Die Gartenlaube (1885)/Heft 31

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[501]

No. 31.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Trudchens Heirath.

Von 0W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Mit leisen Schritten wandelte der Sommer über das Land; gelb bogen sich die Aehrenfelder unter dem warmen Winde, und leergepflückt standen die Kirschbäume auf dem Anger und längs der Chausseen. Wolkenlos blaute der Himmel, und in Niendorf wurde das erste Korn eingefahren.

Aus der Stadt war man in die Bäder geflüchtet, oder in die kühlen Bergthäler. Das Eckhaus am Markte zeigte von oben bis unten verhangene Fenster; Frau Baumhagen weilte in der Schweiz, Herr und Frau Fredrich in Baden-Baden. Onkel Heinrich war nach Helgoland ausgewandert, weil doch nirgend das Frühstück so gut schmeckt wie auf der Badedüne der Felseninsel. Nur jene Beiden saßen still in ihren Nestern; ein kleines Stückchen Wald und Feld trennte sie, aber sie konnten sich nicht ferner sein, hätte zwischen ihnen der Ocean gewogt. Es gab kein Hinüber!

In Niendorf ging es laut her, ungeordnet und unregelmäßig; woher auch sollte Fräulein Adelheid das Getriebe einer Landwirthschaft verstehen? Sie war den ganzen Tag auf den Füßen, sie machte hundert unnütze Wege, und Abends klagte sie, daß die zwei zierlichen Füßchen in den spitzen Hackenschuhen ihr so weh thäten und daß die Mädchen keinen Respekt vor ihr hätten. Tante Rosa war schlechter Laune, sie sah sich auf ihre alten Tage dazu verurtheilt, das Amt einer Ehrendame zu üben; Fräulein Adelheid konnte doch unmöglich mit Linden allein zu Mittag und zu Abend speisen, und sie durfte auch nicht fehlen bei Tische. Also stülpte sich die alte Dame jeden Tag um die zwölfte Stunde ihre Sonntagshaube auf und saß, wie ein Häufchen Unglück, neben Linden auf Trudchens leerem Platz. Es waren verzweifelt traurige Mahlzeiten. Nach und nach verstummte auch Heidchen;


Weidende Schafheerde.0 Nach dem Oelgemälde von H. Zügel.

[502] eine Antwort bekam sie ja nur in den seltensten Fällen auf ihr Geplauder. So aß man schweigend und trennte sich so rasch wie thunlich, nachdem „gesegnete Mahlzeit!“ gesprochen war.

Aber Franz hatte doch wenigstens noch Arbeit, er konnte nicht immer denken und grübeln und auf die festgeschlossene Thür blicken, die in Trudchens Stube führte; das kam Abends erst im stillen Zimmer, wenn unten die Stimme der kleinen schwarzen Adelheid allerlei schwermüthige Lieder sang, von Liebe und Sehnsucht. Und wenn es um Mitternacht ganz still wurde, wenn Alles schlief in Haus und Hof und nur noch ein verlorner Hundeblaff vom Dorfe herüberschallte, da wanderte er im Zimmer auf und ab, bis die Lampe trübe wurde und erlosch, und selbst dann noch.

Er wartete nicht mehr auf ihr Kommen; Tage, Wochen lang hatte er es gethan. Anfangs war er in verzehrender Sehnsucht bis an die Mauern ihres Gartens geschritten; er wollte da sein, wenn sie hinaustrat aus der Pforte, beim ersten Schritt schon wollte er ihr entgegentreten. Es war umsonst, sie kam nicht.

Einmal hatte ihn das Gesinde mit seltsam rothen Augen gesehen. „Der Herr weint nach der Frau,“ war scheu die Rede gegangen in der Küche.

„Warum holt er sie sich nicht?“ meinte der Kutscher, „ich würde keine Thräne vergießen, wüßte schon, wie ich solch’ hübschen Trotzkopf kriegen thät!“ Und er machte eine nicht mißzuverstehende Gebärde. „Grobian!“ erklärte das Hausmädcheu wegwerfend, und das ganze weibliche Personal wandte ihm den Rücken.

Ach, und es war ein Erntejahr, wie seit langer Zeit nicht; die Scheuern faßten kaum den Gottessegen. Von den Wiesen kam der Duft des Heues herüber und vermischte sich mit den tausend Centifolien im Garten; auf dem Hofe blühte die große Linde, und eine Legion kleiner goldgelber Kücken ließ sich von der Frau Mutter spazieren führen. Droben im Storchneste auf der Scheune wuchsen die Jungen heran; wie eingesponnen lag das alte traute Haus im üppigen Grün, und die Waldreben krochen hinauf zu den Fenstern und sahen in leere Zimmer, und die Schwalben, die unter dem Dache bauten, erzählten in Stadt und Land umher: „Sie ist fort von ihm! Sie ist fort von ihm!“

Ja, man wußte sie überall, die traurige Mär. Trudchen Baumhagen hat sich von ihrem Mann getrennt. In den Kaffeegesellschaften erzählte es flüsternd Eine der Andern, auf der Kegelbahn und am Stammtisch sprach man davon, und an der Table d’hôte im „Deutschen Hause“ war es die stehende Unterhaltung. Genau wußte man ja nicht, weßhalb? Tausend Vermuthungen der wunderbarsten Art wurden laut:

„Er habe etwas gar zu willkürlich über die Mitgift der Frau verfügt –.“

„Sie sei davon gegangen, weil er in bodenloser Heftigkeit die Hand gegen sie erhoben –.“

„Die Schwiegermutter habe etwas dazwischen gebracht –.“

„Gott behüte! Sie ist eifersüchtig – da soll eine kleine schwarze Kousine im Hause sein –.“

„Nicht doch! die junge Frau ist dahinter gekommen, daß er beim Freien um sie eine ‚Vermittelung‘ zu Hilfe nahm. Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege.“

„Ah, bah! darum läuft ein Weib nicht davon!“

„Alle Wetter, da kennen Sie Trudchen Baumhagen schlecht. Thatsache ist’s, sie ist fort von ihm.“

Ja, Thatsache war es! Und Trudchen saß in ihrem einsamen Hause, in ihrem wunderlich stillen düsteren Zimmer wie eine lebendig Begrabene. Sie las auch nicht mehr, es war, als ob sie mit wachenden Augen schliefe. Zuweilen brachte Johanne ihr Kind, und die Augen der jungen Frau folgten mechanisch dem kleinen Würmchen, wenn es ungeschickt durch die Stube rutschte oder sich am Stuhlbein aufzurichten versuchte, aber anrühren that sie es nicht, selbst wenn es hinfiel und schrie. – Gegen Abend aber kam immer dieselbe unerklärliche Unruhe über sie; dann ging sie im Garten umher in stürmischem Schritt, lange Zeit, bis sie endlich auf dem Luginsland ankam; und dort blieb sie stundenlang und sah den Thurmberg an, bis der Thau ihr Haar und Gewand feuchtete.

„Paß auf, ich werde krank,“ sagte sie zu Johanne, „hier oben.“ Und sie wies nach dem Kopfe.

„Ich glaub’s,“ nickte diese; „man kann sich wissentlich soweit bringen.“ – –

Es war ein Tag zu Ende Juli, furchtbare Schwüle brütete über der Welt, und die junge Frau litt entsetzlich darunter, selbst in ihrem kühlen Zimmer. Regungslos lag sie nach Tische im Sessel am Fenster, ein heftiger einseitiger Kopfschmerz quälte sie, wie so oft jetzt.

Johanne setzte ihr die Tasse mit starkem schwarzen Kaffee auf das Tischchen und legte das Buch hin, in dem schon seit drei Tagen die nämliche Seite aufgeschlagen war. „Hier ist auch ein Brief,“ fügte sie hinzu.

Trudchen hatte förmlich Scheu bekommen vor Briefen. Sie überwand sich aber doch, es waren Jenny’s kritzlige Schriftzüge, und Jenny schrieb nur leichtes oberflächliches Zeug, ein Blick in den Brief genügte da schon. Zwei Blätter fielen ihr entgegen.

„Wir haben schon lange nichts von Dir gehört,“ las sie, „daß es uns angst ist um Dich; bist Du noch immer in ,Waldruhe‘? Gestern lernte ich den Rechtsanwalt K. auf der Reunion kennen, denselben, der in dem bekannten Ehescheidungsproceß des Herzogs von P. mit der Gräfin Y. Vertreter der Letzteren war. Ich redete ihn scherzhaft darauf an, ob man sich von seinem Gebieter trennen könne, wenn man erfährt, daß dieser bei der Werbung mehr unser irdisches Gut als unsere Person im Auge hatte, deutete ziemlich genau die Situation an und sprach von einer Freundin, die in dieser Lage sei. Er erwiderte: ‚Sagen Sie Ihrer Freundin, sie soll ganz still wieder zu ihrem Gatten schleichen, denn sie zieht jedenfalls den kürzeren!‘ Er drückte sich noch unartiger aus, er ist ja bekannt als Grobian.

Na, da hast Du das Urtheil einer Autorität. Mache der Sache ein Ende, denn längeres Zögern könnte Dich so bitter gereuen, wie Du es in Deinem gegenwärtigen hoheitsvollen Zorn Dir gar nicht auszumalen vermagst. Wenn mich nicht Alles täuscht, liebst Du ihn ja wirklich? Nun, es giebt Dinge – aber es ist schwer, darüber zu schreiben. Lies den beigefügten Brief, den Mama mir vor ein paar Tagen sandte. Vielleicht ahnst Du, was ich sagen will.

Ich wünschte, Du wärst mit in Paris gewesen, oder jetzt hier in Baden-Baden, Du würdest einsehen, daß wir deutschen Frauen mit unserer dickfelligen Tugendhaftigkeit, unserm spinnewebzarten himmelblauen Idealismus uns das Leben recht unnütz schwer machen. Ich bin überzeugt, eine Französin hielte sich die Seiten vor Lachen, erführe sie die Ursache Deines ehelichen Konfliktes.

Arthur ist sehr liebenswürdig und parirt aufs Wort. Zur gestrigen Reunion erfreute er mich mit einer Pariser Toilette; sobald er herauskommt aus unserm Nest, ist er wie verwandelt. Adieu, nimm die Sache nicht zu tragisch.
 Deine Schwester.“

Langsam nahm die junge Frau den zweiten Brief; es waren die spitzigen Schriftzüge der Tante Stadträthin, und an Frau Baumhagen gerichtet.

„Liebste Ottilie! Hier ist Alles beim Alten. Ich war gestern in Deinem Hause; Sophie ist auf dem Platz, hat erst wieder große Mottenjagd gehalten. Dein Papagei hat ein schlimmes Auge, geht aber wieder ganz gut. Von Trudchen hörte ich nichts, man wird ja nicht vorgelassen bei ihr, Du wirst wohl Nachricht haben. Ueber Niendorf schwirren allerlei Gerüchte in der Luft. Gestern Abend kam mein Alter aus dem Kegelklub, – es soll ja eine Kousine da draußen sein, die die Wirthschaft führt, Stadtrath Hanke will sie gesehen haben in der Linden’schen Equipage – sehr brünett, sehr apart und unendlich aufgeputzt. Na, Du weißt, die Leute sagen immer gleich viel, aber ich will damit nicht Oel ins Feuer gießen. Einmal sah ich auch Linden, ich erkannte ihn erst, nachdem er beinahe vorüber war, er kam von der Bank. Der Mann hat ja schon graues Haar an den Schläfen; er erschien mir überhaupt als ein ganz Anderer, so – wie soll ich sagen – verkommen.“

Trudchen ließ den Brief sinken, dann sprang sie empor, es ruckte und schüttelte sie in allen Gliedern.

Mit furchtbarer Gewalt zwang sie sich, ruhig zu sein und vernünftig zu denken. Was wollte sie denn auch? Sie hatte sich getrennt von ihm in alle Ewigkeit. Aber das Herz! das Herz krampfte sich zusammen, es that so weh auf einmal und klopfte so laut in der todtenhaften Stille, die sie umgab, daß sie glaubte es zu hören. „Johanne!“ schrie sie auf, aber Niemand antwortete; [503] sie war wohl im Garten draußen oder bei einer häuslichen Arbeit in der Küche.

Was konnte die auch helfen? „Nein, das nicht, nur das nicht!“

Sie saß wieder im Stuhl am Fenster und schaute in das Düster der Bäume. Was gäbe sie darum, wenn der Wald, die Berge schwänden, wenn sie dort hinüber blicken könnte in das Haus – in die Zimmer. „Ein munteres Ding, das schwarze kleine Fräulein,“ hatte Johanne neulich gesagt. Und Trudchen sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie im Hause umher trippelte, jetzt im Saal, nun die Treppe hinauf, die lieben alten, ausgetretenen Stufen. Tapp! tapp! Nun auf dem Korridor; da schlagen die Hackenschuhe so zierlich und fest auf den Gips; und nun an einer braunen Thür – seiner Thür.

Sie darf eintreten? Ach, sein Zimmer, das traute alte Zimmer! Und Trudchen ringt die Hände in einander wie in bitterem Neid. „Fort!“ sagt sie halblaut, „fort! Die Schwelle ist geweiht – ich – ich bin darüber geschritten am seligsten Tage meines Lebens – an seiner Hand!“

Und sie sah ihn sitzen am Schreibtisch, in der grauen Joppe und den hohen Stiefeln, wie er vom Hofe hereingekommen; seine weiße Stirn hob sich scharf ab gegen das gebräunte Antlitz. Das hatte sie immer so gerne gesehen.

Und graues Haar an seinen Schläfen? Ach, er hatte es noch nicht vor ein paar Wochen!

Und wieder gaukelt eine zierliche kleine Gestalt vor ihren Augen, hin zu ihm. Ach, nur das Eine möchte sie wissen, ob er sie je vergessen kann über einer Andern – über dieser vielleicht? – Aber wozu das Alles!

Sie erhob sich und ging aus der Stube, über den Korridor in ihres Vaters Zimmer. Was Papa gethan, das hatten schon Tausende vor ihm gethan, und Tausende werden es noch thun – man muß ja nicht leben!

Auf dem Nachttischchen am Bette stand noch das Glas mit dem geschliffenen Namenszuge, daraus hatte er das Schreckliche getrunken. Man hatte das Gefäß gereinigt und wieder dorthin gestellt. – Sie that ein paar Schritte nach dem Fenster und zuckte zusammen, ach so – ihr Spiegelbild; sie trat rasch vor das blinkende Glas und sah hinein, es war ein wunderlicher bläulicher Schimmer darinnen, und todtenblaß schaute ihr Antlitz sie an; die tiefen Schatten unter den Augen zogen sich bis auf die Wangen herab. Schauernd wandte sie sich, es leuchtete ihr etwas Unheimliches aus den eigenen Zügen entgegen.

Und wieder stand sie und grübelte. Was bot ihr das Leben noch? Mit ihm war Alles hin, Alles!

„Frau Linden,“ schallte es hinter ihr, „der Herr Rechtsanwalt.“

Sie nickte. „Nach meinem Zimmer.“ Ach ja, sie hatte vergessen, daß sie ihn um seinen Besuch gebeten. Heute schon kam er; erst gestern hatte sie an ihn geschrieben. Aber es war gut so, es mußte ein Anfang gemacht werden.

Sie wendete sich wieder um; mochte er warten, sie konnte nicht hinübergehen jetzt. Sie trat ans Fenster und sah, wie bleifarbig schweres Gewölk am Himmel aufstieg; es braute sich ein Wetter zusammen im Westen. Muth, nur Muth! Wenn es vorüber, lächelt die Sonne wieder; zuweilen richtet sich ein gebrochener Stamm auch nicht wieder auf, desto besser! Nur nicht mehr diese Stille, diese Schwüle. Handeln, handeln – sollte auch –

„Gnädige Frau!“ rief es noch einmal mahnend; da faßte sie sich und ging.

Sie kannte ihn gut, den alten Herrn, der ihr freundlich ernst entgegen schritt; aber sie vermochte kein Wort zu ihm zu sprechen; nur eine stumme Handbewegung nach dem nächsten Sessel. Er wußte ja, worum es sich handelte; mochte er das schreckliche Gespräch eröffnen.

„Sie wünschen meinen Beistand, gnädige Frau, in dieser recht schweren Angelegenheit?“

„Ja, ich wünsche, daß Sie mich vertreten,“ sagte sie und schante an ihm vorüber in die Zimmerecke, „und ich möchte vor allen Dingen, daß – Herr Linden die Bestimmungen erfährt, die ich für diesen Fall getroffen habe. Ich lasse ihn im Besitz meines ganzen Vermögens bis auf dieses Haus und das Kapital, welches auf meines Schwagers Fabrik eingetragen ist.“

Sie sprach das so hastig, als hätte sie es auswendig gelernt.

„Ist es Ihnen denn gar so ernst darum?“ fragte der alte Mann.

In ihren Augen blitzte es jetzt auf. „Denken Sie, ich treibe Scherz mit so traurigen Dingen?“

„Und glauben Sie, daß Ihr Herr Gemahl einverstanden sein wird?“

„Es ist Ihre Sache, Herr Rechtsanwalt, dies zu vermitteln.“

Er verbeugte sich stumm. Auch sie schwieg. Eine unheimliche Stille herrschte im Zimmer, im ganzen Hause; Trudchen war es, als sei eben ein Todesurtheil unterzeichnet worden.

„Es giebt ein böses Wetter heute,“ sagte der Rechtsanwalt nach einer Weile; „ich werde mich bald beurlauben müssen, gnädige Frau. Und da ich auf halbem Wege bin, werde ich nach Niendorf fahren, um persönlich mit Ihrem Herrn Gemahl zu verhandeln.“

„Heute schon?“ Sie hatte es erschreckt ausgerufen.

Er zögerte und sah sie an. „Sie haben Recht, es paßt mir auch morgen besser, sagen wir übermorgen.“

„Nein!“ widerrief sie hastig, „sprechen Sie heute noch, gleich, darüber, es ist ja besser, viel besser!“

Sie erhob sich verwirrt; ihr Kopfschmerz, das Bewußtsein, nun komme der Stein ins Rollen, stürmten auf sie ein. Mechanisch begleitete sie den Herrn bis an die Treppe; dann stand sie auf dem Korridor, die Hand an die schmerzende Schläfe gelegt, schier betäubt. In der Küche hörte sie Johanne, und als ertrüge sie die Einsamkeit nicht mehr, trat sie hinein und setzte sich auf den sauberen Bretterstuhl neben dem weißgescheuerten Tisch; Johanne stand vor demselben und wühlte zwischen Epheublättern und Cypressenzweigen. Sie hatte rothgeweinte Augen, und es fielen noch immer ein paar Tropfen auf ihre Hände, die einen Kranz banden. Die ganze Küche roch wie Tod und Begräbniß.

„Was machst Du da?“ fragte Trudchen.

Johanne sah zur Seite und unterdrückte ein Aufschluchzen.

„Morgen wird’s ein Jahr,“ sagte sie halb erstickt, „da brachten sie ihn mir todt ins Haus.“

„Ja richtig!“ Die beiden Frauen sahen sich tief in die traurigen Augen; jede mit dem Gedanken, sie wäre die Unglücklichste. Ach, aber da stand der Wagen mit dem schlafenden Kinde, und das gehörte Johanne; und Johanne konnte an ihn denken ohne anderes Weh und Herzeleid, als die Trauer um seinen Verlust. Durch den Tod verloren – es ist nicht halb so schwer, als durch das Leben. Trudchen fand kein Wort der Theilnahme.

„Wie man’s nur überleben kann,“ schluchzte die junge Wittwe. „So frisch und gesund ging er über die Schwelle, ich meine immer noch, ich sehe ihn die Gasse hinaufschreiten. Und gerad am Abend vorher hatten wir uns zum ersten Male ein wenig ernsthaft gezankt, und ich hatte gedacht: ‚Wart, Du sollst schon betteln um ein freundlich Wörtchen.‘ Und da hab’ ich mich ohne ‚gute Nacht‘ zu Bette gelegt und hab’ ihm am andern Tage früh keinen Kaffee gekocht. Ich hörte ihn so herumhantiren in der Stube und freute mich in mich hinein, daß er so nüchtern fort mußte. Er kam nochmal an mein Bette und sah mir ins Gesicht, und ich that, als ob ich schliefe. Wie er aber kaum die Hausthür zu hat, bin ich schon auf den Füßen und sehe ihm nach; er war ja mein ganzer Stolz. Das letzte Mal ist’s gewesen, keine zwei Stunden später haben sie ihn mir gebracht; und Tag und Nacht habe ich geschrieen auf den Knieen vor ihm und gefragt, ob er noch böse ist? Und habe Gott gebeten, daß er ihn nur noch einmal die Augen aufthun läßt, daß ich sagen könnte: ‚Adieu Fritze, komm gesund heim, Fritze!‘ Aber Alles umsonst, er hat nichts mehr gehört.“

Trudchen sprang plötzlich empor und verließ die Küche. Herr Gott im Himmel! Sie fühlte sich zum Sterben elend. In tollem Wirbel drehte es sich hinter ihrer Stirn, nicht anders, als ob Verstand und klares Denken in wilder regelloser Flucht begriffen seien. Sie wollte hier das fortsausende Ende eines Gedankens festhalten und konnte ihn nicht mehr haschen, und dort eine Vorstellung, die noch vor fünf Minuten in schreckensvoller Deutlichkeit sie gepackt und der sie sich nun nicht mehr zu erinnern wußte, trotz allen Sinnens; nur die dumpfe Angst vor etwas Entsetzlichem blieb.

Es war wohl die schwüle Gewitterluft, die beängstigende Stille der Natur vor dem Unwetter, das ihr die Nerven empörte?

[504] Sie klingelte und ließ Eiswasser bringen. Als Johanne das thauig beschlagene Glas vor ihr niedersetzte, wandte sie den Kopf zur Seite. „Johanne, weißt Du zufällig, wie lange die – junge Dame noch auf Niendorf bleibt?“

„Ich glaube, den Sommer über, Frau Linden,“ war die Antwort. „Es ist ja auch gut, was sollte werden da drüben?“

Trudchen biß sich auf die Lippen, sie schämte sich. Was hatte sie danach zu fragen?

„Wünschen Sie noch etwas, gnädige Frau?“

„Ich danke!“ Und sie blieb einsam in ihrem Zimmer wie alle Tage bisher. Sie hörte das Ticken des Wurmes in dem alten Holzwerke und dann und wann den Tritt der Dienerin auf dem Korridor. Mit brennenden Augen starrte sie in den sich mehr und mehr verdüsternden Himmel; ihre Hände hatten das schmale Polster der Stuhllehne umklammert, als müsse sie wenigstens äußerlich einen Halt haben.

Allmählich begann es finster zu werden, der hereinbrechende Abend, die schwarzen Wetterwolken im Verein schufen eine völlige Dämmerung, nur zuweilen leuchtete es grell auf hinter dem Geäst der Bäume. Nebenan schloß Johanne die Fenster der Schlafstube.

„Soll ich Licht bringen?“ fragte sie und schaute durch die halbgeöffnete Thür.

„Ich danke!“

„Aber gnädige Frau sollten sich doch vom Fenster fort setzen, es sieht sich so schauerlich an.“

Trudchen rührte sich nicht, und das verweinte Frauengesicht verschwand.

Da fuhr ein Windstoß durch die Bäume, wild schlugen die Zweige in einander, als erwehrten sie sich der rohen Gewalt; bis zur Erde bogen sich die schwanken Aeste und schnellten wieder empor, und in rasendem Wirbel schleuderte der Sturm Sand, abgerissene Blätter und kleine Steine an die zitternden Fensterscheiben. Und nun ein greller zuckender Blitz, ein Donner, der das Hans erbeben machte, und zu gleicher Zeit strömender, wolkenbruchartiger Regen, untermischt mit dem eigenartigen Prasseln großer Hagelkörner.

Johanne kam angstvoll, ihren Kleinen auf dem Arme, in das Zimmer der jungen Frau. „Heiliger Gott!“ schrie sie und sank vor dem nächsten Stuhl in die Kniee. Ein neuer Blitz erfüllte den Raum einen Augenblick mit leuchtend röthlichem Licht, und wie tausend Geschütze krachte der Donner nach.

„Das hat eingeschlagen, gnädige Frau, das hat eingeschlagen!“ rief sie jammernd.

Trudchen war vom Fenster zurückgetreten; sie stand mitten im Gemach. Beim Scheine der Blitze konnte die Dienerin ihr blasses unbewegliches Gesicht deutlich erkennen. Sie stützte die Hände auf die Tischplatte und schaute nach dem Fenster, als ginge das Alles sie nichts an. Und immer furchtbarer tobte das Wetter, die Welt schien in einem Flammenmeer zu stehen. Stunden schien es zu währen. Aber allmählich wurden die Blitze seltener, schwächer die Donnerschläge, zuletzt tröpfelte nur noch ein leiser Regen auf die Bäume, und im fernen dumpfen Murren erstarb das Wetter.

Trudchen öffnete das Fenster und bog sich hinaus, wunderbar duftende Luft zog ihr entgegen. weich und herb, erquickend und belebend. Und siehe, da droben hatten sich die Wolken getheilt und ein funkelndes Sternchen blickte hernieder. Dann schrak sie zurück. Von der Landstraße scholl eiliges Fahren. Peitschenknall, Menschenruf – was bedeutete das? Es war sonst todeseinsam hier um diese Zeit.

„Feuer!“ Hatte sie recht gehört? Sie konnte die Straße nicht sehen, aber sie bog sich weit hinaus und horchte auf den verhallenden Lärm. Ein rasches stürmisches Herzklopfen meldete sich. Die Gärtnerfrau kam eben eilig auf klappernden Holzpantoffeln über den spiegelnden Kiesplatz zurück, ihre schrille Stimme drang bis hinauf zu Trudchen: „David, mach’ daß Du hinüber kommst, in Niendorf brennt’s seit einer halben Stunde – die Spritze ist schon hin, mach’ fort!“

Kling, kling, kling, läutete jetzt die Glocke des Kirchleins; in Trudchens Ohr klang es markerschütternd nach. – Kling, kling, kling! Was stand sie noch und hatte die Hände fest an das Fensterkreuz geklammert, als seien sie mit ihm verwachsen? Sie hörte Thüren klappen, und Stimmen und Rufen, sie hörte, wie der Gärtner eilig aus seinem Häuschen polterte – und sie stand noch immer wie im Bann.

Wieder die hastig mahnenden Töne der stürmenden Glocke! Und wie aus schwerem Traume riß sie sich auf, und nun war sie ganz lebendig. Wie gejagt floh sie aus dem Zimmer, riß im Korridore ein Tuch von der Wand und eilte an Johanne vorüber, die mit der Gärtnerfrau und den Kindern vor der Gitterpforte stand, hinaus auf die halbüberschwemmte Landstraße.

„Gnädige Frau! Um des Himmelswillen!“ schrie Johanne hinter ihr drein. Aber sie achtete auf keinen Ruf; wie flüsterndes Gebet lag es auf ihren Lippen, nur weiter – weiter! Dunkel breitete der Weg sich vor ihr aus und einsam; die Männer, die zu Hilfe geeilt, waren längst an Ort und Stelle.

Sie flog förmlich, sie kannte keine Angst in dem finsteren Walde, sie sah nichts weiter als ein liebes altes brennendes Haus, als ein Paar einst so heiß geliebte Männeraugen. Da kam es hinter ihr in tappenden Sprüngen. Ach so – der Hund. „Komm,“ flüsterte sie und eilte weiter, ihr auf den Fersen das kluge Thier.

(Schluß folgt.)

In der Schleifmühle.

Von M. Haushofer.


Zwischen Lech und Isar schieben die Alpen eine waldreiche Hügellandschaft nordwärts gegen die bayerische Hochebene. Durch tiefdunkle Thalschluchten zieht hier der Ammerfluß in vielgewundenem Laufe der Ebene zu, am Fuße des Peißenbergs vorüber, der sich in einsamer Höhe über die Hügel erhebt und weithinschauend die stammverwandte Alpenkette grüßt.

Die mächtigen Waldungen, welche die Ufer des Ammerflusses beschatten, und die meilenlangen Moore, die sich im Norden und Osten an sie schließen, sind ein gefürchtetes Gebiet. Nicht als ob Wölfe oder Raubgesindel hier hausten. Nein – diese Wälder sind todtenstill, bis auf die hallende Holzaxt, die ab und zu in der Ferne erklingt, und auf den sehnsuchtweckenden Schlag der Walddrossel.

Aber die seelenlose Natur ist’s, die hier Unheimliches treibt. Denn das Ammerthal ist die Heimath der schwersten Gewitter, welche die südbayerische Hochebene kennt. Ueber diesen dunklen Waldungen und wasserreichen Mooren pflegen sie aufzusteigen, die riesigen Dunstgestalten des Aethers; hier sättigen sie sich mit ihrer dumpf grollenden Elementarkraft, um sich nach stundenlangem Brüten in Bewegung zu setzen und dann langsam hinauszuwälzen über die bewohnten Gelände und endlich mit zerstörender Wucht sich zu entladen.

Durch dieses Waldgefild wandern wir an einem schwülen Tage des Vorsommers der nächsten Eisenbahnstation zu, während über den blauschwarzen Ausläufern der Alpen sich eines jener berüchtigten Wetter des Ammerthales zusammenzieht. Bleigrau liegt es im Westen, geisterhaft steigt im Gewitterdunst, noch vom Schneegewande des Winters umkleidet, wie eine Zauberburg der höchste Berg des deutschen Reichs, die Zugspitze, empor.

Den Weg haben wir längst verloren, nur die Richtung nicht. Sie führt uns nach Osten, wo noch klarer Aether über beleuchteten Hügeln lacht. So sehr wir aber den Schritt beflügeln: machtlos ist alle Eile gegenüber der dräuenden Hast, mit welcher das Gewölk sich zusammen ballt, hinter uns dreinjagt und grollend sich über uns wölben will. Immer eilender wird unsere Wanderung, bald den Rand eines Hochmoores entlang, dann wieder durch hochstämmigen Fichtenwald aufwärts. Endlich scheint’s uns, als stünden wir auf dem letzten Waldrücken, von dem aus das Gelände sich abwärts senkt nach dem breiten Thale, durch welches der Schienenweg läuft. Aber schon orgelt der

[505]

In der Schleifmühle. 0Nach dem Oelgemälde von Prof. Fr. Keller.

[506] Sturm durch die Bäume; schwere Tropfen fallen nieder. Und wie der nächste gewaltige Donnerschlag den Höhepunkt des Naturdramas verkündet, sehen wir graue Dächer vor uns und eine rauchende Esse, hören das Rauschen eines Wildbachs und das Tosen eines mächtigen Rades, und stehen einen Augenblick später tief aufathmend unter einem altersgrauen Thorbogen, während draußen der Hagel niederschlägt.

Neugierig sehen wir uns um. Das Dach, das uns schirmend aufgenommen hat, gehört zu einer jener Hammerschmieden, die man nicht selten an den Bergbächen im Alpenlande findet. Durch spinnwebumzogene Fenster fällt mattes Licht in den dämmerigen Raum, wo Wasser und Feuer als dienende Knechte arbeiten. Die eine Hälfte des Raums gehört dem Feuer an; da sehen wir eine mächtige Esse mit einem schwerfälligen Gebläse; daneben ein Paar schwere, durch ein Mühlwerk getriebene Hämmer. Jetzt rasten die Hämmer; aber der blanke Ambos unter ihnen und die umherliegenden Werkstücke zeugen von unlängst beendeter Arbeit. Im anderen Theile der Werkstatt trieft es und rieselt. Aus dickem gelbgrau gefärbtem, schlammüberkleidetem Gebälk ragt ein Paar riesiger Schleifsteine hervor. Ein altes hölzernes Zahnrad, braun und ungeschlacht, das mit dem Mühlrade draußen in Verbindung steht, schwingt sich knarrend um seine wuchtige Achse und dient dazu, die einzelnen Theile des Werks, das Gebläse, die Hämmer und die Schleifsteine, in Bewegung zu setzen. Das Ganzem scheint wie von Cyklopenhänden geschnitzt zu sein.

Nur ein einziger Arbeiter ist in der Werkstatt beschäftigt, ein alter, aber kräftig gebauter Mann. Triefend von dem umhersprühenden Schleifwasser, die Augen durch dicke Gläser gegen die umherfliegenden Stahlsplitter geschützt, sitzt er reitend auf einem Balken vor dem sausenden Schleifsteine und prüft die Schneide eines schweren funkelnden Beiles, an dem er arbeitet. Und so vertieft ist er in sein Werk, daß er nicht auf das kleine Mädchen achtet, welches hinter ihm steht, in den Händen ein Schüsselchen Suppe für den Großvater. Erst wie sie ihn mit heller Stimme anredet, rückt er sich die Brille auf die Stirn hinauf, nickt dem Mädchen zu, stellt den Stein bedachtsam in Ruhe und steigt von seinem harten Sitze herab, um sein einfaches Abendmahl zu verzehren. Nun erblickt er auch uns Fremdlinge und wird des Regens und des Hagels gewahr, der draußen auf die Straße niederstäubt. Ein gutmüthiges Lachen und ein verständnißvoller Blick zeigt uns an, daß er sich freut, wenn ihm das Unwetter Stadtleute in seine einsame Werkstatt getrieben hat. So setzen wir uns zu dem Manne auf eine Holzbank vor dem Thore, geschützt durch das vorspringende Dach, und reden mit ihm über seine Arbeit und sein Leben, während er behaglich seinen Bierkrug leert.

Der Mann spricht anfangs nur von seinem Geschäft und von der Umgebung; aber wie der Regen leiser und leiser niederrieselt und zuletzt Streifen eines nassen Abendsonnenlichts über die triefenden Wälder hinfließen, scheinen ihm alte Erinnerungen aufzutauchen, Erinnerungen, bei welchen er mit stiller Resignation nicht ungern verweilt. Und wie wir, während die letzten Tropfen des Unwetters niederfallen, ihm die hartgearbeitete Hand drücken, um auf dem Fußsteig, den er uns gewiesen hat, die nahgelegene Bahnstation zu erreichen, hat er uns in den rauhen Worten seines Hochlandsdialekts seine Geschichte erzählt. Sie läßt sich mit wenigen Worten wiedergeben.

Seit einem halben Jahrhundert arbeitet der alte Schleifer in derselben Hammerschmiede. Einst hatte neben ihm an dem anderen Steine sein Bruder Florian gesessen. Das ist lang, lang vorbei. Flotte, schneidige Bursche waren sie beide gewesen, der Hans und der Florian. Treu hatten sie zu einander gehalten; und wenn es irgendwo bei einer Kirchweihe eine Schlägerei gegeben hatte, dann hatten allzeit die beiden Hammerschmiedgesellen das Feld behauptet, weil sie gewohnt waren, einander in die Hände zu arbeiten. Den Beiden war kein Stein, kein Werkstück zu schwer gewesen. Und wenn ein neuer Schleifstein auf seine Achse gebracht war, dann hatt’ es immer einen edlen Wettstreit zwischen den beiden Brüdern gegeben, wer von ihnen zuerst die gefahrdrohende Arbeit wagen dürfte, den unheimlichen sausenden Block zu versuchen. Denn es ist in den Schleifmühlen nichts Unerhörtes, daß solch ein neuer Stein, der etwa innerlich einen Sprung hat, bei seiner ersten Benützung zerspringt und centnerschwere Bruchstücke mit der zerstörenden Gewalt von Granatsplittern umherschleudert.

Florian war verheirathet gewesen, Hans nicht. Und als eines Tags wieder ein neuer Stein auf die Achse gebracht worden war, der beiden Brüdern verdächtig erschien, da hatten sie wieder gestritten, wer den Stein versuchen dürfe. Umsonst hatte Hans den Bruder gebeten, an Weib und Kind zu denken und ihn, den ledigen, an den gefährlichen Posten zu lassen. Der Florian aber war eigensinniger gewesen als je zuvor, und schweren Herzens hatte Hans endlich nachgegeben. Und wie er befürchtet hatte, so war’s gekommen. Mitten im tollsten Umschwung war der Stein in Trümmer gegangen; eines der Trümmer hatte den arbeitenden Florian zum Tode getroffen, und sterbend hatte er in den Armen des Bruders gelegen und demselben Weib und Kind empfohlen.

Ein Jahr später hatte Hans die Wittwe des Bruders geheirathet. Sie war früh gestorben, und ihre einzige Tochter auch. Und nun haust der alte Schleiferhans mit dem einzigen Enkelkinde des Bruders zusammen. Die Kleine bringt ihm Tag für Tag Mittags und Abends die Mahlzeit in die Werkstatt. Wenn sie mit ihrer jungen Stimme ihn daran erinnert, daß sie da sei, legt er das Werkstück weg und stellt den Stein in Rast; dann schaut ihn der Bruder aus den hellen Augen des Kindes an. Aber das Kind wäre gar nicht nöthig, ihn an den Todten zu erinnern; denn der alte Mann hat ein treues Gedächtniß; und der Platz, auf dem er sitzt, der sausende Stein und das rieselnde Wasser sind heute noch so, wie sie damals waren – vor fünfunddreißig Jahren; und während die Stahlsplitter und Wassertropfen den alten Schleifer umsprühen, hat er Zeit und Veranlassung genug, der Vergangenheit zu gedenken.

Die rieselnden Wellen des Baches, der die Schleifmühle in Bewegung setzt, begleiten uns zur Bahnstation. Und während das Unwetter fern im Nordosten weitertobt, fällt auf die endlosen Wälder hinter uns breit und goldig das Abendlicht, und in diesem Lichte glitzert auch das nasse Dach der alten Schleifmühle, in welcher jetzt wieder der weißbärtige Schleiferhans vor seinem Steine sitzt und darüber nachdenkt, wie das Leben und die Wasser weiterrieseln.


Kulturhistorische Modebilder.

2.0 Die Geschichte vom Frack.
Von Karl Braun-Wiesbaden.


Es ist merkwürdig, wie wirkungslos die Angriffe der Schriftsteller gegen die herrschende Mode, namentlich gegen die Kleidermode, abzuprallen pflegen, mögen diese Angriffe auch noch so geistreich und gelehrt sein. Es sind erst einige Jahre her, daß der schneidige Aesthetiker Friedrich Theodor Vischer in Stuttgart seine Streitschrift „Mode und Cynismus“ losließ. Sie wurde von Allen gelesen, von Vielen bewundert und sogar von Tausenden gebilligt. „Er hat eigentlich Recht,“ sagten sie Alle. Aber trotz der Zustimmung, des Beifalls und der Bewunderung hatte sie nicht die mindeste Wirkung. Die Dinge blieben „uneigentlich“, wie sie waren. Allerdings hat die damalige Damenmode, gegen welche vorzugsweise Vischer sein schweres Geschütz auffuhr, in verschiedenen Stücken seitdem gewechselt, wie es ja gleichsam ihr Beruf ist, ewig zu wechseln; aber gerade diese Aenderungen – wie z. B. die Tournüre und die wieder im Anzug begriffene Krinoline, auf Deutsch „Reifrock“ – werden am allerwenigsten Vischer’s Beifall erringen.

Alles Das fiel mir ein, als ich kürzlich einen heftigen Angriff gegen den Frack las. Ich kann mir die Möglichkeit denken, daß die Mode wechselt, daß z. B. für Damenkleider in Zukunft [507] Wien oder Berlin in derselben Weise tonangebend wird, wie es bisher Paris war. Auch können wir uns der Wahrnehmung nicht verschließen, daß jetzt schon in nmnchen Stücken, wie z. B. in Allem, was auf den Sport Bezug hat, die englischen Herrenmoden auf dem Festlande einen großen Einfluß ausüben. Allein der Frack ist, was seine Grundform anlangt, überhaupt keine Tagesmode, sondern eine stationär gewordene Tracht, eine stehende Gesellschafts- und Kulturform, welche hundert Jahre Geschichte hinter sich hat und gewiß auch noch einige Jahrzehnte Zukunft vor sich. Wie oft schon hat man Sturm gegen denselben gelaufen, namentlich auch in Deutschland! Ja, es ist immer Deutschland gewesen, das über eine „Nationaltracht“ philosophische Betrachtungen angestellt, aber es mit deren praktischer Durchführung nur zu sehr bescheidenen Anfängen gebracht hat. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts entstand in England und Frankreich eine plötzliche Umwälzung der Tracht, welche man in Deutschland sklavisch mitmachte.

Am 10. Januar schreibt ein Berliner Korrespondent in dem „Journal des Luxus und der Moden“:

„Fast jeder Stand, fast jede Klasse, z. B. das Militär (nämlich außer der Uniform), die Akademien, die junge Kaufmannswelt, der junge Adel der Höfe und Residenzen, hat seine eigenen Uebertreibungen und Karikaturen im Kostüm. England und Frankreich lieferten aber Deutschland immer die ersten Originale dazu und waren stets die Klippen, an denen der Verstand und gute Geschmack unserer jungen Welt so oft scheiterte. Frankreich stellte uns erst seine süßen Petitmaitres und Elegants, hernach seine cynischen Sansculottes und nun seine wildfreien Incroyables, sowie England seine Maccaronis, Fine gentlemen und Bloods auf, und unsere jungen Deutschen französirten und englisirten sich nach Herzenslust und schraubten natürlich die Wirbel noch um etwas höher, um doch auch Etwas von dem ihrigen hinzuzuthun.“

Der Korrespondent liefert in der beigegebenen Zeichnung einige Musterbilder aus Berlin, denen an Haar und Hut, Halstuch und Frack bis auf „lange, weite Matrosenhosen von Nanking im Winter“ nichts von der ganzen revolutionären Stutzerherrlichkeit abgeht. (Siehe Jakob von Falke, „Die deutsche Trachten- und Modenwelt“, Bd. II, Seite 316 und ff.)

Je schlimmer die Wirklichkeit sich gestaltete, desto mehr schwärmte man für Ideale. Ein „teutscher Patriot“ schlug eine Nationaltracht vor. Die Anhänger dieser „Idee“ sollten sich an jedem Orte, sei er groß oder klein, zu Vereinen zusammenthun, sich durch Unterschriften verpflichten, Beiträge zeichnen, und an einem und demselben, von der Centralleitung zu bestimmenden Tage sollten dann alle die zahllosen Mitglieder dieser zahlreichen Vereine auf der Straße in der „Nationaltracht“ erscheinen – mit dieser Thatsache sei die große Reform endgültig festgesetzt und erschienen.

Natürlich ist aus der Sache nichts geworden. Statt der Nationaltracht kamen die Fremdherrschaft, die Franzosenzeit, die französischen Moden.

Als aber das französische Joch abgeworfen war, da waren es die deutschen Studenten. welche auf den Gedanken der Nationaltracht zurückkamen. Sie erfanden „die deutsche Tracht“ und wußten derselben Eingang zu verschaffen, wenigstens unter einem Theile der Studenten, nämlich unter denjenigen, welche zur Burschenschaft gehörten oder sich zu ihr hielten.

Allein Alledem wurde durch die Reaktion, die seit 1819 immer mächtiger und rücksichtsloser auftrat, ein Ende gemacht. Wer einen deutschen Rock mit übergeschlagenem Hemdekragen trug, hatte sicher Anwartschaft auf das Gefängniß. Denn diese Tracht galt für „denmgogisch“. Sie dauerte beinahe vierzig Jahre, diese grausame Verfolgung einer harmlosen Jugend – wie uns solche Fritz Reuter in seiner „Festungstid“ schildert – und erst Friedrich Wilhelm IV. machte derselben ein Ende für Preußen, wo sie am schlimmsten grassirt hat.

An diese „Nationaltracht“ von 1798 und 1820 wurde ich lebhaft erinnert, als ich einen Aufsatz des Professor Bruno Meyer las, welcher Aufsatz vor Kurzem die Runde durch die deutschen Zeitungen gemacht hat. Namentlich druckten die Blätter seine Polemik gegen den Frack ab, welche lautete wie folgt:

„Eins aber ist zur Reform der männlichen Kleidung unbedingt und sofort nothwendig: die Abschaffung des Fracks. Es ist schon im Princip unrichtig, für feierliche Gelegenheiten eine bestimmte Kleiderform zu monopolisiren, und nun gar eine von allen im gewöhnlichen Leben gebräuchlichen Kleiderformen abweichende. Praktisch erreicht man damit gerade das Gegentheil von dem Beabsichtigten: Es werden durchschnittlich schlechtere Kleider in der Gesellschaft getragen, als bei stetem Wechsel geschehen würde, und was gar im formellen amtlichen Verkehr für ‚Hüllen‘ Verwendung finden, weil es ja doch einmal bei bestimmten Gelegenheiten diese und keine andere Form sein muß, das glaubt man nicht, wenn man es nicht gesehen hat. – Man verlangt doch von den Damen nichts dergleichen. Denn auch das ausgeschnittene Kleid ist schon längst nur noch in der Hofgesellschaft unumgänglich und wird doch vor allen Dingen sehr vielfach auch in gewöhnlicher Toilette getragen. Und warum sind denn selbst gegenüber der strengen Hofetikette unter dem Namen von Uniformen, National- und Amtstrachten u. dergl. alle möglichen Formen von Anzügen zulässig? Also fort mit einem einzigen, sonst im Leben nicht getragenen Gesellschaftskleidungsstück! Und vollends zehnmal fort damit, wenn es sich um ein Kleidungsstück von solcher Sinn- und Geschmacklosigkeit handelt, wie der Frack ist. Sollte es in unserer Zeit, in der durch Vereinigungen und Vereine so manches Vernünftige bewirkt und ins Leben gerufen wird, gar nicht möglich sein, in der angedeuteten Richtung einen Fortschritt anzubahnen?“

„Unbedingt und sofort“ – „Vereinigungen und Vereinen“ – so hieß es auch 1798 und 1820. Gewiß ist das Alles gut gemeint und schön gesagt, und ich bin weit entfernt, dem Aesthetiker und Kulturhistoriker in Sachen des Geschmacks zu widersprechen. Aber

„Die Botschaft hör’ ich wohl,
Allein mir fehlt der Glaube,“

namentlich der Glaube an daa „Sofort und Unbedingt“.

Ich möchte mich nicht zum Lobredner, sondern zunächst nur zum Geschichtschreiber des Fracks machen und dann kurz das „Für“ und „Wider“ unparteiisch gegen einander abwägen.

Wir wissen, wie der Zopf die Perücke verdrängt hat, wie der Zopf ursprünglich ein Symbol der Aufklärung, und wie z. B. Friedrich der Große so recht der eigentliche Vertreter des Zopfes war; wie aber dann allmählich der Umschwung eintrat und im Laufe unseres Jahrhunderts der Zopf als Zeichen des Rückschritts und der Geschmacklosigkeit angesehen wurde und dann verschwand, als wenn er nie existirt hätte.

Ungefähr um dieselbe Zeit, wie der Zopf, ist auch der Frack aufgekommen, aber er hat mehr Widerstandsfähigkeit und Lebenskraft bewiesen, als jener. Vielleicht deßhalb, weil er ursprünglich aus militärischen und ritterlichen, insbesondere aus kavalleristischen Kreisen hervorging, was man freilich dem Fracke von heutzutage, namentlich dem Fracke der Kellner und dem sogenannten „Loyalitätsfracke“ nicht mehr ansieht. Und doch ist es so. Denn Folgendes ist die Genesis, die Entstehungsgeschichte des Fracks.

Dem Reiter waren die vorn lang herabhängenden Rockschöße zuweilen im Wege. Gegen Regen und Unwetter waren sie auch nicht sehr dienlich; dazu hatte man ja den Mantel.

So kam man denn auf den Einfall, die Rockschöße nach hinten zurückzuklappen. Auf jeder Seite hinten wurde ein Haken oder ein Knopf angebracht, mittelst dessen man den vorderen Rockzipfel nach hinten und nach oben zurück- und hinaufknöpfte, so daß das Rockfutter nach außen sichtbar wurde. Dadurch, daß nun das Rockfutter, das bis dahin, nach innen gekehrt, dem stillen Veilchen gleich nur im Verborgenen blühte, an das Licht der Oeffentlichkeit trat, wurde man genöthigt, demselben eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Man liebte damals eine gewisse Buntheit und Vielfarbigkeit in der Kleidung, auch bei den Männern; – alle Welt trug „zweierlei Tuch“, nicht nur die Soldaten. Beinahe jeder Stand hatte eine, nicht auf dem Wege des Befehls und der Mannszucht, sondern auf dem der Ueberlieferung, der Gewöhnung und der Sitte eingeführte besondere Tracht und Farbe der Kleidung.

Noch zur Zeit unserer Großeltern hatte der Schulmeister einen hechtgrauen, der Müller einen blaugrauen, der Jäger einen hellgrünen, der Gerber einen lohfarbenen, der Schneider und der Maurer einen dunkelblauen, der Leineweber einen hellblauen, der Schäfer einen weißen, der Professor einen kaffeebraunen, der Fleischer einen rothbraunen und der Musikus einen zimmetfarbenen [508] Rock an. Die Farben der vier Fakultäten der heutigen Hochschulen sind noch ein schwacher Rest unserer vormals so mannigfaltigen Farbenschattirung. Schwarz trugen damals nur die Rathsherren, die Priester, die Scholarchen, die Trauernden und die Schornsteinfeger.

Die Welt war eben damals noch bunter, und selbst auf dem Gebiete der militärischen Tracht herrschte noch viel mehr Freiheit. Die eigentliche „Uniform“ datirt von Friedrich dem Großen, der nicht nur den Zopf, sondern auch den Frack generalisirte, letzteren auch für den Fußgänger, das heißt die Infanterie, einführte und so die Armee uniformirte; und da er ein guter Finanzmann und überall, wo es unbeschadet der Sache ging, auf das Sparen bedacht war, so fand er es schließlich besser, statt den Rockzipfel umzuschlagen und aufzuknöpfen, ihn kurzweg abzuschneiden. Das war einfach und billig. Also hat schon an der Wiege des Frackes die Sparsamkeit gestanden. Die doppelten Farben aber behielt man bei, nicht nur für die Schöße, sondern auch für die Brustklappen und für die Kragen, nur suchte man deren Flächen zu beschränken, denn das rothe Tuch war sehr theuer, und man wollte und mußte ja sparen.

Der Frack, der Uniformsfrack, stieg in der Achtung mit den Männern, welche ihn trugen. Seit dem Siebenjährigen Krieg galt die preußische Armee für die beste. Ein Jeder wollte auch in der Kleidung ihr möglichst ähnlich werden. Auch die Leute vom Civil schnitten ihren Rock zu nach dem Muster der Herren Officiere. So ist der bürgerliche Frack entstanden. Allein auch an seiner Wiege hat als Gevatterin die Sparsamkeit gestanden. Sie hat den mehrfarbigen Frack in den einfarbigen und schließlich in den schwarzen verwandelt. Daß dabei die Goldstickereien, die Schnüren, Borten, Litzen und sonstigen Verzierungen, wegfielen, versteht sich von selber. Schon kurz nach dem Siebenjährigen Krieg kam etwas Aehnliches wie der schwarze Frack auf. Ich finde dafür einen Anhaltspunkt in dem interessanten Werke des Herrn von Rohr. Es ist 1765 erschienen und „Anleitung zur Klugheit“ betitelt. Ein Kapitel handelt Kapitel handelt „von der Klugheit, welche man beim Reisen zu beobachten hat.“

Darin finden wir unter Anderem folgende Regel:

„Trage auf Reisen zwar reinliche und propere, aber nicht verchamerirte Kleider (das ist buntfarbige, goldgefaßte oder bordirte Röcke, das sogenannte habit habillé). Denn in einem bordirten Rock wirst Du hin und wider für einen Abenteurer gehalten werden; auch mußt Du überall mehr bezahlen, und die Leute stellen Dir überall nach, weil man Dich für reich hält. Am Besten thust Du, an fremden Orten in einem einfachen schwarzen Kleide zu gehen, namentlich wenn Du Ursache hast zu ökonomisiren. Du kannst ja einen Trauerfall als Ausrede gebrauchen. Auf diese Art kannst Du in einem und demselben Anzuge in alle Gesellschaften gehen, während Du sonst mit Anzügen wechseln müßtest.“ (Damals war es also auch mit den Herren so, wie jetzt mit den Damen, welche während einer jeden Saison drei oder vier verschiedene neue Kleider produciren müssen, wenn es nicht heißen soll „Gott, die kommt immer in demselben,“ das ist: Anzug). „In einem schwarzen Anzuge kannst Du Dich ausgeben für was Du willst. Allerdings mußt Du doch vielleicht neben dem schwarzen Anzug noch einen verchamerirten haben, damit Du, wenn Groß-Galla ist, bei Hofe erscheinen kannst. Denn da kann Dir auch die Ausrede der Trauer nichts helfen.“

Der neue Frack.
Nach dem Oelgemälde von Carl Schlösser.

Wir sehen hier wieder einen Fortschritt. Vor hundert Jahren war der schwarze Frack bei Hof noch verboten. Heute ist er schon längst hoffähig geworden. Damals erschienen gerade die frechsten und verlogensten Abenteurer, wie z. B. der berüchtigte Casanova de Seingalt, in den glänzendsten Anzügen, welche man „Phantasie-Uniformen“ nannte. Durch traurige Erfahrungen belehrt, ist man heutzutage bei Hof nicht nur vorsichtiger, sondern auch toleranter geworden. Die „Phantasie-Uniformen“ sind nicht mehr statthaft. Jeder soll das Kleid tragen, das ihm zukommt, und wer eine Uniform zu tragen weder berechtigt noch verpflichtet ist, der kommt im einfachen, schwarzen, bürgerlichen Frackrock, selbst bei Einladungen der Kaiserin und des Kaisers. Ja, ich habe sogar schon zuweilen bei dem Hof in Berlin den Frack in der Mehrheit gesehen. Es war namentlich so zur Zeit des konstituirenden Reichstages im Jahre 1867.

In der Armee ist der Frack dem Waffenrock, der Dreimaster und der Tschako dem Helme gewichen. Die Fürsten aller Länder haben den kostbaren und umständlichen Kostümen von ehedem die knappe und kleidsame militärische Uniform vorgezogen. Dies ist indeß erst seit dem Zeitalter Friedrich’s des Großen. Früher trug man die spanische Tracht. Der eitele Ludwig XIV. zeigte sich niemals anders. Auch auf den Bildern, welche seine Schlachten und Eroberungen verherrlichen, steckt er stets in jenen umständlichen und verzwickten Kleidern, welche es ihm nicht erlaubten, zu Pferde zu steigen oder seine Soldaten selbst in das Feuer zu führen. Dafür hielt er sich seine Leute. Er fuhr in der großmächtigen Kutsche.

In der bürgerlichen Gesellschaft dagegen hat der schwarze Frack sich immer breitere, tiefere und ausgedehntere Schichten erobert. Ich sage mit Nachdruck: Der schwarze Frack! Denn die farbigen Fräcke sind längst schon verschwunden. Der junge Goethe hatte in Weimar, seinem „jungen Werther“ zu Lieb und zu Ehren, den blauen Frack mit gelben Knöpfen eingeführt. Allein Weimar war doch die Welt nicht. Ich selbst habe noch den alten August Wilhelm von Schlegel in einer jugendlichen Perücke und einem hellbraunen Leibrock zu Bonn auf dem Katheder gesehen, worüber sich die akademische Jugend höchlichst ergötzte. Aber der braune Frack, wie der blaue, sind schon lange verschwunden. Der schwarze allein ist geblieben. In ihm darf man vor dem deutschen [509] Kaiser und vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten erscheinen, und Napoleon III. hat ihn mit Vorliebe getragen.

Gewiß ist, man kann auch von dem Frack mit den Worten des Homer prophezeien:

„Einst wird kommen der Tag, wo verschwindet der schwärzliche Frackrock.“

Einstweilen aber erfreut sich das Kleidungsstück noch einer mächtigen Herrschaft, welche sich über alle fünf Welttheile erstreckt.

Gewiß hat Professor Bruno Meyer Recht: Ein schäbiger Frack ist etwas sehr Schäbiges. Gewiß ist es fast unglaublich, was selbst im amtlichen Verkehr für verwahrloste Fräcke zum Vorschein kommen. Aber die schlimmsten, nämlich die „juristischen Fräcke“ sind ja durch die Talare beseitigt, welche so Vieles „gnädig verhüllen“. Allein, wie ist es denn mit dem Cylinder? Ist etwa ein schäbiger Cylinder weniger schäbig, als ein schäbiger Leibrock?

Ohne Zweifel giebt es auch viel geistreiche Männer, welche den Frack für „sinn- und geschmacklos“ erklären. Allein was beweist das? Seit den Zeiten der alten Griechen und Römer waren die Kleidungsstücke, welche der „gute Ton“ vorschrieb und die in der vornehmen Gesellschaft erfordert wurden, selten sehr sinnreich oder geschmackvoll. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur die großen Kostüme-Werke von J. H. von Hefner-Alteneck, oder von A. von Eye und Jakob von Falke durchzublättern.

Auch Das muß zugegeben werden, daß der Frack einigermaßen „abweicht von den im gewöhnlichen Leben üblichen Kleiderformen“. Allein hat er das nicht gemein mit den Festkleidern aller Zeiten und aller Völker? Und ist das nicht gerade der Beruf und die berechtigte Eigenthümlichkeit des festlichen Gewandes, daß es abweicht von den Arbeits- und Werkeltagskleidern?

Endlich gebe ich bereitwillig zu: der Frack ist vielfach mißliebig, besonders in Deutschland. Dies hat aber seinen Grund weniger in den soeben hervorgehobenen Ausstellungen, als vielmehr darin, daß man bei uns sehr oft in Zweifel geräth, wann man im Frack erscheinen muß und wann nicht. Es hat sich darin eine unzweifelhaft und überall feststehende Lebensgewohnheit noch nicht ausgebildet. Allein daran ist nicht der Frack schuld. Derselbe Mangel zeigt sich auf vielen anderen Gebieten der Sitten und Gepflogenheiten. So ißt bei uns z. B. Jeder zu einer anderen Stunde zu Mittag. Nicht einmal in einer und derselben Stadt und in einer und derselben Gesellschaftsklasse herrscht die nämliche Stunde als Regel. In Berlin muß ich erst Erkundigung einziehen: „wann speist der Mann?“ – wenn ich ihn besuchen will, ohne zu stören. Diese Mannigfaltigkeit erschwert uns das Zusammenleben, während in England das Alles durch einen bei Allen gleichmäßig in Ansehen stehenden, wenngleich ungedruckten Sittenspiegel der Art einheitlich geregelt ist, daß ein Jeder weiß, was er zu thun und zu lassen hat. Jedermann weiß, daß er die Gabel nicht in die Rechte nehmen, daß er den Fisch nicht mit dem Messer traktiren, daß er überhaupt das Messer nicht nach dem Munde führen, und daß er nicht ohne Frack und nicht mit bunter Kravatte in dem Parterre der großen Oper erscheinen darf, ohne zu riskiren, daß er nicht mehr als Gentleman gelte. Vielleicht könnte man durch Vereine für einheitliche Regelung unserer Gesellschaftsgewohnheiten wirken. Aber auch Tausende deutscher Vereine vermögen nicht die Stellung des Fracks zu erschüttern. Denn diese Stellung ist nicht deutsch, sondern international, ja europäisch oder vielleicht gar tellurisch. Pflegt doch selbst King Bell in Kamerun bei großen Feierlichkeiten ausschließlich im Frack zu erscheinen!

Jedenfalls hat der Frack, wie er jetzt ist, zwei große Vorzüge vor allen seinen Vorgängern: es kostet wenig Geld ihn anzuschaffen, und wenig Zeit, ihn anzuziehen.

In England sagt man: Das Parlament kann Alles, nur nicht aus einer Frau einen Mann machen.

In Deutschland könnte man sagen: Der Reichskanzler kann Alles; aber den Frack abschaffen, das kann auch Er nicht.


Unruhige Gäste.

Ein Roman aus der Gesellschaft.
Von Wilhelm Raabe.
(Fortsetzung.)


11.

Ich meine,“ sagte Veit, „wir lassen nunmehr den Bruder und meinen guten Freund Prudens für die nächsten Wege ebenfalls noch ganz aus dem Spiel; außer daß wir ihm vielleicht eines von diesen Kindern schicken, um ihm zu bestellen, daß auf der Vierlingswiese Alles in Ordnung gebracht sei. Es giebt wohl noch einen anderen Weg zum Vorsteher und dem Meister Schreiner im Dorfe, als den an der Pfarre vorüber?“

Phöbe nickte und sagte:

„Wie Sie wünschen. Ich bin so glücklich und Ihnen so dankbar!“

„Weil ich Ihnen in der Thorheit und im leeren Pathos des Moments eine Grabstelle auf dieser schönen Erde, inmitten dieses holden Sommers und in der Blüthe Ihrer neunzehn Jahre im Voraus mit Beschlag belegt habe?“ murmelte Veit, jetzt mit innerlichstem Selbstvorwurfe das eben im Sturm Vorübergerauschte überdenkend und vergebens versuchend, es sich zum gegenwärtigen und – künftigen Behagen zurechtzulegen.

Doch die Schwester seines Jugendfreundes lächelte:

„Ich bin wohl, wie Sie ja auch schon wissen, etwas älter. Auch das Uebrige wird Gott fügen, wie er will. Was Sie mir geben wollen, wäre nur ein Geschenk wie jedes andere. Es würde wirklich der erste Fleck Landes sein, der mir als Eigenthum gehörte; aber ich weiß ja so wenig wie Sie, ob wir noch Anspruch daran und Gebrauch davon machen können, wenn der Herr gesagt hat: ‚es ist Zeit; kommt!‘“

Sie sprach Dieses bereits vor der Thür der Hütte, mitten im blühenden Leben und Sonnenschein der Sommertagswelt. Viele Menschen hatte ihr Begleiter auf seinen Wanderungen durch die Städte und Länder kennen gelernt und hatte sie reden hören; aber Niemanden gleich dieser Idiotenlehrerin aus Halah. Und wie es um das Eigenthum und den Besitz auf Erden stand, das war ihm auch nie so deutlich geworden, wie jetzt, wo die Aufregung der vorigen Minuten sich gelegt hatte und er sich bei voller Besinnung für alle Zeit als ihr Eigenthumstheilhaber und Grund- und Bodennachbar gebunden empfand.

Er bot ihr nun nochmals seine Hand beim Ueberschreiten des kleinen Wasserlaufes auf der Wiese, und sie nahm sie jetzt und ließ ihm, ohne Scheu, in tiefen Gedanken, die ihrige bis unter die einzelnen Tannen, dem Dorfe zu. Von dort gingen sie, jedes für sich, auf dem andern Wege ins Dorf, um mit dem Vorsteher und dem Meister Tischler zu reden; und fast aus jedem Hause und über jeden Zaun blickten ihnen respektvolle Gesichter von Alt und Jung entgegen und nach, und Einer sprach zum Andern:

„Das ist der fremde Herr, der sich auf der Pläsirreise die Unkosten machen und die Fee begraben will!“

Bei dem Vorsteher trafen sie den Gemeinderath fast vollzählig beisammen; und Veit erfuhr wiederum, aber zu geringer Verwunderung, in welcher übeln Stimmung sich das Dorf gegen seinen Pastor verhielt, und wie der Letztere eigentlich nur durch seine Schwester vor einer offenen Rebellion seiner Gemeinde gegen ihn bewahrt wurde. Aber Alle waren selbstverständlich höchlichst damit einverstanden, wie nunmehr dem Besen ein Stiel gegeben werden und der nichtsnutzigen Affaire mit dem Volkmar Fuchs zu einem friedfertigen Ende verholfen werden sollte. Alle versprachen gern, ihr Bestes zu thun, daß das Begängniß von der Vierlingswiese her ohne unnöthiges Zudrängen vom Dorfe aus ablaufe – womöglich am nächsten Morgen schon, in der frühesten Frühe. –

Beim Vorsteher hielten sich Veit und seine Führerin nicht länger auf, als unumgänglich nöthig war. Sie gingen nunmehr zu dem Schreiner, und der Gastfreund fragte:

[510] „Was ist das für ein Mann? Das Wohlwollen der Gemeindegenossen scheint er gerade nicht für sich zu haben.“

Da lächelte Phöbe und meinte:

„Einer meiner besten Bekannten hier im Orte und, wie er selbst sagt und ich auch glaube, mein guter Freund. Ich kenne so wenig von den Menschen überhaupt; doch ich glaube, daß er wirklich Zuneigung zu mir hat und es mit uns zum Besten meint. Er ist gleichfalls weit in der Welt herumgewesen und kann wunderlich darüber reden. Es ist mir lieb, daß Sie ihn kennen lernen werden. Spörenwagen heißt er.“

„Beste Bekannte – gute Freunde von Ihnen, freundliche Nachbarin, muß ich immer zu den meinigen rechnen dürfen.“

„Er ist auch vor Jahren der gute Freund des armen Volkmar gewesen; aber um die arme Anna sind sie auseinander gekommen und leider bittere Feinde geblieben bis heute.“

„Hm,“ meinte der Professor, „da bedarf es denn wohl eines neuen Kampfes?“

„Ich glaube nicht,“ sagte Phöbe. –

Sie hatten seitwärts vom Dorfe eine ziemliche Strecke entlang eines vom eisenhaltigen Boden röthlich-braun gefärbten Baches zwischen Laubgebüsch und mächtigen Steinklötzen zu wandern, ehe sie zu der Werkstatt und Behausung des Meisters Spörenwagen gelangten; und sie fanden, oder vielmehr Herr Veit von Bielow fand, in der That einen Mann, der wohl einer näheren Bekanntschaft werth war, bei der Arbeit.

„Ich bin es, Herr Spörenwagen,“ sagte Phöbe, den ortsgewohnten Gruß anfügend: „Glück auf!“

„Besten guten Morgen, mein Fräulein; guten Morgen, mein Herr,“ erwiderte ein zäher trockener Junggesell, sich von seiner Hobelbank aufrichtend und mit unverkennbarem, weltmännischem „zu benehmen wissen“ ein gesticktes Troddelmützchen von einem bereits ziemlich kahlen Schädel lüftend.

„Ein Jugend- und Universitätsfreund meines Bruders; Herr von Bielow!“ sagte Phöbe, ihren Begleiter vorstellend.

„Mein Name ist Spörenwagen. Habe bereits die Ehre gehabt, von dem Herrn Baron zu vernehmen – ’s trägt sich schon um, und nicht bloß bei uns hier im Dorfe, wenn Einer den Geldbeutel zieht, wo er es gar nicht nöthig hat.“

„Sie wissen also so ziemlich genau, weßwegen wir zu Ihnen kommen, Herr Spörenwagen?“ fragte Veit.

Der Meister nickte, ein paar Schemel mit seinem blauen Handwerksschurz abfegend.

„Wollen die Herrschaften nicht einen Augenblick Platz nehmen? Fräulein Phöbe, Sie wissen ja schon, so leicht kommen Sie nicht wieder fort, wenn ich einmal die Ehre von Ihnen habe. Und im gegenwärtigen Fall ist wohl noch Einiges etwas genauer zu besprechen. Nämlich Sie kommen mir eigentlich recht in die Quere, Herr Professor.“

„Wieso, Meister?“ fragte Veit nicht ohne einige Verwunderung.

Spörenwagen, seinen Hobel ausblasend, deutete auf seine Arbeit:

„Nämlich seit gestern Abend, wo die Nachricht vom Abscheiden der Frau von der Vierlingswiese zu mir gebracht ist, bin ich am trübseligen Werke, ohne auf officielle oder gar gütige Bestellung gewartet zu haben. Warum? darum! Wenn der Herr Baron von meinem Verhältniß zu dem Rä–, dem Volkmar Fuchs genauer Bescheid wüßte, so könnte er sagen: Nun ja, in solchem Falle thut man eben für seinen schlimmsten Feind mit Vergnügen, was man für seinen besten Freund mit Schmerzen thäte. – Aber so ist es nicht! Fräulein Phöbe weiß es hoffentlich, so ist Spörenwagen nicht! – Weßhalb denn aber? Etwa weil sich für einen vernünftigen Menschen, der nicht auf dem Miste, auf den ihn seine Mutter hingesetzt hat, sitzen geblieben ist, sondern aber sich in der Welt umgesehen hat und bis ins Ungarland und weiter gewesen ist, Mancherlei klar giebt, was seinen umwohnenden, angestammten, eingeborenen Mistfinken in Ewigkeit dunkel bleibt? allgemeines Wohl – öffentlicher Nutzen – selbstverständliche Sanitätsgesundheitslehre! Auch wohl mit; aber – für einen armen Teufel wie Unsereinen doch kein hinreichender Grund, sich privatim zur Aushilfe anzubieten –“

„Die Betrübniß ist es,“ sagte Phöbe. „O, zählen Sie nur nicht weiter auf, was es Alles sein könnte, weßwegen Sie die ganze Nacht an dieser traurigen Arbeit gewesen sind, Spörenwagen. Das Mitleid und die Erinnerung an vergangene Tage. Ich weiß es ja freilich, wie es vor Jahren anders gekommen ist, als Sie es sich zu Ihrem und der armen Anna Glück auf Erden vorgestellt hatten. Das hat Gott nicht so gewollt; eine lichte Stelle hat er in Ihrer Seele erhalten wollen; und in der vorigen Nacht hat der Schein Ihnen bei der Arbeit geleuchtet, und Sie haben eine gute Nacht bei dem bittern Werke gehabt und brauchten gewiß nicht zu fragen, ob Sie dem armen Volkmar recht kommen würden und ob die Gemeinde für die Kosten einstehen werde.“

„Nun sehen Sie mal, mein lieber Herr Professor,“ wendete sich sonderbarerweise Meister Spörenwagen an Veit Bielow, „so sitzen nun jede Woche die beiden besten Freunde im Dorfe, nämlich dies liebe Fräulein hier und ich, und sagen sich gegenseitig die schönsten Flattusen. Nämlich sie mir; denn wo könnte ich konfuse Tischlergesellenherbergskreatur wohl etwas von dergleichen gegen sie aufbringen, was sie mir nicht mit der puren, leichten umgekehrten Hand per Distanz aus der Faust wehte? Was hülfe es nun, wenn ich sagen wollte: Fräulein, es ist nicht bloß das, wie Sie sich dies in Ihrem frommen, jungen, lieben Herzen denken – das Mitleiden, das Angedenken an vergangene Zeiten, oder wie’s in den Städten zur Drehorgel oder hier in den Bergen hinterm Spinnrade oder der Kuhherde von unglückseliger Liebe, zwei Königskindern und dergleichen gesungen wird! Es ist nur weil Spörenwagen nur noch an den Hobel, den großen Hobel, den allgemeinen Hobel, der über Knubb und Knorren geht, glaubt, daß er sich diese Arbeit zu seinem Privatgenügen leistet. Dem Fräulein darf ich eigentlich mit diesem meinem Glauben nicht recht kommen und dem Herrn Bruder, dem Herrn Pastor Hahnemeyer noch weniger. Aber da frage ich nun eben Sie, Herr Professor, wie hilft sich Unsereiner gegen die Astknorren vor ihm? Durch den großen Hobel, sage ich! Der liefert für’n denkenden Menschen am Ende, meine ich, doch einzig und allein die feine Maser im Fournier, mit dem Jeder doch nach seiner Weise die Welt belegt haben möchte. Wo hülfe die allerbeste Politur, Herr Baron, wenn nicht der Mensch vorher mit dem Hobel, dem Allgemeinheitshobel in seiner Seele und Ueberlegung und Philosophie über alle Astknorren vor ihm auf seinem Wege sich hingequält hätte? Nämlich, und damit komme ich nun wieder auf meinen ganz speciellen Knorren, meinen alten hiesigen Schulkameraden, den Volkmar Fuchs. Ich hoffe zu Gott, daß Fräulein Phöbe es mir aus unserer intimen Bekanntschaft bezeugt, daß ich die ganze Nacht durch meinen Hobel nicht aus Rachegefühl gegen ihn geführt haben kann. Und gar gegen die Fee, sein Weib, das arme Geschöpf, die Anna! Was konnte denn die dafür, daß wir uns ihretwegen seiner Zeit die Köpfe blutig schlugen? Er hat sie mir abgewonnen, und ich bin in die weite Welt gegangen. Daß ihn sein Herr Graf seines Bartes wegen mal mit nach draußen genommen hat, das ist nichts; denn davon hat er nur den Schimpfnamen ‚der Räkel‘ mit nach Hause gebracht. Ich aber habe auf meiner Wanderschaft gelernt, den Hobel in meinem Gemüthe in der richtigen Weise zu handhaben, und in der vergangenen Nacht hat der glatt gemacht, was noch als Knubb und Knorren in mir gegen meinen alten Kameraden und mein Mädchen und meine Herzliebste vorhanden sein mochte. Sie haben von Dorfswegen den Volkmar und seine Familie auf die Vierlingswiese abgeschoben und haben wohl daran gethan; aber einzusehen braucht ein Mensch wie er das nicht; dazu gehört eben schon ein anderer Hobel im menschlichen Innersten; Kultur und Verständniß gehört hierzu. Woher hätte der Räkel Kultur und sociales Verständniß schöpfen sollen? Aus seiner Wildjagd im Walde? aus seinem Haushalt mit der armen Kreatur, der Anna, in freier Luft des Sommers und im Winter im Stall, wo kein Bauer sein Schwein einsperrt? Oder im Zuchthause? Im letztern wohl noch am ersten, zumal da er doch auch Ehre in sich hatte auf seine Weise, was sich ja auch ausgewiesen hat, da er viel hochmüthiger gegen uns hier im Dorf herausgekommen ist, als er hineingegangen ist.“

„Was Sie damals – in seiner Abwesenheit an der Frau und an den Kindern gethan haben, das wird Ihnen der liebe Gott gewißlich ansehen, Spörenwagen,“ sagte Phöbe Hahnemeyer; aber der Meister, sich auch jetzt mit seiner Rede mehr an seinen männlichen Besuch wendend, brummte:

„Ach, was hab’ ich denn da viel thun können? Natürlich hat es mir doch ein menschlich Gaudium sein müssen, der Fee [511] nunmehr vordemonstriren zu können: ‚Siehst Du, Kind, wie gut Du es bei mir immer hättest haben können, wenn Du nicht seiner Zeit ebenfalls auf den schönen Bart und sonstige Renommage auf dem Schützenhof hereingefallen wärest!‘ Aus purem blanken Hochmuth hab’ ich der Gemeinde die Last mit dem armen Geschöpf und ihren Krabben abgenommen und für ein nothdürftig Unterkommen und Abfütterung schlecht genug gesorgt.“

„Das haben Sie nicht gethan, Spörenwagen! Mein Bruder und ich sind damals noch nicht hier im Dorfe eingezogen gewesen; aber ich weiß doch Alles, und Sie dürfen nicht so zu mir sprechen.“

„Na, Fräulein, dann wird es ja auch wohl in diesem Falle der Hobel, der große Kommunehobel gewesen sein, den ich mir aus der Fremde mitgebracht habe. Der Herr hier wird wohl ein besseres Wort für das haben, was ich meine. Der Hobel hat mir auch über den Dank des Räkels fortgeholfen, als er mir nachher die Faust unter die Nase hielt und mich anschnauzte: ‚Was hast Du Dich wieder eingemischt, wo Dich Keiner gerufen hat, Du feiner Kopf? Und dem Weibe werde ich das Spiel auch schon eintränken, was sie hier in der Freiheit mit Dir getrieben hat, während sie mich da unten hinter Schloß und Riegel hatten! Der Satan danke Dir Deine Gutherzigkeit; – mein einziger Trost da unten im Institut ist gewesen, daß ich den ganzen Bau eingegangen wiederfinden würde; – da wäre uns Allen in der richtigen Weise geholfen gewesen?‘“

„O Freund, guter Freund, so habe ich Sie noch niemals hiervon erzählen hören!“ rief Phöbe, zitternd, die gefalteten Hände erhebend.

„Und herzlich leid thut mir das auch, mein liebes, liebstes Fräulein,“ sagte jetzt der Meister Tischler leise und mit völlig verändertem Ton. „Sie haben Recht, ich bin eben toller in meiner Weltweisheit gewesen, als der Volkmar in seiner angeborenen Wüstheit. So sollte vor Ihnen Niemand reden; und es ist auch wohl nur die nächtliche Arbeit gewesen – diese schlimme Arbeit hier für die Anna, die mir Sinn und Gedanken und Rednerei so in Verwirrung gebracht hat. Der Herr Professor wird’s auch wohl wissen; man mag mit dem großen Hobel noch so gut umzugehen gelernt haben in der Welt, man trifft immer noch einen Knorren vor sich, und zumal in einem solchen Sargbrett, über welchem Einem der Schweiß ausbricht und das Handwerkszeug Einem die Faust blutrünstig drückt. Wie hätte ich mir gestern Abend gegen die Nachricht aus der Fieberköthe auf der Vierlingswiese anders helfen können, als daß ich mich mit meiner besten Kunst an dieses letzte Liebeswerk für die Fee begab?!“

Veit von Bielow mit dem Gefühl, sich gegenwärtig in der besten Gesellschaft der Erde zu befinden, reichte dem armen Dorftischler die Hand über seine Hobelbank:

„Führen Sie Ihren Hobel weiter – hier weiter, wie Sie das draußen unter uns gelernt haben, Meister. Sie sind ein vornehmer Mann geworden auf Ihrer Wanderschaft, Meister Spörenwagen!“

„Das sagen Sie wohl nur so, lieber Herr. Bitten Sie lieber gleichfalls dieses liebe Fräulein für mich um Verzeihung für mein Aufbegehren eben. Aber einen Gefallen könnten Sie mir wohl thun.“

„Jeden, so weit es in meiner Macht steht.“

„Nämlich, ich bin natürlicher Weise auch die letzten Tage durch in meinen Gedanken um die Hütte auf der Vierlingswiese gegangen, habe auch sonst meine Nachrichten von dort und weiß, wie die Sachen dort stehen. Den Fuchs kenne ich leider nur zu gut und weiß, daß ihm das nicht leicht auszutreiben ist, was er sich in seinen wilden Sinn gesetzt hat. Nun möchte ich gern – auch von wegen meiner schweren Arbeit hier für ihn – das Mittel kennen lernen, was Sie heute Morgen angewendet haben, um ihm in seiner Verwirrung den letzten Ruheplatz für sein Weib unter seiner Feindschaft annehmbar zu machen.“

Phöbe sah einen Augenblick auf ihren Begleiter; dann antwortete sie für ihn:

„Meines Bruders Freund hat dem Räkel angeboten, zur Rechten und Linken von seiner Frau zwei Ruhestellen in Gottes Frieden, wenn nicht für ihn selber und seine Kinder, so für uns vorzubehalten.“

Da legte Spörenwagen seinen Hobel auf das Brett vor ihm nieder und strich mit der flachen Hand über den letzten Astknorren in seinem edlen Werke.

„Herrschaften,“ murmelte er, „und ich dachte mir was Großes dabei, daß ich ihm heute Abend in der Dunkelheit mein Machwerk vor die Thür karren und ihn mit Gelassenheit bitten wollte, mir zuzulassen, ihm sein Weib mit darein zu betten. Lieber Herr, Sie sind noch weiter in der Welt herumgewesen als der arme Tischlergeselle. Sie haben es doch noch besser gelernt, mit der Konfusion und Rath- und Hilflosigkeit von Unsereinem umzugehen, als Unsereiner!“


12.

Meister Spörenwagen ging wieder zu seiner Arbeit, nachdem er den Beiden von seiner Hausthür aus nachgesehen hatte, bis das Gestrüpp und Gestein sie seinen Blicken entzog. Er hatte muntere, klare blaugraue Augen; aber dieselben blickten jetzt sehr ernst unter den zusammengezogenen buschigen Brauen hervor, als er nun murmelte:

„Ueber das liebe Fräulein, mein Fräulein Phöbe, verliere ich weiter kein Wort hierbei; aber – der Herr, – ein nobler Herr – der gelehrte Mann, der vornehme Mann, weiß er es für alle Zeit ganz genau, was er da auf sich genommen hat heute Morgen?“

Kopfschüttelnd ging er zu seiner Arbeit – seinem Antheil an der christlichen Wohlthat, dem gesellschaftlichen Liebeswerk für den Räkel und seine Frau, zurück; Veit und Phöbe aber erreichten die Pfarre wieder und fanden den Freund und Bruder, den Pastor Prudens, immer noch in verdrießlich-sorgenvoller Rathlosigkeit in seiner Stube auf und abschreitend.

„Ihr seid lange ausgeblieben! Nun, was habt Ihr erreicht?“

Sie sagten ihm in den einfachsten Worten, wie sie ihr schweres Werk ausgerichtet hatten, und auf welche Art der wilde Mann von der Vierlingswiese überredet worden war, die Leiche seines Weibes nicht zu einer Waffe in seinem Kampfe mit der Gesellschaft zu machen.

Betroffen, staunend, erschrocken sah der Pfarrer von dem Freunde auf die Schwester. Zum ersten Mal in seinem Leben überkam ihn wohl die volle Deutlichkeit davon, welch’ ein Lebensweg dazu gehört haben mußte, dieses junge, kindliche Mädchen so ruhig todessicher zu machen. Er hatte auch wohl noch nie in seinem Leben ihren Namen so weich und zärtlich betont, als da er jetzt rief:

„Phöbe! Phöbe, welch’ eine seltsame Auskunft! Und Du, Veit? Der Mann von den Pfaden der Welt, der hier nur vorübergeht und wohl nie wieder den Fuß an diesen Ort setzen wird! … Laßt mich das doch erst überlegen – zurechtlegen! Hat das Euch der Herr auf die Zunge gelegt und in die Seele gegeben, so wird es gewiß so recht sein, aber –“

„Meine Seele ist jetzt ganz ruhig, lieber Bruder,“ sagte Phöbe lächelnd. „Und Spörenwagen will den Sarg so schön als möglich machen und kein Geld dafür annehmen, weder von der Gemeinde, noch von – Deinem – unserem Freunde.“

„Der Meister Spörenwagen? des Mannes bitterster Feind?“

„Ein Gentleman-Socialist, ein weiser und ein guter Mensch in der Wüste, Prudens!“ rief Veit. „Wir fanden ihn schon an der Arbeit; und er hat über seinem Hobel mir eine Vorlesung über Gesellschaftslehre gehalten, wie sie mir nie von einem Katheder und nur höchst selten vielleicht auf der Landstraße, an einer Straßenecke, auf dem Schiff oder bei sonstigen Zufallsgelegenheiten vorgetragen wurde. Dieser Meister Tischler hat mir ungemein gefallen, und ich bin gern mit meiner Bereitwilligkeit gegen sein früheres und besseres Anrecht zu diesem melancholischen Liebeswerk zurückgetreten. Es ist mir eine Ehre gewesen, diesem Mann die Vorhand zu lassen, und ich danke Deiner lieben Schwester herzlich dafür, daß sie mir das Vergnügen seiner Bekanntschaft vermittelt hat.“

„So geschehe Dieses nach Eurem und Gottes Willen, ich werde mit dem Kantor und dem Todtengräber reden,“ rief der Pastor unruhvoll. „Du mein Freund hast Dir für Deine ferneren Schritte durch dieses Leben einen seltsam stillen Ruhepunkt in diesem Bergdorf zum Eigenthum gemacht. Möge Dir Dein Erwerb zum Segen gereichen und das Gedenken an ihn nie zu einer Last werden!“

„Amen!“ rief der Gastfreund heiter. –

(Fortsetzung folgt.)

[512]

Briefe aus einem Weltbade.

Von Paul v. Schönthan. Mit Illustrationen von H. Schlittgen.
I.

Villa des Königs in Ostende.

 Liebstes Annchen!
Ich habe es mit Hilfe unseres alten Sanitätsrathes erreicht – er hat mich ins Seebad geschickt. Der brave Doktor hat meinen Mann zu überzeugen gewußt, daß meine Nerven (wenn ich nur wüßte, was man eigentlich darunter versteht) sich nur in Ostende beruhigen und stärken können, daß ich der ersten größeren Wintergesellschaft unterliegen würde, wenn nicht rechtzeitig etwas für mich geschieht. Karl hat sich anfangs gegen dieses Reiseprojekt freilich gesträubt; Du weißt, er ist schwer von einer Nothwendigkeit zu überzeugen (erinnere Dich meiner Kämpfe bezüglich des letzten Subskriptionsballs), er hat bei aller Liebe, mit der er mich sonst überhäuft, kein rechtes Verständniß für zarte Rücksichten; ich glaube, er weiß nicht einmal, was „Nerven“ sind, er selbst erfreut sich ja – unberufen – einer eisernen Gesundheit. Aber ich – erinnerst Du Dich der Gesellschaft bei L–s, im März? Sah ich nicht damals schon schrecklich leidend aus? Ich habe es aber auch verschworen, jemals wieder etwas Grünes anzuziehen, es verträgt sich nun einmal nicht mit – meinem Teint.

Aber nun zu Wichtigerem: Hier ist es herrlich, ach, Annchen, wie bedaure ich Dich, daß Du die Reize eines Seebades nicht kennst, daß Du an einen Mann gekettet bist, der zu seiner Glückseligkeit durchaus Alpennatur nöthig hat, der sich nur so und so viele hundert Fuß über dem Meeresspiegel wohl fühlt!

Partie ins Land.

War es nicht Dein Mann, der in diesem Winter in der Gesellschaft bei P–s die Aeußerung that, das Gemüth bedürfe großartigerer Eindrücke, als das Seebad mit dem ewigen Einerlei „Sand und Meer“ zu bieten vermag? Ich bitte Dich! Was man etwa in der Schweiz hat! Ewig die „Jungfrau“ und immer wieder die „Jungfrau“. Uebrigens ist Ostende besonders von der Natur bevorzugt – wie mir gestern Nachmittag am Strande ein Herr, der mir vorgestellt wurde, versicherte. Würden sonst der König und die Königin von Belgien den Sommer hier verbringen, hätten sie sich sonst ein wunderbares Schloß im Westen Ostendes erbauen lassen? Ich glaube nicht. Und was für herrliche Ausflüge giebt es hier! Und denke Dir, immer per Esel. Diese Partien ins Land machen ungeheuer viel Spaß. Hast Du schon auf einem Esel gesessen? Es ist ein ganz merkwürdiges Gefühl: der erhabene Menschengeist auf dem Sinnbilde der Dummheit! Man hat mir gesagt, daß es ganz gefahrlos ist, und ein Russe, der mir heute auf der Estacade vorgestellt wurde und der seit 18 Jahren seinen Sommer in Ostende verbringt, hat mir sein Ehrenwort gegeben, daß ein solches Thier [513] noch nie durchgegangen ist oder einer Reiterin Ungelegenheiten bereitet hätte. Ach, hättest Du mich bei meinem ersten Ritte gesehen! Ich hatte das durchbrochene Grenadinekleid an, das Hellgelb paßte außerordentlich zu der grauen Farbe des Thieres.

Das Amüsanteste bleibt aber der Strand. Man kann stundenlang dasitzen und auf das Meer hinausschauen und über das Räthsel der Unendlichkeit nachdenken. Ich will das auch gewiß noch thun, vorläufig giebt es für mich aber noch viel Anderes zu sehen. Ach diese Toiletten, man wird nicht müde, die weiblichen Erscheinungen zu mustern! Und wie reizend die Kinder angezogen sind, zum Küssen! In Atlas und Seide liegen sie im Sand, ich würde das Gustel nie erlauben. Man hört hier in allen Sprachen konversiren, Ostende ist ein Bad „pour tout le monde“; der liebenswürdige Russe, ein Bekannter unsrer L–s, hat mir, gründlich wie er ist, heute einige Notizen auf meinen Holzfächer geschrieben, die ich Dir mittheile, damit Du ein Bild von der bunten Gesellschaft Ostendes erhältst. Im vorigen Jahre haben hier 15048 Belgier, 5257 Franzosen, 4018 Engländer, 3978 Deutsche, 697 Russen, 562 Amerikaner, 478 Ungarn, 474 Holländer, 111 Schweizer, 104 Serben, 87 Italiener, 40 Spanier, 29 Afrikaner, 25 Asiaten, 14 Australier, 5 Türken, 4 Griechen etc. gebadet, die Zahl der Besucher schwankt zwischen 35- und 40 000; und das in den vier Monaten Juni bis September!

Das Merkwürdigste ist, daß ich noch Niemand gesprochen habe, der sich in meiner Lage befindet und zum ersten Male ein Seebad gebraucht. Die Meisten kennen bereits Scheveningen, Trouville, Biarritz, Norderney, Helgoland oder wenigstens Heringsdorf. Aus den Vergleichungen entnehme ich, daß das eleganteste Badeleben sich in den französischen Seebädern entwickeln soll, der Strand soll dem Boulevard des Italiens in Paris gleichen und in Bezug auf „chic“ soll dort das Höchste geleistet werden. Frau von B., die auch hier ist, aber morgen abreist, erzählte mir, daß sie in Trouville ein Vermögen ausgegeben habe, sie ist allerdings gewohnt auf großem Fuß zu leben. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, jenes großartige Leben im nächsten Jahr, wenn es meine Gesundheit erlaubt, kennen zu lernen. Der Doktor wird mir wohl seine Hilfe nicht versagen, und wenn ich, so Gott will, nur halbwegs leidend bin, wird mir’s Karl nicht abschlagen. Das Meer, von dem ich eigentlich eine richtige Vorstellung nicht hatte, ist gar nicht so wild, wie ich dachte, es ist sogar sehr artig und sendet nur ruhige, flache Wellen an den sandigen Strand, man wird bald vertraut mit ihm und man verlernt förmlich allen Respekt vor dem gewaltigen Ocean, den Schiller z. B. im „Taucher“ so schrecklich schildert. Vielleicht hat unserem Dichterfürsten das Bild des Meeres an der Küste von Biarritz vorgeschwebt, wo es Riffe und Felsen giebt, hier findest Du nur Sand, und man muß [514] im Wasser lange waten, ehe die Fluth die Unzulänglichkeit der Badebekleidung bedeckt.

Was nun das Baden betrifft, so muß ich Dir gestehen, daß mich – die ich bisher nur an die Abgeschlossenheit unserer Badestube gewohnt war – ein Schauer überlief, als ich dieses Treiben hier sah. Die Eintheilung der Badestunden ist hier nämlich so merkwürdig, daß die der Damen mit jenen der Herren zusammenfällt, und Du kannst Dir denken, daß man einigermaßen überrascht ist, wenn man am Morgen im Wasser von einem Herrn begrüßt wird, mit dem man am Abend zuvor im Kursaal getanzt hat. Denke Dir: heute stellte mir Tante Clara im Bad den Lieutenant von B. vor – ich hätte beinahe laut aufgelacht – wenn ich nicht selber so betroffen gewesen wäre. Zu Deiner Beruhigung bemerke ich, daß er seine Uniform mit einem sehr kleidsamen gestreiften Trikot vertauscht hatte.

Es giebt Damen, die förmlich Toilette machen, ehe sie den Badekarren verlassen, – und die meisten Engländerinnen lassen ihr unverwahrtes Haar auf der Fluth schwimmen, angeblich aus Rücksichten für das Gedeihen des Haares, im Grund ist es aber eine Koketterie wie eine andere. Wenn man nicht selber befürchten müßte, kritisirt zu werden, könnte man interessante Studien machen; ach, wie hat mich die Baronin K., die in Berlin auf den Bällen so viel Furore macht, enttäuscht, – ja, das Badekostüm kleidet nicht Jede!

Aber, ich glaube, diese Betrachtungen führen mich zu weit, auch hat es soeben zu regnen aufgehört, ich verlasse mein einfaches Stübchen im Hotel Mertiau und eile nach der Estacade. Mein nächster Brief soll die Beschreibung Ostendes vervollständigen, ich habe Dir noch nichts vom Kursaal, von den Koncerten, den Rennen und den andern Herrlichkeiten dieses Weltbades geschrieben, obwohl ich bereits so genau Bescheid weiß, als hätte ich jeden Sommer in dem reizenden Ostende verbracht.

Wie bedauere ich Dich, liebes Annchen, daß Dich der starre Wille eines gerade in der Badesaison etwas eigensinnigen Lebensgefährten nach der langweiligen Schweiz verbannt hat, Du hättest ein besseres Los verdient. Adio für heute und unzählige freundschaftliche Umarmungen von Deiner aufrichtigen Freundin Grete. 


Sommernacht.

      Still und stumm ist die Nacht,
Es schlummern die Bäume,
Die Winde schlafen;
Nur hin und wieder,
Von ängstenden Träumen
Geschrecket, ein Zephyr
Rühret die Flügel:
Dann rauscht’s durch die Wipfel
Der Birken und Buchen
Wie hauchender Harfe
Saitengesäusel. –
Drauf wie zuvor
Still und stumm ist die Nacht.
      Horch, jetzt schwingt sich
Ein süßes Flöten
Zum schimmernden Aether:
Wenn Alles schlummert,
Wachet und weinet
Die Nachtigall,
Verlorener Liebe
Unselig Sehnen
Vertrauend dem Monde,
Dem kranken, bleichen
Bruder der Leiden.
      Und es denket der Mond
Der eigenen Liebe,
Der schönheitstrahlenden,
Goldenen Sonne,
Der ewig fliehenden,
Stolzen Göttin:
Und bitterer Thränen
Silberne Quellen
Entströmen des Gottes
Unsterblichen Augen.
      *      *      *
      Es weicht die Nacht
Dem leuchtenden Morgen;
Auf Feld und Wiese
Welch Flimmern und Glimmern!
Es schimmern im Scheine
Der lachenden Sonne
An Gräsern und Blüthen
Die Thränen des Mondes.

 Otto Sievers.


Humboldt’s astronomische Ortsbestimmungen in Amerika.

Von J. Loewenberg.

Wir betreten in diesem Artikel ein Gebiet, auf welchem die große Masse der Leser nur ungern dem populären Schriftsteller Folge leistet; denn vor wissenschaftlichen Zifferkolonnen pflegt das Laienpublikum die regelrechteste Flucht zu ergreifen, und hinter astronomischen Ortsbestimmungen wittert jeder diesen bösen Feind. So möge denn im Voraus versichert werden, daß hier auch nicht die kleinste homöopathische Dosis beschwerlicher astronomischer Wissenschaft auch nicht in minimalster populärer Verdünnung zugemuthet werden soll. Die nebenstehende Uebersichtskarte führen wir unsern Lesern nur als ein geographisches Kuriosum vor, das gewiß auch das Interesse weiterer Kreise in Anspruch nehmen darf, und wollen hier nur so viel sagen, wie gerade zum Verständniß der Karte nöthig erscheint.

Die Zeiten sind zwar längst vergessen, wo selbst die Grenzlinien Europas, der Wiege unserer Civilisation, in abenteuerlichsten Formen gezeichnet wurden, aber gezählt sind die Tage noch lange nicht, wo die Orte auf den Landkarten neuentdeckter Länder so zu sagen taumeln und unstät umherschwanken. Die neuesten Karten von Afrika zeugen am besten davon: Flüsse, Gebirgszüge und einzelne Ortschaften verändern auf ihnen von Jahr zu Jahr ihre Lage, und nur allmählich entwickelt sich unter unsern Augen die richtige Form des dunklen Welttheils.

Viel schlimmer war es jedoch im Anfang unseres Jahrhunderts mit der geographischen Kenntniß der Länder von Central- und Südamerika bestellt. Die Forscher, welche dort Ortsbestimmungen vornahmen, wie J. Covens, Alzate und d’Anville ließen sich arge Fehler zu schulden kommen und schufen Karten, die der Wirklichkeit gar nicht entsprachen. So wurde z. B. für Veracruz am Golf von Mexico in Länge- und Breitegraden eine Lage bestimmt, die in Wirklichkeit am entgegengesetzten Ende Mexicos nahe an der Küste des Großen Oceans gesucht werden müßte.

In Zahlen ausgedrückt waren die Unterschiede der einzelnen Angaben jener Forscher so groß, daß z. B. die Lage von Veracruz von dem Einen um 104 Meilen weiter nach Westen gerückt wurde als von dem Andern.

In diesem trostlosen geographischen Wirrwarr sollte Alexander von Humboldt endgültig Ordnung schaffen.

Als der berühmte Forscher gegen Ende des vorigen Jahrhunderts sich zu seiner wissenschaftlichen Reise vorbereitete, waren die Methoden, astronomische Ortsbestimmungen auf Reisen anzustellen, schon fast vollkommen ausgebildet, und man hatte auch schon leicht transportable Instrumente, über deren Gebrauch ihn die damals in Deutschland lehrreichste Autorität, der Direktor der Gothaer Sternwarte von Zasch, informirt hatte. Die ersten Uebungen machte Humboldt um Jena, maß hier alle „Maulwurfshöhen“, dann ging er nach Dresden, um dort mit seinem vierzehnzölligen Sextanten unter der Leitung Koehler’s, des damaligen Inspektors des mathematischen Salons, weitere Uebungen vorzunehmen, die sich bis Pillnitz, Königstein und Teplitz erstreckten. Auch während seines Aufenthaltes mit Leopold von Buch in Salzburg, 1798, sowie in der Umgegend von Paris und in Spanien machte er mehrere Ortsbestimmungen und war beim Antritt der amerikanischen Reise mit Instrumenten und Methoden vollkommen vertraut.

Schon die Längenbestimmung von Cumana, dem ersten Orte, den Humboldt in Südamerika betrat, nennt Encke, der berühmte Direktor der Berliner Sternwarte, „ein glänzendes Beispiel von Genauigkeit und Sicherheit“.

Die astronomischen Beobachtungen zu den sämmtlichen Ortsbestimmungen Humboldt’s in Amerika kosteten aber nicht weniger als 417 Tage und Nächte. Die Arbeiten mußte der Forscher zumeist in den Wäldern unter dem Geschwirre der stechenden Mosquitos und bei unstätem Fackellicht, nach einer ermüdenden Tagesreise von acht bis zwölf Stunden auf dem unbequemen Rücken eines Maulthiers, oder eingezwängt in ein enges Schilfdach auf dem Kanoe, ausführen. Nicht selten war es auch der getrübte Himmel, der die Beobachtung außerordentlich erschwerte und die unermüdlichsten Anstrengungen der Geduld erforderte. So mußten z. B. bei der Beobachtung der Jupitertrabanten in Caracas nicht weniger als 27 Nächte durchwacht werden, und zwar wegen der unbeständigen Witterung – vergebens! –

Auf unsrem Kärtchen „Geographische Lage von Mexico, Veracruz, Acapulco“, sehen wir neben diesen drei Ortsnamen noch Personennamen und Jahreszahlen, die besagen, von wem und wann die Lage dieser Orte beobachtet und bestimmt worden ist. Werden die Positionen eines und desselben Beobachters zu Dreiecken verbunden, so gewährt dies ein anschauliches Bild, wie die einzelne und gegenseitige Lage dieser Orte, die Konfiguration der Küste und des Landes von Astronomen, [515] Reisenden und Geographen zu verschiedenen Zeiten dargestellt worden ist. Das mit stärkeren Linien gezeichnete Dreieck zeigt die Lage der Orte nach Bestimmungen Humboldt’s, welche noch jetzt als richtig gelten, und wir sehen mit staunender Bewunderung, wie unstät die früheren Positionen und wie groß die Abweichungen und Fehler vor Humboldt waren.

Nach dem, was hier nur an drei Orten zu veranschaulichen versucht worden ist, deren Gesammtzahl aber 200 übersteigt, dürfte kein Zweifel obwalten an Humboldt’s Verdiensten um die astronomischen Ortsbestimmungen in Amerika. Aber der Ruhm seines weltumfassenden Geistes und die Anerkennung seines Fleißes müssen uns noch größer erscheinen, wenn wir dabei an den Ausspruch denken, den Peschel in seiner schönen, warmherzigen Abhandlung „Alexander von Humboldt’s Stellung in der Wissenschaft“ gethan: „Humboldt war kein Astronom, er hat nie ein astronomisches Werk verfaßt, nie anders, denn als Liebhaber auf Sternwarten gearbeitet.“ Den jüngeren Forschungsreisenden der Gegenwart möge aber Alexander von Humboldt auch in dieser Hinsicht als ein Vorbild gelten, auf dessen Bahnen sie zum Nutzen der geographischen Wissenschaft wandeln sollten.


Blätter und Blüthen.

Vermißte. Neue Folge: 1) Unter seltsamem Mißgeschick leiden zwei Geschwister: Maria und Sebastian Bucheli aus Luzern, Gemeinde Malters. Seit länger als zwanzig Jahren von einander getrennt, peinigt Jedes die Sehnsucht nach dem Andern. Im Jahre 1882 trieb es den Bruder in die Heimath, zu seiner einzigen Schwester, aber ohne sie zu finden, denn sie weilte auswärts, Niemand wußte von ihr. Sebastian verließ hierauf Luzern, aber freilich ohne Jemand zu sagen, wo er fortan zu finden sei. Diesen Schweizer Sebastian Bucheli fordern wir auf, seiner Schwester nach Luzern zu schreiben, postlagernd.

2) Fast hoffnungslos ist der Aufruf nach einem verschwundenen Jüngling; dem achzehnjährigen Alfred de Percy in Dresden. Ueber dem Verschwinden dieses jungen Mannes waltet eine niederbeugende Unerklärlichkeit. Ein liebender Sohn und Bruder, Stolz und Stütze seiner erfahrungsreichen Mutter und sorglicher Mitpfleger des kränkelnden jüngeren Bruders, läßt Alfred de Percy nicht den geringsten Verdacht irgend einer That gegen sich selbst aufkommen. Nach einer in Folge starken Nasenblutens und Uebelseins unruhig verbrachten Nacht machte er am 5. November 1884 früh ½8 Uhr einen Gang ins Freie, um sich, noch vor dem Frühstück, in frischer Luft zu erholen, – und von diesem Ausgang ist er nicht wiedergekehrt.

3) Seit dem 7. Juni 1884 wird der Handelsmann Max Ferdinand Fiedler aus Sorau vermißt. Derselbe hat sich an dem genannten Tage von Sorau nach Sagan, von dort nach Berlin und demnächst nach Stettin begeben. Briefe, die er von Sagan und Stettin an seine in Sorau lebenden Schwestern gerichtet hat, lassen vermuthen, daß er sich, schwermüthig wie er in letzter Zeit war, ein Leid zugefügt hat. Aufrufe in den Tagesblättern und Nachforschungen der Angehörigen und Behörden haben zu keinem Resultate geführt. Signalement des Vermißten: Alter 24 Jahre, Statur: kräftig, Haare: schwarz, Bart: Schnurrbart, Gesichtsbildung: rund, Gesichtsfarbe: frisch, Bekleidung: olivengrüner Anzug (Jaquet), rothbunte Wäsche, gez. M. F. 1., schwarz-weißer Strohhut.

4) Am 29. April 1884 ist der vierzehnjährige Paul Heyner aus Stettin, geboren 1870, seinen Pflege-Eltern entlaufen. Er ist von schlanker Statur, blasser Gesichtsfarbe, dunkelblond und hat blaue Augen. Man vermuthet, daß er mit einem ausländischen Schiffe in See gegangen oder im Lande sich herumtreibt.

5) Eine alte Rektorswittwe in Altona sucht ihre beiden zur See gegangenen Söhne. Der älteste, Georg Christian Junge, geboren 1835 in Marne, schrieb zuletzt am 14. December 1857 von Bord des amerikanischen Kriegsschiffes „Portsmouth“ von Hongkong aus, ein an ihn adressirter Brief kam zurück mit der Bemerkung, das Schiff sei schon fort. Der zweite Sohn, Gustav Emanuel Junge, geboren 1838 in Marne, schrieb zuletzt am 8. November 1857 aus Honolulu, wohin er auf dem Schiffe „Hero“ von Hamburg aus gelangt war. Seitdem fehlt der armen Wittwe jede Nachricht über ihre Söhne.

6) Max Freudenthal, Sohn des Rentiers C. Freudenthal aus Posen, jetzt in Teplitz, ging 1868, im Alter von 17 Jahren, nach Australien und hat bis 1875 oft an seinen Vater von Melbourne aus geschrieben. Zuletzt war er im Pfandleihgeschäft des Georg Alexander Nr. 102 Bridge Road Richmond in Mlbourne als Kommis. Seit 10 Jahren fehlt jede Nachricht von ihm.

7) Franz Landrath, der Sohn des Arbeiters Gottfried Landrath in Alt-Falkenberg, Kreis Pyritz, Königreich Preußen, hat seinen Eltern zum letzten Male im December 1882 aus Monterey in Mexico geschrieben. Er wollte von da sich an einen anderen Ort desselben Landes wenden.

8) Aus Herrstein, im oldenburgischen Fürstenthum Birkenfeld, begab sich im Jahre 1881 der Maler und Tüncher Wilhelm Cullmann, am 18. Juni 1858 geboren, auf die Wanderschaft. Er schrieb im Juni 1883 aus Waldshut in Baden, von wo er nach der Schweiz ging. Im Mai 1884 erhielt der Bürgermeister seines Geburtsortes eine Postkarte von ihm aus Biel (Bienne) und obwohl sein alter 78jähriger sehnsuchtskranker Vater sofort dorthin telegraphirte, blieb er damals und bis heute ohne Nachricht von dem Vermißten, von dem er vermuthet, daß er sich nach Frankreich begeben habe.

9) Mutter und Tochter durch ein Mißgeschick getrennt. Die Tochter reiste nach Nordamerika, um dort Stellung zu suchen, und die Mutter nach Verona, nachdem sie der Tochter ihre dortige Adresse mitgetheilt hatte. Als aber die Tochter endlich Stellung gefunden, suchte sie vergeblich nach der Adresse der Mutter, sie war verloren gegangen. Ebenso vergeblich suchten wir nach der Mutter in Verona. Sie hatte zuvor mehrere Monate dort gelebt, war aber dann nach Deutschland zurückgekehrt und hatte sich ihr Gepäck „postlagernd Stuttgart“ nachsenden lassen. Wir ersuchen nun die verwittwete Frau Sophie Kalb, geb. Dhoma, um ihre Adresse, damit wir ihr die ihrer Tochter zusenden können.

10) Seit 1872 gilt für verschollen Franz Mroß, geboren 1844, Zeugschmiedemeister. Er arbeitete erst in Berlin, dann in Wien, von wo aus er am 4. November 1871 seine Mutter zu besuchen versprach, aber am 26. December 1871 schrieb er aus Odessa, daß er daselbst von seinem in Wien ersparten Vermögen eine eigene Werkstätte etablirt, jedoch durch eine Feuersbrunst alles verloren habe. Ende Januar 1872 sandte ihm seine Mutter auf dringende Bitten sein Erbtheil (120 Thaler). Das letzte Lebenszeichen war seine Dankdepesche: „Das Geld erhalten. Gott segne Dich! Sohn Franz.“ Seit jener Zeit ist Mroß verschollen. Man vermuthet, daß er nach Amerika ausgewandert sei.


[516] Aus dem Nachlaß von Karl Stieler. Der litterarische Nachlaß von Karl Stieler ist veröffentlicht worden. Er ist nicht umfangreich, denn der Dichter gehörte zu den Glücklichen, deren Werke gesucht waren und sofort Absatz fanden. So konnten seine „nachgelassenen Werke“ in zwei kleinen Bänden vereinigt werden, die vor Kurzem im Verlage von Adolf Bonz u. Komp. in Stuttgart erschienen sind.

„Kulturbilder aus Bayern“ ist der Titel des einen Werkchens, in dem uns eine ausgewählte Sammlung der Vorträge geboten wird, welche Karl Stieler in den verschiedensten Städten Deutschlands über das Volksleben seiner Heimath mit großem Erfolg gehalten hatte. Es sind treffliche Essays, in denen der Prosaist Stieler in seinen besten Eigenschaften vor uns tritt und von welchen der Herausgeber derselben Karl Theodor Heigel mit vollem Recht sagen durfte: „Die herzliche Freude, die mit der wiederholten Lektüre der Essays verbunden war, wird Jeder, der den Reiz der harmonischen Kunstgebilde auf sich wirken läßt, mir nachempfinden. Beschreiben läßt sich die Blume eines leichten und doch feurigen Weines nicht.“

„Ein Winter-Idyll“ heißt das andere Werkchen, das in anmuthigen Versen das Lebensglück des Dichters schildert, wie es ihm einst unter dem Dache seines väterlichen Landhauses entgegen lachte. Ursprünglich beabsichtigte Stieler, in diesem Winter-Idyll sein ganzes Leben, auch die Begegnungen mit seinen Freunden, zu beschreiben, es ist ihm aber die Ausführung dieses Planes nicht mehr möglich gewesen; was er schaffen konnte, bezieht sich nur auf seine engeren Familienverhältnisse. Um so besser, möchten wir sagen, denn durch den reinen Herzenszug, der durch das ganze Werkchen geht, muthet uns dasselbe wundersam traulich und herzgewinnend an. Stieler war ja der Glückliche, der das Resultat seines Gebens in die schlichten Worte fassen konnte:

„Wenn ich daheim bin, werden sie wohl fragen,
Was ich erlebte? – Doch dann schweig ich still.
Was ich erlebte? … Nichts. – Nur ein Idyll.“

Doch besser als alles Loben und Erwägen wird ein kleines Citat aus jener Dichtung unsere Leser den echten Werth derselben erkennen lassen. „Kinderzeiten“ lautet der Abschnitt, aus dem wir das folgende Genrebildchen herausgreifen:

„Und einmal wieder schien die Sonne warm,
Ich saß im Gärtlein auf der Mutter Arm
Und sah ins Blau und sah hinab zur Erden.
Da frug sie lachend: ‚Sag, was magst du werden?‘
Ein erstes Kind, das man so kindisch liebt,
Man frägt’s ja gern schon, eh’s noch Antwort giebt.
‚Was magst du werden, Du mein kleiner Fant?
Gewiß ein Maler oder Musikant?‘
Da rollt die Post vorbei mit hellem Ton.
‚Am Ende gar ein kleiner Postillon?‘
Doch trotzig schüttelt’ ich das winz’ge Haupt,
Das kaum der erste blonde Flaum umlaubt.
‚Ja was denn sonst?‘ scherzt mir die Mutter vor
Und hebt im Spiel die schlanke Hand empor.
‚Zuletzt ein Dichter? – Wart’, du arges Blut!‘
Da nickt das Köpflein fest und resolut.
Sie aber lacht: ‚Schaut nur den Unband an,
Der dichten will und – noch nicht sprechen kann!‘“

Eltern- und Gattenliebe, die herrlichen Blumen, die uns freundlich blühen am dornenvollen Wege des Lebens, wie innig wahr hat sie Stieler in seinem Idyll besungen! Er hat es aus seinem Herzen und für sich gedichtet, er schuf uns aber, ohne es zu ahnen, ein verklärtes Bild eines echten Familienlebens, das in tausend Herzen Wiederklang findet!

Das ist die reine letzte Gabe des heimgegangenen Dichters!
J.     

Die Stiefelkontribution zu Koblenz. Nach dem Rückzuge der Koalitionstruppen und dem von der Republik Frankreich im Jahre 1794 mit Preußen abgeschlossenen Separatfrieden waren die Soldaten der untheilbaren Republik unter General Hoche Herren der zum Trierer Kurfürstenthume gehörenden Stadt Koblenz. Nicht genug, daß dem Magistrat derselben eine hohe Kontributionssumme auferlegt ward, erging an ihn der Befehl, innerhalb 24 Stunden mehrere hundert Paar Stiefel zu liefern, da die Armee der Sansculotten sich der „Beschuhung“ noch nicht zu entäußern gelernt und großen Mangel an Fußzeug litt. Aber der befohlene Termin sah die Leistung nicht erfüllt, auch ein zweiter blieb ergebnißlos. General Hoche, der für die rechtzeitige Lieferung verantwortlich war, verfiel auf ein ebenso perfides als brutales Mittel, zum Ziele zu gelangen. Er ließ durch Plakate und Ausrufer eine allgemeine Volksversammlung auf einem der Märkte verkünden, zu deren Theilnahme jeder männliche Einwohner von Koblenz berechtigt war, sobald er das achtzehnte Jahr überschritten.

Nicht umsonst hatte der französische Befehlshaber auf die Neugier und die Vorliebe für Zusammenkünfte bei dem leichtlebigen Rheinländervolke gerechnet. Zur bestimmten Stunde war der Markt gedrängt voll von Männern aller Stände, die sich erwartungsvoll um die Rednerbühne scharten, von der herab ihnen der Grund ihrer Berufung mitgetheilt werden sollte. – Wahrscheinlich um jede Störung des Vortrags zu verhindern, geschah es, daß ein Bataillon französischer Soldaten mit klingendem Spiele aufzog und, sich rings um den Markt postirend, nur eine schmale Gasse für die sich entfernenden oder zukommenden Hörer frei ließ. Zugleich aber bestieg ein Vertreter des Befehlshabers die Estrade; unter dem Schweigen der Versammlung begann er mit der Klage, daß der wiederholte Aufschub der Stiefellieferung ohne Wirkung geblieben, und da der General selber gedrängt werde, habe, um der Sache ein rasches Ende zu bereiten, jeder der Anwesenden sich sofort seiner Fußbekleidung zu entledigen und durch die einzige von den Soldaten offen gelassene Gasse von dannen zu gehen. So groß die Entrüstung und der Lärm im ersten Augenblick immer waren, der Anschlag der Gewehre der kreisbildenden Wächter, die den Kordon mit jeder Minute verengten, verlieh den Worten des Beamten verstärkten Nachdruck; mit Ingrimm und geheimem Zähneknirschen entledigten sich die zur Volksberathung versammelten biederen Koblenzer ihrer Schuhe und Stiefel und pilgerten barfuß oder in Strümpfen durch die Reihen der ganz ehrerbietig vor den unbeschuhten Opfern des republikanischen Terrorismus Spalier bildenden Soldaten ihrem Heim entgegen. Die zurückgelassene Hekatombe aber, die den Platz zu einem Schustermagazin umgewandelt hatte, ward sofort von diensteifrigen Händen gesammelt und mittels Fahrzeugs rheinaufwärts geführt. General Hoche hatte seine Aufgabe erfüllt und war malitiös genug, den Koblenzern in einer Bekanntmachung seinen Dank auszudrücken, daß ihm dieselbe von Seiten der würdigen Bürger der Stadt nach Kräften erleichtert worden sei. H. H.     


Aufforderung. In einer der nächsten Nummern unseres Blattes theilen wir den Bericht über die Vergebung von Fahrstühlen an arme Gelähmte mit, zu welcher der Wohlthätigkeitssinn unserer Leser uns die Mittel geboten hat. Da aber alle Bitten um solche Hilfe noch nicht erfüllt werden konnten, so ersuchen wir Diejenigen, welche gebrauchte, aber noch brauchbare Fahrstühle besitzen und entbehren können, dieselben als Geschenk oder gegen billigen Preis uns zukommen zu lassen.

Die Redaktion der „Gartenlaube“.     


Allerlei Kurzweil.


Schach.
Problem Nr. 3. Von Ch. Kondelik in Paris.
SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.


Räthsel.

Als Freund, Genosse und Bekannter,
Als Fremder oder Anverwandter
Stellt es sich öfters bei Dir ein,
Daß Du nicht weilest mehr allein.

Entfernst Du es, bleibt statt der Lücke
Zurück, was Dich zu Deinem Glücke
Bei treuem Fleiß verwandeln kann
In einen grundgelehrten Mann.


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Aufragen werden nicht beantwortet.)

Karl Emil N. in Kottbus. Derartige Vorschläge werden uns ziemlich oft unterbreitet, wir müssen dieselben jedoch aus Rücksicht auf die Gesammtheit unserer Leser ablehnen und sind stets bestrebt, nur das zu bringen, was ein allgemeines Interesse für sich beanspruchen darf.

A. G. in H. Mentor’s „Was willst Du werden? Die Berufsarten in ihren Licht- und Schattenseiten (Darmstadt, C. Köhler’s Verlag)“ ist zu empfehlen. Die Berufsarten des akademischen Studiums werden gleich in der ersten Abtheilung des Werkes besprochen. Die folgenden Abtheilungen betreffen das Geschäftsleben, das Militär- und Seewesen, die Berufsarten der Kunst etc., und den Schluß bildet eine Abhandlung über diejenigen Berufsarten, welche den Frauen offen stehen.

A. D. in Brünn. Die Namensunterschrift Ihres Briefes ist unleserlich. Wir bedauern, das uns Eingesandte nicht verwenden zu können.

H. St. Auf deutschen Universitäten ist derartige Promotion nicht mehr zulässig.

M. G–en. Köln. Ihre für die Expedition Dr. G. A. Fischer’s bestimmten 2 Mark haben wir dem Geographischen Institut von Justus Perthes in Gotha überwiesen.

H. W. in Breslau. Ungeeignet.



[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier z. Zt. nicht übernommen.]


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.