zum Jahre 1865 war das Bodethal nur bis zu diesem Punkte gangbar. Mit ungeheuren Kosten und saurer Arbeit aber ward hier den Felsen ein Weg abgewonnen, welcher an der schäumenden Bode bald sanft ansteigend, bald bergab durch den Wald bis Treseburg führt. Eine solche Abwechselung von großartigem Ernst und lieblicher Idylle, wie sie auf diesem Wege geböten, weist der Harz nicht zum zweiten Male auf. R. C.     


Inhalt: Trudchens Heirath. Von W. Heimburg (Schluß). S. 517. – Antipoden. Illustration. S. 517. – Kulturhistorische Modebilder. 3. Die Geschichte vom Schlapphut und vom Cylinder. Von Karl Braun-Wiesbaden. S. 520. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. S. 523. Mit Abbildungen S. 524. – Unruhige Gäste. Ein Roman aus der Gesellschaft. Von Wilhelm Raabe (Fortsetzung). S. 525. – Briefe aus einem Weltbade. Von Paul von Schönthan. II. S. 528. Mit Illustrationen S. 528 und 529. – Die Deutschen in Australien. Von E. Jung. S. 530. – Blätter und Blüthen: Ulysses Grant †. S. 532. – Frauen auf akademischem Lehrstuhle der Mathematik. Von J. Loewenberg. S. 532. – Im Bodethal. S. 532. Mit Illustration S. 521. –


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zitat aus „Auf Miedings Tod“ (Goethe).