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Die Gartenlaube (1885)/Heft 43

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 43.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

„In Gedanken.“ Nach dem Oelgemälde von Pedro Weingärtner.

Als die beiden in der geräumigen Stube, die durch ihre gediegene, sauber gehaltene Ausstattung den behäbigen Wohlstand und die Ordnungsliebe ihrer Bewohner verrieth, bei dem schäumenden Bierkruge saßen, sagte Gidi, der Jäger:

„A saubers Deandl, ’s Veverl! Da paß auf – die wachst sich amal aus!“

„Ja – is a lieber Kerl! Und jeden Tag, seit ich s’ her’bracht hab’ in mein Haus, krieg’ ich mehr G’fallen an ihr,“ erwiderte der Bauer. „So a Madl findst net leicht – so fleißig und dabei so still und b’scheiden. Und für alles hat s’ an Dank – und völlig d’rauf sinniren thut s’, wie s’ ei’m a Freud’ machen kann. Und nachher – zu die Kinder, weißt, da stellt sie sich halt b’sonders gut. Wenn s’ nur net gar so voller Geschichten stecket! Allweil hat s’ mit ihre Geister z’ schaffen – und alle Tag’ redt s’ die Kinder so a paar Sachen in Kopf ’nein, wie g’rad jetzt eine g’hört hast.“

„Du – das mußt ihr fein ja net wehren!“ mahnte der Jäger. „Weißt, g’rad an solche Sachen haben Kinder a Freud’ – und so was bringt a Leben in ihr Kindergemüth. Solchene G’schichten machen ei’m die Kinderzeit gar lieb und schön – das weiß ich von mir selber. Ich hab’ an Ahnl g’habt, die hat mir auch von in der Fruh bis auf d’ Nacht ihre alten G’schichten vorplauscht. Und kannst mir’s glauben – dabei hab’ ich schier gar mehrer profitiert als in der Schul’. Wenn man nachher ins richtige Alter kommt, da lernt man ’s von ei’m selber, was man von solchene Sachen halten muß. Und wenn man z’letzt auch drüber lacht – ’s Gute davon bleibt deßwegen doch: daß man an Sinn hat für alles, was über’m Gartenzaun draußen wachst und lebt.“

„Ja, ja, ja – ich red’ ja net dagegen, aber ich mein’ nur, es wär’ für d’ Vevi schon an der Zeit mit’m richtigen Alter. Die glaubt ja heut’ noch an ihre G’schichten so fest als wie an unsern Herrgott.“

„So laß s’ dran glauben – is g’scheiter, als wie wenn s’ eine von die Aufklärten wär’, die sich mit vierzehn Jahr’ schon Wulsten in d’ Röck’ [698] ’neinnähen. Hast es ja selber g’sagt – kannst ja sonst net klagen! Und so a viel g’schickte Dingin muß das Deandl sein – das hab’ ich jetzt g’rad an dem Kranz g’sehen. Gelt – der Willkomm is wohl schon für’n Ferdl g’rechnet?“

Der Bauer schüttelte den Kopf. „Meiner Mariann’ hat ’s Deandl a Freud’ machen wollen.“

„Ja – wie is mir denn? Dein’ Bäuerin is auf der Reis’?“ platzte der Jäger los, während er mit lautem Klatsch die beiden Hände auf die Schenkel schlug. „Jetzt da schau her – ich bin doch a rechter Lackl. Jetzt erst fallt’s mir auf, daß ich Dein’ Bäuerin mit kei’m Aug’ noch net g’sehen hab! Ja, wo hat s’ denn hinreisen müssen?“

„Nach der Münchnerstadt,“ erwiderte der Bauer mit zögernden Worten. „Weißt – unser’ Hanni hat in der letzten Zeit allweil so verschmaachte[1], traurige Brief’ g’schrieben – und doch hat man ’s aus kei’m ’rauslesen können, ob ihr ’leicht was abgeht, oder ob ihr ’was net recht is. No – und weil ich mich halt doch recht g’sorgt hab’ – kennst ja d’Hanni, weißt ja, wie gut man ihr sein muß – ja – und – da hab’ ich halt z’letzt zur Mariann’ g’sagt: weißt ’was, fahrst ’nein in d’ Stadt und gehst hin zur Frau Gräfin, und da wirst ja nachher wohl derfahren können, was denn das eigentlich für a Sach’ is mit dem Madl seiner Traurigkeit. Weißt – ich wär’ schon am liebsten selber gern g’fahren – aber no – ich hab’ mir halt ’denkt, bei so ’was reden sich d’ Weiberleut’ allweil besser mit einander. Und zur Mariann’ hab’ ich g’sagt: jetzt schaust amal nach, und wenn ’was derfahrst, was Dir net taugt, nachher machst kurzen Proceß, packst das Madl z’samm’ und bringst es mit heim.“

Da wurde von der Straße her das Rasseln eines Wagens hörbar.

Der Bauer sprang auf und eilte auf eines der Fenster zu; aber kopfschüttelnd kehrte er wieder zum Tische zurück, während er mit besorgten Blicken auf die große silberne Uhr niedersah, die er aus der Westentasche gezogen hatte. „Ich kann mir gar nicht denken, warum d’ Mariann’ so lang ausbleibt. Sie is doch sonst so g’nau mit der Zeit – und – jetzt is schon sechse vorbei.“

„Soll Dein’ Bäuerin ’leicht heut’ noch heimkommen von der Stadt?“

„Ja – und drum hab’ ich den Dori mit mei’m Wagen ’neing’schickt in d’ Station. Um viere kommt der Zug –“

„Aber da können s’ ja noch gar net da sein. In zwei Stund’ fahrt man doch den Weg net!“

„Mit meine Roß aber schon!“ versicherte der Bauer mit breitem Stolz, um dann zögernden Wortes beizufügen: „Wenn ich nur wenigstens an andern g’schickt hätt’ als wie den Dori. Der Bua, der lacklete, hat sein’ langohreten Hirnkasten allweil voll mit seine Unfürm’[2] – weiß Gott, was er am End’ wieder ang’stellt hat – ’leicht hat er mir gar den Wagen umg’worfen in sei’m Uebermuth.“

„Aber Bauer – so sei doch g’scheidt! Wart’ halt noch a halb’s Stündl und mach’ Dir jetzt noch keine überflüssigen Sorgen.“

Da erschien Veverl an der Thür und rief den Bauer in den Hof hinaus, damit er den inzwischen vollendeten Schmuck der Hausthür betrachten möchte.

Gidi folgte dem Bauer und bestaunte mit ihm gerechtermaßen das in der That gar schmucke Aussehen der Thür. Noch ergingen sie sich im Lobe über Veverl’s Geschicklichkeit, als auf der Straße Räderrollen und Hufschlag nähertönte, darein sich hallende Peitschenschläge mischten, die in ihrer raschen, taktmäßigen Aufeinanderfolge eine Art von Melodie bildeten.

„Vater – das is der Dori – ich kenn’ ihn am Schnallen[3] – d’ Mutter kommt d’ Mutter kommt!“ jubelte Pepperl und rannte dem Zaune zu.

Inzwischen war Valtl aus dem Stalle herbeigesprungen und hatte das Einfahrtsthor sperrangelweit aufgerissen.

Jetzt tauchten um die vorspringende Hausecke des Nachbargehöftes mit wehenden Mähnen die beiden prächtigen Rappen, deren Stirnriemen und Scheuleder mit Veilchensträußen geziert waren, jetzt erschien Dori mit der kreisenden, hallenden Peitsche, und jetzt die Kutsche mit dem schwarzglänzenden Lederzeuge.

„Ja – heiliger Gott – was is denn,“ stammelte der Finkenbauer, „der Wagen is ja leer! Da hat’s ’was geben! Da hat’s ’was geben!“ Mit zitternder Hand löste er die Fingerchen seines Kindes von seinem Arme und eilte dem Wagen entgegen.

Ohne den Lauf der Pferde zu mäßigen, hatte Dori in tadelloser Kurve das bäuerlich schmucke Gefährte in den Hof gelenkt, wo er die beiden schnaubenden Thiere unter einem letzten Peitschenknalle durch einen kaum merkbaren Ruck der Zügel zum Stehen brachte.

Unter dem Einfahrtsthore hatte sich Pepperl in die hintere Federstange der Kutsche eingehängt, und so war er nun der Erste, der vor Dori stand, mit der Frage: „Han – Du – wo is denn d’ Mutter?“

„Was weiß denn ich? Wahrscheinlich in ihrem Rock,“ kicherte Dori, nahm den grünen Spitzhut ab und sprang vom Bocke.

Dieser siebzehnjährige Bursche bildete eine merkwürdige Erscheinung. Mit dem kurzen, kugeligen Leibe und den langen, mageren Armen und Beinen sah er einer aufrecht wandelnden Riesenspinne ähnlich; dieser Eindruck wurde noch unterstützt durch die absonderliche Bewegung, in der sich seine Arme und Beine fortwährend befanden; das sah sich immer an, als wollte er über hohe Stufen emporsteigen oder irgend ein Etwas von einem hohen Schranke herunternehmen. Man mochte sich die Nothwendigkeit dieser Bewegungen wohl erklären können, wenn man die qualvoll engen, aus einem groben, braun und grau karrirten Stoffe gefertigten Beinkleider betrachtete, wie die steifen, spannenden Falten des schwarzen Spensers, der dem Burschen kaum bis zu den Hüften reichte. An die verwachsenen Aermel, die bei jeder Bewegung zu platzen drohten, waren zinnoberroth gefütterte Aufschläge angestückelt. Der lange, magere Hals war dick umwunden von einem roth und weiß gesprenkelten Tuche, dessen zitternde Zipfel scharf hinausstachen über die Schultern. Der Kopf mit dem spitzen Kinne und dem breiten, flachen Schädel, an den die rothbraunen Haare mit reichlicher Pomade glatt angestrichen waren, mit den abnormen, weit abstehenden Ohrmuscheln und mit dem eintönigen Braun des verschmitzten Gesichtes wäre wohl einer doppelgehenkelten Terrakottavase zu vergleichen gewesen, hätte nicht die ruhelose Beweglichkeit dieses Gesichtes dem Vergleiche widersprochen. Das war ein ewiges Zwinkern, Blinzeln, Zucken und Gähnen, und wenn der Bursche dazu die Stirn runzelte, rührte sich seine ganze Kopfhaut, und die Ohrmuscheln geriethen in eine pendelnde Bewegung, gleich den Löffeln eines Hasen, der den nahenden Jäger wittert.

Dieses letztere Bild vollendete der scheue Blick, mit welchem der Bursche zu dem ernst gefurchten Gesichte des näher kommenden Bauern emporblinzelte; Dori fürchtete Wohl, daß sein Herr die wenig ehrfurchtsvolle Antwort gehört haben könnte, die er auf Pepperl’s Frage gegeben hatte. Als er aber aus dem Munde des Bauern nichts Anderes hörte, als nur die hastige, erregte Frage, weßhalb er allein zurückkäme, da war die Scheu wie weggeblasen, und in wortreicher Geschäftigkeit, und mehr fast mit Händen und Füßen als mit den Lippen, erzählte er von dem Verlaufe seiner Fahrt.

„Ja – und wie nachher der Zug ’rein g’fahren is in d’ Starzion,“ so schloß er, „da hab’ ich g’schaut und g’schaut – aber d’ Leut’ alle sind ’raus ’kommen, der Zug is wieder fort g’fahren, drin is ganz stad ’worden, und allweil war noch kein’ Bäuerin bei’m Zeug[4]. No – da hat mir nachher einer d’ Roß g’halten und ich bin selber ’nein in d’ Starzion, und allweil hab’ ich g’fvagt, und überall bin ich ’nein, wo a Thürl auf’gangen is, in all die Burauxen und Wartsaaler – aber von unserer Bäuerin hab’ ich nix g’hört und nix g’sehen.“

Schweigend kehrte sich der Finkenbauer von dem Burschen ab, und Veverl, welche die in Fragen sich erschöpfende Unruhe der beiden Kinder durch allerlei naive Ausflüchte zu beruhigen suchte, mit einem trüben Blicke streifend, ging er schweren, langsamen Schrittes der Hausthür zu.

Gidi folgte dem Bauer in die Stube, zu dessen Beruhigung er nun ähnliche, freilich ein wenig verständigere Gründe ins Feld führte, wie Veverl zur Beschwichtigung der beiden ungeduldigen Kinder. Aber was der Jäger auch anführen mochte, zu allem schüttelte der Bauer mit ernsten Blicken den Kopf. Er kannte seine Mariann’ – und sie kannte ihren Jörg und seine „sorgsame“ Natur. Da gab’s kein Versäumen des Zugs, keine Verzögerung durch Gänge und Besorgungen, kein längeres Anschauen [699] der Stadt, kein Verplaudern in lieber Gesellschaft. Wenn seine Mariann’ gesagt hatte: zu der und der Stunde komm’ ich – dann kam sie auch – oder –

Bei diesem Oder stockte der Bauer, als scheue er sich, den Gedanken auszusprechen, der sich für ihn an dieses Oder knüpfte. Aufseufzend näherte er sich einem der Fenster und riß es auf, als würde es ihm zu schwül in der Stube. Dann schob er sich hinter den Tisch, stützte die Arme auf und legte den Kopf zwischen die geballten Fäuste. Plötzlich wieder fuhr er auf:

„Hätt’ ich nur ’s Madel net mit fortlassen – im Herbst! Wär’ ich nur mei’m ersten Willeu g’folgt! Aber natürlich – wie’s halt so ’kommen is! Wenn so a fürnehme Frau vor ei’m dasteht und allweil in ei’n ’neinredt, da mußt am End’ Ja sagen, denn grob sein kannst ja doch net. Und – an d’ Hanni selber hab’ ich halt auch a bißl ’denkt. Sie is halt amal schon so ’worden, daß ’s ihr bei die herrischen Leut’ besser taugt als wie unter unserei’m. Weißt es ja selber.“

Der Jäger nickte; er wußte es freilich; während der sechs Jahre, die er nun im Dorfe war, hatte er es ja zum Theile mit angesehen, „wie das so gekommen“. Und was jener Zeit vorausgegangen, das hatte er so nach und nach aus Gespräch und Gespräch erfahren. Und wie viel des Guten hatte er dabei über die selige Finkenbäuerin gehört, die an dem Tage dahingegangen war, an dem sie der Hanni das Leben geschenkt hatte. Wenige Wochen später waren dem alten Finkeubauer von eiuem schlagenden Pferde die Rippen der Herzseite zerschmettert worden; lange Monate mußte er in schwerem Siechthume liegen, ehe der Tod ihn von seinen Leiden erlöste. Von ihm hatte Jörg, der bei seinen dreiundzwanzig Jahren schon ein „strammes resolutes Mannsbild“ war, als der Erstgeborene unter den fünf Geschwistern das Regiment auf dem Finkenhofe mit kräftigen Händen übernommen. Aber gleich im ersten Jahre seiner Herrschaft kam schwere Kümmerniß über den jungen Bauer, der mit einer seltenen Zuneigung an seinen Geschwistern hing. Es schien, als hätte der Tod in dem freundlichcn Hause sich heimisch gefühlt. Noch trauerte Jörg mit ehrlichem Herzen um die geschiedenen Eltern, da mußte er auch die beiden Geschwister zu Grabe tragen, die im Alter zwischen ihm und Ferdl standen; in der gleichen Woche waren sie an den schwarzen Blattern gestorben. Als die Krankheit bei ihnen ausgebrochen war, hatte Jörg die beiden jüngsten Geschwister aus dem Hause geschafft. Seinen „Ferdlbuzzi“, der damals ein Bürschlein von sechs Jahren war, hatte er zu einem Verwandten der Mutter gebracht, in ein fünf Stunden vom Dorfe entferntes Gehöft. Doch ehe noch eine Woche vergangen war, erschien eines Abends der Knabe im Finkenhofe, allein, über und über verstaubt und triefend von Schweiß – „ganz verlechzt und derlegen“, wie der Finkenbauer zu erzählen pflegte, wenn er auf diese Geschichte zu sprechen kam, die er zumeist mit den Worten schloß: „Und weißt, was er g’sagt hat, der kleine Loder, wie ich ihn in mei’m ersten Schrecken völlig angefahren hab’, weßwegen als er durchbrennt wär’ bei seine Vetterleut’? Da hat er so aufg’schaut zu mir mit nasse Augen – und g’rad g’stößen[5] hat’s ihn, wie er g’sagt hat: ,Ich – ich hab’s nimmer ausg’halten – weil – weil’s mich gar so b’langt[6] hat nach mei’m Jörgenbruder!‘ Da hab’ ich ihm aber schon a Bussel ’naufdruckt, das er g’spürt hat a vierzehn Tag’ – und seit der Stund’, da is Dir das Büabl mein Auf und Nieder g’wesen – da hat’s fein nix mehr ’geben!“

Und dieser Geschichte pflegte der Finkenbauer in lächelndem Bruderstolze manchmal die Vermuthung beizufügen, daß wohl auch sein „Hanniderl“ so zu ihm gelaufen gekommen wäre, wenn es damals überhaupt schon hätte laufen können.

Das kleine Hanniderl hatte in jenen bösen Tagen eine „gar hochwürdige Unterkunft“ gefunden. Die alte Schwester des Pfarrers, die das Kind aus der Taufe gehoben, hatte es zu sich in den Pfarrhof genommen – und da wurde das herzige Wesen in kurzer Zeit das lachende Licht des sonst so stillen Hauses, der gehätschelte Liebling des hochwürdigen Herrn und seiner ehrwürdigen Schwester. Als dann der Finkenhof wieder rein war von dem verderblichen Odem jenes finsteren Gastes, entspann sich zwischen Jörg und der Schwester des Pfarrers ein hartnäckiger Kampf: der eine wollte das Kind bei sich im Hause haben, die andere wollte den Liebling nicht aus ihrer Pflege entlassen. Und Jörg war es, der am Ende nachgab – aus verständiger Zuneigung zu dem Schwesterlein. Er mußte sich sagen, daß er bei all seiner Liebe das Kind selbst nicht warten konnte, daß er ihm eine fremde Person halten müßte, die dem Kinde doch gewiß nicht jene zärtliche Fürsorge widmen würde, deren es bei jenen beidcn alten Leuten sicher war, die es liebten wie eigenes Blut. So verblieb denn das Hanniderl im Pfarrhofe; alltäglich wurde es in den Finkenhof zu Besuch getragen, bis es diese Besuche auf eigenen Füßen abzustatten vermochte; an groben Wetterlagen und auch sonst an manch einem Abende kam Jörg mit dem munter sich streckenden Ferdl auf ein Plauderstündchen in den Pfarrhof, und niemals kam er, ohnc dem Kinde einen Leckerbissen oder ein Spielzeug mitzubringen.

Die Jahre vergingen, und aus dem Hanniderl wurde das kleine Hannerl, ein liebliches, bescheidenes, wohlerzogenes Mädchen, das in der Schule stets auf dem ersten Platz saß, dem alle Bewohner des Dorfes freund waren, obwohl sie es bald nicht mehr als ihres Gleichen betrachteten und ihm jene respektvolle Behandlung angedeihen ließen, als wär’ es ein Kind „fürnehmer“ Leute. Vielleicht lag die erste Ursache dieser Behandlung nur in der städtischen Kleidung, die das Mädchen auf Anordnung seiner Pathin zu tragen bekam; bald aber fanden sich weitere nachhaltige Ursachen hierfür in der Art und Weise, in der sich Hanni’s Wesen entwickelte. Der alte Pfarrer, ein edel gearteter, fein gebildeter Mann, der außer der Bibel auch andere Bücher nach ihrem Werthe gelten ließ, hatte seinen und seiner Schwester Liebling auch zu seiner Schülerin gemacht. Dadurch kam es, daß Hanni gar bald in allem und jedem ihre Altersgenossinnen weit überragte, in denen die hierdurch erweckte Scheu jede gespielsame Vertraulichkeit erstickte. So sah sich das Mädchen in den sommerlichen Ferienwochen und in den spärlichen Freistunden der übrigen Zeit auf den Verkehr mit ihrem Bruder Ferdl beschränkt, der mit einer abgöttischen Verehrung an seiner Schwester hing. Wenn sie kam, um mit ihm durch Wiesen und Wald zu streifen, dann warf er gar eilig Holz und Messer in die Ecke, diese beiden Dinge, die ihm doch in der Schule schon über Tafel und Griffel und selbst über Essen und Trinken gingen. Späterhin aber fand das Mädchen noch einen zweiten Gespielen in Ferdl’s „noblem Kameraden“, in dem mit diesem gleichalterigen jungen Grafensohne aus dem Schlosse droben, einem hübschen, schlank gewachsenen Knaben von feinem, traulich munterem Wesen.

Von der Stunde an, in welcher Luitpold mit seinen Eltern auf dem Schlosse zur Sommerfrische eintraf, war er von Ferdl fast unzertrennlich, tobte und tollte mit ihm, ließ sich von ihm leiten und führen und verführte ihn wohl auch selbst zu kecken Streichen, die dann stets, wie sie auch ausfallen mochten, an Jörg einen lächelnden Vertheidiger fanden. Der junge Bauer war ordentlich stolz auf den „nobligen Umgang“ seines Herzbuben. Und doch – wenn man den Verkehr der beiden Knaben in ihrem Zusammensein mit „Hannchen“, wie Luitpold das Mädchen nannte, des genaueren beobachtete, mochte es fast den Anschein gewinnen, als pflegte das junge Herrchen die Kameradschaft mit dem Bauernsohne nur um dessen kluger, lieblicher Schwester willen, die in seiner Sprache mit ihm redete und seine Gedanken mit ihm dachte.

Dieses trauliche Zusammenleben nahm ein plötzliches Ende, als Ferdl mit sechzehn Jahren nach Berchtesgaden zu einem tüchtigen Holzschnitzer in die Lehre gebracht wurde. Es war das des Knaben eigener, heißer Wunsch gewesen – und doch kostete ihm der Abschied von Bruder und Schwester bittere Thränen. Auch Luitpold blieb in den nächsten Jahren dem Dorfe ferne, da er die Sommermonate in einem Seebade verbrachte, welches sein Vater zur Stärkung seiner Gesundheit besuchen mußte. Hannchen schien diesen doppelten Verlust recht schwer zu empfinden; sie wurde so seltsam still und in sich gekehrt. Darin änderte auch der Wechsel ihrer äußeren Lebensweise nichts, der bald nach Ferdl’s Abreise vor sich ging. Schon seit Jahren hatte es Jörg alljährlich ein paarmal versucht, sein Hannerl aus dem Pfarrhofe zu entführen – aber immer wieder hatte er sich durch die Bitten der Pfarrersschwester die Bewilligung neuer Fristen abschmeicheln lassen. Unerbittlich jedoch wurde er, als er sein Begehren durch den Vorhalt unterstützen konnte, daß das Mädchen nun auch im elterlichen Hause in guter Pflege und unter geziemender Aufsicht stehen würde – als nämlich auf dem Finkenhofe eine junge Bäuerin

[700]

Rumänische Bauern die Hora tanzend.
Nach einer Photographie auf Holz übertragen.

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Schloß Sinaja in Rumänien.
Nach dem Oelgemälde von Prof. August Becker in Düsseldorf.

[702] ihren Einzug gehalten hatte. Es war das gar rasch gekommen, mit dieser „Freit“ – und es war dabei gar einfach zugegangen. Es war da eines Tages auf dem Finkenhofe eine junge, saubere, blonde Dirne in Dienst getreten, die Mariann’, auch eine Waise, die nur noch einen Bruder hatte, der tief in den Bergen ein kleines Häuschen besaß und als Holzknecht, Pechsammler und Schachtelmacher sein und seines Kindes Leben fristete. Von allem Anfang an war Jörg über die Maßen zufrieden mit seiner neuen Oberdirne, die bei jeder Arbeit so herzhaft zugriff, mit so stillem Fleiße im Hause waltete, immer und überall den Vortheil ihres Herrn zu wahren bestrebt war, als wär’ es ihr eigener. Da begann denn Jörg gar bald zu denken: die Mariann’ gäb’ einmal eine richtige Bäuerin ab – und von diesem Gedanken war nur noch ein kleiner Schritt zu dem andern: die Mariann’ wär’ die richtige Bäuerin für mich! Auf Geld brauchte er ja nicht zu sehen, er, der Finkenhofbauer, den die Leute im Dorfe den „Goldfink“ nannten. Eines Abends nun, als Mariann’ den jungen Bauer auf einen Uebelstand in der herkömmlichen Milchwirthschaft aufmerksam machte und wohlmeinend beifügte: zu so etwas gehöre halt eine Bäuerin her – da lächelte Jörg und sagte: „No, da is ja leicht g’holfen! Werd’ halt Du mein’ Bäuerin!“

Der Mariann’ schoß das Blut bis unter die Haare, und ganz starr schaute sie den Bauer an: dann verließ sie wortlos die Stube – und am andern Morgen kündigte sie den Dienst auf. Jörg nickte nur und ließ sie gehen; es war ihm völlig recht so, denn er konnte seine Bäuerin doch nicht geraden Wegs aus dem eigenen Gesindehause holen. Drei Tage später aber fuhr er der Mariann’ nach, die zu ihrem Bruder gegangen war, und wiederholte in aller Form seinen Antrag. Zwar erröthete die Mariann’ auch jetzt wieder bis unter die Haare – aber sie blieb nicht wortlos, wenn es auch nur ein einziges Wörtlein war, das sie sagte: „Ja!“

Und die Mariann’ wurde dem Jörg, was er sich von ihr versprochen hatte, eine treffliche Frau – dazu noch eine gute Mutter der zwei hübschen kräftigen Kinder, mit denen sie ihn beschenkte. Jörg wurde der Frau, die er sich eigentlich doch nur aus verständiger Ueberlegung genommen, von Herzen gut – und auch sie war ihm gar zugethan, wenn sie dies auch nie in Zärtlichkeiten äußerte. Ihr Mann stand für sie immer über ihr, sie schaute zu ihm auf, sein Wille war der ihre, sein Wort ihr Gesetz, sie dachte, wie Jörg dachte, und that, was er gethan wissen wollte. Auch ihr Gefühl für seine junge Schwester, welche bald nach der Hochzeit in das heimische Haus übersiedelte, war in erster Linie Verehrung; sie behandelte das Mädchen, so herzlich dasselbe der Schwägerin auch entgegenkam, stets wie einen vornehmen Gast. Freilich, Hanni verbrachte auch jetzt den größten Theil des Tages im Pfarrhause, wo sie lernte und lernte, was der alte Pfarrer und seine Schwester sie nur zu lehren wußten. Nur wenn der Ferdl zu Besuch ins Dorf kam, dann erhielten Hanni’s Bücher und Hefte Ferienzeit – und da sah man die Beiden fast nie ohne den Jörg, und den Jörg fast nie ohne die Beiden, so daß man sie im Dorfe nur die „verliebten G’schwister“ nannte.

Auch die Mariann’ betrachtete dieses Zusammenhalten mit lächelndem Gesichte, sie selbst und ihre Kinder kamen ja dabei nicht zu kurz – und der Ferdl war nun einmal die Freude ihres Mannes, die Hanni sein Stolz. Aus dem Ferdl war aber auch ein Bursche geworden, an dem man seine Freude haben konnte: schmuck und stramm, und ebenso wohlgerathen im Charakter, wie in seinem Aussehen. Und gar, als er zum ersten Male in der knappen, kleidsamen Soldatenuniform erschien, als er heimkehrte aus Frankreich, geschmückt mit dem eisernen Kreuze und der goldenen Medaille, da rannte das ganze Dorf zusammen, um den Ferdl anzustaunen. Bei jedem seiner Besuche brachte er als Geschenk für den Bruder ein schönes Schnitzwerk mit, und diese Arbeiten, welche in Hanni’s freundlichem Stübchen aufgestellt wurden, zeigten von Besuch zu Besuch, wie Ferdl aus einem Handwerker ein Künstler in seinem Fache zu werden begann. Häufig, wenn er im Dorfe anwesend war, äußerte er der Schwester gegenüber, wie sehr es ihn freuen würde, seinen Jugendkameraden, den „Grafen Luitpold“ wieder einmal zu sehen.

Immer schwieg die Schwester zu solchen Worten – kaum daß sie ein wenig mit dem Köpfchen nickte; dennoch aber meinte Ferdl ihr anzumerken, daß sie seinen Wunsch theilte, wenn sie es auch mit keiner Silbe verlauten ließ. Das war überhaupt so ihre Art geworden: von allem, was sie bewegen und erregen mochte, kam nur wenig über ihre Lippen. Ihre Denk- und Empfindungsweise ging weit über das Leben hinaus, von dem sie umgeben war. Im Hause des Bruders fand sie wohl Liebe und Verehrung in Fülle, aber wenig Verständniß; das machte sie schweigsam und verschlossen; gesprächig wurde sie nur im Pfarrhofe, wo sie in der letzten Zeit der kränkelnden Schwester ihres alten Lehrers die einst genossene Pflege mit gleichem Dienste vergelten konnte. Unwillkürlich übte sie jene Wortkargheit nach und nach auch gegen Ferdl, wenn er zugegen war – und der hätte sie vielleicht doch in so manchem verstanden, was sie vor ihm in sich verschloß.

Als Ferdl nach abgedienter Militärzeit das letzte Mal im Finkenhofe zu Besuche gewesen war und vom Grafenjäger erfahren hatte, daß Luitpold, der im Munde der Schloßleute bereits „der junge Herr Graf“ geworden war, im nahenden Sommer die Eltern wieder einmal in das Dorf begleiten würde, da war auf seinen Lippen mit dem Luitpold kein Ende gewesen. Alles was er von Gidi über ihn erfahren konnte, hinterbrachte er wieder der Schwester: daß Luitpold nun seine Universitätszeit vollendet habe, daß er während der letzten Jahre nicht habe kommen können, weil er alljährlich die Ferienmonate dazu benutzt hätte, die Hauptstädte fremder Länder zu bereisen, und daß er nun einer von jenen großen Herrn zu werden gedächte, die über das Wohl und Wehe der Staaten mit einander zu verhandeln haben.

Da war es nun dem Ferdl bitter leid, daß er die Ankunft des Vielbesprochenen nicht abwarten konnte, da er sich für Georgi bereits wieder nach Berchtesgaden verdingt hatte, wo sich die Meister um den außergewöhnlich tüchtigen Gesellen förmlich rauften. Zwei Monate nach seiner Abreise trafen sie ein, die Gräfin, der Graf, von dem die Leute meinten, daß er während des letzten Winters recht „zusammengegangen“ wäre, und Luitpold, den man kaum wieder erkennen wollte. Als sie am Finkenhofe vorüberfuhren, lief alles an den Zaun, was Füße hatte – nur Hanni war in ihrem Stübchen verblieben; sie hob nicht einmal die Augen von ihrem Buche, als drunten der Wagen rasselte. Am andern Morgen schon kam Luitpold in den Finkenhof, brachte dem Bauer Grüße vom Vater und frug nach dem „Ferdinand“ und nach dem „Hannchen“. Mit breitem, behäbigem Stolze erzählte Jörg von seinem Ferdl. Dann holte er die Hanni herbei; er hatte so merkwürdig gelächelt, als er nach dem „Hannchen“ fragen hörte. Nun erschien sie unter der Thür – und da standen sich die Beiden gegenüber und starrten sich an mit so seltsamen Blicken – das Mädchen den Jüngling mit der vornehmen, hochgewachsenen Gestalt, mit dem feinen, stolzen Kopfe und den edlen Zügen – er das Mädchen mit dem madonnenhaft schönen Gesichte und den tiefen, seelenvollen Augen, in dem geschmackvoll schlichten, grauen Gewande, das sich in weicher Glätte um die sanften Formen des jungfräulichen Körpers schmiegte.

Jörg in seinem Bruderstolze weidete sich an der „Ueberraschung“ seines Gastes, der Mühe zu haben schien, für das Mädchen, für „Fräulein Johanna“, ein paar freundliche Worte zu finden. Nach kurzem Verweilen entfernte sich Luitpold mit einer fast auffälligen Eile. Als er einige Tage später der Johanna im Dorfe begegnete, schritt er an ihr vorüber, indem er sie wortlos grüßte; dabei aber zog er den Hut so tief, als wäre sie seines Gleichen. Vielleicht hatte Johanna nur den ersteren Umstand beachtet, und nicht auch den letzteren, vielleicht sah sie darin die Aeußernng eines Stolzes, der sie wohl kränken konnte – sie begann dem jungen Manne auszuweichen, und häufig, wenn sie ihn allein oder in Begleitung des Jägers die Straße einher kommen sah, trat sie unter einem rasch ersonnenen Vorwande in das nächste Haus.

Da war es nun Luitpold’s Mutter, welche die Beiden wieder in nähere Berührung mit einander brachte. Die Frau Gräfin hatte eines Sonntags die Johanna in der Kirche singen hören. Das Mädchen besaß eine Altstimme von wunderbar weichem Klange und ergreifender Innerlichkeit – und wenn diese Stimme während des Hochamtes vom Chore niederzitterte durch den weiten Kirchenraum, dann sagten die Bauern, daß sich dabei zehnmal leichter und besser beten ließe, als wenn der alte Schulmeister [703] mit seinem näselnden Organe das „Gloria“ oder das „Agnus Dei“ sang. Auch der Frau Gräfin hatte Johanna’s Gesang gar wohl gefallen; sie erkundigte sich bei dem Pfarrer nach dem Mädchen, erfuhr da natürlich das Allerbeste – und die Folge davon war, daß Johanna auf das Schloß geladen wurde.

Sie kam – und mußte kommen und wiederkommen, so großes Gefallen fand die vornehme Dame an der schön und tief veranlagten Natur des bezaubernden Geschöpfes, an seinem fein bescheidenen Wesen und an seinem für ein Mädchen fast reichen Wissen. Und gar, als im Herbste die traurigen Tage kamen, in denen die zunehmende körperliche Schwäche des Grafen mit ungeahnter Schnelligkeit die Auflösung herbeiführte, da ließ die trauernde Wittwe das Mädchen, dessen Anblick ihr schon ein Trost zu sein schien, kaum mehr aus ihrer Nähe.

Dieser von beiden Seiten so herzliche Verkehr setzte sich im folgenden Frühjahre fort, als die Gräfin mit ihrem Sohne wieder in das Dorf zurückkehrte. Wie im vergangenen Sommer, so behandelte Luitpold auch jetzt die junge Freundin seiner Mutter mit ausgesuchter Höflichkeit – und dennoch wechselte er niemals andere Worte mit ihr, als eben jene, die der Verkehr bei Tische und das kürzere oder längere Zusammensein mit ihr in den Zimmern seiner Mutter gezwungener Weise erforderte. Ueberdies – er war ja die meiste Zeit vom Schlosse abwesend. Ganze Wochen durchstreifte er, die Büchse auf dem Rücken, unter Gidi’s Führung die Berge, von denen er mit jedem erlegten Wilde der Mutter einen herzlichen Gruß in das Thal sandte. Wenn er dann für einige Rasttage in das Schloß zurückkehrte, geschah es wohl, daß die Gräfin mit einem Lächeln, welches sich freilich nicht allzu fröhlich ansah, den Sohn ermahnte, über seinen Hirschen und Gemsen nicht ganz der Mutter zu vergessen.

Aber all diese Mahnungen blieben fruchtlos, sie schienen eher das Gegentheil von dem zu bewirken, was sie erwirken sollten – und das war um so mehr zu verwundern, als doch sonst an Luitpold die innige Liebe und die hohe Verehrung für die Mutter aus jedem seiner Blicke, aus jedem seiner Worte sprach. Luitpold’s immer wiederholte Rede: „Im Winter, liebe Mama, will ich Dich für diesen Sommer doppelt entschädigen!“ – das war noch der einzige Trost, der aus solchen fruchtlosen Mahnungen für die Gräfin entsprang. Enger und enger schloß sich die Gräfin in diesen stillen, einsamen Tagen an Johanna an – und als der Herbst mit seinen rauhen Stürmen und seinen wirbelnden, welken Blättern in dem lieblichen Bergthale Einzug hielt, da war geschehen, wovon Jörg zu Gidi gesprochen: die Frau Gräfin hatte sich dem Bauer gegenüber so lange aufs Bitten verlegt, bis er die Schwester mit ihr in die „Münchnerstadt“ hatte ziehen lassen.

Jörg hatte ungern das Ja gesagt, denn der Anblick seiner Hanni war ja auch ihm eine Freude, die er schwer entbehrte – aber er hatte ihr angemerkt, wie sehr ihr eigenes Herz an dieser Reise hing, wenn sie auch keine Silbe darüber verlauten ließ, wohl um den Bruder nicht zu kränken – und dann hatte Jörg auch bedacht, daß die Hanni nach solch einem Sommer im Dorfe einen gar traurigen Winter haben würde, um so mehr, da in den letzten Septembertagen ihre alte, mütterliche Freundin aus dem Pfarrhofe in den Kirchhof übergesiedelt war.

Jetzt freilich, in seiner ungewissen Sorge, reute ihn jenes Ja – und ein um das andere Mal murmelte er vor sich hin: „Ich hätt’s net zulassen sollen!“ Und nach einer stummen Weile fuhr er auf, wie in Unwillen wider sich selbst. „Ich hab’ dazu noch ’was g’hört g’habt – selbigsmal – was mich hätt’ stutzig machen müssen. Weißt – Dein junger Herr Graf, der hat fein gar kein b’sonders gut’s G’sicht dazu g’macht, wie er derfahren hat, daß d’ Hanni mit seiner Frau Mutter geht.“

„Jetzt das möcht’ ich schon wissen, von wem Du so ’was g’hört haben kannst?“ frug Gidi hastig und mit ungläubiger Miene.

„Vom Eustach, vom alten Kammerdiener.“

„No, da bist aber g’scheit g’wesen,“ ereiferte sich der Jäger, „wenn so einer alten Ratschen[7] was glauben hast können.“

Jetzt weißt – wann er auch ’leicht a bißl übertrieben hat – ’was dran g’wesen muß halt doch sein. Und da wird halt jetzt der noble junge Herr der Hanni ’s Leben recht sauer g’macht haben – und wird ihr halt die Bauerntochter allweil vorg’rieben haben – in sei’m Grafenhaus. Das hat man ja so wie so sehen können – im letzten Sommer – daß er sich a bißl gar hochmüthig stellt – gegen d’ Hanni –“

„Hochmüthig? Mein junger Herr Graf? Und hochmüthig gegen d’ Hanni?“ platzte der Jäger los, um dann Jörg mit einem unsicheren Blicke zu streifen und zögernd beizufügen: „No mein – das heißt – weißt – wie man halt so ’was anschaut.“

Forschend hob Jörg die Augen zu dem Gesichte des Jägers, als vermuthe er, daß hinter diesen letzten unbehilflichen Worten mehr zu suchen wäre, als sie zu sagen schienen. Gidi aber hielt den Blick des Bauern aus, ohne mit einer Wimper zu zucken.

Und während die Beiden so saßen, Aug’ in Auge, hörten sie plötzlich durch das offene Fenster Dori’s flüsternde Stimme: „Da schau, Veverl, was ich Dir mit ’bracht hab’.“

„Geh’ – den schönen Veigerlbuschen!“ hörte man das Mädchen stammelnd erwidern.

„Ja – was is denn – Veverl! Was hab’ ich denn ang’stellt – han – warum weinst denn jetzt?“

„Vor Freud’ – und – und – weißt, die Bleamerln mahnen mich halt an mein liebs Vaterl selig – in jedem Fruhjahr’ hat er mir die ersten Veigerln heim ’bracht, wo er g’funden hat – und – drum sag’ ich Dir schon so viel Dank – schau – so viel –“

„No – wenn’s Dich nur freut – wenn’s Dich nur freut!“ hörte man den langohrigen Burschen mit einer Stimme sagen, die wie Schluchzen und zugleich wie unterdrücktes Jauchzen klang. „Und alle Jahr’ – alle, alle, hundert Jahr’ lang, sollst die ersten haben – und jedesmal an Buschen, schier größer als wie mein Kopf –“

„So viel Veigerln findt er net!“ lächelte in der Stube der Jäger dem Bauer zu, während Dori draußen vor dem Fenster mit hastigem Flüstern weitersprach:

„Aber gelt – mußt fein zu niemand nix sagen, daß die Bleameln von mir hast – weißt –“ Dori’s Stimme nahm einen rührend schlichten Klang an, „weißt – sonst spötteln s’ mich wieder – wegen Deiner – und – das kann ich halt gar net hören – das sticht mich ganz in mir drin – und schon gar, wenn’s der Valtl derfahren thät’ –“

Leiser und leiser war die Stimme geworden – die beiden mußten sich aus der Nähe des Fensters entfernt haben – und nun erlosch sie ganz. Drinnen in der Stube aber brach Jörg die Stille, indem er sich an Gidi wandte:

„Ja, Du – was ich heut’ schon lang hab’ sagen wollen – gelt, Du hast ’was gegen den Valtl?“

„Ich?“ that der Jäger ganz verwundert. „Ah na – gar kein’ Schein. Wie kommst denn jetzt auf so ’was?“

„No – ich mein’ halt – weil ihn allweil gar so g’spaßig anschaust – und nachher – ich hab’ halt derfahren, daß er öfters in der Nacht net daheim is – ja – und gestern, wie’s so um Tagsgrauen g’wesen is, da hab ich im Zufall zum Fenster ’nausg’schaut – und da is er über d’ Wiesen ’runterg’stiegen, vom Bründlkopf her.“

„Wird halt in die obern Höf’ wo fensterln g’wesen sein,“ warf Gidi mit anscheinender Gleichgültigkeit ein, im Stillen dachte er aber doch daran, daß er am verwichenen Morgen vergebens nach dem Falzgesange des Auerhahns ausgehorcht hatte, der vor zwei Tagen im Frühlichte auf der Höhe des Bründlkopfes noch so lustig „geschnackelt“ hatte.

„No ja – es kann ja sein, daß nix dahinter is,“ meinte Jörg. „Wenn aber was dahinter wär’, nachher kannst offen mit mir reden. Mich kennst! Auf mei’m Hof, da duld’ ich kein Unrechtlichkeit.“

Noch hatte Jörg nicht ausgesprochen, als sich vom Hofe her Veverl’s ängstlich erregte Stimme vernehmen ließ: „So lassen S’ mich doch aus! Was wollen S’ denn von mir?“ – und gleichzeitig hörte man ein ganz absonderlich hölzernes Gelächter.

„Jeh – der Kommandant!“ fuhr Gidi auf.

„Was will denn der wieder amal in mei’m Hof?“ murmelte Jörg, die Stirn furchend. „Den ganzen Winter über hat er sich net sehen lassen.“

„Wahrscheinlich, seit d’ Hanni aus ’m Haus is!“ lächelte der Jäger.

Schwere Tritte klangen im Flur, ein Geräusch ließ sich hören, als würde ein Gewehr niedergestellt – dann öffnete sich langsam die Thür.


[704] In die Stube trat eine untersetzte, leicht zur Korpulenz neigende Mannsperson in der dunkelgrünen Uniform der Gendarmen. Der Gutmüthigkeit des Gesichtes konnte der martialische Schnurrbart wenig anhaben, da die verdüsternde Wirkung desselben durch den beruhigenden Purpuranflug der rundlichen Nase so ziemlich ausgeglichen wurde. Nur in den Augen zeigte sich etwas, was nicht „ganz gut“ war – ohne gerade böse zu sein; sie standen so weit offen und hatten einen so merkwürdig gierigen Blick.

Das war Herr Simon Wimmer, der „Kommandant“, der im Range eines Feldwebels stehende Befehlshaber des im Dorfe liegenden, zwei Mann starken Gendarmeriepostens. Vor neununddreißig Jahren war er im Lande der dreispitzigen Hüte und langen Rockschöße geboren worden. In den letzten zwölf Jahren seines Lebens, die er zumeist in oberbayerischen Ortschaften verbracht, hatte er sich wohl den oberbayerischen Dialekt so ziemlich angewöhnt; doch hatte er noch so manche Merkmale seiner schwäbischen Heimathssprache beibehalten, und da war nun seine Art zu reden gar wunderlich anzuhören.

Die Leute im Dorfe, in das er vor drei Jahren versetzt worden war, zeigten sich ihm nicht sonderlich gewogen, obwohl er in Waltung seines Amtes durchaus keinen bösartigen Charakter entfaltete. Aber der Bauer ist dem grünen Tuche mit den blanken Knöpfen im allgemeinen nicht sehr freundlich gesinnt – und im besonderen hatte es Herr Wimmer nie verstanden, sich bei den Leuten in guten Respekt zu setzen.

Eine heilige Scheu aber hatte die holde Weiblichkeit des Dorfes vor dem Herrn Kommandanten – das heißt, weniger vor ihm als vor seinen dicken Fingern, welche eine unverbesserliche Neigung bekundeten, in runde, rothe Wangen zu kneifen, eine Neigung, die sie sogar zu jener Zeit nicht abgelegt hatten, in der ihr Besitzer der „Finkenhofschwester“ auf Freiersfüßen nachgestiegen war, wobei er sein zweckloses Unterfangen durch die Behauptung zu motiviren gesucht hatte: „Büldung und Büldung g’hören älleweil zu einander, und ein Ang’stellter wird ihr wägerle[8] lieber sein als so a unförmiger Bauernknecht.“

Seit jener Zeit war dem Herrn Simon Wimmer der Spitzname „die ang’stellte Büldung“ verblieben, als einer der vielen, die im Dorfe von ihm gebraucht wurden; unter ihnen allen aber waren es besonders drei, die sich eines bevorzugteren Gebrauches erfreuten: da nannte man ihn einmal mit einer doppelt an seine Heimathsprache gemahnenden Diminutivform den „Simmerle Wimmerle“. Diesen Spitznamen hatte ihm ein Bursche aufgebracht, der ihn einst bei einem zärtlichen Stelldichein belauscht und dabei zu der Dirne hatte sagen hören. „Schätzele – geh – sag’ Simmerle zu mir.“ Andere wieder nannten ihn „die verfluchte Geschichte“ – und das leitete sich von einer typischen Redensart her, die der Herr Kommandant in sorgenvollen Momenten oder in Augenblicken der Unentschlossenheit im reinsten Hochdeutsch zwischen den Mischmasch seiner beiden Dialekte einzuwerfen liebte. Die Meisten aber nannten ihn den „Didididi“ – und sie trafen mit diesem Naturlaute ziemlich genau den merkwürdig hölzernen Klang des kurzen Gelächters, welches Herrn Wimmer eigen war; das klang, wie wenn der Rothspecht hämmert an einer hohlen Fichte. Mit diesem Lachen trat nun auch Herr Wimmer in die Stube. Gar freundlich grüßte er die Beiden, die am Tische saßen. Jörg erwiderte den Gruß und erhob sich mit der Frage, was dem Finkenhofe die Ehre dieses „seltsamen Besuches^ verschaffe.

„Didididi!“ lachte Herr Wimmer und blinzelte den Bauer mit einem Blicke an, als ob er ihn für den durchtriebensten Schelm auf Gottes Erde hielte. „Was ischt denn das? Was ischt denn das? A kleins Geheimißle auf ’m Finkenhof? Ich hab’ ja a neus G’sichtle g’sehen, a neus G’sichtle – und was für a saubers G’sichtle! Und natürlich, natürlich, so ’was muß ich gleich beaugenscheinigen, ich in meiner Stellung als oberste Aufsichtsbehörde – ooooh –“ Herr Wimmer hatte sich dem offenen Fenster genähert; legte die Mütze ab und schob den Kopf mit einiger Mühe durch die engstehenden Eisenstäbe. „Aelleweil noch a finsters G’sichtle – älleweil noch?“ lachte er in den Hof hinaus, ohne von Veverl eine Antwort zu erhalten.

„Du – den wirst jetzt wieder an öften zum Anschauen kriegen in Dei’m Hof,“ flüsterte Gidi dem Bauer zu. „Ich mein’, bei dem brennt’s schon wieder.“

„Mein’, im Stroh zündt’s halt leicht.“

Von Gidi’s Lippen schütterte ein lautes Lachen – und als hätte Herr Wimmer dieses Lachen auf sich bezogen, so hastig versuchte er seinen Kopf durch das Fenster zurückzuziehen, ein Versuch, der dem Herrn Kommandanten einen stöhnenden Schmerzensruf entpreßte, gleich zwei Widerhaken hielten ihn seine beiden Ohren vor den Eisenstäben gefangen – und erst, als Herr Wimmer seinen Befreiungsversuch mit überlegungsvoller Ruhe wiederholte, gelang es ihm, sein dem Umfange nach so wohlgerathenes Haupt aus der unangenehmen Zwangslage zu erlösen.

Die Beiden am Tische lachten, daß ihnen die Thränen in die Augen traten, und als Herr Wimmer sich ihnen näherte, mit den Händen die gerötheten Ohren reibend, sagte Gidi:

„Ja – schauen S’ – so a g’sundes Köpfel hat halt net a Jeder. Bei uns, da sind halt d’ Fenstergitter g’rad auf’s Bauernkopfmaß g’rechnet.“

Herr Wimmer spielte den Klugen und lachte mit, obwohl ihm die innerliche Verdrossenheit deutlich aus den Augen sprach. Dann kam er wieder auf das „neue saubere G’sichtle“ zu reden, und er setzte dem Finkenbauer so lange mit Fragen zu, bis er Alles erfahren hatte, was Jörg über Veverl’s Herkunft zu berichten wußte.

Vor wenigen Wochen erst hatte er das Mädchen in sein Haus gebracht. Vevi’s „Vaterl“ war jener Bruder der Finkenbäuerin gewesen, der tief in den Bergen das kleine Häuschen besaß. Die Leute hatten von ihrem Standpunkte aus mancherlei Gründe, wenn sie sagten, er wäre ein „g’spaßiger Kamerad“ gewesen. Er verkehrte nicht gerne mit Menschen. Das war schon als Knabe so seine Art gewesen, mit elf Jahren war er Hüterbub geworden, als er aber sechs Jahre später zum Senn avancirte, taugte ihm das „milchige G’schäft“ nicht lange; da wurde er dann Holzknecht; aber niemals verdingte er sich an einen Rottmeister – er arbeitete nicht gern mit anderen Knechten, denn es kränkte ihn, daß sie darüber spotteten, wenn er vor dem Fällen eines Baumes über denselben den Bannsegen sprach, damit die „Alfin“ durch die Axthiebe nicht verwundet würde, oder wenn er, der vor dem wilden Jäger fliehenden Waldweiblein denkend, in die Rinde des gefällten Stammes die zwei schiefliegenden Kreuze schnitt, damit die armen Verfolgten gefahrlos auf dem Stamme rasten könnten. So nahm er nur Arbeit für sich allein an, mühte sich tagsüber redlich in seinem Schweiße – doch wenn mit Einbruch des Abends seine Axthiebe im stillen Bergwalde verhallt waren, dann freute er sich der Ruhe, dann saß er bis in die sinkende Nacht vor seinem niederen, aus Rinden gesägten Obdache, in stummer Zwiesprach mit der niemals schlummernden Natur. Nie sah man ihn in einem Wirthshause, nie bei einer Lustbarkeit, und auch in der Kirche nur an den höchsten Festtagen. Er wußte mit den Menschen nicht zu reden, dafür um so besser mit seinen Thieren, Pflanzen und Steinen. Alle Thier- und Vogelstimmen wußte er nachzuahmen. In der Nähe seiner Hütte nisteten zahlreiche Vögel, denn er rief sie mit ihren Stimmen und streute ihnen Brotkrumen und getrocknete Beeren. Das Wild scheute nicht vor ihm – und häufig geschah es, daß er ein verirrtes Kitzlein, nachdem er es mit dem Schmählruf der Geiß an sich gelockt, mit den Armen fing und in die Nähe des Dickichts trug, das er als den Standort des Mutterthieres kannte. Die Bäume, Blumen und Pflanzen waren für ihn nicht leblose Produkte der Natur; ihre mannigfache äußere Gestalt erschien ihm gleichsam als die verschiedenartige Gewandung verschiedener Lebewesen, deren Leben in der äußeren Wandelung der Pflanzengestalt, in Wachsthum und Blüthe, sich bekundete, die, der Gottheit untergeordnet und den Menschen übergeordnet, mit der Gottheit in geistigem Verkehre standen und mit den Menschen fühlten in menschlichem Empfinden; selbst das starre Gestein erschien ihm als die Hülle ähnlichen Lebens. Er liebte die Natur, und deßhalb bevölkerte er sie. Lange Jahre zehrte er dabei von dem reichen Sagen- und Fabelschatze, den sein Kindesherz gesammelt, späterhin baute er auf diesem Grunde weiter – – Natur und Natur, das war der Ausgang und das Ziel all seines Fühlens und Denkens und der Verkehr mit der Natur seine einzige Freude. Aber es kam für ihn eine Zeit, in der zu dieser Freude noch eine andere, reichere sich gesellte.

(Fortsetzung folgt.)

[705]

Bilder von der Balkanhalbinsel.

Schloß Sinaja.
Reiseskizze aus Rumänien von Prof. August Becker in Düsseldorf.
Mit Illustrationen S. 700 und 701.

Die grauen Dunstschichten am westlichen Horizont haben Wien und seinen mächtig emporstrebenden Stephansthurm dem Auge entzogen; die ungarische Grenze ist überschritten, Neuhäusel mit der auf dem Perron nie fehlenden Zigeunerkapelle passirt, man nähert sich in der Abenddämmerung unweit Gran wieder den Ufern der Donau, welche man auch bis Pest nicht mehr verläßt. Dann braust der Nachtzug über die Pusta dahin, die bei dem flimmernden Licht der Mondsichel dem Auge nichts bietet, als den Eindruck einer runden braunen Scheibe.

So durcheilte ich im Jahre 1882, einer Einladung des rumänischen Königspaares folgend, die endlose Ebene, bis bei dem matten Schein der Morgendämmerung das Dampfroß durch einen von steilen felsigen Höhen gebildeten Paß das liebliche, fruchtbare und wohlbevölkerte Siebenbürgen erreichte. Nachmittags lag Kronstadt hinter uns, und die schon lange sichtbare, aber von Nebeln umzogene Karpathenkette ward gegen Abend von dichten Gewitterwolken allmählich verhüllt. Der Regen fiel in Strömen nieder, die Berge rückten immer enger zusammen; – wild angeschwollene schmutzig gelbe Gebirgswasser mit Holztrümmern brausten von den Höhen herab. In Schafpelze gehüllte Hirten trieben die ängstlich umherirrenden Kühe zur sicheren Hütte. Auf der steil aufwärtsgehenden Bahn keuchte die Lokomotive langsam voran – von allen Seiten erhoben sich kahle Felswände, die Häupter mit Wolkenfetzen verhangen – doch nur wenige Minuten war diese großartige Scenerie sichtbar – die Wasserscheide war in der Nähe – ein langer Tunnel nahm uns auf – er speit den in schwarzbraunen Rauch und fettigen Staub gehüllten Zug auf der Südseite der Karpathen aus – wir waren auf der Höhe des Passes an der rumänischen Grenze in Predeal.

Militärkommando, Paßbureau, Zollrevision, fremde Trachten, fremde Sprachen, am Boden lagernde Zigeunergruppen, buntes Landvolk mit seinen in Schafpelze eingenähten Habseligkeiten, geräuschvolles Treiben zum Theil mit dem primitivsten Fuhrwerk um die haltenden Lastzüge – Alles anders als in der Heimath, überwältigend im Eindruck. Rasch ging es bergab in die fremde Welt; nach 30 Minuten lief der Zug in den Bahnhof von Sinaja ein. Ich wurde schon erwartet, und ein königlicher Lakai eilte sofort mit deutscher Anrede auf mich zu, geleitete mich in den bereit stehenden Wagen, und im Galopp ging’s hinauf auf den von den umfangreichen Gebäuden des Klosters gekrönten Hügel. Kaum hatte ich mein Zimmer betreten, so meldete man schon: „Soeben hat es zum Diner geläutet, die Majestäten erwarten Sie!“ – Zehn Minuten genügten, um den in Unordnung gerathenen übernächtigen Eisenbahnpassagier in ein salonfähiges Wesen umzuwandeln – dann befinde ich mich in dem mit Tannenzweigen, orientalischen Teppichen und einer reichen Blumenfülle geschmückten Saale bei Tisch, an der Seite der reizenden jugendlichen Königin. Sie ist in rumänisches Nationalkostüm gekleidet, während der König sowie der dienstthuende Flügeladjutaut Uniform tragen. Gegenüber sitzen 4 Damen, echte Typen rumänischer Rasse mit den großen schwarzen Angen, den weitgewölbten scharf markirten dunklen Augenbrauen, gebogenen Nasen, einheitlich südländischem Teint, die üppigen Haare in losen Zöpfen über den Rücken herabhängend, aber nach der Stirn zu mit Wiesengräsern und Schilfblättern durchflochten. – Alle im Nationalkostüm, das durch die Stickereien von bunter Seide, Silber und Gold, und durch den talarartigen Faltenwurf in reicher orientalischer Pracht einen Farben- und Lichtglanz erzielt, der mit den Blumen wetteifert. – Alles erscheint mir phantastisch, seltsam, ungeahnt, wie ein Märchen aus Tausend und eine Nacht! Nach dem Diner folgte Vortrag Mendelssohn’scher und Schubert’scher Lieder durch eine der Damen, wobei die Königin auf dem Pianino begleitete, und – dabei Unterhaltung in deutscher Sprache! – wie das wohlthut!

Sofort am andern Morgen nach meiner Ankunft wurde ich auf einem dreistündigen Spaziergang von meinem hohen Gastgeber in die umgebende Natur eingeführt. Fünfzehn Minuten vom Kloster Sinaja entfernt in einer Waldlichtung liegt ein Barackendorf, von mehr als 200 Insassen bevölkert; es ist der Eindruck, wie man sich Kolonisten in den amerikanischen Wäldern denkt, die das Land zur Ansiedelung umzuschaffen berufen sind. – Eine Reihe unregelmäßig in einander geschobener Bretterbuden unter hohen Urwaldtannen birgt die vollständige babylonische Sprachverwirrung. Da sind die knochigen herkulischen Gestalten der Bulgaren, undisciplinirt vom Kopf bis zur Sohle, wie sie mit den breitgehörnten Ochsen und den schwarzen Büffeln Steine zum Bau heranführen. Kriegerisch aussehende Serben, mit dem konisch zulaufenden weißen Feß, den martialisch gedrehten Schnurrbärten und dem breiten rothen Leibgürtel, bauen Cyklopenmauern, die dem verheerenden Elemente des Wassers Trotz bieten sollen, wobei Zigeuner, durch die Peitsche des Stammoberhauptes in Ordnung gehalten, tagelöhnern. Walachen mauern, zimmern, kanalisiren, Italiener bearbeiten den dicht am Gebirgsabhang gebrochenen Marmor – Wiener Dekorationsmaler, Hamburger Dekorateure und Mainzer Möbelschreiner singen bei der Arbeit ihre heimischen Weisen. Dazwischen hüpfen muntere blondhaarige, blauäugige Kinder, ein gezähmtes Reh oder eine junge Hirschkuh mit sich führend; sie grüßen in deutscher Sprache, in demselben Athemzuge aber wälschen sie mit dem braungelben Troß der Nachbarskinder fremdländische Sätze – und was thut dieses Völkergemisch? – Es baute damals ein Königsschloß, das nunmehr seit zwei Jahren fertig dasteht und der Sommersitz des Hohenzollernsohnes geworden ist.

Der Aufbau dieses Schlosses, die Gründung der Stadt Sinaja und die Erhebung Rumäniens zu einem europäischen Kulturstaat vollzogen sich zu gleicher Zeit, nach denselben Grundsätzen und unter dem nie rastenden persönlichen Eingreifen des Königs. Vom Kleinsten bis zum Großen beobachtet man den schaffenden Geist des scheinbar leidenschaftslosen, ernst blickenden mageren Mannes mit dem prüfenden, zeitweise durchdringenden Blick, der ruhig aber sicher voran geht und in 16 Jahren das geleistet hat, wozu andere Dynastien ein Jahrhundert nöthig hatten.

König Karol I. ist eine ruhige, feste, ernste, in den Bewegungen graziöse Erscheinung. Er spricht wenig, beobachtet und denkt viel, ist im Handeln vorsichtig und von großer Selbstverleugnung. Schon in früher Jugend suchte er sich seinen Umgang wie er ihn wollte, nicht wie man denselben für ihn wollte. Jede politische Meinung achtete er, wenn sie aus Ueberzeugung entsprang. Geräuschvolle Vergnügungen hatten für ihn wenig Reiz, wohl aber unternahm er noch in den Jünglingsjahren Reisen nach Frankreich, Spanien, Algier, Italien und studirte Länder und Völker nicht mit den Augen eines verwöhnten Prinzen, sondern in der Absicht, den Kreis seines Wissens zu erweitern und zu befestigen. Damals hatte er noch nicht die leiseste Ahnung seines zukünftigen Wirkungskreises, aber er machte Studien, weil er dazu einen inneren Drang verspürte, und so kam es, daß er vollständig gerüstet den schweren Posten eines Herrschers von Rumänien antreten konnte.

Als treue Gattin steht an seiner Seite Königin Elisabeth, von hoher schlanker Gestalt und einnehmenden Gesichtszügen. Sie ist eine der begabtesten und interessantesten Frauen der Jetztzeit und unter ihrem Dichternamen Carmen Sylva weit über Deutschlands Grenzen hinaus rühmlichst bekannt und geliebt. Aber nicht nur der Genius der Dichtkunst stand an ihrer Wiege, sie besitzt auch ein außerordentliches Deklamationstalent in Verbindung mit einer sympathisch klingenden Altstimme. Sie malt ferner mit großer Geschicklichkeit selbsterfundene Blätter im Missalestil; auch musikalisch ist sie hoch talentirt, denn neben einer in Gesang und Klavierspiel ausgebildeten Technik besitzt sie besonders ein tiefes Verständniß für das Wesen der Musik. Sie ist eben durch und durch eine Künstlernatur! Wenn die hohe Frau auch sehr heiter sein kann, zuweilen lustig, sogar bis zur Ausgelassenheit muthwillig, so ist der Grundzug ihres Wesens doch ein stiller wehmüthiger Ernst. Ihr Lebensweg war nicht allzu sonnig, schon auf die Pfade, die sie als Kind wandelte, warf das Leiden breite dunkle Schatten, und als sie nun gar im Jahre 1874 ihr einziges Kind, eine reizende vierjährige Prinzessin, in die kühle Erde betten mußte, da war die starke, sonst dem [706] Unglück so muthvoll Trotz bietende Fürstin unglücklich, gebrochen. Sie ist seitdem ohne Nachkommenschaft geblieben, und dieser Schicksalsgang drückt ihrem Wesen einen unverkennbaren Stempel auf.

Das Kloster Sinaja verdankt seine Entstehung dem walachischen Fürsten Cantakuzeno, der vor etwa 200 Jahren eine Wallfahrt in das gelobte Land unternahm und dort das Gelübde ablegte: wenn ihn ein gütiges Geschick wieder wohlbehalten die Heimath erblicken ließe, alsdann in Rumänien ein Kloster zu erbauen, in Lage und Form ganz gleich dem Kloster Sinai im Morgenlande. Cantakuzeno hat sein Versprechen gehalten! An der südlichen Abdachung der Karpathen, etwa 20 Kilometer in südlicher Richtung von der siebenbürgischen Feste Kronstadt entfernt, überragt von 8000 Fuß hohen steilen Kalksteinwänden, 3000 Fuß hoch über dem Meere gelegen auf einem sanft nach dem Thale abfallenden Plateau, befand sich die Stelle, welche Cantakuzeno geeignet schien, um sein gottgefälliges Werk zu errichten.

Ein einsamer, unwirthlicher Platz war es, wo man die dicken, mit Schießscharten versehenen Mauern baute, hinter welchen später die frommen Patres gar manchen Ansturm versprengter türkischer Horden abzuwehren gezwungen waren.

Es war ein großer Entschluß, gerade hier ausgedehnte Gebäudekomplexe aufzuführen, aber ein noch größerer für die Mönche, hier zu leben, hier in den Urwäldern, welche mehr als hundert Meilen lang sich um den Fuß der Karpathen ziehen, hier wo Bären die einzigen Besucher der undurchdringlichen Wälder waren, während die Wölfe zur Winterszeit die Gegend so unsicher machten, daß hohe Belohnungen auf das Erlegen derselben gesetzt wurden.

Was sollten auch Menschen hier machen? War ja doch tiefer unten das Flachland der weiten Donauniederung, mit dem fast zwei Meter dicken Humus, noch lange nicht zur Hälfte bewohnt. Wer sollte sich in die undurchdringlichen Wälder wagen? Höchstens vereinzelte Wanderer mit Saumrossen, die über den Paß Predeal nach Siebenbürgen zogen. Derartige vereinzelte Reisende fanden im Kloster Sinaja für drei Tage Aufenthalt und erhielten täglich einen Krug Wein und ein Brot, so lautete die Verpflichtung, welche die Regierung dem Hospiz auferlegt hatte, und sie wurde von den Mönchen aufs Gewissenhafteste erfüllt.

Das weitschauende Auge des Königs wählte diesen Platz zur Sommerresidenz. Wenn bei Beginn des Sommers die von Sümpfen umgebene Haupt- und Residenzstadt Bukarest der Herd für alle möglichen Fieber wird, dann ziehen Alle von dannen, deren Beruf sie nicht an die Stadt fesselt. Es handelte sich darum, ein Gegengewicht gegen Einflüsse zu finden, welche Krankheitskeime in sich bergen, und was wäre dazu geeigneter als ein 3000 Fuß über dem Meere mitten im Tannen- und Buchenurwald gelegener Platz, der gegen Nordostwinde geschützt und von sprudelnden klaren Waldbächen umrauscht ist?

Die Mönche überließen dem Herrscherpaare die Hälfte des Klosters zur Wohnung, und vor 14 Jahren wurden die weißgetünchten Zellen mit kleinen Fenstern zwischen dicken Mauern, unverändert in ihrer Einfachheit, die Wohnräume der Herrschaften. Zu erreichen war dieser Platz damals nur zu Fuß oder mit Saumrossen, auf deren Rücken Fleisch und Brot wöchentlich zweimal von Kronstadt herübergeschafft wurden.

Es bedurfte aber gerade solcher Wesen wie das rumänische Herrscherpaar, um, mit der richtigen Mischung von poetischem Sinn und praktischer Beharrlichkeit begabt, hier den ersten Stein zu einem Prachtbau zu legen, dem sich im Laufe von 14 Jahren ein Luftkurort angeschlossen hat, eine werdende Badestadt mit prachtvollen Villen, großen monumentalen Hotels, Badehäusern, Fontainen, Musikpavillon, Parkanlagen, Garnisonsplatz, Jahrmärkten, die im Sommer eine Einwohnerzahl aufweist, die 8000 übersteigt, darunter die vornehmsten und reichsten Leute des Landes. Eine breite, gutgehaltene Fahrstraße führt jetzt von Kronstadt über den Paß nach Bukarest, und daneben eine Eisenbahn, die den raschesten und sichersten Verkehr mit Wien mittels Tag und Nacht gehender Schnellzüge vermittelt. Sonntags bringen Expreßvergnügungszüge aus Nord und Süd Hunderte von buntfarbigen Gestalten in dieses herrliche Bergthal.

Das ist die reiche Ernte für den in schweren Zeiten mit Beharrlichkeit ausgestreuten Samen.

Fast jeden Sonntag beginnt nach Schluß der Kirche in Sinaja ein buntes Volksleben. Landleute, Krämer und Zigeuner sind von allen Seiten herangezogen und halten feil, meist inländische Stickereien für Hemden und Schürzen, Teppiche, Halsschmuck, Filzmäntel. Das Interessanteste für den Fremden sind die Nationaltrachten und Völkertypen. Die Zigeuner liegen Schatten suchend unter ihren Wagen mit dem Rücken auf der Erde, blasen die Panpfeife oder fiedeln auf der Violine. Die Bauern lassen die kleinen gesattelten Bergpferde mit gekoppelten Vorderbeinen frei grasen und sitzen selbst in Filzmäntel gehüllt auf der Erde. Die Verkaufsbuden sind umdrängt von jungem Volk, dazwischen wandeln Damen, städtische Herren, Officiere, Mönche, kaufen ein und scherzen mit den munter umherspringenden Kindern. Besonders der Platz vor der Klosterkirche ist mit dem seltsamsten Gemische von Landleuten gefüllt. In großen Kesseln wird hier Mamaliga gekocht, ein aus Maismehl eingekochter dicker Brei, der mit einem Faden zerschnitten und wie Brot gegessen wird. In andern Kesseln brodelt eine Art Sauerkraut, das mit hölzernen Löffeln den Hungrigen zugemessen und mit der Hand zum Mund geführt wird.

Mitunter kamen Zigeuner mit Bären; diese tanzten zum Tambourin, dann wurden die Thiere gegen einander und dann wieder zusammen gegen ihre Führer gehetzt, und es begann ein toller Kampf. Bären und Zigeuner bildeten einen verworrenen Knäuel, der heulend sich auf der Erde herumbalgte; es könnte einem bange werden, wenn man nicht wüßte, daß die geplagten Thiere lieber ihre Ruhe hätten. Während nach vollendetem Schauspiel die Herren von der Veranda, die sich am Klosterhof hinzieht, Geldstücke herabwarfen, fütterte die Königin die Bären mit einem großen Honigkuchen.

Von 4 Uhr ab wird dann die Hora getanzt, der verbreitetste rumänische Nationaltanz. Schon lange vorher lagern vereinzelte Gruppen im Grase und verzehren unter Lachen und Scherzen die mitgebrachte Kost. Es erscheinen Zigeuner als Tanzmusikanten mit Violine, Panpfeife, Mandoline und Tambourin. Die Bauern beginnen den Tanz in große Kreise gereiht, allmählich gesellen sich Bauernmädchen dazu, dann Hirten, Volk, Soldaten, manchmal auch Officiere und Damen, ja selbst Hofdamen haben zuweilen keine Ruhe und treten in den Kreis ein. Das ist dann ein Wogen vor und zurück, nach rechts und nach links in geschlossener Reihe, es geht dann rascher, immer toller, ohne Pausen, tarantellaartig; kleine Mädchen aus Bojarenfamilien in Nationaltracht springen in reger Theilnahme nebenher, die modern gekleidete Städterin hüpft neben dem Bauer in weißem Hemde und Filzsandalen, der besternte Officier neben der Stubenmagd, sie scheinen Alle wie besessen und ruhen nicht eher, als bis die Sonne hinter die Berge gesunken.

Breite Schatten decken dann Wald und Flur, und über die kurz vorher so bunt belebte Scenerie breitet die Nacht ihre träumerische Ruhe.


Verdächtig.

Von E. Werner.
(Schluß.)


Es ist umsonst, Warnstedt,“ sagte eine Stimme, ein schönes klangvolles Organ. „Alles, was Sie mir da vorhalten und zu bedenken geben, habe ich mir längst selbst gesagt. Trotz alledem bin ich entschlossen, nicht länger zu zögern, alle gütlichen Mittel sind erschöpft, uns bleibt nur noch ein Gewaltstreich übrig, wenn wir überhaupt zum Ziele gelangen wollen.“

„Aber sollte denn keine andere Lösung möglich sein?“ ließ sich eine zweite Stimme vernehmen, in der die beiden Lauscher sofort die kurze, militärische Sprechweise des Fremden wieder erkannten, der im Gasthause abgestiegen war, nur klang seine Sprache jetzt sehr gemildert, fast unterwürfig. „Ich gestehe es offen, daß ich erschrak, als ich den Brief erhielt, der mich hierher rief, und

[707] erfuhr, um was es sich handelte. Ich hatte immer noch gehofft, daß ein vorläufiges, wenn auch nur scheinbares Sichfügen, ein ruhiges Abwarten –“

„Abwarten?“ unterbrach ihn der Erste mit aufwallender Heftigkeit. „Ich dächte, wir hätten lange genug gewartet, so lange, daß auch nicht ein Tag mehr zu verlieren ist. Der Herzog beschleunigt die Verhandlungen mit dem königlichen Hofe in einer Weise, daß uns überhaupt keine Wahl mehr bleibt, wir müssen ihnen um jeden Preis zuvorkommen. Man legt es förmlich darauf an, mich zum Aeußersten zu treiben – nun wohl, man wird dies Aeußerste haben!“

„Aber ein solcher Gewaltstreich kann unabsehbare Folgen nach sich ziehen,“ wandte der Andere ein. „Ich bitte noch einmal, bedenken Eu –“

„Still, keine Namen und keine Titulaturen!“ unterbrach ihn sein Gefährte, indem er die Stimme etwas senkte, „vergessen Sie nicht, daß wir allesammt inkognito hier sind. Ich täusche mich durchaus nicht über die Folgen, aber ich bin entschlossen, sie zu tragen. Es wird eine Explosion bei Hofe geben, und dabei wird Manches mit in die Luft fliegen, was felsenfest zu stehen schien, aber gleichviel! Es handelt sich um das heiligste Recht des Menschen, und das werde ich offen vor aller Welt vertheidigen, wenn ich es mir auch erst im Geheimen erkämpfen muß. Werden Sie mir Ihren Beistand versagen, Warnstedt?“

„Nein, gewiß nicht!“ klang die Antwort ohne Zögern und in voller Bestimmtheit. „Ich habe es für meine Pflicht gehalten, zu warnen und meine Bedenken nicht zu verschweigen. Wenn aber Ihr Entschluß unabänderlich gefaßt ist – ich bin zu jedem Dienste bereit.“

„Auch auf die Gefahr hin, daß die Folgen Sie mittreffen – möglich ist das immerhin.“

„Auf jede Gefahr hin!“

„Ich danke Ihnen, Warnstedt! Ich wußte es ja, daß ich auf Sie rechnen konnte, und Sie sind der Einzige, dem ich unbedingt vertraue. Ich fürchte, man hat eine Ahnung von meinem Vorhaben, denn ich fühle mich beobachtet, überwacht und kann mich selbst nicht mehr auf meine nächste Umgebung verlassen. Ein Verrath könnte unsern Plan noch im allerletzten Moment gefährden, es gilt, mit einem einzigen Schlage all diesen Machinationen ein Ende zu machen.“

„Man ahnt etwas von Ihrem Vorhaben?“ Die Frage klang sehr bedenklich. „Dann freilich wird Ihre plötzliche Abreise nicht unbemerkt bleiben.“

„Wahrscheinlich nicht, aber man weiß vorläufig nicht, wo ich bin, und wenn man es erfährt, wird es zu spät sein. Ich bin gestern Abend abgereist, ohne jede Begleitung, und habe auf einer kleinen Zwischenstation die Bahn verlassen, um Postpferde zu nehmen, auch diese habe ich auf der vorletzten Station zurückgelassen und den Rest des Weges zu Fuße zurückgelegt. Valeska hat ähnliche Vorsichtsmaßregeln genommen, und ich halte es für unmöglich, daß man sofort unsere Spur findet, es müßte denn sein, daß meine in der letzten Zeit äußerst lebhafte Korrespondenz mit dem Pfarrer von Seefeld verdächtig erschienen wäre.“

„Und Seine Hochwürden ist wirklich bereit? Ich gestehe, daß ich noch daran gezweifelt habe.“

„Er ist es! Mein alter Freund und Lehrer wird mir seine Hilfe nicht versagen. Es hat allerdings einen Kampf gekostet, er hatte noch mehr Bedenken zu überwinden als Sie, aber schließlich ergab er sich doch. – Es bleibt also bei der festgesetzten Stunde, wir finden uns heut Abend zusammen.“

„In der Dorfkirche?“

„Nein, in der kleinen Kapelle, dort auf dem Hügel. Sie liegt einsamer und abgeschlossener, und vom Garten des Pfarrhauses können wir unbemerkt dorthin gelangen. Es soll jedes Aufsehen im Dorfe vermieden werden, deßhalb haben wir auch die Abendstunde gewählt. Also seien Sie pünktlich, die Damen werden gleichfalls um sieben Uhr bereit sein.“

Es folgte noch eine Versicherung der Pünktlichkeit und eine kurze Verabschiedung, dann schien einer der Sprechenden sich zu entfernen, der andere blieb noch eine Weile, man hörte es, wie er im Zimmer auf und nieder ging, dann wurde die Thür zum zweiten Male geöffnet und geschlossen und darauf trat vollständige Stille ein.

Die beiden Lauschenden verharrten noch einige Minuten auf ihrem Posten, dann trat Sebald unter dem Schutze der Gebüsche vorsichtig den Rückzug an, ihm nach drückte sich sein Gefährte an der Mauer entlang, bis sie die Kirche erreichten, deren Pfeiler sie deckten; von hier aus war es ein leichtes, auf die andere Seite zu gelangen und dort den Ausgang zu nehmen. Bald standen die Beiden wieder am Seeufer und traten den Rückweg nach dem Dorfe an.

Sebald warf einen Blick auf die sonnige, aber ganz menschenleere Dorfstraße und wandte sich dann zu seinem Untergebenen.

Jetzt haben wir ihn, Haller – den Hauptattentäter!“

Haller hatte bisher nur innerlich geschaudert, weil er keine Bewegung machen durfte, um sich nicht zu verrathen, jetzt schauderte er noch nachträglich draußen im hellen Sonnenschein.

„Ja, Herr Sebald, setzt haben wir ihn, und die ganze Mordbande dazu. Aber das ist so gräßlich, was wir da mit angehört haben!“

Sebald zuckte nur die Achseln, die Höhe, auf der er stand, vermochte selbst dieser Einblick in die tiefste Tiefe menschlicher Verderbtheit nicht zu erschüttern.

„Ich war darauf gefaßt, aber freilich, auch meine Befürchtungen sind noch übertroffen worden. Das ist ja kein bloßer Versuch zum Hochverrath, das ist eine vollständig organisirte Verschwörung! Ein Gewaltstreich gegen das fürstliche Haus – man schreckt nicht vor dem Aeußersten zurück – man will die unabsehbarsten Folgen auf sich nehmen –“

„Und am herzoglichen Hofe soll es eine Explosion geben, Alles soll in die Luft fliegen!“ fiel Haller entsetzt ein. „Wenn man nur wüßte, wo sie das Dynamit verborgen haben.“

„Jedenfalls hier im Pfarrhause, man wird schleunigst Haussuchung halten müssen. Es ist ja kein Zweifel mehr, daß auch der Pfarrer mit im Einverständniß ist. Ich glaubte anfangs, er sei ein blindes, unfreiwilliges Werkzeug, das man schonen könne, jetzt zeigt es sich, daß sie ihn ganz in ihre Netze gezogen haben, und das ist das Fürchterlichste. Ein Priester, ein berufener Vertheidiger des Altars und des Thrones, Mitglied einer Dynamitverschwörung! Was sind das für Zustände, wohin werden wir noch kommen! Das geht ja ärger zu in unserem armen Vaterlande, als drüben in Rußland!“

Haller stimmte mit einem düsteren Kopfnicken bei und warf einen Blick nach dem Pfarrhause zurück, das so viel Entsetzliches in seinem Schoße barg.

„Wenn wir den Hauptmann der Bande nur zu Gesicht bekommen hätten! Wir durften uns leider nicht rühren, aber seine Stimme erkenne ich sofort wieder. Ist das ein blutdürstiges Ungeheuer! Der Andere gab sich alle Mühe, ihn davon abzubringen, aber er hörte ja gar nicht darauf. Der will gleich mit Dynamit vorgehen und Alles in die Luft sprengen!“

„Ja wohl, und dabei dieser entsetzliche Fanatismus! Sprach dieser Mensch nicht gar von einem heiligen Rechte, das er vertheidigen müsse? Also heut Abend findet die geheime Zusammenkunft der Verschwörer statt.“

„Und noch dazu in einer Kirche!“

„Weil sie sich dort am sichersten glauben. In der kleinen Kapelle droben sucht sie Niemand, auch die Damen werden dabei sein, Sie hörten es ja.“

„Und das nennt sich auch noch Damen!“ murmelte Haller wüthend. „Dies weibliche Mordgesindel! Und dabei ist diese Valeska Blum so hübsch, so hübsch –“

Er brach mit einem Seufzer ab, der Vorgesetzte nickte bedeutsam.

„Ja, es ist eine schöne, schillernde Schlange, die bisher über ihre Gefährlichkeit zu täuschen wußte, aber ich habe sie von Anfang an erkannt, mir war sie von vornherein verdächtig. Doch jetzt gilt es zu handeln! Vor allen Dingen muß Seine Excellenz benachrichtigt werden. Ich setze sofort das Telegramm auf, Sie werden es nach der Telegraphenstation tragen, zu Fuß, denn es fällt auf, wenn Sie einen Wagen nehmen. In einer halben Stunde können Sie dort sein und in einer weiteren halben Stunde ist die Depesche in den Händen des Herrn Hofmarschalls. Er wird uns sofort auf demselben Wege die Antwort zugehen lassen.“

„Aber die Hilfsmannschaften kann er uns doch nicht per Draht zugehen lassen,“ meinte Haller bedenklich, „und die brauchen wir unter allen Umständen. Drei Verschwörer, die jedenfalls ganz mit Waffen gespickt sind, zwei Frauenzimmer, die zweifellos auch Revolver führen und Hochwürden der Herr Pfarrer obendrein – die kann ich allein doch nicht sämmtlich beim Kragen nehmen.“

[708] „Das wird sich finden. Im schlimmsten Falle müssen uns die Bauern Hilfe leisten, sie hängen treu an ihrem Fürstenhause, und wenn sie von einem Attentat hören, stürzen sie sich mit uns vereint auf die Verschwörer. Haller, das wird ein großer Moment werden! Wir haben sie entdeckt, wir retten das Fürstenhaus und verdienen uns den Dank des ganzen Landes.“

„Und vielleicht auch einen Orden und eine Gehaltszulage,“ meinte der Untergebene, der die Sache mehr von der praktischen Seite nahm.

„Das versteht sich! Doch da sind wir am Wirthshause, ich werde sofort schreiben.“

Sie zogen sich in ihr Zimmer zurück und Sebald warf rasch das Telegramm auf das Papier.

„Das Gesuchte gefunden – alle Voraussetzungen bestätigt – heute Abend eine Zusammenkunft geplant – Erbitte sofort Verhaltungsregeln.“

Er faltete das Blatt zusammen und übergab es seinem Vertrauten.

„Hier ist die Depesche! Eilen Sie, fliegen Sie und warten Sie auf der Station selbst auf Antwort, die umgehend eintreffen wird. Ich bleibe inzwischen hier und – observire.“

Haller gehorchte, er eilte die Treppe hinunter in der besten Absicht, zu fliegen, mußte aber seinen Schritt mäßigen, denn er mußte an dem Zimmer des Herrn von Below vorüber, der den Wirth zu sich hatte rufen lassen und jetzt laut und jammervoll darüber lamentirte, daß sein Koffer noch immer nicht da sei und er keine Toilette machen könne.

„Gott steh’ uns bei, der will wirklich erst Toilette machen zur Verschwörung!“ dachte Haller, während er verstohlen ein Kreuz schlug. „Ich glaube, das passirt selbst in Rußland nicht. Herr Sebald hat Recht – es sind schreckliche Zustände in unserem armen Vaterlande!“ –

Es war Abend geworden. die Landschaft stand im goldigen Lichte der niedergehenden Sonne, aber während sich schon die ersten bläulichen Schatten auf den Spiegel des Sees legten, weilte der Sonnenschein noch auf den Bergen und die weißen Mauern des Bergkirchleins schimmerten rosig in jenen Strahlen. Soeben klang das Abendläuten von dort hernieder, so mild und feierlich, als künde es nur Frieden und Segen.

Seefeld hatte zum Glück keine Ahnung von Dem, was sich dort oben begab, von der geplanten Entweihung des heiligen Ortes. Die Dörfler, die eben von der Arbeit zurückgekehrt waren, beteten andächtig ihren Abendsegen und setzten sich dann zum Essen nieder. Alles befand sich in den Häusern, und es fiel Niemand ein, dem Pfarrhause oder dessen Umgebung irgend eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Nur Sebald befand sich wieder auf seiner Beobachtungsstation. Er war ganz angegriffen von dem unaufhörlichen Observiren, aber das Bewußtsein der Pflicht und die Schwere der Verantwortung ließen ihn jede Ermüdung überwinden. Haller hatte in der That die telegraphische Antwort zurückgebracht, die an Energie nichts zu wünschen übrig ließ. Der Herr Hofmarschall trug dem furchtbaren Ernste der Lage volle Rechnung, er kam selbst und zwar mit Extrapost, um persönlich die Sache zu leiten, und konnte jetzt in jeder Minute eintreffen. Bis dahin lautete der Befehl für die beiden Beamten auf strengste Zurückhaltung: sie sollten sich nicht rühren, aber den zu beobachtenden Gegenstand nicht einen Moment aus den Augen lassen. Jedenfalls folgten die Hilfsmannschaften Seiner Excellenz auf dem Fuße, es stand zwar nichts davon in der Depesche, die kurz und in äußerst vorsichtigen Ausdrücken gehalten war, aber es verstand sich von selbst.

Sebald hatte inzwischen mit aller Umsicht die nöthigen Anstalten getroffen. Droben auf dem Hügel stand Haller als Wachtposten, was ihm durch die waldige Umgebung der Capelle sehr erleichtert wurde. Sein Vorgesetzter hatte ihm selbst einen Platz ausgesucht, wo er in völliger Verborgenheit Alles beobachten konnte, und ihm nochmals die äußerste Vorsicht eingeschärft, es kam Alles darauf an, die Verschwörer sicher zu machen, damit sie ahnungslos in die Falle gingen.

Inzwischen war auch Herr von Below von seinen Aengsten erlöst und glücklich wieder in Besitz seines Koffers gelangt. Der Kutscher hatte es vorgezogen, den Wagen in einem nahen Gehöfte ausbessern zu lassen, so gut dies möglich war, aber darüber waren Stunden vergangen, und da die Fahrt auch einige Zeit in Anspruch nahm, so war er erst gegen Abend mit Wagen und Koffer in Seefeld angelangt, zur großen Genugthuung des Majoratsherrn, der sich bisher, im Hinblicke auf seinen zerrissenen Rock, freiwilligen Stubenarrest auferlegt hatte. Jetzt stürzte er sich mit größter Eile in die schleunigst ausgepackte neue Toilette, was ihn aber nicht hinderte, seinem Anzuge besondere Sorgfalt zuzuwenden. Die Uhr der Dorfkirche schlug gerade sieben, als er das Haus verließ, um nun endlich drüben im Pfarrhause den so lange aufgeschobenen Besuch zu machen.

„Der ist pünktlich!“ sagte Sebald, der ihn dort eintreten sah. „Und er hat wirklich einen nagelneuen Anzug angelegt zu dieser schrecklichen Berathung. Wahrhaftig, der Cynismus der jetzigen Generation übersteigt alle Grenzen!“

Er verfolgte ungeduldig den Zeiger der Uhr, der immer weiter vorrückte, und zerbrach sich dabei den Kopf, wo er die Stimme des Hauptmannes der Verschwörung schon gehört hatte. Fremd war ihm dies schöne klangvolle Organ nicht, es hatte schon einige Male sein Ohr berührt, aber wo und bei welcher Gelegenheit, das wußte er nicht. Vergebens rief er sich alle Verbrechen und Processe. die im Herzogthume vorgekommen waren, in das Gedächtniß zurück, seine Erinnerung ließ ihn diesmal völlig im Stich.

Eine weitere Viertelstunde war vergangen, da endlich zeigte sich drüben auf der Fahrstraße ein Wagen, eine Extrapostchaise, die im schnellsten Trabe herankam. Dem Postillion mußte wohl ein reichliches Trinkgeld versprochen sein, denn er jagte, was die Pferde nur laufen konnten, die Thiere dampften, als er sie vor dem Gasthause anhielt.

Sebald, der in dem Insassen des Wagens längst den Hofmarschall erkannt hatte, stand bereits da, um ihn ehrerbietigst zu empfangen, aber ein unmerklicher und doch bedeutsamer Wink verbot ihm, hier besonderen Respekt zu zeigen. Der alte Herr stieg rasch aus und trat mit ihm seitwärts in den Garten.

„Nun, wie steht es?“ fragte er hastig und leise.

„Ganz nach Wunsch, Excellenz,“ erklärte Sebald mit dem ganzen Selbstbewußtsein eines Mannes, der eine große That vollbracht hat. „Ich halte die sämmtlichen Fäden in der Hand und habe mir auch nicht einen einzigen entschlüpfen lassen. Wie die Maßregeln auch genommen werden mögen, wir bleiben auf jeden Fall Herren der Situation.“

„Das ist mir lieb,“ sagte der Hofmarschall, sichtlich beruhigt. „Ihre Depesche hat mir allerdings schon das Nöthigste gemeldet, jetzt zu den Details! Er ist also wirklich hier?“

„Er? Ja wohl, sie sind sämmtlich hier und wähnen sich vollkommen sicher, aber sie sind bereits in der Falle!“

Die Excellenz runzelte die Stirn und nahm eine sehr vornehme Miene an.

„Sebald, Sie scheinen zu vergessen, von wem Sie sprechen! Wählen Sie Ihre Ausdrücke respektvoller.“

Sebald sah äußerst verwundert aus bei dieser Zurechtweisung. Es kam ihm sonderbar vor, daß für die Attentäter Respekt verlangt wurde, und gar noch von Seiten des Herrn Hofmarschalls, aber er ließ die seltsame Aeußerung auf sich beruhen und erkundigte sich nun seinerseits, ob die nöthigen Hilfsmannschaften unterwegs seien, und wann sie eintreffen würden. Jetzt war die Reihe des Erstaunens an Seiner Excellenz.

„Hilfsmannschaften? Weßhalb denn? Und wozu?“

„Um die Bande dingfest zu machen. Es sind drei Verbrecher. Dann noch die beiden Frauen und ich fürchte, der Pfarrer wird auch Widerstand leisten. Denen sind ich und Haller allein nicht gewachsen.“

Der Hofmarschall blickte den Sprechenden an, als glaube er, dieser sei nicht recht bei Sinnen.

„Bande – dingfest machen – wovon reden Sie denn eigentlich?“

„Von den Hochverräthern, die ich entdeckt habe.“

„Hier in Seefeld?“

„Allerdings! Excellenz gaben mir ja selbst die nöthigen Weisungen, ich bin ja einzig und allein deßwegen hierher beordert.“

In dem Gesichte des Hofmarschalls zeigte sich das äußerste Befremden, zugleich aber ein lebhafter Unwille.

„Das scheint ein heilloser Irrthum zu sein! Darauf also bezog sich Ihre Depesche? Sie sind wahrscheinlich einer falschen

[709]

Galant.
Originalzeichnung von P. Bauer.

[710] Spur nachgegangen und haben all Ihre Wachsamkeit an eine Kleinigkeit verschwendet, während ich mich in einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit auf Sie verließ.“

„Es ist keine Kleinigkeit,“ vertheidigte sich Sebald mit tiefgekränktem Selbstbewußtsein. „Eine Dynamitverschwörung!“

„Was?“ rief der Hofmarschall, entsetzt auffahrend. „Dynamit?“

„Man will eine Explosion im herzoglichen Palais veranlassen, die ganze durchlauchtigste Familie soll in die Luft gesprengt werden, auch der verwandte königliche Hof scheint bedroht zu sein, denn es war auch von ihm die Rede.“

Die Excellenz war kreidebleich geworden und mußte sich auf einen Gartenstuhl niederlassen.

„Sebald, das sind ja furchtbare Enthüllungen! Haben Sie Beweise dafür?“

„Die unwiderleglichsten. Mit meinen eigenen Ohren hörte ich, wie die Verbrecher von ihren blutigen Plänen sprachen.“

„Dann hatten Sie allerdings Recht, alles Andere in den Hintergrund zu stellen, wenn es das Leben der fürstlichen Familie gilt! Wo sind denn die Attentäter?“

„Dort oben,“ erklärte Sebald, nach dem Hügel hinaufzeigend. Der Hofmarschall sprang vom Stuhle auf, ihm schien jetzt plötzlich ein Licht aufzugehen.

„Was? In der Kirche?“

„Ja, aber fürchten Sie nichts. Excellenz, sie sind überwacht. Haller steht dort oben Posten und sorgt dafür, daß sie ungestört bleiben bis –“

„Mensch, das sollte ja gerade verhindert werden!“ rief die Excellenz verzweiflungsvoll. „Sind Sie denn von Sinnen, daß Sie auch noch Schutzwachen ausstellen dazu?“

„Aber wir mußten sie doch erst in die Falle locken! Die Kirche hat nur einen einzigen Ausgang, wenn er rechtzeitig verschlossen und besetzt wird, so sind sie gefangen, denn durch die hochgelegenen Fenster können sie nicht so ohne Weiteres ausbrechen. Die Bauern leisten uns jedenfalls die nöthige Hilfe, ich werde das Dorf alarmiren –“

„Hören Sie auf! Sie bringen mich um mit Ihren Albernheiten!“ unterbrach ihn der Hofmarschall wüthend. „Ich muß auf der Stelle hinauf! Ich thue Einspruch im Namen des Herzogs, Seine Durchlaucht haben mir unbedingte Vollmacht gegeben.“

Damit eilte er hinaus und an dem erstaunten Wirthe vorüber, der erschienen war, um der Extrapostchaise eine Verbeugung zu machen, und jetzt erst deren Insassen zu Gesichte bekam. Sebald folgte bestürzt, denn die Excellenz war ihm völlig unbegreiflich. Was sollte denn ein Einspruch im Namen des Herzogs nützen bei Menschen, die sich mit Mordplänen gegen das ganze fürstliche Haus trugen?

Am Fuß des Hügels trafen sie mit Herrn von Below zusammen, der sehr mißmuthig dort herumstrich. Er hatte Niemand im Pfarrhause angetroffen, aber gehört. daß die Damen noch hier seien, und suchte sie jetzt auf dem vermeintlichen Spaziergange, plötzlich aber blieb er stehen und rief in höchster Ueberraschung!

„Excellenz – Sie hier?“

„Herr von Below – wie kommen Sie nach Seefeld?“ rief der Hofmarschall ebenso überrascht.

Sebald stutzte, ihm begann doch eine Ahnung aufzudämmern, daß die Sache nicht ganz in Ordnung sei. Sollte er sich in diesem jungen Manne doch geirrt haben?

„Ich bin auf der Reise,“ erklärte der Majoratsherr, „aber wohin wollen Sie denn so eilig, Excellenz?“

„Ich – ich will den Sonnenuntergang nicht versäumen,“ versetzte der Gefragte, indem er begann den Hügel zu ersteigen, so rasch es seine Kräfte erlaubten.

„O, da gehe ich mit!“ rief Herr von Below, der glücklich war. daß er wieder Jemand zum Schwatzen hatte. „Der Sonnenuntergang ist so romantisch! Freilich, mir ist die Romantik übel bekommen, denken Sie nur, Excellenz, mein Wagen –“ und damit fing er an, die Geschichte zum dritten Male zu erzählen, noch ausführlicher als die beiden ersten Male, und hörte nicht wieder auf, bis man oben auf der Höhe war.

Der Hofmarschall hörte gar nicht darauf, aber er war so schnell aufwärts gestiegen, daß er stehen bleiben mußte, um Athem zu schöpfen, und da tauchte plötzlich Haller aus den Gebüsche auf und machte seine unterthänigste Meldung.

„Sie sind wirklich drinnen. Excellenz! Und einen Kasten haben sie mit in die Kirche geschleppt, jedenfalls voll Dynamik. Nur der dritte Verschwörer fehlt, der sich so dumm anstellte und immer nach seinem Koffer schrie –“

Er verstummte, denn urplötzlich tauchte der Vermißte, der einige Schritte zurückgeblieben war, vor ihm auf, und zwar unmittelbar hinter dem Rücken Seiner Excellenz. Diese Nähe schien dem braven Haller so bedenklich. daß er alle Vorsicht vergaß und eine Bewegung machte, um den Attentäter beim Kragen zu nehmen, aber der Hofmarschall bemerkte das und fuhr ihn zornig an:

„Was fällt Ihnen ein? Halten Sie etwa den Freiherrn von Below, den Majoratsherrn von Waltersberg, auch für einen Verschwörer?“

„Ich ein Verschwörer? Mein Himmel, das ist mir ja noch niemals passirt, dafür bin ich noch nie gehalten worden!“ rief Kuno von Below mit einem Gesicht, das diese Versicherung allerdings glaubhaft erscheinen ließ. Haller war bestürzt zurückgewichen und starrte mit offenem Munde erst den Majoratsherrn und dann seinen Vorgesetzten an, dem jetzt auch sein fataler Mißgriff klar wurde. Aber der Hofmarschall ließ ihnen keine Zeit zur ferneren Aufklärung, er schritt rasch die steinernen Stufen hinauf und öffnete die Thür der Kirche. Herr von Below, der jetzt doch endlich merkte, daß irgend etwas Besonderes vorging, schloß sich ihm neugierig an, und hinter ihnen traten die beiden Beamten ein.

Die sinkende Sonne warf ihre letzten Strahlen durch die Kirchenfenster und erfüllte das kleine Gotteshaus noch mit leuchtendem Glanze. Der goldig rothe Schein umfloß die ehrwürdige Gestalt des alten Priesters, der im vollen Ornate vor dem Altar stand, und lag wie verklärend auf den Häuptern des jungen Paares, das sich soeben von den Knieen erhoben hatte. Neben einem hochgewachsenen Manne mit blondem Haar und Bart und ernsten Zügen stand eine junge Braut, im einfachen weißen Gewande, von dem duftigen Schleier umwallt, den Myrthenkranz in den dunklen Haaren. Sie barg gerade in diesem Moment ihr Haupt an der Brust ihres Gatten, der sie mit voller Innigkeit an sich zog.

„Zu spät! Also ist es doch geschehen!“ murmelte der Hofmarschall, dem ein einziger Blick gezeigt hatte, daß die Ceremonie bereits vorüber war. Er sah jetzt auch die beiden anderen Personen zur Seite des Altars, einen Herrn in straffer militärischer Haltung und eine alte Dame, die ganz in Thränen und Rührung zerfloß, sie hatten offenbar der eben vollzogenen Trauung als Zeugen beigewohnt.

Das Oeffnen der Thür machte die in der Kirche Befindlichen aufmerksam, sie blickten dorthin und sahen eine Gruppe, die völlig vernichtet schien durch den Anblick, der sich ihr bot. Der Ruhigste war noch Herr von Below, weil er die Sache einfach nicht begriff. Er sah Valeska Blum, seine angebetete Valeska, die er um jeden Preis heirathen wollte, als Braut an der Seite eines Anderen, und dieser Andere war – sein neuer Inspektor!

Sebald dagegen war in tödlichem Schrecken zusammen gefahren, denn ihm ward erst jetzt die ganze Größe seines Irrthums klar, jetzt wußte er auch auf einmal, wo er jene Stimme schon gehört hatte, und das Entsetzen über seine eigene Blindheit entriß ihm einen halblauten Ausruf:

„Prinz Leopold!“

Das Brautpaar wandte sich jetzt auch um und die Stirn des jungen Fürsten verfinsterte sich, als er die Eindringlinge gewahrte, dann aber richtete er sich hoch und stolz auf, und seiner Gattin den Arm reichend, führte er sie gerade dem Hofmarschall entgegen.

„Sieh da, Excellenz, sind Sie gekommen, uns Ihren Glückwunsch zu unserer Vermählung abzustatten?“ fragte er mit kühler Höflichkeit. „Sie kommen gerade zu rechter Zeit.“

„Durchlaucht!“ murmelte Jener ganz fassungslos. „Ich kam im Auftrage Ihres herzoglichen Bruders und werde nicht umhin können, ihm zu melden –“

„Das ist nicht nöthig, denn das habe ich bereits selbst gethan,“ unterbrach ihn Leopold. „Der Brief. worin ich dem Herzog das Geschehene mittheile, ist bereits geschrieben und sollte in einer Stunde abgehen. Da Sie einmal hier sind, Excellenz, so darf ich Sie wohl bitten, die Beförderung zu übernehmen und ihn in die Hände meines Bruders zu legen.“

Der Hofmarschall verbeugte sich schweigend, er sah. daß jeder Einspruch hier zu spät kam, aber seine Verneigung galt nur dem Prinzen allein, er ignorirte absichtlich die junge Frau an dessen Seite.

[711] „Ich bin im Begriff, mit meiner Gemahlin abzureisen, ich erlaube Ihnen aber, Herr Hofmarschall, sie vorher noch zu begrüßen!“ sagte Prinz Leopold mit scharfer Betonung.

Der Hofmarschall zögerte noch einen Moment lang, aber die Augen des jungen Fürsten blitzten so zornig auf, daß er sich bequemte, mit einer zweiten, freilich sehr gezwungenen Verbeugung von Valeska Notiz zu nehmen, was diese mit einer kaum merklichen Neigung des Hauptes beantwortete.

Die Neuvermählten verließen jetzt die Kirche, ihnen folgten der Priester und die beiden Zeugen, doch die alte Dame konnte nicht umhin, noch einen mitleidigen Blick auf ihren bisherigen Schützling zu werfen, der wie entgeistert dastand. Es war ja selbstverständlich, daß er einem Prinzen weichen mußte, aber er that ihr doch unendlich leid.

Kuno von Below aber war noch gar nicht einmal bis zu dem Schmerze über die verschmähte Liebe gekommen, vorläufig beherrschte ihn noch starres Entsetzen über diese Entwicklung der Sache. Er näherte sich dem Hofmarschall und fragte stockend:

„Excellenz, ist das wahr? Ist das wirklich und wahrhaftig Prinz Leopold?“

„Gewiß ist er es! Kennen Sie ihn denn nicht? Freilich, er steht in einer auswärtigen Garnison und Sie kommen selten an den Hof!“

„Dahin komme ich nie wieder! Dort darf ich mich nie mehr sehen lassen!“ brach der Majoratsherr verzweiflungsvoll aus. „Wer konnte denn das ahnen!“

Der Hofmarschall wurde aufmerksam.

„Was ist denn vorgefallen? Haben Sie etwa den Prinzen beleidigt?“

„Als Inspektor habe ich ihn engagirt, mit dreihundert Gulden Gehalt und freier Station —“

„Aber Herr von Below — um des Himmels willen —“

„Und einer Gratifikation zu Weihnachten!“ vollendete der arme Kuno, ganz vernichtet. „Und meinen Plaid wollte ich ihm zum Tragen geben — das hat er aber nicht gethan.“

Der Hofmarschall schien in der That zu glauben, daß bei dem vorhin erwähnten Sturze mit dem Wagen etwas an dem Kopfe des Majoratsherrn zu Schaden gekommen sei, er schüttelte nur das Haupt und wandte sich zum Gehen, aber Herr von Below blieb ihm zur Seite, er mußte durchaus Jemand haben, mit dem er über die unerhörte Geschichte sprechen konnte, und so fing er denn noch einmal von vorn an und erzählte die ganze Begegnung mit dem Prinzen.

Sebald und sein Untergebener waren allein zurückgeblieben, sie sprachen kein Wort, sie blickten sich nur trübselig an und dann umher in der leeren Kirche. Da gewahrte Haller in einem der Kirchenstühle den Kasten, dessen Inhalt ihm so verdächtig erschienen war, und er konnte[9] es sich doch nicht versagen, ihn zu untersuchen. Der Kasten war leer, aber einzelne Myrthenblätter, die darin zurückgeblieben waren, verriethen seine Bestimmung, er hatte Kranz und Schleier der Braut geborgen, die diese erst in der Kirche selbst anlegte.

„Das war kein Dynamit,“ sagte Haller wehmüthig, indem er seinem Vorgesetzten die Blättchen zeigte. „Und ich hatte mich schon so darauf gefreut, die ganze Bande beim Kragen zu nehmen! Gott sei Dank, daß es nicht dazu kam, sonst hätten wir schließlich Seine Durchlaucht den Prinzen Leopold eingesteckt!“ —

Vor dem Pfarrhause hielt der Wagen, der die Neuvermählten nach der Bahnstation bringen sollte, Valeska hatte sich mit ihrer Tante zurückgezogen, um die Reisekleidung anzulegen, und Prinz Leopold stand mit dem Oberst von Warnstedt, seinem ehemaligen Adjutanten, und dem Pfarrer im Studirzimmer des letzteren.

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!“ sagte er, seinem alten Lehrer herzlich die Hand hinstreckend. „Ich weiß am besten, wie groß der Dienst ist, den Sie mir und meiner Valeska geleistet haben. Die Verantwortung dafür nehme ich ganz und voll auf mich. Ich werde nicht säumen, für Sie einzutreten, wenn man versuchen sollte, Sie zur Rechenschaft zu ziehen.“

Der alte Priester machte eine sanft abwehrende Bewegung.

„Was kann man mir thun in meinem einsamen Dörfchen? Man wird es bei einem Verweise bewenden lassen, und den trage ich gern um Ihretwillen, Durchlaucht. Leicht ist es mir freilich nicht geworden, Ihnen bei diesem Schritte Beistand zu leisten — möge er Ihnen und Ihrer Gemahlin zum Segen werden!“

„Er wird es!“ sagte Leopold ernst. „Es sind ja nur Traditionen, die ich verletzte, keine Pflichten. Ich bin der jüngste Prinz meines Hauses und habe niemals Aussicht gehabt, zur Regierung zu gelangen; die Rücksichten, denen sich ein Thronerbe beugen muß, existiren nicht für mich. Mein Bruder wird mir allerdings eine Zeit lang grollen und zürnen, und dann wird er sich mit dem Geschehenen aussöhnen — ich kenne ihn! Er wird es schließlich begreifen, daß ich den Muth hatte, glücklich zu sein, und die Energie, mir mein Glück zu erkämpfen.“

Er wandte sich zu dem Oberst und reichte auch ihm die Hand. „Leben Sie wohl, Warnstedt, Sie wissen, ich verlasse die Armee, ich habe den Herzog um meinen Abschied gebeten und werde mit Valeska fortan auf meinen Gütern leben, doch wo und wie wir uns auch wiedersehen, wir bleiben die alten Freunde.“

Soeben trat Valeska ein, im Reisekleide, ihre Verwandte begleitete sie und der Prinz winkte dieser freundlich zu, als er den Arm seiner Frau nahm.

„In sechs Wochen denken wir von der Reise zurück zu sein — auf Wiedersehen, liebe Tante!“

Die alte Dame verneigte sich nur vor ihrem durchlauchtigen Neffen, das Entzücken raubte ihr die Sprache. Sie hatte sich in ihren kühnsten Träumen wohl als die Tante eines Majoratsherrn gesehen, daß ein Prinz ihr nunmehr diesen Titel gab, das war zu viel des Glückes.

Wenige Minuten später saßen die Neuvermählten im Wagen und fuhren dahin durch den dämmernden Sommerabend, sie fuhren gerade an dem Wirthshause vorüber, als Sebald und Haller dort eintraten.

„Da fahren sie hin!“ sagte der Erstere, indem er dem Wagen nachblickte. „Es ist unerhört! Wenn Seine Excellenz der Herr Hofmarschall mit der Nachricht zurückkommt —“

„Dann giebt es wirklich eine Explosion in der Residenz.“ fiel Haller mit Nachdruck ein, „aber ohne Dynamit!“


Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Eine Riesen-Sprengung im „Höllenthor“ bei New-York.

In der guten alten Zeit, als der Mensch noch mit dem gemüthlichen Schießpulver vorlieb nahm, als die rastlosen Chemiker noch nicht auf Dynamit, Nitroglycerin, Panklastit u. dergl. verfallen waren, als man sich die Elektricität nicht in dem Maße wie jetzt dienstbar gemacht hatte, gehörten Felsensprengungen unter Wasser zu den schwierigsten Aufgaben der Technik. Aeltere Zeitgenossen erinnern sich vielleicht des Aufsehens, welches die verhältnißmäßig leichte Sprengung der Felsen am Binger Loch erregte, und die Erschließung des Eisernen Thores an der unteren Donau galt und gilt noch in einem gewissen Sinne für ein technisches Meisterstück.

Heutzutage hat es freilich der Sprengtechniker erheblich leichter. Er besitzt Sprengstoffe, die auch unter Wasser brennen, und der elektrische Funke liefert ihm ein bequemes Mittel, um, von einem sicheren Standpunkte aus, eine beliebige Anzahl Minen blitzschnell zur Explosion zu bringen, während andererseits die Fortschritte der Wasserbaukunst und der Tauchergeräthe die Vorarbeiten zu Felsensprengungen nicht unwesentlich erleichtern.

Damit soll übrigens nicht gesagt sein, daß die Riesen-Sprengung, deren Vorbereitungen wir unseren Lesern im Bilde vorführen wollen, zu den leichteren Aufgaben der Technik gehört. Im Gegentheil. Wir werden sehen, daß der Oberingenieur der Armee der Vereinigten Staaten, General J. Newton, dem die Leitung der Arbeiten oblag, recht bedeutende Schwierigkeiten zu überwinden hatte. Wir wollen uns zuvörderst den Schauplatz des am 10. Oktober glücklich erfolgten, alles Dagewesene in den Schatten stellenden Knalleffektes etwas näher ansehen.

Der New-Yorker Hafen gehört zu den verkehrsreichsten der Welt und steht wohl nur dem Londoner nach. Sehr störend ist es unter solchen Umständen, daß die eine Einfahrt in diesen Hafen, das sogenannte Höllenthor, nicht nur durch kleinere Riffe, sondern auch durch einen ungeheuren Felsen versperrt war, die den New-Yorker Lotsen viel zu schaffen machten und zahlreicher Schiffe Untergang auf dem Gewissen haben.

Es wurde daher vor nunmehr zwanzig Jahren beschlossen, die Hindernisse, welche das Höllenthor so gefährlich machen, gründlich zu beseitigen, nachdem die seit 1848 unternommenen Sprengversuche mit den damals zu Gebote stehenden unzureichenden Mitteln so gut wie ergebnißlos verlaufen waren. Im Jahre 1866 begann man zunächst mit der Wegräumung der verhältnißmäßig kleinen Riffe Pot-Rock (Kessel) und Frying pan (Bratpfanne). Der letzteren ging man mit den gewöhnlichen Mitteln: Taucherglocke, von welcher aus Löcher in den Felsen gebohrt wurden, zu Leibe,


  1. empfindsam, schwermüthig.
  2. Tollheiten, Bubenstreiche.
  3. knallen.
  4. vorhanden, anwesend sein.
  5. vor Schluchzen gestoßen.
  6. verlangen, sehnen.
  7. Klatschbase.
  8. wahrhaftig; schwäbischer Dialekt.
  9. WS: In der Vorlage „kannte“

[712] der „Kessel“ aber wurde von den im Innern abgeteuften Schichten aus mit Patronen gespickt, die 25000 Kilogramm Dynamit enthielten, und 1876 mit einem Schlage nicht in die Luft, sondern ins Wasser gesprengt. Es drang in der That kein einziges Felsstück bis an die Wasseroberfläche, und es verrieth nur ein dumpfes Geräusch und eine 50 Meter hohe Wassersäule, daß in der Tiefe eine grausige Katastrophe sich vollzogen. (In Nr. 46 des Jahrganges 1876 der „Gartenlaube“ ist eine ausführliche Schilderung des seltenen Ereignisses gegeben.)

Vorhof des Schachtes im „Flood Rock“.

Damit war indessen der Schifffahrt nicht viel geholfen. Es verblieb, wie wir oben sahen, der Hauptfelsen — Flood Rock genannt — und drohte nach wie vor den Schiffen mit dem Untergang. Der Beginn der Arbeiten zur Beiseiteschaffung des Ungethüms verzögerte sich dadurch, daß die Volksvertretung der Vereinigten Staaten mit der Bewilligung der erforderlichen vier Millionen Mark lange zögerte, und so ist es gekommen, daß die Sprengung des 360 Meter langen, 180 Meter breiten Riffs so lange auf sich warten ließ.

Eine solche Masse könnten die Ingenieure begreiflicherweise mit den gewöhnlichen Mitteln nicht wegräumen. Es kam hier vielmehr das bei dem „Kessel“ bereits mit Erfolg angewendete Verfahren, mit einigen wesentlichen Verbesserungen, wieder zu Ehren. Wir wollen nunmehr dieses Verfahren an der Hand der beifolgenden Abbildungen, die nach dem „Scientific American“ hergestellt wurden, unseren Lesern klar zu machen suchen.

Das Laden der Bohrlöcher.

Da der Flood Rock nur bei Ebbe mit der Spitze ein wenig aus dem Wasser ragt, so war die erste Arbeit die Herstellung eines dem nassen Elemente unzugänglichen Raumes auf der höchsten Stelle, von welchem aus die Werkleute mit aller Sicherheit zunächst einen senkrechten, 18 Meter tiefen Schacht in das Innere treiben konnten. Der Vorhof zu diesem Schachte, dessen Inneres die erste unsrer Abbildungen veranschaulicht, war nicht bloß zum Ausladungsplatze für das herauszufördernde Gestein, sondern auch für die Aufstellung von mächtigen Pumpen bestimmt, weil der Felsen sich als wasserdurchlässig herausstellte und die Arbeitsplätze bald „ersoffen“ wären, hätte man für die Entfernung des eindringenden Wassers nicht gesorgt.

Von dem Schachte aus gruben sich alsdann die Arbeiter weiter in das Gestein durch gewöhnliches Sprengen hinein. Zunächst ging es an die Herstellung der Sammelrinne für das durchsickernde Wasser, über welche in geringen Abständen Holzbrücken führen. Darauf wurden, der Länge und Breite des Felsens nach, wagerechte Gänge gebohrt, die so dicht bei einander liegen, daß die Felsendecke, wie bei den berühmten indischen Tempeln in der Nähe von Bombay, nur noch auf ausgesparten Säulen ruht. Eine Anzahl solcher Gänge veranschaulicht an der Stelle, wo sie die Sammelrinne kreuzen, unsre zweite Abbildung. Dieser Theil der Arbeit war sehr schwierig und gefahrvoll. Einmal bedrohte das eindringende Wasser häufig das Leben der Bergleute; sodann erwies sich das Gestein vielfach als so bröcklig, daß Einstürze nur mit großer Mühe durch Stützen der Decke mit Balken abgewendet werden konnten. Die Felsendecke über den Gängen hatte eine Mächtigkeit von etwa fünf Metern, die Gänge selbst aber eine Gesammtlänge von über 6500 Metern, waren also etwa halb so lang, wie der Gotthardtunnel. Die Decke trugen 467 Felsensäulen.

Mit dem Graben der 70 Gänge war aber das Werk keineswegs vollendet. Es galt nunmehr, die Wände der unterirdischen Gassen wie auch die Decke für die Aufnahme der Sprengladungen herzurichten. Wenn auch das Bohren des Gesteins, Dank den mächtigen Bohrmaschinen der Neuzeit, überraschend schnell und leicht vor sich ging, so beanspruchte immerhin die Durchlöcherung des Felsens mit nicht weniger als 13286 Bohrlöchern von durchschnittlich 2,70 Meter Tiefe einen großen Aufwand an Zeit und Mühen. Diese Bohrlöcher waren im September vollendet, und ihre Gesammtlänge betrug über 36 Kilometer.

Die Sammelrinne.

Hierauf erfolgte das Laden der Bohrlöcher. Auf kleinen Schienen bewegte sich ein Karren, dessen Aufsatz sich nach Bedarf hoch oder niedrig stellen ließ, und von welchem aus die Bergleute die Einführung der Patronen in die Minenlöcher bequem besorgen konnten. Diese Patronen bestanden aus einem Gemisch von Schießpulver und Dynamit. Interessant ist die Art und Weise, in welcher die Arbeiter ihr Licht an der Hutkrempe leuchten ließen!

Das nicht ungefährliche Laden der Minen wurde Anfangs Oktober vollendet, und hierauf erfolgte die Verbindung sämmtlicher Patronen durch eine Reihe von Kupferdrähten, die weitab, am gegenüberliegenden Ufer von Long Island, in eine elektrische Batterie mündeten. Alsdann wurde zur Vergrößerung der Sprengwirkung das Wasser in den mächtigen unterirdischen Bau eingelassen, nachdem die Baulichkeiten und Maschinen über dem Schachte entfernt worden waren. Nunmehr genügte ein Druck auf einen Knopf an der elektrischen Batterie, um die 13286 Patronen mit ihrer Ladung von etwa 150000 Kilogramm Dynamit und Schießpulver zu zünden und damit den Flood-Rock hoffentlich für immer zu beseitigen.

Den Schauplatz, auf welchem diese Riesensprengung stattgefunden, haben wir bereits in Nr. 4 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ unsern Lesern vorgeführt, als wir den eigenartigen elektrischen Leuchtthurm am „Höllenthor“ besprachen, der mit dem Licht von 54000 Kerzen den East River beleuchtet.

Während wir diese Zeilen niederschreiben, liegen nur kurze telegraphische Berichte aus New-York vor, nach welchen die Riesen-Explosion glücklich abgelaufen ist. Schon die Sprengung des „Kessels“ hat bewiesen, daß bei dieser Art von Minenentladungen kaum eine Gefahr für die Umgebung vorhanden ist, weil die Wasserschicht über dem Felsen den Anprall bedeutend abschwächt. Dagegen steht zu befürchten, daß die Sprengung keine so vollständige geworden ist, wie die Betheiligten hoffen, und daß das nachherige Herausfischen größerer Felsentrümmer, welche ebenso viele neue Riffe bilden würden, viel unvorhergesehene Mühe und Kosten verursachen wird. Das ganze Werk ist indessen so meisterhaft gedacht und angelegt, daß wir wohl das Beste hoffen dürfen. G. von Muyden.     


[713]

Gudrun.

Die Gudrun-Sage, das herrliche Hohelied von der deutschen Treue, ist neben dem Nibelungenepos die glänzendste Perle in der stolzen Reihe unserer alten Heldenlieder. Ist aber die Nibelungensage im vollen Sinne des Wortes volksthümlich geworden, so ist dies bei dem Gudrun-Liede viel weniger der Fall, und im Allgemeinen begegnet man selbst heute noch der Anschauung, als handele es sich bei dem letzteren kaum um etwas Anderes, als um eine, noch dazu ziemlich minderwerthige, Nachahmung oder Ergänzung der erstern. Nur einer gänzlichen Unbekanntschaft mit dem hohen poetischen Gehalt der Gudrun-Sage konnte eine solche irrige Anschauung entspringen; daß aber das deutsche Volk nicht früher mit einer der zweifellos schönsten und ergreifendsten seiner Nationalsagen bekannt und vertraut wurde, ist um so weniger zu verwundern, als die Zahl der lesbaren Uebertragungen oder Neudichtungen derselben bisher keineswegs eine große war. Gegenwärtig indeß wird nach dieser Richtung hin auch bei dem Gudrun-Liede Abhilfe angestrebt, und ein ernster Versuch, das alte Heldenlied in ansprechender Neudichtung auch in die ihm bisher verschlossenen weiten Kreise außerhalb des Litteraten- und Gelehrtenstandes einzuführen, liegt in dem soeben erschienenen Gudrun-Liede von Emil Engelmann (Stuttgart, Verlag von Paul Neff) vor.

Gudrun am Meeresstrand.
Aus dem Werke „Gudrun-Lied“ von Emil Engelmann.

Der Verfasser hat sich schon früher auf dem Gebiete altdeutscher Dichtung hervorgethan und zeigt sich auch in der neuen Schöpfung seiner Muse dem Stoffe so gewachsen, daß von seinen Bemühungen ein erfreulicher Erfolg wohl zu erwarten ist. Namentlich die anziehende Gestalt Gudrun’s tritt in seiner Neudichtung in ein helles Licht und läßt erkennen, welch eine meisterhafte, lebenswahre Figur in dieser dichterischen Gestalt geschaffen ist.

Gudrun ist keine unbedingt edelmüthige Idealfigur, wie etwa Berchtung im „Wolfdietrich“, nicht frauenhaft weich und schüchtern zurückhaltend, nicht blindlings von dem Willen der Ihrigen abhängig; sie ist selbständig, geht ihre eigenen Wege, beobachtet scharf, handelt entschlossen, ihr Charakter ist unbeugsam, ja fast hart. – Schon als Herwig um sie wirbt, weisen ihr entschiedendes Eingreifen in das Wogen des Kampfes und ihre bündige Erklärung: „Ihn will ich und keinen Andern mehr!“ auf ihre Energie hin. Dem Werben Hartmut’s, der sie geraubt hat, widersteht sie hartnäckig und beobachtet gegenüber dessen Mutter Gerlind eine schroff ablehnende Haltung. Sie erfüllt jeden Befehl, aber sie thut es mit Trotz. „Heiß brannte sie die Schmach,“ heißt es von ihr, als Gerlind sie höhnisch zur Wäscherin erniedrigte, aber sie wusch in Schweigen mit nimmermüder Hand. Ihr Lachen war verstummt, auf ihrem Antlitz lagerten Kälte und eiserner Trotz. Ihr Geist träumte von Waffengetöse, von Befreinng, von Rache!

Gar oftmals stand am Felsen
Sie einsam, um zu spähen,
Ob keine Ruder rauschen,
Ob keine Segel wehen

Vom Hegelingenlande
Da draußen auf dem Meer.
Doch war’s umsonst, die Meerfluth
Blieb dunkel stets und leer.

Als dann die Stunde der Befreinng herannaht, als Herwig, ihr Verlobter, und Ortwin, ihr Bruder, am Strande landen, da bricht die Gewalt der Leidenschaft in ihr aus. „Ich wasche den Normannen von heut’ an nimmermehr!“ erklärte sie aufwallend ihrer zagenden Begleiterin, und in die Wogen flogen die Gewänder und trieben weit hinweg vom weißen Strand. Gerlind tritt sie mit Trotz entgegen, und als auf der Höhe des Kampfes die Frauen bei ihr Schutz suchen vor dem grimmen Wate, da findet diesen zwar Ortrun, die ihr stets liebreich begegnet war, aber die gedemüthigte Gerlind wird höhnisch abgewiesen.

Meisterhaft wie die Charakterzeichnung Gudrun’s ist auch diejenige der übrigen Haupthelden. Hagen ist riesenhaft ungeschlacht, naiv eingebildet, im Grunde gutmüthig. Wate ist der wilde, barbarische, unbändige Kämpfer, dessen Wüthen Alles erliegt, der in der ganzen Dichtung als unabweisbares rächendes Schicksal auftritt. Hettel ist eine echt königliche Erscheinung, er hört auf den Rath seiner Vasallen, bewahrt in allen Lagen Ruhe und Besonnenheit, begegnet Jedermann mit Milde, will nicht Furcht, sondern Neigung erwecken. Hilde, Gudrun’s Mutter, erscheint heimlich, versteckt, verschlossen. Horand ist der deutsche Orpheus: wenn er singt, schweigen die Vögel, die Thiere im Walde lassen die Weide, das Gewürm im Grase hört auf zu kriechen, des Stromes flinke Fische lauschen in der Fluth.

Schon die bloße Schilderung der verschiedenartigen Charaktere giebt von dem leuchtenden Farbenreichthum des Gudrun-Liedes ein helles Bild; mit wachsendem Interesse folgen wir der Entwickelung des einzelnen Charakters wie der gesammten lebensvollen Handlung. Die einfache edle Sprache berührt wohlthuend, die überraschende Kürze des Ausdrucks spannt die Aufmerksamkeit, die überall knappe, zielbewußte Schilderung läßt Widersprüche nicht aufkommen.

Wir können auf Geschichte und Inhalt der Dichtung, die übrigens fast derselben Zeit entsprungen sein dürfte wie die Nibelungensage, an diesem Orte nicht weiter eingehen. Aber es verlohnt der Mühe, sich mit dem inhaltreichen Nationalepos, das ein vortrefflicher Kenner der mittelhochdeutschen Dichtung, v. d. Hagen, mit Recht als eine Nebensonne des Nibelungenliedes bezeichnet hat, bekannt zu machen, und die Engelmann’sche Neudichtung desselben ist besonders geeignet, auch den Laien für die Sage zu erwärmen. Der schwäbische Dichter hat in richtiger Erkenntniß der zu lösenden Aufgabe sich dem überlieferten Original möglichst treu angeschlossen, ohne dabei gleichzeitig den Leser durch veraltete und ihm deßhalb fremd gewordene Begriffsbezeichnungen und Redewendungen abzustoßen und zu ermüden.

Dem inneren Werthe kommt die äußere Ausstattung des Werkes gleich. Dieselbe ist geschmackvoll, und die beigegebenen Illustrationen von E. Keppler, von denen wir obenstehend in Holzschnittnachbildung eine Probe bringen, sind werth, den Beifall aller Kunstsinnigen zu finden.
Dietrich Theden.     

[714]

Offene Briefe an Henry M. Stanley.

Von Dr. Pechuël-Loesche.

Vorwort der Redaktion. Stanley’s Werk „Der Kongo und die Gründung des Kongostaates“ war die erste ausführliche Schilderung der Thätigkeit jenes Brüsseler Komités, welches, in hochherziger Weise durch den König Leopold II. von Belgien unterstützt, sich die Aufgabe gestellt hatte, das Becken des großen afrikanischen Stromes der Kultur zu erschließen. Bis dahin waren nur unvollständige Berichte über einzelne Phasen der vielgenannten Kongo-Expedition in die Oeffentlichkeit gedrungen. Stanley’s Werk war somit ein werthvoller Beitrag zur jüngsten Geschichte der afrikanischen Kolonisation, dem man überall mit großer Spannung entgegensah.

Als wir uns anschickten, in Nr. 20 der „Gartenlaube“ unsere Leser auf das Erscheinen jenes Buches aufmerksam zu machen, waren wir bereits zu der Ueberzeugung gelangt, daß ein Theil der Schilderungen mit Vorsicht aufzunehmen sei. Wir gaben auch offen der Befürchtnng Raum, daß wir in dem Buche „kein objektives Geschichtswerk, sondern eine Rechtfertigungs- und Anklageschrift“ vor uns hätten. Ebenso mußten wir die Anschauungen Stanley’s über das Klima, die Zukunft des Kongogebiets etc. als zu optimistisch bezeichnen. Trotzdem glaubten wir, in unparteiischer Weise den mannigfachen zweifellosen großen Verdiensten des berühmten Reisenden die verdiente Anerkennung zollen zu müssen.

Inzwischen gewinnt es den Anschein, daß die von uns ausgesprochenen Bedenken nicht unbegründet sind. Es wird demnächst der durch seine wissenschaftlichen Arbeiten in Gelehrtenkreisen wohl bekannte Forschnngsreisende Dr. Pechuël-Loesche in einer besonderen Schrift eine ausführliche Widerlegung der gegen ihn von Stanley gerichteten Angriffe veröffentlichen und dabei eine Schilderung der Zustände am Kongo geben, die mit den Berichten Stanley’s in vollem Widerspruch steht. Dr Pechuël-Loesche, der eine Zeit lang als Chef jener Kongo-Expedition gewirkt hat, ist mehr als irgend ein Anderer berufen, in das geheimnißvolle Dunkel, das immer noch über der Geschichte der Kongo-Expedition schwebt, Licht zu bringen. Wir sind schon heute in der Lage, einen Theil der Erwiderung unseres langjährigen, durch Stanley’s Angriffe zur Nothwehr gezwungenen Mitarbeiters in nachstehenden Artikeln bekannt zu geben. Wir thun dies in durchaus unparteiischem Sinne und in der festen Ueberzeugung, daß durch eine derartige Diskussion vor dem Forum der Oeffentlichkeit die Ansichten über das Kongogebiet geklärt werden und – worauf es vor Allem ankommt – die Erforschung der Wahrheit nur gewinnen kann.


I.

Ein Komité, welches gewissermaßen im Namen eines Königs handelt, über unbeschränkte Geldmittel verfügt, repräsentirt eine große Macht. Ein berühmter Entdecker, welcher für die große Masse schreibt und spricht, sein Prestige mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten, zu vergrößern weiß, repräsentirt ebenfalls eine große Macht.

Wenn nun zwei solche Mächte sich zusammenthun, um mit allen ihnen zu Gebote stehenden Kräften etwas zu erstreben, so können sie in der That sehr viel leisten. Die öffentliche Meinung wird bald nicht mehr im Stande sein, zu unterscheiden, ob das zu Erstrebende bereits erreicht ist oder nicht, ob theilweise Erfolge in dem einen oder anderen Sinne zu deuten sind. Besonders leicht ist diese Unklarheit zu erhalten, wenn der Schauplatz der Begebenheiten unbekannt ist, wenn ausgiebige Vorkehrungen getroffen sind, daß nur solche Nachrichten in die Oeffentlichkeit gelangen, welche dem Zwecke dienen.

Für Sie, Herr Stanley, und das Komité giebt es daher zwei Abtheilungen von Männern: diejenigen, welche für den Kongo schwärmen, blindlings für ihn eintreten oder auf Grund eigener Erfahrung Alles ausgezeichnet finden; und diejenigen, welche wagen, eine abweichende Ansicht zu vertreten. Die Ersteren sind die Förderer des Werkes; vortreffliche Menschen, welche, wie immer sie geartet sein mögen, hohes Lob und öffentliche Anerkennung verdienen. Die Letzteren sind unbrauchbare Menschen, die das Schöne und Gute nicht sehen wollen.

Wenn ein geheimnißvolles Unternehmen, welches behauptet, wissenschaftliche und philanthropische Zwecke zu verfolgen, unter gänzlicher Vernachlässigung dieser nach ganz anderen Dingen trachtet und, statt ruhig mit seinen eigenen Mitteln das Gute zu erstreben, die öffentliche Meinung zweckvoll immer stärker aufregt, so fordert es die Kritik heraus. Wenn eine Reklame die Grenzen des Harmlosen gar zu weit überschreitet und anfängt, gefährlich zu werden, ist es geboten, ihre Angaben zu widerlegen, die allgemeinen Interessen wahrzunehmen.

Auf Grund eigener Erfahrung und der vorhandenen Forschungsresultate versuchte ich es daher, in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres ein treues Bild von der wirklichen Beschaffenheit des Kongogebietes zu geben. Im warnenden Sinne war es ein geradezu vergebliches Beginnen: die öffentliche Meinung war gefangen, die Macht der Gegenpartei viel zu groß, und die Kolonialbewegung begann die Gemüther zu erregen.

Aber auch eine Täuschung, und sei sie noch so unfaßbar groß und kühn, hat ihre Zeit. Während noch Ihr Buch gedruckt wurde und die Konferenz zu Berlin tagte, beschloß die amerikanische Regierung, der Angelegenheit in praktischer Weise auf den Grund zu gehen. Sie sandte officiell einen vielerfahrenen und hochgestellten Beamten nach Afrika, zu untersuchen, wie es denn mit dem gerühmten Kongolande in Wirklichkeit stünde. Die officiellen Berichte sind publicirt; sie sind in ihrer klaren, scharfen Fassung unantastbar und vernichtend.[1] Nicht nur im Allgemeinen, sondern gewissermaßen Satz für Satz bestätigen dieselben in allen Einzelheiten, was ich jemals über Westafrika, im Besonderen über das Kongoland und das Unternehmen gesagt und geschrieben habe.

Der Schleier fällt; der Glaube schwindet, mit ihm das afrikanische Kanaan. Es werden doch auch andere Staaten im Interesse ihrer Angehörigen, welche Unternehmungen im Kongostaate beginnen oder fördern wollen, officielle Berichterstatter nach dem Schauplatze senden, und endlich wird die volle Wahrheit über das Unternehmen an den Tag kommen.

*               *
*

In Ihrem an den Verleger Herrn Brockhaus gerichteten und der deutschen Ausgabe Ihres Buches vorgedruckten Briefe sagen Sie:

„Ich bin der nebelhaften Berichte über Geographie und Geologie oder andere ologien überdrüssig, geschrieben von unreifen Dilettanten in afrikanischen Angelegenheiten, die Afrika und dessen Aussichten zu beurtheilen sich anmaßen, einfach weil sie mit Maulwurfsaugen über den Wasserausfluß eines einzelnen Kongobaches blickten. – –“

Da Sie, Herr Stanley, mit derartiger Selbstüberhebung reden, so wollen wir doch einmal feststellen, über was Sie denn eigentlich im Kongolande „geblickt“ haben.

Sie sind als der Erste unter großen Fährlichkeiten den Kongo abwärts gefahren und haben einen wohlverdienten Ruhm als Entdecker geerntet. Sie sind nachmals an und auf dem Riesenstrome mit Aufwendung aller Kräfte und ungeheurer Mittel aufwärts vorgedrungen und haben außerdem etliche seiner Nebengewässer unterschiedliche, aber verhältnißmäßig kurze Strecken weit befahren. Ueber diese Flußläufe hinaus wissen Sie nichts! Sie haben nicht einmal in die benachbarten Landschaften Reisen unternommen, nur zu untersuchen, was wohl jenseit der von Ihnen beschauten Ufer sich finden möge. So kennen Sie mehr oder minder gut eine lange dünne Linie mit einigen kurzen Abzweigungen – absolut weiter nichts im ganzen ungeheuren Kongostaate.[2]

Darauf hin wagen Sie aber, Ihr Buch mit „unbestreitbaren Wahrheiten“ über das ganze Centralafrika anzufüllen, die unermeßliche Fruchtbarkeit desselben als selbstverständlich zu verkünden, den Leser mit einem Zahlenmaterial zu blenden, welches sich eben so gut auf einen Staat im Monde beziehen könnte.

Sie bemerken am Kongo-Ufer, wo die Bevölkerung sich naturgemäß verdichtet, eine Anzahl Dörfer. Daraus berechnen Sie die Bevölkerung des gesammten unbekannten Kongostaates etwa nach folgendem Muster: in Berlin leben so und so viel Menschen, Berlin nimmt so und so viel Raum ein, Deutschlands Flächeninhalt ist so viel Mal größer – folglich leben in Deutschland so und so viel Menschen.

Sie blicken in die Mündungen einiger Nebenflüsse, Sie hören von anderen, und flugs berechnen Sie die Länge der schiffbaren Wasserstraßen Innerafrikas, die Ausdehnung der Ufergelände, welche dem Handel erschlossen worden. Sie kennen freilich alle diese Verhältnisse nicht näher, Sie haben dieselben nie untersucht, aber das hindert Sie nicht, dieselbe in imponirenden Zahlenwerthen ausgedrückt den staunenden Lesern vorzulegen.

Sie geben keine Uebersicht über die Menge der thatsächlich vom Kongoland ausgeführten Produkte, denn sonst müßten Sie von Ihrer für das Innere erfundenen Liste nicht nur viele Nullen, sondern viele Posten gänzlich abstreichen. Darum suchen Sie die Leser mit folgender Wendung (II, 383) zu beruhigen: „Angenommen, es seien einige wenige Faktoreien am oberen Kongo, in Isangila und Manyanga angelegt, so würden in Anbetracht dessen, was auf dem unteren Kongo verschifft worden ist, verladen worden sein“: – und darauf eine Liste von Exporten aus dem unbekannten Inneren, welche den arglosen Leser geradezu überwältigen muß. Jährlich für 113 Millionen Mark! Was wird denn aber vom unteren Kongo thatsächlich verschifft? Wo steht es in Ihrem Buche gedruckt?

Sie führen in der Liste der Exporte des Inneren auf, z. B.: 232 Tonnen Elfenbein, Werth über 5 Millionen Mark. Das gesammte westliche Kongobecken liefert aber seit Jahrzehnten in der besten Zeit bloß 80 Tonnen im Ganzen pro Jahr! Und Sie wollen allein in einem relativ winzigen Theile desselben, in ein paar Faktoreien die dreifache Menge pro Jahr kaufen? Haben Sie und das Unternehmen statt der pro Jahr verheißenen 232 Tonnen Elfenbein wohl schon viel mehr als 232 Zähne in ganzen sechs Jahren kaufen können? Und doch sind Sie in die Gegenden gelangt, wo nach Ihren früheren Schilderungen das Elfenbein keinen Werth mehr haben soll, wo die Dörfer damit vollgestopft sind! Ich weiß ja doch aus eigener Anschauung, Herr Stanley, wie trotz rastloser Bemühungen die Geschäfte der Association gegangen sind. Sie könnten aber sagen, ich sei ein böser Mann. Dann lesen Sie unten die Anmerkung.[3]

Sie führen ferner auf: 10000 Tonnen Orseille pro Jahr, Werth 9 Millionen Mark. Wissen Sie, Herr Stanley, was 10000 Tonnen Orseille jährlich auf dem Weltmarkt bedeuten würden? Die Bäume in den Kongowäldern sind vollbehangen mit Ihrer schönen Orseille! Leider ist es aber gar keine Orseille (Roccella), wie sie namentlich in südlichen Küstengebieten vorkommt, sondern eine Usnea, eine weiche Bartflechte, verwendbar etwa als Füllung beim Verpacken von Glaswaaren etc.

[715] Fassen wir uns kurz: Ihre ganze Liste, Herr Stanley, über die Exporte des Inneren, namentlich auch über die alljährlich durch Feldbau zu gewinnenden Handelsprodukte, Ihre imponirenden Zahlen sind eitel Phantasie, um ein Jahrhundert verfrüht!

Gerade die das afrikanische Geschäft beherrschenden Großhändler sind darüber gar nicht in Zweifel. Wenigstens deutsche nicht. Sie haben sich eines Fehlers von großer Tragweite schuldig gemacht, Herr Stanley: Sie sind nicht auf dem deutschen Geographentage zu Hamburg erschienen. Gerade dort hätten Sie aber auftreten müssen. Dort hätten Sie die gewichtigen Zweifel an Ihrer Zuverlässigkeit vor Allem persönlich bekämpfen müssen!

Sie haben nicht gezögert, englischen Kaufleuten die Herrlichkeiten des Kongostaates in eigener Person zu verkünden; warum traten Sie nicht auch hin vor unsere deutschen Kaufherren, vor die Enkel der alten Hanseaten?

Das Bekannte anzuführen, haben Sie sich wohlweislich gehütet. Die Kongomündung als einziger Hafen ist ein Sammelplatz für die Produkte, welche an langgestreckten Küstengebieten im Norden und Süden eingekauft werden. Und die von dort kommenden minderwerthigen Massenprodukte sind wiederum in einer relativ schmalen Zone erzeugt worden, wo der Handel seit langer Zeit anregend gewirkt hat. Das werthvollere Kautschuk wird aus entsprechend größerer Entfernung – nicht aber vom Kongo! – gebracht. Das kostbare Elfenbein allein kommt aus dem Inneren. Davon können Sie aber an einem beliebigen Elfenbeinplatze der Küste, fern vom Kongo, in einem Monat mit geringeren Kosten mehr Zähne erwerben, als Ihr Unternehmen überhaupt seit seinem Bestehen im Inneren am Kongo erworben hat.

Ich wiederhole hier: die von der Reklame als Export vom Kongo aufgezählten Produkte, deren Quantität meistentheils viel zu groß angegeben wird, entstammen nur zum kleinsten Theil dem Kongo selbst (und zwar bloß dem unteren, nicht dem oberen Kongo), zum bei Weitem größten Theil dagegen den Küstengebieten im Norden und Süden. Sie dem Kongo selbst zuzuschreiben, wäre etwa so fehlerhaft, als wenn man die von Hamburg ausgeführten Güter als Erzeugnisse Hamburgs oder der Elb-Ufer aufzählen wollte.

Bei der Aufstellung Ihrer phantastischen Liste von Exporten erstreben Sie einen doppelten Zweck. Nicht nur wollen Sie dem unaufmerksamen Leser die gerühmten Reichthümer des Inneren durch Zahlenangaben beweisen: Sie wollen ihn mittels dieser Liste auch von der Nothwendigkeit und der Lebensfähigkeit einer Eisenbahn überzeugen. Sie berechnen danach, daß die Bahn täglich allein 427½ Tonnen Produkte zur Küste zu befördern haben würde, was bei einer Fracht von 8 bis 9 Pfennig per Tonne und Meile, nebst Hinfracht und Passagiergeld Alles in Allem eine jährliche Einnahme von 6 Millionen Mark ergeben würde. Sie behaupten sogar (II, 385):

„Als bloße Spekulation stellt nichts auf der ganzen weiten Welt einen solch großen Nutzen in Aussicht wie diese kleine Eisenbahn.“

Beneidenswerthe zukünftige Aktionäre! Sätze wie dieser muthen doch an wie Prospekte aus der Blüthezeit des Gründerthums. Wenn nun aber die Frachten der Berechnung nicht entsprechen? Wenn nun nach vielen Jahren des Bahnbetriebes mühsam und allmählich kaum der zehnte Theil der veranschlagten beschafft werden kann? Wenn nun die Händler für die minderwerthigen Massenprodukte die Frachttaxe gar nicht zahlen können?

Wie zuverlässig sind Ihre Angaben hinsichtlich der Konstruktion dieser Eisenbahn! Da schreiben Sie (II, 385):

„Selbstverständlich würde letztere eine Niveaubahn sein, an welcher außerordentliche Kosten nur durch einige wenige Brücken verursacht werden.“

Vorher aber, da Sie noch nicht von der Bahn sprechen, sagen Sie (II, 354) über das nämliche zu durchmessende Gebiet:

„– – die gebirgige Region mit unzähligen Linien und Gruppen geringerer Hügel, welche noch mit einander zusammenhängen und nach einer ungeheuren Menge von Unebenheiten bis zur Höhe von 700 Meter über dem Niveau des Meeres aufsteigen.“[4]

Und die Niveaubahn mit nur wenigen Brücken? Als es gilt, dem Komité die von Ihnen geleistete riesige Arbeit recht eindringlich darzustellen, schreiben Sie (I, 247):

„Wir haben drei Brücken gebaut, etwa zwanzig Schluchten und Spalten an den Kreuzungspunkten ausgefüllt, sechs Hügel planirt, uns durch zwei dichte Wälder von hartem Holz hindurchgehauen und eine Straße von 38 Kilometer Länge hergestellt.“

So viele Hindernisse also allein auf einer recht kurzen Wegstrecke in dem verhältnißmäßig günstigsten Theile des Gebietes! Und die Niveaubahn mit nur wenigen Brücken? Noch deutlicher schreiben Sie (II, 213), wo Sie von dem Bau des Gebirges reden:

„– – wird er“ – nämlich der verständig nachdenkende Beschauer – „die geologische Geschichte, welche die Zeit mit tiefen Furchen in das enge Becken des Kongo geschrieben hat, und das verwickelte System der gewaltigen Schluchten verstehen, welche sich von Norden und Süden her demselben zuwenden.“

Sehr richtig und klar gesagt, Herr Stanley. Aber die Niveaubahn mit nur wenigen Brücken? Erwarten Sie etwa, daß noch Wunder geschehen? Daß die zahllosen eng bei einander liegenden Unebenheiten des Terrains sich selbst verwischen werden? Daß diese zahlreichen 30 Meter, 50 Meter, sogar 100 und mehr Meter tief in den festen Felsen oder in den mürben, bröckligen Laterit eingeschnittenen Klüfte und Schluchten, in welchen zur Regenzeit die Gebirgswässer entlang tosen – daß diese sich schließen werden, wenn die Bahn, die sie überschreiten muß, sich ihnen nähert? Wenn es möglich wäre, sie zu umgehen, würde die zwanzigfache der angenommenen Bahnlänge dazu ausreichen?

Sie berechnen sogar die ungefähren Kosten der Eisenbahn, als hätten Sie Vermessungen der Route, die Einzelheiten darüber in der Mappe. Ohne diese ist doch selbst die roheste Abschätzung des Werkes unmöglich.

Sie besitzen dieselben jedoch nicht! Sie und Andere sprachen von der Bahn wie von einem Luftschloß. Sie und das Unternehmen besitzen keine Vermessungen des zu überschreitenden übermäßig schwierigen Gebirgslandes! Sie kennen nicht die Höhe der Bergzüge, nicht die Tiefe der Schluchten, nicht die Weite der steilwandigen Thäler, nicht die Breite der Flüsse. Sie kennen also gerade nicht die Hindernisse, die in abschreckender Zahl und Größe außer sonstigen Schwierigkeiten dem Bahnbau entgegenstehen und deren Ueberwindung doch gerade die größten Kapitalien verschlingt. Sie haben keine Uebersicht, welche Aufmauerungen, welche enormen Ueberbrückungen zur Bewältigung der Hindernisse nöthig sein werden, für welche Richtung man sich auch entscheiden möge. Trotzdem beantworten Sie ohne Zögern die während der Konferenz zu Berlin an Sie gerichteten officiellen Fragen.

Sie sagen aber nicht, daß in den verstreuten, hauptsächlich buschähnlichen Galleriewäldern des Kongolandes harte, zu Zimmerarbeiten verwendbare Hölzer überaus selten vorkommen.

Im Gegentheil, Sie versäumen keine Gelegenheit, immer wieder das Vorhandensein von Wäldern und vorzüglichen Nutzhölzern zu betonen. Wo finden sich dieselben?

Vielleicht sind Sie und Ihre Anhänger der Ansicht, daß mein Urtheil neben dem Ihrigen keinen Werth besitze, weil ich Ihren Spuren nicht bis zum äußersten Punkte gefolgt bin. Auch ist es ja, wie weiter unten deutlich zu ersehen, eine beliebte Weise, die Herrlichkeiten des Kongostaates stets in die Gegenden zu verlegen, die noch kein unbefangen Urtheilender besucht hat. Ich kenne jedoch am Kongo selbst sowie abseits von ihm liegende große Gebiete gründlich genug, um angrenzende danach beurtheilen zu können, und vermag dies doch gewiß mit nicht geringerer Sicherheit als Sie, Herr Stanley, da Sie überhaupt bloß die Kongo-Ufer gesehen haben, nicht darüber hinaus in das Land selbst gekommen sind. Die Strecken, die ich nicht betrat, sind Anderen bereits vertraut geworden, und noch viele Reisende werden Gelegenheit finden, Schritt für Schritt die Wahrhaftigkeit Ihrer sonstigen Angaben zu prüfen.

Hier gleich ein neues Beispiel. Sie sprechen mit Enthusiasmus von dem Walde von Lukolela (II, 68), dessen brauchbare Bäume Sie auf 460000 Stück schätzen, welche etwa 9 Millionen Kubikmeter Holz liefern würden. Man erstaunt, wie gewissenhaft Sie untersuchen!

„Besonders zahlreich sind Platanenbäume (?), welche leicht zu bearbeitendes Holz für Planken zu Flachbooten und Dampfern, Bretter für Tische, Thüren, Fußbodendielen, Dachsparren, Fensterrahmen u. s. w. haben, während das prachtvolle Teakholz (!) zu Kielen, Vorder- und Hintersteven, Deckplanken, das herrliche Mahagoni-, Roth- und Guajakholz (!) zu Möbeln verarbeitet werden könnte. Eine Dampfsägemühle würde aus diesem einen Walde auf Generationen hinaus alles Holz liefern, dessen die Handelsfaktoreien bedürfen. Obgleich das Holz auch in anderen Gegenden am Kongo nicht gerade spärlich war, ist diese Region doch die einzige zwischen der See und Lukolela, wo man so wenig unbrauchbare Bäume findet.“

Hier haben wir also ganz bestimmte Angaben von Ihnen, Herr Stanley, so positiv gehalten, daß daran nicht gedeutelt werden kann. Nun ist nach Ihnen ein anderer, kenntnißreicher und in Afrika sehr erfahrener Mann auch in diesem unvergleichlichen Wald gewesen. Er hat beobachtet und beurtheilt.

Lesen Sie unten nach, Herr Stanley, ob das, was der Vorsteher der englischen Mission, Herr Comber, über den Werth der Hölzer im fernen Inneren und besonders zu Lukolela berichtet, die Zuverlässigkeit meiner oder Ihrer Anschauung bekräftigt.[5] Lesen Sie ferner nach, ob der Bericht des Kommissars der amerikanischen Regierung mein oder Ihr Urtheil über die Bewaldung des Gebirgslandes am Kongo beglaubigt.[6] Und warum sollten Diejenigen, welche Nutzhölzer ausführen wollen, nach dem Inneren gehen, wenn die Forsten der Loangoküste, z. B. der Galleriewald des Kuilu-Nyadi, des Luëmme Tschiloango, der Yombesche Wald, deren Großartigkeit in Afrika gewiß nirgends wo übertroffen wird und die vom Meere aus auf trefflicher Wasserstraße zu erreichen sind, dem Unternehmer sich darbieten?

Sie hüten sich auch, den wichtigen Umstand zu erwähnen, daß in jenem Tropenlande Hochbauten jedweder Art des Klimas, der Insekten wegen stets von Stein und Eisen sein müssen.

Weder Sie, Herr Stanley, noch das Unternehmen haben über alle diese fundamentalen Dinge auch nur die rohesten Untersuchungen angestellt. Eben jetzt erst hat man Ingenieure zum Kongo gesendet, um die allernothwendigsten Vorarbeiten für eine kurze Bahnstrecke zu erledigen. Und dennoch wird bereits seit Jahr und Tag die civilisirte Welt mit erstaunlicher Bestimmtheit über die Eisenbahn, ihre Nothwendigkeit und ihre Herstellungskosten belehrt! Ist jemals schon Aehnliches gewagt worden, noch dazu Angesichts eines mit hochwichtigen Arbeiten beschäftigten Kongresses, zu welchem alle civilisirten Völker ihre Vertreter gesandt hatten?


  1. Congo. Reports of W. P. Tisdel to the Secretary of State. Washington 1885.
  2. Report of W. P. TIsdel. Congo No. 4. pag. 7: „Jenseit Stanley Pool ist ein zu der Association gehöriger Europäer oder eine Karawane bis jetzt niemals auf irgend welche Entfernung vom Hauptstrom vorgedrungen, ausgenommen in Booten, und die Ausforschungen haben bloß am Kongo entlang und für eine kurze Strecke ab einem oder zwei Zuflüssen stattgefunden.“
  3. Tisdel. Report. Congo No. 4, pag. 16: „Herr Stanley hat von der Nachbarschaft der Fall Station 150 Zähne mitgebracht. Die Agenten der Association sind nur fähig gewesen 80 Zähne im letzten Jahre zu erwerben.“
  4. Man vergleiche die Abbildungen vom Kongostaate: „Gartenlaube“ 1883, S. 732, 733, 793 und 796.
  5. Proceedings, Royal Geographical Society. London 1885. p. 372: Die Nachbarschaft von Lukolela ist dicht bewaldet, aber er (Comber) könnte nicht sagen, daß er irgend welche Nutzhölzer gesehen hätte, die werthvoll wären für seine künftige Ausbeutung. Auf allen Stationen mußten viele Pfähle und Baumstämme weggeworfen werden, weil das Holz nichts taugte.“
  6. Tisdel: Congo. Report No. 4, pag. 17. „Mit einer Ausnahme giebt es keine mit stattlichen Bäumen bestandene Landschaft zwischen Ponta da Lenha und Stanley Pool. Ich meine den Masamba Wald, welcher, obwohl von geringer Ausdehnung, einige schöne Exemplare von hochgewachsenen Hartholzbäumen enthält. In den Thälern des Luvu- und Inkissiflusses wachsen einige Bäume dicht am Wasser entlang, aber meistens weiches Holz. An ein oder zwei Stellen entlang des Stanley Pools finden sich ebenfalls kleine Wälder, aber nichts für Zimmerholz Taugliches von irgend welcher Bedeutung.“

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Blätter und Blüthen.

Das Lesen verschlossener Briefe. Der berühmte Physiologe Professor Dr. W. Preyer in Jena hat soeben ein hochinteressantes Werkchen vollendet, welches in nächster Zeit in Th. Grieben’s Verlag (L. Fernau) in Leipzig erscheinen wird. Das Buch führt den Titel „Die Erklärung des Gedankenlesens“ und enthält die neuesten Forschungen, welche Professor Preyer über diese verwickelte und die Gemüther gegenwärtig so vielfach beschäftigende Frage angestellt hat. In dem Kapitel „Das Errathen gedachter Zahlen, Buchstaben, Figuren, Melodien“ bespricht der Verfasser auch das Lesen verschlossener Briefe und knüpft daran einige Bemerkungen von so hohem praktischen Interesse, daß wir uns nicht versagen können, dieselben im Nachstehenden wörtlich wiederzugeben:

Das Lesen beschriebener Zettel, welche verschlossen auf die Stirn des Gedankenlesers gelegt werden, ist weiter nichts als ein auf absichtlicher Täuschung beruhendes Taschenspieler-Kunststück.

Wird z. B. auf vier gleichgroße, gleichartige Zettel von mehreren Personen oder von einer je ein Name geschrieben, so kommt es nur darauf an, den Inhalt eines Zettels zu kennen, um den aller übrigen – und seien es noch so viele – dem erstaunten Auditorium laut vorzubuchstabiren, während der betreffende Zettel zusammengefaltet ist. Denn kennt der Taschenspieler nur einen Zettel, so nimmt er diesen zuletzt und sagt, was er enthält, beim ersten an die Stirn gehaltenen, als wenn dieser das enthielte, was in Wirklichkeit der auf dem Tische liegen gebliebene enthält. Dann öffnet er den ersten Zettel, liest für sich, was er enthält, und sagt: „Richtig“. Darauf wird der zweite Zettel an die Stirn gehalten und der Inhalt des eben geöffneten ersten verkündet, als wenn er dem zweiten zugehörte, und so fort bis zum letzten, dessen Inhalt vorweggenommen war und der nun den des vorletzten zugewiesen erhält. Die Täuschung ist nachher nicht mehr herauszufinden, weil alle Zettel durch einander geworfen werden und der Inhalt jedes einzelnen richtig – nur in unrichtiger Folge – angegeben wurde. Es kommt also nur darauf an, den Inhalt des einen Zettels vorher zu kennen.

In verschiedener Weise kann der „Hellseher“ sich diese Kenntniß verschaffen. Er kann z. B. den Zettel selbst schreiben oder einen verschwiegenen Bundesgenossen haben oder auch einen leeren Zettel den beschriebenen hinzufügen und behaupten, der erstausgelegte Zettel sei leer, sei durch ein Versehen hinzugekommen; er wird nach dem Oeffnen sogar mit der Rückseite dem Publikum von weitem gezeigt. Aber diese Kunstgriffe sind überflüssig, wenn der Taschenspieler sich geübt hat, aus der Entfernung an den Bewegungen des Schreibstiftes direkt zu erkennen, was geschrieben wird. Ob „Wilhelm“ oder „Otto“ geschrieben wird, erkennt man in drei Meter Entfernung leicht bei guter Beleuchtung; selbst dann nimmt der vermeintliche Hellseher wahr, was auf einen der Zettel geschrieben wird, wenn er abseits sitzt, den Kopf senkt und mit der Hand die Augen bedeckt, als wenn er sich für die schwierige Aufgabe sammeln wolle. Er sieht dann an der Hand vorbei auf den am günstigsten placirten Schreiber. Ich habe bereits von dieser Art, Geschriebenes vom Nebenzimmer aus zu erkennen, an anderer Stelle gesprochen[1].

Ueberhaupt ist diese ganze Spielerei hier nur deßhalb besonders erwähnt worden, weil die betreffenden Kunststücke ungebührlich viel von sich haben reden machen und noch jetzt Manche meinen, es sei bevorzugten Gedankenlesern oder „Hellsehern“ möglich, ohne Hilfe der Augen einen verschlossenen Brief mittels der Stirnhaut oder auch der Magengrube zu lesen, ohne ihn zu öffnen.

Trotz dieser mit bemerkenswerther Hartnäckigkeit immer wiederholten Behauptung ist nicht ein einziger derartiger Fall von einem Physiologen konstatirt worden. Es ist aber nicht überflüssig, hier zu bemerken, daß allerdings mit Hilfe der Augen versiegelte Briefe, ohne sie im Geringsten zu verletzen, in vielen Fällen gelesen werden können, auch wenn der Umschlag aus sehr dickem Papiere besteht. Ich habe nämlich, als ich die ungleiche Dicke der Vogeleierschalen mittels meines Embryoskops (Eispiegels) prüfte und den Embryo im unversehrten Hühnerei beobachtete, auch Versuche angestellt, um zu ermitteln, wie viel Lagen gewöhnlichen Brief- und Aktenpapiers auf und unter ein beschriebenes Blatt gelegt werden müssen, um die Schrift im durchfallenden direkten Sonnenlicht, bei maximaler Empfindlichkeit des Auges, unleserlich zu machen. Ich fand unter Anderm, daß man mit Leichtigkeit, wenn nur das Auge sich vorher 10 bis 15 Minuten lang in der Dunkelkammer ausgeruht hat, eine Schrift über dem Spiegel des Embryoskops noch lesen kann, welche mit acht Lagen Kanzleipapier bedeckt ist, und habe auch Andere überzeugt, daß man in dieser Weise namentlich solche Briefe, ohne zu entsiegeln, zum großen Theil leicht entziffern kann, welche mit dunkler Tinte nur auf einer Seite beschrieben sind, wogegen es sehr schwer ist, in dem Gewirre der Linien sich zurechtzufinden, wenn vier beschriebene Seiten zusammengefaltet und über die zuerst geschriebenen Zeilen wieder querüber geschrieben wurde. Auch giebt es farbige Papiersorten, welche wie Karton schon bei dreifacher und sogar zweifacher Lage zu wenig Licht durchlassen, um eine Entzifferung zu gestatten.[2]

Ich erwähne diese sehr einfache Art, gewöhnlich für unsichtbar gehaltene Schrift zu sehen, deßhalb, weil sie manche Leistung der „Hellseher“ erklären kann. Denn es ist mittelst des Eispiegels in der Regel leichter, den Inhalt eines Briefes oder Telegramms ohne die geringste Beschädigung, Anfeuchtung oder sonstige Veränderung des Umschlags zum Theil zu erkennen, als die Art der Bewegungen eines Hühnchens im Ei. Wer also den Zettel, dessen Inhalt allein dem Schreiber bekannt ist, auch nur während einer Viertelstunde oder nur während fünf Minuten aus den Augen verliert, etwa mit einem ähnlichen vertauscht werden läßt oder seine Aufmerksamkeit davon abwendet, kann leicht immer da getäuscht werden, wo direktes Sonnenlicht, elektrisches oder Magnesiumlicht nebst dem Eispiegel im Nebenzimmer zur Verfügung steht. Und wem daran liegt, eine Bürgschaft für die Wahrung des Briefgeheimnisses zu haben, wird gut thun, ein Stück Karton in den Briefumschlag hinzuzulegen oder diesen inwendig schwarz zu färben. Telegramme können jedoch in der gegenwärtigen Form der Ablieferung, wenn sie nicht unmittelbar in die Hände der Adressaten gelangen, nicht geschützt werden. Man kann sie in der beschriebenen Weise, ohne Beschädigung und ohne daß der Adressat es bemerkt, in kürzester Zeit zum Theil lesen.


Galant. (Mit Illustration S. 709.) Das ist eines jener verzweifelten Fremdwörter, welche der Uebersetzung Schwierigkeiten bieten. Verbindlich? Höflich? Artig? Nein, diese Begriffe sind geschlechtslos, „galant“ aber ist ganz entschieden männlich, und zwar eine männliche Eigenschaft, welche wiederum nur in Beziehnng auf Frauen sich erweist. Wenigstens im Sinne unseres heutigen Sprachgebrauchs. In diesem Sinne kann ein Herr nie in Herrengesellschaft galant sein, eine Dame kann es überhaupt nicht sein.

Es gab eine Zeit, in der das Wort „galant“ ein zweideutiges Wort wurde. Im 18. Jahrhundert schrieb Jemand ein Buch „Das galante Sachsen“, welches wir heute „Das liederliche Sachsen“ betiteln würden. „Ist’s auch kein Mann, sei’s derweil ein Galan,“ sagt Mephistopheles.

Man hat Wörter, welche im Laufe der Zeit zu verlorenen Söhnen herunter kommen, nachdem sie einst bessere Tage gesehen, wie: Kerl, Knecht, Bube, Frauenzimmer u. dergl. Andere wieder, welche, obwohl von roher Herkunft, allmählich in die Aristokratie des Wortschatzes der Sprache emporsteigen. So das Wort galant. Der Incroyable auf unserer Illustration (so nennt man bekanntlich Leute in dieser Tracht der großen französischen Revolution) gehört mitsammt der Dame in riesigem Hut und modernisirtem Griechenkostüm in die Zeit, da jenes Wort seine frühere Bedeutung verloren hat. Nur trug es den besseren Charakter noch mit einer gewissen Absichtlichkeit zur Schau, wie bekehrte Sünder gern ihre junge Frömmigkeit, und diese gespreizte Absichtlichkeit der Galanterie jener Zeit ist vortrefflich in der Haltung des braven „Citoyen“ (Bürgers) abgespiegelt. Inzwischen ist die Galanterie zu jener absichtslosen Bescheidenheit gelangt, welche ihr einen Platz in dem peinlichsten Anstandskodex sichert. Sie bezeichnet die ritterliche, zuvorkommende Behandlung des schwächeren weiblichen Geschlechts. Ein galanter Sohn, ein galanter Bruder – welch ein Juwel! Und ein galanter Ehemann – nun, er zählt ja zweifellos zu den heißesten Wünschen jeder Frau und Jeder, die es werden will.

Galant – ich gebrauchte soeben die beste Uebersetzung dafür: „ritterlich“. V. B.     


Das Körner-Museum in Dresden. In Nr. 16 dieses Jahrgangs brachte die „Gartenlaube“ einen ausführlichen Artikel über das Körner-Museum und sprach am Schlusse desselben den Wunsch aus, der Bestand der außerordentlich reichen Sammlung möchte für die Zukunft gesichert werden. Das ist jetzt geschehen. Als Mitte September in Blasewitz bei Dresden der Gedenktag gefeiert wurde, an welchem Schiller vor hundert Jahren zum ersten Male die Schwelle des Körner’schen Hauses überschritt und dort gastlichste Aufnahme fand, wurde zwischen Dr. Peschel und den Stadtverordneten Dresdens auch der Vertrag abgeschlossen, durch welchen das Körner-Museum käuflich in den Besitz der Stadt Dresden übergeht. –th.     


Bilder-Räthsel.


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

M. Z. in Stuttgart Wir haben im Laufe dieses Jahres durch einen hervorragenden Künstler Aufnahmen an Ort und Stelle machen lassen. Leider erkrankte derselbe kurz darauf schwer, so daß die Ausführung sistiert werden mußte. Wir bitten um Geduld. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!

M. Mazzelini in Wien. Verfügen Sie gefl. über Ihr Manuskript.

Franz Lisa O. Dankend abgelehnt.

F. L. in M. Wenden Sie sich an einen Arzt.


[ Inhaltsverzeichnis dieser Nr., hier nicht dargestellt. ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. In meinem Buche „Aus Natur- und Menschenleben“. Berlin 1885. S, 298.
  2. Das Instrument, welches diese Verletzung des Briefgeheimnisses ermöglicht, habe ich in der „Zeitschrift für Instrumentenkunde“ beschrieben im Mai 1882. (S. 171.)