Die Gartenlaube (1886)/Heft 14

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 14.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Lora-Nixe.

Novelle von Stefanie Keyser.

Ueber den waldigen Hainberg, welcher das Bad Jungbrunnen vor den rauhen Ostwinden schützt, wandelte an einem Sommernachmittag des Jahres 185* eine kleine Gesellschaft eleganter Herren und Damen. Nur selten verstiegen sich die Badegäste bis hier herauf. Die Pfade hatten manches von ihrer Naturwüchsigkeit bewahrt. Brombeerranken hingen sich an die langen, weit gebauschten Sommerkleider der Damen, Baumwurzeln stemmten sich den Lackstiefeln der Herren entgegen, als wolle der Wald den feinen Leuten zeigen, daß er sich gar nichts aus ihrer Naturschwärmerei mache.

Endlich lichteten sich die Bäume. Die sonnige Landschaft glänzte zwischen ihnen herauf.

„Von hier aus hat man den schönsten Blick auf Jungbrunnen,“ sagte ein älterer Herr, mit einer Ordensrose im Knopfloch, und trat, geschäftig voran gehend, auf einen Vorsprung hinaus, den ein breiter Ahorn beschattete.

Drunten im Thal lag das Bad mit seinen langen Reihen weißer Häuser, den zerstreuten Villen, dem Alles überragenden Kurhaus, den schnurgeraden Alleen und eckigen Steinbalustraden, in welchen die Lora, wie in einen Schnürleib eingepreßt, ihre raschen Wellen dahin trieb,

„Ich besaß als Kind ein derartiges Etablissement in einer Schachtel,“ bemerkte ein anderer Herr, dessen feiner Sommeranzug von gewählter Einfachheit mit seiner vornehmen Haltung ebenso in Einklang stand wie der Ausdruck seines scharf geschnittenen Gesichtes mit dem kühlen spöttischen Ton seiner Stimme. „Gerade so grell, bunt und hölzern wie diese gerühmte Ansicht nahm sich mein Spielzeug aus.“

Ein junges Mädchen wandte das von braunen Flechten umwundene Köpfchen, welches ein mit Kornblumen garnirter runder Strohhut schützte, ihm zu. Aber ihre Lippen, die sich zu einer Antwort geöffnet hatten, beschränkten sich auf ein heiteres Lächeln, als sie sah, daß eine Birke ihr zartes Gezweig in die Schnur geschlungen hatte, an welcher das Monocle des Herrn hing, und dieses ihm von dem Auge hinweg schnellte.

Die Gesellschaft schritt durch das feine Gras des Bergkammes weiter.

Bald öffnete sich an der andern Seite abermals ein Blick in die Tiefe. Inmitten grüner Wiesen und wogender Getreidefelder lagen ebenfalls weiße Häuser in regelmäßigen Reihen.

„Eine Spielschachtel geringerer Qualität,“ sprach der Herr, der sein Glas von der Birke zurück erobert und wieder vor das Auge gedrückt hatte.

„Von Ihrem Standpunkt aus, Herr von Ravensburgk, mögen Sie Recht haben; es ist die Herrnhutergemeinde Himmelgarten,“ erklärte der alte Herr. Er war der Regierungspräsident des Bezirkes.

Ein Zukunftsmusiker.0 Nach dem Oelgemälde von F. Streitt.

[238] Als alljährlicher Badegast in Jungbrunnen hatte er es unternommen, einigen vor Kurzem angekommenen alten Bekannten die Honneurs der Gegend zu machen.

„Wir befinden uns auf einer merkwürdigen Wasserscheide zwischen den Kindern Gottes nlld den Kindern der Welt,“ lächelte Ravensburgk.

„Herr Präsident, was ist das für ein alter Thurm, der dort drüben auf dem Berg sich erhebt?“ fragte den freundlichen Cicerone eine Dame, die durch ihre vollen aufgesteckten grauen Locken zeigte, daß sie nichts sein wollte als eine würdige Matrone.

„Das ist der Bergfried von Falkeneck, eine der schönsten Ruinen dieser an alten Burgtrümmern so reichen Gegend,“ antwortete der Gefragte.

„Von hier aus würde ich sie eher für einen baufälligen Schlot als für das Stammschloß der Falkenecks halten,“ kritisirte Ravensburgk. „Wäre auch nur der Lauf der Welt,“ setzte er mit einem düstern Blick nach dem grauen Thurm hinzu; „die Ravensburgk, wo die alten Kampfgefährten der Falkenecks hausten, hat sich längst in einen Fabrikschlot verwandelt.“

„Die Burg liegt auf einem Fels am Fluß, der hier eine Krümmung um den Fuß des Hainberges macht, und wird deßhalb von Berg und Bäumen verdeckt bis auf den hohen Thurm,“ erwiderte der Präsident. „Die Freiherren von Falkeneck, deren Besitzthum einst so weit reichte, als sie von ihrer hohen Warte schauen konnten, schenkten im vorigen Jahrhundert der Brüdergemeinde das wüste Falkenthal, und diese gründete daselbst den Ort Himmelgarten. Wenn man sieht, wie die Herrnhuter den Grund in Wahrheit zu einem Garten umgewandelt haben, muß man vor den stillen Leuten Respekt bekommen.“

„Ich hasse die sogenannten fruchtbaren Gegenden,“ sagte Ravensburgk.

„Es bleibt Ihnen überlassen, auf Ihrem Gut die Wildniß früherer Tage zu hegen,“ entgegnete der aller Kultur zugewendete Regierungspräsident etwas spitz.

„Die Familie Falkeneck ist ausgestorben, nicht wahr?“ fragte interessirt die alte Dame den Präsidenten.

„Leider irrt sich Frau von Blachrieth,“ sprach Ravensburgk, neben dem jungen Mädchen weiter schreitend. „Die Familie ist nicht gestorben, sondern verdorben. Der Letzte, welcher den Namen führte, ging vor Jahren als überschuldeter Officier in die weite Welt hinaus und galt als verschollen. Jetzt munkelt man in Jungbrunnen, daß der eine Croupier der letzte Sprosse des uralten Geschlechtes sei. Es ist eine Sünde und Schande, daß man sich von seinen Wirthsleuten, vom Bademeister das muß erzählen lassen, ohne getrost widersprechen zu dürfen.“

„Der Mann zeichnet sich allerdings durch vornehme Haltung aus,“ mischte sich ein Herr in das Gespräch, der officiell als Bergrath Müller angeredet wurde, den aber Ravensburgk konsequent den „Sohn seiner Mutter“ nannte, weil er nur von seiner Mama, einer Geborenen von Haderndorf, und deren Verwandtschaft sprach.

„Einen feinen Lack giebt das Spiel immer,“ erwiderte Ravensburgk, und zu seiner Begleiterin gewendet, fuhr er fort: „Wenn es Ihre Frau Tante interessirt, so machen Sie dieselbe einmal auf den großen stattlichen Herrn mit dem schwarzen, spitz gedrehten Henri quatre am Roulettetisch aufmerksam. Das ist Monsieur Faucon, wie er sich nennt.“

„Wir gehen niemals in die Spielsäle,“ entgegnete die junge Dame und pflückte ein paar Zweige blühenden Thymian zu dem Gewinde, welches sie im Gehen an einander fügte, indem sie dazu Seidenfäden aus den blauen Fransen ihrer Mantille zog.

Frau von Blachrieth folgte ihr zwischen die hohen Grashalme und niedrigen Gesträuche; und wahrend sie scheinbar bewundernd vor einer Skabiose stehen blieb, die von kleinen dunkelroth und grün gezeichneten Schmetterlingen bedeckt war, flüsterte sie: „Laß Dir doch von dem wüsten Ravensburgk nicht so auffallend den Hof machen, Hedwig. Bedenke, daß er ein berüchtigter Roué ist, der Verhältnisse mit Frauen aller Regionen hat.“

„Aber Tantchen!“ entschuldigte sich Hedwig, „er ist doch ein alter Bekannter. Als im vorigen Winter meine Eltern ein paar Monate mit mir in der Residenz verlebten, ist er sehr aufmerksam gegen mich und wahrhaft freundschaftlich gegen den Papa gewesen.“

„Ich verlauge auch durchaus nicht, daß Du ihn schroff zurückweisen sollst,“ erwiderte Frau von Blachrieth. „Seine Stellung als Flügeladjutant und Kammerherr unseres Fürsten verleiht ihm großen Einfluß bei Hofe, der noch viel bedeutender wird durch die Energie und die Klugheit des geriebenen Hofmannes. Es würde mir sehr unangenehm sein, auch um Heino’s willen, wenn Du ihn reizen wolltest. Du sollst ihn nur nicht aufmuntern. Es giebt in allen Dingen ein schickliches Maß.“

Hedwig schwieg, und ihre Tante kehrte wieder auf den betretenen Weg zurück, der in eine steil bergab führende Schlucht mündete.

Auf den Arm des Präsidenten und ihren Sonnenschirm gestützt, betrat sie vorsichtig den feuchten Pfad, der sich zwischen hohen Farnkrautwedeln und überhängenden Zweigen des Buschholzes hinab zog.

Hedwig folgte langsam, dem Anschein nach eifrig beschäftigt, Blumen zu sammeln, in Wahrheit aber, um, dem Wunsch ihrer Tante gemäß, dem gefährlichen Ravensburgk einen Vorsprung zu lassen. Doch nicht ohne eine Regung des Mitleides mit dem eleganten Kavalier. Sie war ihm im Herzen dankbar geblieben für das Gefühl von Sicherheit, das er ihr auf dem glatten Parkett der fürstlichen Säle gegeben hatte, als er, der gewöhnlich nicht mehr tanzte, sie auf ihrem ersten Ball zur Française und damit in die Reihe der voll berechtigten Tänzerinnen führte.

Als sie endlich, durch verschiedene rothe Kleeköpfchen und gelbe Löwenmäulchen bereichert, am Eingang der Schlucht ankam, fand sie Ravensburgk ihrer harrend; und während er eine dreiste Hasel zurückbog, die sich quer über den Weg gelegt hatte, sagte ihr der durchdringende Blick seiner tief liegenden Augen und ein halb spöttisches, halb überlegenes Lächeln, welches seinen röthlichen Bart kräuselte, daß er sowohl das Manöver ihrer Tante als ihr eigenes durchschaut habe und sich ein Vergnügen daraus mache, die kleinen Kriegslisten zu durchkreuzen.

„Warum fehlt Ihr Vetter bei der Partie?“ fragte er, wie vorher neben ihr weiter schreitend und mit seinem Spazierstöckchen von Zeit zu Zeit die blauen Säume ihres weißen Barègekleides aus rauhen Wurzelhänden lösend. „Ich vermißte ihn schon diesen Morgen am Brunnen.“

„Ich nicht,“ antwortete Hedwig unbefangen. „Ich wußte, daß Heino beim Ordnen seiner Papiere war. Er beschäftigt sich wieder mit einer neuen Dichtung.“

„Ja, ja,“ spottete Ravensburgk. „Er fängt seine Empfindungen ein, sperrt sie in ein Büchlein und gestattet seiner Mutter, daß sie ihn dafür anbetet, und der Gesellschaft, daß sie der Schrulle des reichen Rittergutsbesitzers schmeichelt, der durchaus seinen alten Namen auf den Büchermarkt bringen will. Aber er sollte bedenken, daß Apollo ein strenger Gebieter ist, der sich zuweilen damit beschäftigt, zu schwach Befundene lebendig zu schinden.“ Er köpfte mit scharfem Hiebe eine blaue Glockenblume, die am Wege stand.

„Das wäre eine zu harte Strafe für ein harmloses Unterfangen,“ wehrte Hedwig lächelnd ab, während sie die Glockenblume aufhob und sorgsam in den Kranz fügte.

„Harmlos ist der Dilettantismus nicht,“ entgegnete Ravensburgk mit Nachdruck. „Das musikalische Gebiet hat er dermaßen überwuchert, daß die holde Kunst Euterpes sogar in Miethskontrakten verbeten wird. Jetzt fangen Wagner und Liszt die Reinigung an. Ihren Anforderungen können nur Künstler genügen; und so gehen die ewigen Kückensängerinnen an der Frau Venus, die Variationenspieler an den Rhapsodien zu Grunde. Nun scheint sich die unsterbliche Stümperei auf die Litteratur zu werfen; denn ganz aus der Gesellschaft zu bringen ist sie so wenig wie die Gicht aus dem Körper. Einmal zwickt’s im Arm, einmal im Bein. Uebrigens würde Ihre Frau Tante sehr zufrieden sein, wenn sie vernähme, daß Sie mit Ihres Vetters Eigenthümlichkeiten einverstanden sind,“ setzte er in leichtem Ton hinzu.

Hedwig’s Züge nahmen einen kühlen Ausdruck an, „In der That?“ sagte sie gleichgültig.

„‚In der That‘ ist weder eine Frage noch eine Antwort und ungefähr so viel werth wie ein Achselzucken,“ rügte Ravensburgk mit leisem Unmuth im Ton.

„Als feiner Hofmann kennen Sie den Werth dieser Geste gewiß,“ erwiderte Hedwig schelmisch.

[239] „Von Ihnen wünsche ich nicht als Hofmann gewogen und behandelt zu werden,“ war seine ernste Antwort.

Laute Ausrufe des Entzückens von der voraus gegangenen Gesellschaft unterbrachen das Gespräch. Die Schlucht öffnete sich vor ihnen und zeigte ein schönes Landschaftsbild.

In weitem Becken breitete sich die Lora vor ihnen aus. In ihrem klaren Gewässer spiegelte sich der wolkenlose blaue Himmel, strichweise von den Sonnenstrahlen mit goldenen Schleiern überwebt. Der Wald des Hainberges zog sich bis hinab auf den frischen Rasen, an dem das Wasser vorüber rann, und warf seinen Schatten in die Fluth. Zur Seite stieg aus dem Wellenschaum der braune Fels, der die Ruine von Falkeneck trug, schroff empor, und am jenseitigen Ufer streckten sich Aehrenfelder, lachten Weinberge.

Mitten zwischen ihren Terrassen erhob sich eine Gruppe alter stattlicher Gebäude mit steilen Schieferdächern, spitzen Schornsteinen und einem grauen, von üppigem Epheu überzogenen Eckthurme.

„Da sind wir im Lora-Grund,“ verkündete der Präsident.

„Wem gehört das Haus drüben in den Weinbergen?“ fragte Hedwig.

„Seit alten Zeiten den Herren Aufdermauer,“ lautete die Antwort des Präsidenten. „Wie die vom Thurm wehende Flagge verkündet, ist der Herr anwesend. Er soll seit dem Tod seines Vaters seinen Wohnsitz hier genommen haben. Bis jetzt war er Officier und hat bei der Artillerie einer rheinischen Festung gestanden.“

Der „Sohn seiner Mutter“ lachte kurz und spöttisch auf. „Was diese Leute sich Alles herausnehmen! Sie haben einen Herrensitz, ziehen eine Fahne auf. Nur schade, daß Niemand ihr obskures Wappenzeichen kennt.“

Ravensburgk’s Blick streifte ihn mit Verachtung. „Sie irren sich. Ich kenne ihr Wappenbild, die Gabel, ganz gut von dem Flaschensiegel, welches ihren vortrefflichen Wein bezeichnet. Unser Hof bezog von dem Haus Aufdermauer Dessertweine. Uebrigens wollte der alte Herr durchaus nichts Anderes sein als ein wohl situirter bürgerlicher Mann. Er gehörte zu den respektablen Leuten, die von dem eigenen Stande würdig genug denken, um von einem andern nicht das Seine borgen zu wollen.“

Der Bergrath wandte sich ab und klopfte untersuchend mit einem kleinen Hammer, der den Griff seines Spazierstockes bildete, an einen Felsblock, welcher ehrlich auf seinem braunen Gesicht seine Abkunft von den Basaltbergen trug.

„Es ist ein reizender Punkt,“ sagte Frau von Blachrieth; „aber wir müssen uns doch einmal zur Rückkehr entschließen und fragen: ,wie kommen wir über die Lora auf den Weg nach Jungbrunnen?‘“

„Im Kahn, meine Gnädige,“ belehrte der Präsident. „Sehen Sie, gerade über Ihrem Fräulein Nichte hängt das Signalglöckchen, welches den Fährmann herbeiruft.“

An dem Riesenstamme des Eichbaumes, unter dem Hedwig Schutz gegen die Strahlen der Abendsonne gesucht hatte, hing, geschützt von einem kleinen Dächlein, die mit Moos und Grünspan gefleckte Glocke.

Als Hedwig das herabhängende Seil anzog, ertönte ein helles Stimmchen über das Wellengemurmel hinaus.

Und auf den Klang kam drüben von einem kleinen grauen Haus her, das am Fuße des Weinberges zwischen Edelkastanien sich versteckte, ein Mann, der zum Ufer hinab stieg und bald darauf in einem Kahn abstieß.

„Wir müssen uns angemessen vertheilen,“ empfahl Frau von Blachrieth, „damit der Kahn nicht umschlägt.“

„Das Gleichgewicht dürfte herzustellen sein, wenn Frau von Blachrieth auf der einen Seite, der Rest der Gesellschaft auf der anderen Platz nähme,“ murmelte Ravensburgk, mit einem ernsthaften Blick das Gewicht der Dame abschätzend.

„Brechen Sie mir lieber dort die blauen Blüthenrispen der Natterzunge, statt daß Sie sich selbst als solche auszeichnen,“ sagte Hedwig. „Ich will den Kranz mit ihr schließen.“

„Unter der Bedingung, daß ich das stachlichte Ding nicht zu tragen brauche,“ sagte Ravensburgk, indem er sich ächzend bückte. „Eilen Sie sich; da ist der Kahn.“

„Wird bei einem einzigen Ruderer es keine Gefahr haben, wenn wir uns gleichzeitig überholen lassen?“ fragte abermals bedenklich Frau von Blachrieth.

Ein Blick auf die hohe kräftige Gestalt des Fährmannes, der den Nachen mit der Stange fest an das Ufer drückte, verscheuchte ihre Besorgniß. Die Gesellschaft nahm Platz, und der Schiffer trieb seinen Kahn mit energischem Stoß in die rauschenden Wellen hinaus.

Seiner schlichten grauen grün paspoilirten Joppe nach mußte er ein Forstbediensteter sein, und darauf deutete auch ein weißer braun gefleckter Jagdhund, welcher, dem Verlauf der Fahrt mit gespanntem Blick folgend, drüben am Ufer saß und, wenn das Gesicht des Fährmanns sich hinüber wendete, mit hastigem Schweifwedeln seiner Freude Ausdruck gab.

„Es ist doch schade,“ meinte der Präsident, „daß der neue Pächter der Bank seinen Plan nicht hat ausführen können. Er hat die Errichtung einer Schifferstation mit einer Flotille von Gondeln und einem feinen Restaurant statt der grauen Holzhütte beabsichtigt. Er verhandelt ja auch mit der Regierung wegen der Ruine Falkeneck, die er wieder aufbauen will.“

Ravensburgk ließ ein dumpfes Gebrumm hören, und Frau von Blachrieth fragte: „Warum ist der hübsche Plan mit dem Restaurant gescheitert?“

Der Präsident erzählte: „Der Herr Aufdermauer, dem auch der Hainberg gehört eben so wie das Weingut, hat geantwortet: ,Die Ruhe meiner Hirsche im Hain und die Bequemlichkeit meiner häufigen Flußbäder unter freiem Himmel sind mir nicht feil; und ein Stück Erde, das ich natürlich und schön finde, soll mit meiner Bewilligung nicht durch künstliche Schnitzer verhunzt werden.“

„Dafür möchte ich ihm von Herzen gern die Hand drücken,“ sagte Hedwig lebhaft.

Der Schiffer hielt einen Augenblick das Ruder an und wandte ihr das von der Sonne gebräunte, von schwarzem Vollbart umrahmte Gesicht zu.

Mochte es die plötzlich veränderte Fahrt sein, oder waren sie in eine Strömung gekommen: Wellengekräusel bäumte sich am Kahn auf, feurige blaue Funken blitzten aus dem Wasser; weithin überrauschte wie Schaumgold sonniges Licht die Fluth. Der Kahn kam ins Schwanken, und der Kranz, der am leichten Geländer desselben hing, fiel hinab.

„Mein Kranz!“ rief Hedwig, als sie ihn, auf einer Welle schaukelnd, davon treiben sah.

„Die Lora hat ihr Opfer von Ihnen gefordert,“ scherzte der Präsident. „Am Johannistage bringen ihr nämlich alle Frauen und Mädchen Blumen dar. Und dafür prophezeit sie ihnen die Zukunft.“

Ueber das Gesicht des Schiffers glitt ein Lächeln. Mit dem Ruder fing er den Kranz auf und bot ihn Hedwig wieder an, die ihn freundlich dankend mit spitzen Fingern abnahm.

„Laß ihn doch,“ mahnte die Tante, „Du wirst Dir Kleid und Handschuhe verderben.“

„Ich möchte ihn gern in meinem Zimmer aufhängen,“ bat Hedwig; „er erinnert mich an daheim. So riechen die Sträuße, welche wir pflücken, wenn wir Abends mit Papa und Mama durch unsere Flur gehen.“

Die Tante hörte nicht auf die ländlichen Erinnerungen. Sie balancirte ängstlich in dem schwankenden Kahn. „Gut, daß es so vorüber ging,“ sagte sie aufathmend, als derselbe wieder ruhig hinglitt. „Die Lora scheint gefährliche Strudel zu haben.“

„Vielleicht hat sie nachsehen wollen,“ lachte der Präsident, „ob sich unter uns ein Ritter fände, der bereit wäre, sie von der Unseligkeit zu erlösen. Der Sage nach erhofft sie dieselbe von unwandelbar treuer Liebe.“

„Der Neckar ist materieller,“ bemerkte der Bergrath Müller. „Er hat früher am Auffahrtstage ein Schaf, ein Brot, einen Bienenkorb und einen Menschen gefordert, wie der Fischer am Wolfsbrunnen erzählte, als ich mit meinem Vetter, dem Grafen Salmenwehr, dort Forellen speiste.“

„Dafür ist der Neckar, dessen Name sogar an den Nix erinnert, ein Mann,“ sagte Ravensburgk. „Ein solcher hält auf ein gutes Diner. Die Damen ziehen Anbeter vor. Im Grunde sind die Nixen nichts als zudringliche Personen, mögen sie nun Elbjungfrau oder Saalnixe, Donauweibchen oder Lora heißen; und es hat nie an Schwächlingen gefehlt, die sich verschlingen ließen.“

„Alle die Sagen sind Üeberreste des alten Wasserkultus,“ erklärte der Präsident. „Daß in hiesiger von diesem Element

[240]

Ein Späßchen.0 Von L. Blume-Siebert.

[241] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [242] so reich gesegneten Gegend eine Wassergöttin verehrt wurde, war natürlich.“

Mit leisem Stoß fuhr der Kahn am Ufer an.

Das Fährgeld wurde nach der bestimmten Taxe berechnet und, da der Schiffer mit Anketten des Kahnes beschäftigt war, auf die Bank gezählt. Dann schlug die Gesellschaft den Fußweg ein, der am Ufer hinauf nach Jungbrunnen führte.

Hedwig blieb zurück. Sie konnte sich nicht satt sehen an dem schönen stillen Grund, den die Abendsonne mit rosigem Licht überhauchte. Sie mußte dem Lied lauschen, das eine aus dem Weizenfeld aufsteigende Lerche dem sinkenden Tagesgestirn nachsang; ihre Blicke wurden gefangen gehalten von dem alten festen Haus Aufdermauer, dessen Fenster aus ihren tiefen Nischen ihr zuzublinzeln schienen. Wie lauschig mochte es in den Erkern sein, die an den dicken Mauern hingen! Wie gastlich lud der steinerne Laubengang ein, der sich vor dem untersten Stockwerk in Rundbogen wölbte! Und wie heimelten die Taubenscharen sie an, welche die Dächer der Seitenflügel bedeckten, das vielstimmige Herdengeläut, das herab schallte!

„Das ist ja ein deutsches Haus, wie ein Herz sich es nur wünschen kann,“ sprach sie fast andächtig. „Wird das prachtvoller Weizen!“ fuhr sie fort, mit Kennerblick die Aehren prüfend. „Und wie duftet die Weinblüthe von den Terrassen herab! Gehört das Alles dem Herrn Aufdermauer?“ fragte sie den Fährmann.

„Alles höchst eigenes Gewächs,“ antwortete der Schiffer in vollkommen dialektfreiem Hochdeutsch.

„Der beneidenswerthe Mann!“ sagte Hedwig. „Hat er erwachsene Töchter?“

„Er ist nicht so glücklich,“ entgegnete lächelnd der Fährmann. „Wäre auch bei seinem Alter und ledigen Stand nicht möglich.“

„Ach, er ist noch jung und unverheirathet?“ erwiderte Hedwig, etwas erschrocken zurücktretend.

„Zu Befehl,“ gab der Schiffer mit einer tadellosen Verbeugung zur Antwort; „dreißig Jahr und fünf Monate alt und noch zu haben.“

Bestürzt und erröthend sah Hedwig dem kecken Mann ins Antlitz. Sie begegnete ein paar dunklen Augen von solcher Schärfe und Sicherheit, unter dem schwarzen Bart lachten zwei Reihen weißer Zähne mit solcher Schelmerei, daß sie in höchster Verlegenheit mit stummer Neigung des Köpfchens sich wendete und ihrer Gesellschaft folgte, vor Verwirrung den Kranz vergessend, den sie kaum noch so eifrig behauptet hatte.

Der Fährmann blieb, auf seine Ruderstange gestützt, stehen und sah ihr nach, wie sie leicht dahin schritt, wie die blauen Säume ihres Kleides über das bräunliche Gras des Fußweges glitten. Er stand noch lächelnd und sinnend, als das weiße Kleid längst hinter den Weinbergterrassen verschwunden war.

(Fortsetzung folgt.)




Wie erhält man dem Kinde einen gesunden Knochenbau?

Von Sanitäts-Rath Dr. L. Fürst (Leipzig).


Glauben Sie, daß mein Kind auswächst?“0 „Hat es vielleicht Anlage zur Englischen Krankheit?“ – Wie oft habe ich diese und ähnliche Fragen beantworten müssen, ganz besonders in unserer Kinder-Poliklinik, welche seit dreißig Jahren ihres Bestehens unter ihren 22 000 kleinen Patienten aus den ärmeren Kreisen unserer Bevölkerung sehr viele knochenschwache, mißgestaltete Kranke zu behandeln hatte! Wie häufig ist aber auch in besser situirten Familien diese Frage an mich gestellt worden!

Gewöhnlich wird damit die etwas originelle Bitte verknüpft, das Kind „einmal ordentlich zu untersuchen“, als ob es bisher nie oder nie gründlich untersucht worden wäre. Das Resultat ist manchmal ein recht erfreuliches, so daß man der sehr aufmerksamen, besorgten Mutter ihre Bedenken zu beseitigen vermag. In der größeren Zahl von Fällen aber ist es sehr betrübend. Man steht einem schon ausgebildeten Knochenleiden gegenüber und kann leider oft nur feststellen, daß bereits Formveränderungen eingetreten sind, die sich nicht oder nur schwer und unvollkommen wieder ausgleichen lassen. Bisweilen vermag man es kaum zu begreifen, daß die Eltern es bis zu solchen Entstellungen haben kommen lassen und nun erst – zu spät – an ärztliche Hilfe denken. Und wenn man auf ein Wort des Vorwurfs, daß ein manchmal ganz hübsches Kind für immer entstellt und verkrüppelt ist, die alberne Auskunft erhält: „Ich dachte, das müsse so sein“ oder „Eine Bekannte sagte mir, das verlöre sich wieder“, so möchte man in den Ausruf, den Huß auf dem Scheiterhaufen gethan haben soll, einstimmen: O heilige Einfalt!

Und unwillkürlich sagt man sich: Wie viele Kinder könnten einen gesunden und schönen Knochenbau behalten, wenn sie von Anfang an nach vernünftigen Grundsätzen aufgezogen würden! Und wie leicht, wie lohnend würde dies sein! Wie viel Siechthum und Leid würde erspart bleiben können durch die Beobachtung einfacher Lebensregeln! Welche Menge von Arbeitsleistung und nützlicher Thätigkeit könnte dem Vaterlande erhalten, welche Summen, die zur Krankenpflege und zur Unterstützung Erwerbsunfähiger aufgebracht werden müssen, würden in viel fruchtbarerer Weise für das Volkswohl verwendbar werden!

Und was kann man dem Kinde überhaupt fürs Leben Besseres bieten, als Gesundheit? Was Schöneres, als einen schlanken, ebenmäßigen Wuchs? Wie sich der Gärtner und der Forstmann über ein schön gewachsenes Bäumchen freut, so weilt unser Auge mit Wohlbehagen auf einer edelgeformten, kräftigen und normalen Gestalt. Zunächst ist es eine ästhetische Befriedigung, die wir beim Anblicke eines gut gewachsenen Körpers empfinden. Sodann aber sagen wir uns, daß der Knochenbau, der Träger des Körpers, es ist, welcher uns Halt und Stütze gewährt, unsern Muskelbewegungen zum Ansatze dient, die edelsten Organe als schützende Kapsel umgiebt.

Selbst die einfachste Mutter fühlt dies instinktiv heraus; daher, wenn sie fürsorglich ist, ihre Beachtung von Unregelmäßigkeiten des Knochenbaues. Daher ihre häufige Frage: „Wie erhält man dem Kinde einen gesunden Knochenbau?“

Diese Frage fällt mit der nicht weniger wichtigen zusammen: „Wie schützt man das Kind vor Knochenleiden?“ Sie deutet schon darauf hin, daß die Kindheit es ist, in welcher wohl die meisten Knochenleiden ihren Ursprung haben.

Wir sehen, wie in manchen Ländern und Gegenden die Knochenleiden ausnehmend häufig sind, wie sie in der Stadt zahlreicher sind, als auf dem Lande, in dichtbewohnten Arbeitervierteln auf Schritt und Tritt anzutreffen, in den Straßen der oberen Zehntausend selten sind. Armuth stellt ihr Hauptkontingent, manche Berufsarten leisten offenbar der Entstehung von Knochenleiden Vorschub – allein alles Dies tritt gegen die eine Thatsache zurück, daß die physische Erziehung im Kindesalter den Grund zu guter oder schlechter Beschaffenheit des Knochenbaues legt. Ja, „was man von der Minute ausgeschlagen, giebt keine Ewigkeit zurück“; dies Dichterwort kann man auf Leiden anwenden, die in den Jahren der Entwickelung aus unscheinbaren Anfängen entstehen, um alsdann, nach Fixirung ihrer Mißform, nie wieder völlig zu verschwinden, sondern den Menschen durch sein ganzes Leben, wie sein Schatten, zu begleiten.

Sehen wir von einigen wenigen, in den späteren Lebensjahren oder im Alter auftretenden Knochenkrankheiten ab, so bringen die Kinderjahre in überwiegender Häufigkeit Knochenleiden mit sich. Daraus muß sich für Jeden der erste, wichtigste Grundsatz ergeben, daß nur die Kindheit, in der sich der Knochen anlegt und ausbildet, die rechte Zeit zur Verhütung von Skelet-Erkrankungen ist.

Es handelt sich nun im Wesentlichen um Zweierlei, worauf es bei dem Knochenbau ankommt. Einmal um die Beschaffenheit und sodann um die Form der Knochen. Ein Kind wird sich nur dann glücklich und normal entwickeln, wenn weder die chemische Zusammensetzung noch der Bau der Knochen gestört ist, was durch sorgfältiges Beachten von Lebensregeln, auf die wir später zu sprechen kommen, recht gut zu erreichen ist. Immer wieder muß man – um einen Vergleich zu haben – an den jungen Baum denken. Gute Herkunft, guter Boden, ein günstiger Standort, Sonnenschein und Regen zur rechten Zeit werden ihm ein gesundes Holz sichern; frühes Entfernen von seitlichen Aesten, festes Binden, passend angebrachte Stützen werden es bei geradem [243] Wuchse erhalten, wenn Stürme es verbiegen wollen. Ist das Bäumchen zum festen Baume geworden, dann bedarf es solchen Schutzes und Haltes nicht mehr; selbst das beste Erdreich wird keine wesentliche Aenderung mehr in der Qualität des Holzes bewirken können. Aehnlich ist es mit dem ausgebildeten Skelet. Sein anatomischer Bau, sein Wachsthum, seine chemische Zusammensetzung sind abgeschlossen, seine Formen unveränderlich.

Was zu erreichen ist, kann man nur am werdenden, wachsenden Skelet erreichen – deßhalb die dringende Mahnung, möglichst früh auf der Hut zu sein und die kleinsten Abweichungen zu beachten. Ein „zu früh“ giebt es hierbei gar nicht.

Der Knochen, wie wir ihn täglich vor uns sehen können, wenn wir einen Blick in die Küche oder den Fleischerladen thun, ist (wovon wir uns bequem an jedem der Länge nach gespaltenen Röhrenknochen überzeugen können) durchaus kein gleichmäßiges Gebilde von der bekannten weißlich-gelben elfenbeinartigen Härte. Wir unterscheiden an ihm deutlich die eigentliche kompakte Knochenrinde oder Knochensubstanz, nach innen aber die Markhöhle, umsponnen von Tausenden zarter Bälkchen und Blätter. Und zwischen diesem Netzwerke, das nach außen dicht, nach innen weitmaschiger ist, finden wir das Mark eingelagert, theils als das aus Fett bestehende gelbe Mark, theils das rothe oder lymphoide Mark, die Bildungs- und Regenerationsstelle unseres Bluts mit den eigenthümlichen Markzellen (Leukoblasten), den Entwickelungsstadien rother Blutkörperchen.

Andererseits sehen wir die Gelenk-Enden, theilweise noch aus bläulich-weißem, weicherem Knorpel bestehend, gewissermaßen eine Jugendform des Knochens, die in einer Grundsubstanz (Chondrin) zahllose sich stetig durch Kerntheilung vermehrende Knorpelkörperchen enthält. Nehmen wir hierzu noch die weiche zarte Membran, die den Knochen als „Knochenhaut“ überzieht – ein für dessen Wachsthum wiederum wichtiges Gebilde – so können wir uns schon auf den ersten Blick überzeugen, daß der Knochen ein ziemlich komplicirtes Gebilde ist.

Noch mehr drängt sich uns diese Ueberzeugung auf, wenn wir Schliffe des Knochens, besonders des Röhrenknochens, unter dem Mikroskop betrachten und unsere Aufmerksamkeit der festen Knochensubstanz zuwenden. Ein wunderbarer Anblick bietet sich uns hier dar. Wir sehen die Querschnitte größerer Kanäle, welche gewissermaßen Sammelstätten der den Knochen durchziehenden Ernährungsflüssigkeit sind. Und um diese Kanäle, Jahresringen der Baumstämme gleich, zahlreiche koncentrisch geschichtete Kreise von Knochengrundsubstanz, wiederum durchzogen durch ein feinst verzweigtes Netzwerk von Kanälen, die in der Richtung von außen nach innen die ganzen Ringe durchsetzen. Wir erblicken ferner, bei passender chemischer Behandlung des Präparates, das Wesentlichste des Knochens, Knochenkörperchen, hier und da zwischen die Ringe eingelagert, Körperchen, welche in einer Kapsel die Knochenzelle (Osteoblast) enthalten und mit dem soeben erwähnten Netzwerke feiner Kanälchen in direktem Zusammenhange stehen. Man kann jetzt sehen, wie diese Knochenkörperchen, deren etwa 740 auf einem Quadratmillimeter gezählt worden sind, von dem im Knochen kreisenden Blute versorgt werden. Erinnern wir uns der außen am Knochen hier und da befindlichen Löcher, welche man, da sie die Eingangspforten für Blutgefäße sind, als „Ernährungslöcher“ bezeichnet hat, so gewinnt der Knochen nunmehr für uns den Eindruck eines in fortwährendem Zusammenhange mit dem Blutstrome befindlichen, fortdauernd durch denselben ernährten Organs. Der Knochen macht dem Laien meist nicht solchen Eindruck, etwa wie der Muskel, dessen Blutkreislauf uns augenfälliger ist. Manchem ist es befremdlich, von Blutgefäßen des Knochens zu hören. Der Knochen ist nur dann ein „todtes“ Gebilde, welches der gesunde Körper auszustoßen strebt, wenn der Blutstrom in ihm unterbrochen und er nicht mehr ernährt wird. –

Wie die Ernährungsflüssigkeit, welche den Knochen durchströmt, nämlich das Blut, beschaffen ist, so wird auch der Knochen beschaffen sein. Ein gesundes Blut muß dem Knochen nur gesunde Säfte zuführen und ihn kräftigen. Ein mit Krankheitsstoffen beladenes Blut kann nur einen kranken Knochen ausbilden, es wird und muß gerade in dem Knochen, wo es langsam kreist, mit Vorliebe solche Stoffe ablagern.

Daher die vielen Knochenkrankheiten bei fehlerhafter Blutmischung, die sofort sich ausbildende Störung seiner Entwickelung bei allgemeinen Ernährungsstörungen.

Und umgekehrt, da wir wissen, welche, eigentlich schon sprichwörtliche, Rolle das „Mark“ spielt, wie es die Bildungsstätte der rothen Blutkörperchen ist – welche enorme Wichtigkeit eines gesunden Marks entspringt daraus für den ganzen Körper! Welche herrliche normale Blutfülle muß sich aus solchem Mark für den Körper ergeben und allen Organen desselben wieder zu Gute kommen! Und wie erweisen sich die Organe des Körpers wieder dankbar, indem sie wieder nur gesundes Blut zum Knochen zurücksenden!

Um so trauriger ist das Gegenbild – krankes Mark, die Quelle kranken Blutes und allgemeinen Siechthums, Krankheitsherde im Mark mit eiterigen oder tuberkulösen Massen eine furchtbare Gefahr für den Organismus!

So tritt uns die Wechselwirkung zwischen Blutkreislauf und Knochenernährung einerseits, zwischen Mark und Blutbeschaffenheit andererseits in einer laut und eindringlich sprechenden Bedeutung entgegen. Glücklich das Kind, bei dem diese Wechselwirkung günstig und ungetrübt sich vollzieht! Wehe dem unglücklichen Geschöpf, welches durch ein entweder schwaches oder krankhaftes Blut einen ungenügend ernährten, selbst direkt von Krankheitsstoffen erfüllten Knochen erhält! Wehe ihm, wenn eine Erkrankung des Knochenmarks seine Konstitution untergräbt!

Die Thatsache, daß die meisten Knochenkrankheiten in der Kindheit vorkommen und daß wir die Knochenleiden Erwachsener sehr oft nur als Ueberbleibsel aus der Jugendzeit anzusehen haben, weist uns mit zwingender Nothwendigkeit darauf hin, dem wachsenden Knochen eine besondere Neigung zum Erkranken zuzuschreiben, gegenüber dem fertigen, ausgebildeten Knochen. Dem ist in der That so.

Ist die normale Bildung des Knochens ernstlich und anhaltend gestört, so wächst er unregelmäßig. Besonders sind es die Erkrankungen der Gelenk-Enden, welche im Kindesalter eine große Rolle spielen. Bleiben diese in ihrer Knochenumwandelung zurück, sind gleichzeitig die Knochenablagerungen unter der Knochenhaut ungenügend, so bleibt der Knochen weich. Unter der Körperlast und dem Zuge der Muskeln treten jene kolbigen Anschwellungen der Gelenk-Enden auf, jene Verbiegungen, winkligen Knickungen etc., die wir täglich auf der Straße beobachten können. Tritt bei solchen unglücklichen Kindern endlich, meist später als bei gesunden, aber um so energischer, Knochenablagerung ein, dann werden die Knochen in der Mißgestalt, die sie erhalten hatten, fest, bleibend.

Das natürliche, normale Wachsthum des Knochens vollzieht sich aber nur dann ohne Störung, wenn die Ernährung des Kindes und seiner Knochen eine normale, günstige ist. Und so schließt sich das Ende des Ringes immer wieder an dessen Anfang an.

Nun aber haben wir auf die Frage: „Wie erhält man dem Kinde einen gesunden Knochenbau?“ die dreifache Antwort:

durch Erhaltung gesunder Blutbeschaffenheit des Kindes,
durch zweckmäßige Ernährung desselben,
durch Schutz vor zu früher oder unpassender Belastung der noch weichen Knochen.

Noch ehe der Mensch das Licht der Welt erblickt, ist sein Schicksal im Hinblick auf seine körperliche Gesundheit bereits in den Grundzügen festgestellt. Eine gute Beschaffenheit des Blutes von Vater und Mutter, ein durch mehrere Generationen hinauf normaler, kräftiger Menschenschlag verbürgen auch dem Kinde gesundes Blut und damit eine gesunde Ernährung seiner Knochen. Im Gegensatze hierzu pflegen einer Ehe unter schwächlichen, blutarmen, mit Skrophulose oder Tuberkulose belasteten Individuen, aus einem körperlich herabgekommenen, verkümmerten Geschlecht auch meist blutarme, drüsen- und knochenleidende, zu Tuberkulose disponirte Kinder zu entstammen. Gesundheit und Krankheit vererben sich vom Ahn auf den Enkel. Wie eine Gabe von guter oder böser Hand wird Kraft oder Siechthum dem Neugeborenen schon in die Wiege gelegt.

Auch die Knochenleiden sind zuweilen angeboren, sei es, daß sie sich als bloße Knochenschwäche oder als Rhachitis des Skelets, speciell des Schädels äußern und soweit schon im ersten Lebensjahr sich deutlich zeigen, sei es, daß sie erst während der folgenden Jahre in Gestalt von tuberkulösen oder skrophulösen Knochenleiden sichtbar werden.

Zwar ist es in späteren Jahren schon schwerer, zu entscheiden, wie viel auf Rechnung der Vererbung, wie viel auf unzweckmäßige Aufziehung zu schreiben ist; allein in sehr vielen Fällen [244] kann man ohne Weiteres an den verkrümmten Knochen des Vaters, den Narben von Drüsenabscessen am Halse der Mutter, aus der nachweisbaren Tuberkulose eines der Eltern die Anlage zu Knochenleiden erklären.

Freilich bildet diese Anlage oft nur den günstigen Boden für die Knochenkrankheiten selbst. Die Blut- und Säftemischung, schon von Haus aus mit Krankheitskeimen beladen, kann unter günstigen Lebensverhältnissen gebessert werden; meist jedoch vermehren sich von Generation zu Generation die Fehler in der Zusammensetzung des Blutes durch unpassende Kost und nicht zweckmäßiges sonstiges Verhalten. Hat man daher irgend Grund anzunehmen, daß ein Kind von Geburt an gewisse Veranlagnng zu kranker Blutmischung hat, so soll man es durch beste Luft, durch gute Hautpflege, durch gesunde Wohnung, durch Verhütung und sofortige Beachtung jeder Erkrankung etc. doppelt sorgfältig bewachen. Man unterlasse jede Verweichlichung, strebe vielmehr nach einer frühzeitigen maßvollen Abhärtung. Jeder Hautausschlag, jede, auch die kleinste Drüsenschwellung, jede Empfindlichkeit und Schwäche der vielleicht äußerlich noch ganz wohlgebildeten Knochen beachte man bei Zeiten. Sie sind die ersten, scheinbar unbedeutenden Warnungszeichen, die auf eine unkorrekte Blutbeschaffenheit hinweisen, aber sie können dem aufmerksamen Elternauge nicht entgehen, und als gewissenhafter, vorsichtiger Arzt wird man sie nicht unterschätzen.

Fast noch wichtiger zur Verhütung von Knochenleiden ist die zweckmäßige Ernährung des Kindes. Nicht immer ist die Ernährung durch die Mutter oder die Amme das Richtige. Denn wenn diese nicht ganz gesund sind, so kann der Säugling mit der Milch zugleich Keime krankhafter Natur aufnehmen. Wenn eine Frau blutarm ist, in der Kindheit drüsenleidend oder knochenschwach war, wenn ihre Lunge nicht frei von verdächtigen chronischen Katarrhen ist – dann ist eine gute Kuhmilch einer zweifelhaften Frauenmilch vorzuziehen und mehr Bürgschaft für gesunde Ernährung der Knochen.

Unter tadelloser Kuhmilch versteht man heutzutage eine solche, die von gesunder Rasse, in luftigen, sauberen Stallungen bei wirklicher Trockenfütterung gewonnen wird. Nicht jede sogenannte „Kindermilch“ entspricht diesen Anforderungen, und nur solche Milchereien, die unter ärztlicher Kontrolle stehen oder thatsächlich kein nachtheiliges Futter verabreichen, sind Musteranstalten, die Vertrauen verdienen. Trockenfütterungsmilch ist theuer, aber sie ist das Beste, was es für Kinderernährung giebt, und durch ihren hohen Nährwerth doch auch das Billigste und Preiswertheste. Kein Ersatzmittel kommt ihr gleich; allenfalls die Ziegen- oder Eselinnenmilch. Aber abgesehen von natürlicher oder konservirter Milch (wozu man auch das Scherff’sche Milchpräparat und die zuckerlose kondensirte Milch zählen kann) sind alle anderen Surrogate in Gestalt von Extrakten, Mehlen für das Kind im ersten Halbjahr nicht nur von geringerem Werthe als Milch, sondern sogar im Hinblick auf das Drüsensystem und den Knochenbau oft bedenklich. – Man gewöhne sich, nur abgekochte Milch zu verwenden, man verdünne sie, dem Alter des Kindes entsprechend und je nach Vorschrift seines Arztes, anfangs mit dünnem Haferschleim oder schwachem Fenchelthee, man setze etwas Zucker, eventuell etwas doppeltkohlensaures Natron zu, halte die Flaschen, die Gummihütchen, die Mundhöhle sauber, gebe nichts von Mehlzusätzen, und man wird in der Regel etwaige Knochenkrankheiten verhüten. Vom sechsten Monat an ist etwas konsistentere Nahrung angebracht, ein Ei, eine leichte Fleischbrühsuppe mit Gries, ein Griesmus, ein aufgebrühter Zwieback, bei zartem Knochenbaue täglich ein bis zwei Opel’sche Nährzwiebacke, die durch ihren Gehalt au Nährsalzen dem Knochen Festigkeit geben. Mit Jahresschluß kann ab und zu leichtes Geflügel (Taube) gereicht werden; reiner Kakao, größere Auswahl in den Suppen sind gestattet. Aber immer muß in den ersten Lebensjahren noch gute Kuhmilch eine Hauptnahrung bilden. Kartoffeln, Krume von frischem Weiß- oder Schwarzbrot, Kuchen etc. vermeide man noch möglichst. Magen und Verdauungswege sind für das Kind im frühesten Alter der Ausgangspunkt seines Wohlbefindens oder seines Erkrankens, darüber sind erfahrene Kinderärzte nicht im Zweifel. Will man also einen normalen Knochenbau erzielen, so vergesse man nicht, daß ein solcher ohne normale Nahrung nicht gut möglich ist und daß jede Abweichung von den eben geschilderten Grundsätzen, die für den Augenblick ganz unschuldig scheint, sich später rächt.

Was schließlich die Belastung des noch weichen Knochens betrifft, so äußert sich dieselbe anfangs als Druck, wenn die Kinder stets auf demselben Arme getragen, als Zug, wenn sie immer an der gleichen Hand geführt werden. Schon hiernach sind Verbiegungen der Wirbelsäule, Schiefheit der Schulter die Folge-Erscheinungen. Der noch knorpelreiche, an Kalksalzen noch arme Röhrenknochen, die noch weichen Wirbel folgen jedem Druck. Der zarte Schädel entbehrt der Widerstandsfähigkeit. Kurz, jeder mechanische Einfluß macht sich schon bei dem erst unvollkommen verknöcherten Kinderskelet geltend. Ist dasselbe sonst gesund, so gleichen sich oft die Verbiegungen und Verkrümmungen später wieder aus, wenn die unpassende Belastung bei Zeiten nachläßt. Kinder, die man zu früh stehen und gehen ließ, können dann beim weiteren Wachsthum ihre krummen Beine noch leidlich in gerade umwandeln. Dauert jedoch die zu frühe oder ungleichmäßige Belastung zu lange, war der Knochen durch Rhachitis abnorm weich oder sonst krank, dann gleichen sich auch die Krümmungen und Knickungen nicht wieder aus, die dicken Gelenkenden bleiben dick, die Knie- und Fußgelenke schief, und in diesen Mißgestaltungen erstarrt der Knochen bei zunehmender Verknöcherung. Es geht aus dieser Betrachtung hervor, daß nicht das Aufziehen eines fetten, gemästeten, für die biegsamen Knochen zu schweren Kindes der höchste Wunsch der Mutter sein darf, sondern daß man auf gleichmäßige Ausbildung, besonders auch auf Kräftigung der Knochen sehen muß, damit diese mit Leichtigkeit den Körper tragen lernen.

Daraus folgt der weitere Schluß, daß man jeden Zwang zum frühen Stehen und Gehen, jedes schiefe Kriechen, jede beginnende krumme oder schräge Haltung in den Schuljahren bei Zeiten unterdrücken soll, ehe die Mißform fest wird. Was aber schon für das gesunde Kind gilt, muß noch mehr für das gelten, dessen Knochen schwach oder irgendwo leidend sind. Hier gilt es, rasch seinen Arzt zu Rathe zu ziehen, bleibenden Mißformen oder schwereren chronischen Krankheitsprocessen bei Zeiten vorzubeugen. Hat das Kind schon Knochen-Eiterungen, Entzündungen, Fisteln, sind seine Knochen schon aufgetrieben, seine Wirbel seitlich oder nach hinten geknickt, dann ist es für eine Heilung meist ungünstig, oft zu spät. Dann ist man zuweilen nur noch im Stande, eine Weiterverbreitung und Verschlimmerung aufzuhalten.

Es gilt also, die Augen offen zu halten und die kleinen Anfänge zu beachten, ehe bleibende Mißgestaltungen, wie krumme Beine mit verdickten Gelenken, X- oder O-Beine, Hühnerbrust, Rippen-Rosenkranz, vierschrötiger Schädel oder ein Buckel selbst dem Blödesten zeigen, daß hier etwas versehen und nicht wieder gut zu machen ist. Dann kommt man mit Bandagen, Schienen und allem sonstigen Apparat zu spät; diese sind ja sehr werthvoll bei entstehenden Leiden, können aber eben so wenig wie die besten Geradehalter und Hausschulbänke nützen, wenn der Knochen in falscher Stellung oder Form fest geworden ist.

Ueberhaupt sind alle mechanischen Hilfsmittel nur ein Nothbehelf. Kräftigung der Muskulatur, Massage und Gymnastik, Stählung der Energie und Willenskraft sind die besten und sichersten Waffen in dem Arsenal, das Erfahrung und Wissenschaft gegen Knochenleiden errichtet haben. „Kräftigen und Kraft lassen, soll das erste und letzte Erziehwort sein,“ sagt Jean Paul in „Levana“ sehr wahr und zutreffend. Die orthopädische Erziehung ist jedenfalls erfolgreicher, als die orthopädische Behandlung, so große Ergebnisse auch letztere, seit sie sich mit der Chirurgie verschwistert hat, in einzelnen Fällen aufweisen kann.

Ein schöner, kerniger Knochenbau ist für das ganze Leben eine Grundlage körperlichen Wohlbefindens, kraftvoller Besiegnng aller Schwierigkeiten, siegreichen Widerstandes. Ebenmäßig schließen sich die Muskeln und Sehnen an dies Gerüst an. Elastisch vollführen die Gelenke ihre Aufgabe. Selbstbewußt, energisch, entschieden wird das Auftreten und Handeln. Und eine Nation, die viele solche Individuen zählt, eine Nation, welche, wie Michelet es verlangt, die Knaben zu „organisirter Kraft“, die Mädchen zur „Harmonie“ erzieht, wie viel an Schönheit, an Arbeits- und Wehrkraft gewinnt sie! Im Frieden wie im Kriege stellt sie ein imponirendes, markiges Volk dar, dessen stämmige Bauern, kraftvoller Bürgerstand und hünenhafte Krieger den Wohlstand des Hauses und die Sicherheit des Landes wahren.




[245]

Was will das werden?

(Fortsetzung.)


Kind, wie siehst Du denn aus?“ rief Schlagododro, als er endlich den Rausch, den er sich gestern Abend in seinem Unmuth getrunken, ausgeschlafen hatte, und ich ihn zum zweiten Frühstück abzuholen kam.

„Ich fühle mich nicht ganz wohl,“ erwiderte ich, mein Gesicht abwendend.

„Kind,“ rief er, „thu mir die einzige Liebe und fühle Dich wohl! Es ist so schon um des Teufels zu werden, seitdem der Kammerherr nicht mehr auf den Beinen und nun auch Onkel Egbert fort ist. Ihr seid doch noch die Einzigen, mit denen man ein vernünftiges Wort sprechen kann. Und nun jetzt mit Astolf und seinem Gefolge. War gestern eine nette Gesellschaft. Uebrigens alle Achtung, wie famos Du Dich Astolf gegenüber benommen hast! Ich habe es ja immer gesagt: Du bist ein Kavalier so gut –“

„Wie unsereiner. Bitte, sprich es nur ruhig aus! Der Tischlersjunge weiß, was ihm zukommt.“

Schlagododro blieb jäh auf der Treppe stehen und blickte mich starr an.

„Kind,“ sagte er, „Du bist wirklich krank, oder mit einem verzweifelt linken Fuß aus dem Bett gestiegen.“

Ich versuchte mit einem Scherz zu erwidern, der nicht recht gelingen wollte. So betraten wir beide verstimmt das Frühstückszimmer.

Aber auch sonst schien eine Wolke über der Gesellschaft zu hangen, dichter als die gewöhnliche Sonntagswolke, wie Schlagododro die feierliche Langeweile nannte, welche Frau von Vogtriz an einem solchen Tage für obligatorisch hielt und durch allerlei erbauliche Reden, bei denen ihr Fräulein Hersilie Drechsler pflichtschuldig assistirte, herbeizuführen und zu befördern suchte. Heute war ihr weißes faltenloses Gesicht noch besonders priesterlich anzusehen, und floß der Strom ihrer Rede noch besonders salbungsvoll. Ich sollte bald die Ursache erfahren.

Man war schon längst in Pastor Renner gedrungen, sich in dem ländlichen Kreise, in welchem er kandidirte, auch einmal als Prediger vorzuführen und so die etwa noch schwankenden Herzen im Sturm zu erobern. Die Zeit drängte; in der nächsten Woche fand die Wahl, welche wiederholt hinausgeschoben war, definitiv statt. So hatte sich denn Pastor Renner entschlossen, mit dem Prediger der Kirche, zu der auch Nonnendorf eingepfarrt und welche weitaus die bedeutendste des Kirchspiels war, für einmal zu alterniren, und gerade heute war der zu diesem Behufe ersehene Tag.

Dies Alles war gewiß längst den Mitgliedern der Familie bekannt gewesen, Schlagododro nicht ausgenommen, der wohl absichtlich zu mir von der Sache geschwiegen hatte, welche mir völlig neu war. Und völlig gleichgültig. Was ging es mich an, ob Pastor Renner heute in Granskow predigte? und ob er den Erfolg haben würde, den man sich davon verspreche? und ob die Kirche geräumig genug sein werde, die zweifellos von allen Seiten herbeiströmende Menge zu fassen?

„Auf jeden Fall haben wir unsere Plätze,“ sagte Herr von Vogtriz, etwas ungeduldig die Betrachtungen seiner Gemahlin unterbrechend. „Ich bitte nur gehorsamst, mir die Zahl derer, die mitwollen, genau anzugeben, damit ich danach das Anspannen bestellen kann.“

„Die mitwollen?“ erwiderte Frau von Vogtriz mit einem Erstaunen, das fast eine Falte in ihre Stirn gebracht hätte; „aber, lieber Udo, hier kann doch von Mitwollen nicht die Rede sein bei einer Gelegenheit, wo es sich darum handelt, seinen Eifer für die gute Sache – die Sache unserer Kirche und unsers Königs – an den Tag zu legen. Ich bin sogar der Meinung, daß unsere sämmtlichen Leute, so weit sie irgend zu entbehren sind, hinüber zu gehen haben, auch wenn sie voraussichtlich draußen bleiben müssen – es sieht immer imponirend aus – und ich habe, Deine Erlaubniß voraussetzend, schon gestern die betreffenden Ordres gegeben.“

„Meinetwegen,“ sagte Herr von Vogtriz, „da ich sie wenigstens nicht fahren zu lassen brauche. Also wie viel sind wir?“

„Acht, wie Du siehst,“ sagte Frau von Vogtriz, „da unser lieber Kammerherr ja leider nicht mit kann. Dafür hat Herr von Blewitz um die Erlaubniß gebeten, sich uns anschließen zu dürfen. Ich erwarte ihn jeden Augenblick. Also neun, lieber Udo.“

„Unbequeme Zahl,“ murmelte Herr von Vogtriz.

„Ich setze mich auf den Bock,“ rief Schlagododro.

„Es wird nicht nöthig sein, Ulrich,“ sagte ich, und mich dann zu Frau von Vogtriz wendend: „ich bitte auf mich nicht zu rechnen, gnädige Frau.“

„Nicht zu rechnen?“ wiederholte Frau von Vogtriz, die offenbar ihren Ohren nicht traute, meine letzten Worte.

„Ja, gnädige Frau; ich fühle mich nicht ganz wohl.“

„Ja, Mama,“ sagte Schlagododro, mir zu Hilfe kommend; „er hat es mir schon vorhin gesagt. Er sieht ja auch verteufelt schlecht aus.“

„Daß Du doch immer so häßliche Worte wählst – noch dazu an einem Sonntage!“ sagte Frau von Vogtriz. „Es ist positiv sündhaft. Uebrigens bin ich überzeugt, daß Dein Freund uns nur das Opfer bringen und zu Hause bleiben will, um mehr Platz zu schaffen.“

„Du solltest nicht so in Herrn Lorenz dringen, Mama,“ sagte Astolf, indem er zugleich Ellinor, die neben ihm saß, ein paar Kirschen auf den Teller legte; „ich glaube, Du thust Herrn Lorenz – Ellinor, wirst Du artig sein und Deine Kirschen essen? – keinen Gefallen damit nach seinem Rencontre mit Pastor Renner.“

„Das gehört nicht hierher!“ brauste Schlagododro auf mit einem wüthenden Blick auf seinen Bruder.

„Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte Astolf ruhig; „ich glaubte, Deinem Freunde einen Gefallen zu thun, wenn ich ihm die Unannehmlichkeit, gerade Pastor Renner hören zu müssen, ersparen half.“

Es hatte sich jetzt wirklich beinahe eine Falte auf Frau von Vogtriz’ Stirn gebildet. Sie ließ ihre erstaunten Blicke von Einem zum Andern wandern und sagte:

„Aber ich verstehe Euch nicht: Unannehnlichkeit? Rencontre mit Pastor Renner? Wie kann Herr Lorenz ein Recontre mit Pastor Renner gehabt haben? Ich bitte, mir das zu erklären.“

Es war eine Todesstille um den Tisch. Ich sab Maria an: sie sollte mir bestätigen, daß ich nicht leichtsinnig mein Versprechen brach, daß ich nicht anders konnte. Aber sie saß da, völlig blaß, mit niedergeschlagenen Augen. So mochte es denn sein.

„Gnädige Frau,“ sagte ich –

„Ich bitte Dich, schweig!“ unterbrach mich Schlagododro heftig. Und, sich dann zu seiner Mutter wendend: „Ich meine, Mama, man solle einem Gaste seinen Willen lassen, ohne viel nach dem Warum? zu fragen; und ich glaube, daß mir der Papa darin zustimmen wird.“

„Jedenfalls danke ich Dir für Deine freundliche Belehrung,“ sagte Frau von Vogtriz gereizt.

„Gnädige Frau,“ begann ich von Neuem, entschlossen, das Wort nicht wieder abzugeben, bevor ich es gesagt „es thut mir unendlich leid, wenn es Sie, wie ich fürchten muß, kränkt und mich in Ihren Augen herabsetzt. Aber ich glaube Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl die Wahrheit schuldig zu sein. Daß ich mich zu unwohl fühle, um die Herrschaften zur Kirche zu begleiten, war in der That nur ein Vorwand. Die Wahrheit ist: ich kann nicht zu Pastor Renner in die Kirche gehen, da er das Recht hätte, mich hinauszuweisen, nachdem ich ihm meinen Unglauben offen bekannt habe; in Folge dessen seiner Zeit von ihm nicht eingesegnet bin und – muß ich wohl hinzufügen – auch nicht eingesegnet sein will, so wenig vom Herrn Pastor Renner, wie von einem Anderen.“

[246] „Ich denke, wir heben nun die Tafel auf,“ sagte Herr von Vogtriz, sich erhebend und seinen Stuhl etwas gewaltsam zurückschiebend; „es ist die höchste Zeit, daß wir fort kommen.“

Die Anderen hätten seinem Beispiel nicht schneller folgen können, wenn der Tisch gebrannt hätte. Man machte einander stumm und verlegen die vorschriftsmäßigen Verbeugungen. Das Eintreten Axel’s von Blewitz schien Allen eine Errettung zu sein, so eifrig wurde er sofort umringt und mit Fragen und Vorwürfen wegen seines späten Kommens überschüttet. Ich benutzte die Gelegenheit, mich hinauszudrücken und auf unser Zimmer zu gehen, wohin mir Schlagododro beinahe auf dem Fuße folgte.

Schlagododro war wüthend, für den Augenblick ausschließlich auf mich.

„Weßhalb hast Du nicht den Mund gehalten?“ rief er, vor dem Spiegel wie toll auf seine struppige Mähne losbürstend. „Weßhalb bist Du mir ins Wort gefallen? Ich hätte die Geschichte schon in Ordnung gebracht. Aber Du bist und bleibst der richtige Don Quixote! Immer munter in die Windmühlen hinein! immer mitten mang! Natürlich! Und nun haben wir die Bescheerung. Meine Mama ist wirklich so gutmüthig, daß es ein Kind erbarmen könnte. Aber wenn man Einem auf sein bestes Hühnerauge tritt, und noch dazu absichtlich, da hört denn doch die größte Gemüthlichkeit auf.“

„Es thut mir sehr leid, diese Scene veranlaßt zu haben,“ sagte ich. „Du siehst nun, daß ich Recht hatte, wenn ich immer sagte: ich gehöre nicht hierher.“

„Unsinn!“ rief Schlagododro, in seinen schwarzen Rock fahrend, „nicht hierher gehören. Du gehörst überall hin, wenn Du willst. Aber Du willst nicht, das ist die Sache.“

„Nun denn: so will ich nicht,“ sagte ich, entschlossen, ein Ende zu machen, selbst um den Preis von Schlagododro’s Freundschaft.

Er sah mich mit rollenden Augen an.

„So!“ sagte er gedehnt. „Du willst nicht? Das ist etwas Anderes. Dann sehe ich freilich nicht, wie das werden soll.“

„Ich auch nicht.“

„Nur mit dem Unterschiede, daß Dir das weiter keine Schmerzen zu machen scheint.“

„Seine Schmerzen muß doch Jeder für sich behalten.“

Ich hatte, Schlagododro den Rücken kehrend, mich in das Fenster gestellt. Plötzlich fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter:

„Lothar!“

„Was beliebt?“

„Lothar, Kind, sei vernünftig! Komm mit mir zur Mama! Oder erlaube, daß ich zu ihr gehe und ihr sage, Du habest das nicht so gemeint, oder dergleichen, und ich gebe Dir mein Wort, die Sache ist abgethan.“

„Ich habe es aber so gemeint.“

„Du willst wirklich nicht?“

„Nein.“

„Dann hol’s der Teufel!“

Er stürmte zum Zimmer hinaus und warf die Thür krachend hinter sich zu.

Ich war am Fenster stehen geblieben und starrte in den Garten. Da drüben war der Platz, wo ich sie zum ersten Mal gesehen hatte: „Hier bin ich!“

Die Augen wurden mir naß. Ich wollte die Thränen zurückhalten. Aber heißer und heißer quoll es in mir auf, und mich auf einen Stuhl am Fenster werfend, das Gesicht in die Hände drückend, weinte ich meinen Jammer aus. Mir schien es keine Schmerzen zu machen! O nein! mir nicht!

Endlich richtete ich mich wieder in die Höhe und blickte um mich. Es war mir, als ob da in meiner Brust etwas fehle, was vorher da gewesen, und als ob draußen die Sonne, die doch vorher so hell geschienen, seltsam matt geworden, und die Gegenstände im Zimmer ganz anders aussähen, so daß ich sie verwundert betrachtete.

Ein leises Pochen an der Thür machte mich erschrocken zusammenfahren. Wer konnte das sein? Schlagododro? aber der würde nicht so gepocht haben und war ja auch längst fort. Maria? Sie war nicht mit den Anderen! Sie hatte mich nicht verlassen. Sie hielt treu zu mir in dieser Stunde meiner bitteren Noth!

Ich stürzte nach der Thür, die ich aufriß: es war Weißfisch.

„Sie?“

Ich hätte beinahe laut aufgelacht, wie er ietzt da vor mir auf der Schwelle stand.

Ich habe später viel daran denken müssen: er, da ich doch Maria zu sehen erwartete. Er in dem Augenblick, da die schöne Welt einer ersten Liebe mit all ihren kindisch-erhabenen Träumen und Aspirationen hinter mir in Trümmer sank, auf der Schwelle einer neuen entgötterten Welt!

Gab mir ein Blick in die stechenden Augen des Mannes eine Ahnung von dem ungeheuren Riß, der da durch mein Leben ging? Das Lachen erstarb mir in der Kehle.

„Was führt Sie zu mir?“ stammelte ich.

Er war hart an mir vorüber in das Zimmer geschlüpft, so daß auch ich nun von der Thür zurücktreten mußte. Die Thür zu dem Schlafgemach nebenan stand weit offen.

„Ich dachte, ich könnte Ihnen etwas helfen,“ sagte er mit einem Blick nach dem Schlafgemach.

„Helfen? worin?“

„Worin? Worin Sie wollen, worin Sie befehlen. Ein junger Herr braucht ja allerlei Dienste. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, und es würde mir eine besondere Freude sein.“

Ich starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Er lächelte flüchtig.

„Würde mir diese Freiheit nicht nehmen, wenn der junge Herr nicht immer so besonders gütig gegen den armen Kammerdiener gewesen wären, und wenn mir der alte Braun nicht erzählt hätte, was da unten vorgefallen ist. Es soll ja ganz schrecklich gewesen sein. Kann’s mir denken. An den Kram darf man bei den Herrschaften nicht rühren – dann ist’s aus. Wissen zu gut, daß ihr Kram damit zusammenpurzelt. Der Herr Kammerherr hat sehr gelacht, als ich es ihm erzählte. ,Teufelskerl,‘ hat er gesagt, ,dazu hätte, glaube ich, nicht einmal ich den Muth gehabt.‘ Ich soll Sie auch schönstens grüßen, da er leider nicht in der Verfassung ist, Sie empfangen und Ihnen Adieu sagen zu können.“

„Woher weiß der Herr Kammerherr, daß ich fort will?“ rief ich.

Der Mann lächelte, diesmal ganz offen.

„Der Herr Kammerherr meinte nur. Bitte um Entschuldigung für ihn, wenn er sich geirrt haben sollte.“

Und er machte eine Bewegung nach der Thür.

Ich stand verstört da. Es war ja meine Absicht und mein Entschluß gewesen, zu gehen; aber ich hatte mir doch nicht völlig klar gemacht, daß ich gehen müsse, daß man es erwarte, nicht bloß die beleidigte Familie, sondern, wie ich nun hören mußte, auch der ganz unbetheiligte Kammerherr, der mich von Anfang an so protegirt hatte, und dem ich überdies durch mein Fortgehen seinen geliebten Komödienplan gänzlich aus den Fugen brachte.

Das schoß mir bei der Bewegung des Mannes durch den Kopf.

„Der Herr Kummerherr hat sich nicht geirrt,“ rief ich. „Ich will natürlich fort – auf der Stelle.“

Weißfisch hatte sich wieder zu mir gewandt. Seine hellen Augen glitzerten, das Lächeln, das um seinen breiten Mund zuckte, war schier lustig.

„Auf nach Franken!“ rief er im Tone und mit der Geste irgend eines Karl Moor. „So ist’s recht! Was wollen Sie auch länger bei diesen kleinen Herrschaften, die gern die Großen spielen möchten, bloß daß sie das Zeug dazu nicht haben? Das ist ja auch für einen anständigen Menschen zum Ekel.“

Er machte ein paar große Schritte durch den Raum, blieb dann wieder vor mir stehen und rief:

„Ich hab’s auch satt; möchte auch mal wieder – ei was: heraus damit! Wie wär’s, wenn Sie es einmal mit meiner Hoheit versuchten?“

Ich blickte den Mann erschrocken an: in seinem glattrasirten Gesicht zuckte es so wunderlich, die wasserblauen Augen blinkerten so gräulich – war er nicht recht bei Sinnen?

„Ja, ja!“ rief er, „es ist mein voller Ernst. Das wäre der rechte Mann für Sie; der hat Ideen im Kopf, verstehen Sie: nicht wie die Junkerchens hier! Große Ideen! Der würde Ihnen gefallen!“

[247] „Und was sollte ich dort?“ fragte ich verwundert.

„Gar nichts, rein gar nichts; nur ihm auch gefallen, und dann lassen Sie für das Uebrige den Weißfisch sorgen – ich meine, wenn wir erst da sind. Und jetzt auch. Ich schaffe Alles, was Sie brauchen – Geld – Alles. Bringe Sie so sicher hin wie ein Kind in Abraham’s Schoß.“

Der Mann war so dringend, sprach so eifrig, ich sollte dies wirklich ernsthaft nehmen. Dann war wohl er möglicherweise bei Sinnen, hielt aber mich für verrückt.

„Wissen Sie, Herr Weißfisch,“ rief ich, „daß Sie mir einmal gesagt haben, das Leben an einem solchen Hofe sei eine einzige große Komödie; und ein anderes Mal, ich sei, trotz meiner Jugend, zu alt zum Komödienspiel? Da haben Sie meine Antwort, wenn dies Alles nicht ein wunderlicher Scherz ist, den Sie mit mir treiben.“

„Sie möchten Recht haben,“ murmelte er; „nur nicht, wie Sie es meinen. Sie sind zu alt, ein guter Komödiant zu werden. Wenn ich das gesagt habe – das nehme ich zurück. Aber zu dem anderen Komödienspiel – ja, dazu sind Sie freilich noch zu jung. Soll ich Ihnen dann nicht wenigstens Ihre Koffer packen? Ich verstehe das aus dem Grunde; und ehrlich bin ich, wenn der Herr Kammerherr auch zu sagen belieben, ich stehle wie ein Rabe.“

„Ich nehme es dankbar an,“ sagte ich, froh, daß der Mann seinen tollen Einfall fahren gelassen hatte. „Ich will mich unterdessen nach einem Wagen umsehen – im Dorf, natürlich, bei den Bauern.“

„Auch das würde ich gern besorgen,“ sagte er; „aber ich weiß zum Voraus, es ist unmöglich. Die Leute sind alle zu dem Pfaffen gelaufen; überdies brauchen die Bauern – es sind ja nur ihrer drei – ihre paar Pferde zu nöthig jetzt während der Ernte.“

„So gehe ich zu Fuß,“ rief ich entschlossen. „Lieber Alles, als mich hier wieder finden lassen, wenn sie zurückkommen.“

„Wird kaum etwas Anderes übrig bleiben,“ meinte Weißfisch. „Ich würde Sie gern ein Streckchen begleiten; aber ich kann nicht wohl abkommen.“

Mir war es lieb, daß er mich nicht begleiten konnte. Ich sehnte mich danach, allein zu sein; ich verlangte nur, fortzukommen; der Boden brannte mir unter den Füßen. Ich gab Weißfisch meinen Kommoden-, meinen Kofferschlüssel; er versprach, Alles pünktlich zu besorgen; auch den Brief, welchen ich an Ulrich in aller Eile schrieb, sofort abzugeben. Der Brief enthielt nur ein paar Zeilen: er möge mich bei seinen Eltern entschuldigen, denen ich meine Dankbarkeit für alle ihre große Freundlichkeit und Güte nicht besser beweisen zu können glaube, als indem ich sie in dem Augenblicke verlasse, wo sie sich überzeugt hätten, daß ich dieser Freundlichkeit und Güte niemals werth gewesen sei.

Wenige Minuten später trat ich aus dem Portal des Schlosses und durchschritt eilig den Hof. In dem Hofthore wandte ich mich, zu sehen, daß Weißfisch mir nicht folgte.

Und dann haftete mein starrer Blick unwillkürlich an der Stätte, die ich nun für immer verließ: das stolze Schloß, umfluthet vom Mittagssonnenschein, den schwere blaue Schatten, die hie und da hinter den vorspringenden Erkern kühlig lagen, nur noch heller und glänzender machten; der weite Hof, auf dem die mächtigen Linden stille Wacht hielten; zur Seite der Park, dessen gewaltige Baummassen im Glast verzitterten – wohl mochten sie sich glücklich schätzen, die Menschen, die hier wohnten, dies ihr Eigen nannten und jetzt hingegangen waren, Gott dafür zu danken und ihn anzuflehen, daß er ihnen ihr Glück erhalten möge. Ihr Glück von Edenhall! Wenn es brach, mich würde es nicht treffen, den Bettelarmen, der Nichts sein Eigen nannte, als den Wanderstab da in seiner Hand, an dem er durch die glühenden Felder sollte zurückkehren zu dem wurmstichigen Hause in der dumpfigen Hafengasse. Gott sei Dank! Ja, zurück zu dem lieben alten Hause! Zurück zu dem lieben alten Vater, zu ihm, in seinem treuen Arme, an seinem Herzen mich auszuweinen von all dem Leid und all der Noth in dieser stolzen liebeleeren Welt!

Und, die Mütze fest in die Stirn drückend und den Stab fester fassend, kehrte ich dem Schloß den Rücken und wanderte fürbaß.


11.

Meine Wanderschaft sollte länger dauern, als ich gedacht hatte, und anders enden, ach, so anders!

Ich war bereits zwei Stunden unterwegs und hatte, nach meiner Berechnung, etwa ein Drittel der Entfernung zurückgelegt, die mich von der Stadt trennte. Nur ein paar Mal war ich über den Weg im Ungewissen gewesen, und einmal war ich sogar von demselben abgekommen, hatte mich aber nach kurzer Zeit wieder zurecht gefunden. Einen Menschen, den ich hätte finden können, fand ich nicht. Die Landschaft war wie ausgestorben; endlos breiteten sich die Kornfelder, in denen sich kaum ein längerer Halm an der Wegseite rührte und die Grillen rastlos schwirrten; in einer gelegentlichen Koppel ein paar Füllen oder Kälber, die sich in dem schmalen Schatten der kurzstämmigen verkrüppelten Weiden zusammengedrängt hatten; auf dem Dresch, in scheuer Entfernung vom Wege, ein Paar blauglänzende Kolkraben; über dem Rande des nahen Waldes ein Habicht, der in der blauen Luft seine Kreise zog – sonst kein lebendes Geschöpf in der weiten Runde.

Der Schweiß rann mir von der glühenden Stirn, die Zunge klebte mir am Gaumen – ich achtete es nicht. Mir war, als ob eine unwiderstehliche Kraft mich vorwärts zöge; an das, was hinter mir lag, dachte ich nicht mehr.

Und jetzt mußte ich doch hinter mich blicken.

Es war in dem Walde, den ich jetzt erreicht hatte, und durch welchen der Weg führte, dessen ich mich von der Hinfahrt deutlich erinnerte. Er hatte uns damals kühlenden Schatten gewährt, als wir auf schnellem Gefährt desselben kaum bedurften. Nun war mir die Labung doppelt willkommen, und ich wanderte ein wenig langsamer durch das Gras und den Lattich der Wegseite, als ich das Geräusch eines Wagens vernahm, der hinter mir herkam. In großer Eile, wie ich aus der schnell zunehmenden Deutlichkeit des Geräusches schließen mußte. Sollte es ein Wagen von Nonnendorf sein? Die Familie war inzwischen längst wieder zu Hause, Ulrich hatte meiaen Brief gelesen – es war ja äußerst unwahrscheinlich – dennoch, wenn sie hinter mir herkamen, mich zurückzuholen –

Ich hatte den Gedanken kaum gedacht, als ich bereits über den Graben gesprungen war und das Unterholz über mir zusammenschlug. Eben noch zur rechten Zeit. In der nächsten Minute war der Wagen, welchen mir eine scharfe Biegung des Weges verborgen hatte, auf derselben Stelle: derselbe offene Wagen, der mich und Ulrich nach Nonnendorf gefahren hatte; und Ulrich saß auf dem Rücksitz, vorn übergebeugt, eifrig nach vorwärts blickend, dem Kutscher, wie ich zu vernehmen glaubte, zurufend: er solle schneller fahren, während die Pferde doch schon in vollem Galopp ausgriffen, den leichten Wagen hinter sich durch die Löcher des schlecht gehauenen Weges schleudernd, daß es aussah, als ob derselbe im nächsten Augenblick umstürzen und zerschellen müsse.

„Ulrich!“

Ich hatte es laut gerufen; der Lärm der Räder, das Stampfen der Rosse hatte es übertönt. Schon war der Wagen hinter einer anderen Biegung des Weges verschwunden. Es war gut so. Ihm wäre ich gern um den Hals gefallen; und wenn er mich zornig mit seiner starken Faust da auf den moosigen Grund gestreckt hätte – von ihm hätte ich es gern erduldet. Aber die Anderen! Das Nasenrümpfen, das Hohnlächeln oder, schlimmer noch, die eisigglatte Höflichkeit, für die Nichts vorgefallen war. Nein, es war gut so. und er, wenn er auf dem Wege wieder umkehrte, da er mich noch immer nicht eingeholt, der ich doch einen so bedeutenden Vorsprung gar nicht hatte – er sollte mich auch dann nicht finden.

Und wie ein gejagtes Wild drängte ich mich weiter durch das dichte Gehölz und eilte dann auf glatterer Bahn zwischen den ragenden Stämmen tiefer in den Hochwald.

Es war natürlich meine Absicht gewesen, nach einem größeren Bogen durch den Wald am Rande desselben auf die Landstraße zurückzukehren; aber der Wald, der doch in meiner Erinnerung gar nicht so groß war, wollte kein Ende nehmen, und die Landstraße sich nicht wieder finden lassen. Dafür eine Menge Pfade, welche die Kreuz und die Quer zu laufen und mich, indem ich unsicher den einen oder den anderen verfolgte, immer tiefer in die Irre zu locken schienen, denn es waren so bereits wieder zwei [248] Stunden vergangen, ohne daß ich einen Ausweg gefunden hätte. Ich wußte nicht mehr, wohin ich mich wenden, ja, was ich in dieser sonderbaren Lage beginnen sollte.

Verzweifelt warf ich mich in das Moos, ein wenig zu verschnaufen. Aber schlimmer als die Müdigkeit plagte mich der Durst, und schlimmer als der Durst eine seltsame Bangigkeit, die ich mir, der ich sonst nicht furchtsam war und mich auch jetzt durchaus nicht fürchtete, gar nicht zu erklären vermochte, und die mich doch von Minute zu Minute heftiger ergriff, einer Schlange gleich, welche sich fester und fester um ihr Opfer schnürt. Ich hatte gelesen, daß so Menschen zu Muthe sei, die sich, ohne es zu wissen, in der unmittelbaren Nähe einer Leiche befinden. War hier ein Mord geschehen? Lag da in dem Gebüsch, aus dessen spärlichen Oeffnungen bereits schwarze Schatten blickten, der blutige, verstümmelte Körper?

Entsetzt sprang ich wieder auf und stürzte, nun wieder in der entgegengesetzten Richtung, davon und mußte lächeln, als ich nach wenigen hundert Schritten den Rand des Waldes erreichte, an welchem eine Landstraße hinlief, ob die, welche ich suchte, oder eine andere, wußte ich freilich nicht.

Aber ich mußte es wissen; und da, in einiger Entfernung am Wegrande im Schatten eines einzelnen Baumes, saß Jemand, den ich fragen konnte. Ein Landbriefträger, wie ich, näher kommend, sah, ein alter Mann in kurzen, bestaubten Stulpenstiefeln, der seine Tasche neben sich liegen hatte und sich mit einem rothen baumwollenen Tuch den Schweiß von der kahlen Stirn wischte. Er hatte meine Fragen gutmüthig bereitwillig beantwortet: ich war auf der Straße nach Neuenfähr – nicht der, welche ich verlassen, einer anderen, aber auf der ich nicht fehl gehen könne; habe bis Neuenfähr noch gute drei Meilen.

So hatte ich mich während der letzten zwei Stunden, anstatt mich meinem Ziel zu nähern, eine Meile von demselben entfernt.

Ich mochte wohl ein recht verdutztes Gesicht machen; der alte Mann sagte:

„Ja, es ist ein tüchtiges Ende, und Sie sehen auch nicht mehr zum frischesten aus. wo kommen Sie denn eigentlich her?“

Ich sagte es; er schüttelte den Kopf.

„Wie ist das möglich? Nonnendorf liegt ja auf einem ganz anderen Flach. Ja so, da muß ich wieder an den verdammten Brief denken, den ich nun schon seit drei Tagen mit mir durch die ganze Insel schleppe und nicht loswerden kann. Wo ist der Racker denn?“

Er kramte in seiner Tasche und brummte dabei weiter:

„Nonnendorf! Dummes Zeug! Giebt es nicht. Und wenn es auch zur Noth Bonnendorf heißen konnte, auf Nonnendorf wohnt Herr von Vogtriz und nicht ein Herr L. Lorenz, das muß ich doch wohl wissen. Da ist er. Herrn L. Lorenz auf Nonnendorf! Sehen Sie!“

Er hatte den zerknitterten Brief aus der Tasche genommen, nach welchem ich hastig griff mit dem Bedeuten, daß ich Lorenz heiße und in Nonnendorf zu Besuch gewesen sei.

Der Alte schien von dieser plötzlichen Lösung seines Räthsels nicht sehr erbaut. Er kraute sich den grauen Kopf und murmelte etwas von Briefgeheimniß und Amtseid. Ich aber hatte schon den Brief aufgerissen, der von einer schwerfälligen Hand, die ich zu kennen glaubte, fast unleserlich geschrieben war.

 „Lieber Lothar!
Es thut mir und meiner lieben Frau und auch meiner Christine sehr leid, aber wir können es nicht ändern und meine liebe Frau und auch meine Christine sagen, ich soll es Ihnen schreiben, wenn auch Ihr lieber Vater es nicht will. Lieber Lothar! Ihre liebe Mutter ist gestern ganz auf einmal und ohne einem Menschen etwas zu sagen, fortgereist und es sieht so aus, als ob sie nicht wiederkommen will, sagt meine Frau und auch meine Christine. Ihr lieber Vater sagt gar nichts, aber ich glaube, es hat ihn höllisch angegriffen und er ist sehr herunter, und meine liebe Frau und auch Christine sagen, ich soll es Ihnen schreiben, denn, sagen sie, es wird wohl nicht mehr lange währen, dann geht es zu Ende, womit ich bin Ihr Nachbar und guter Freund

H. Hopp. 

Nachschrift! Erschrecken Sie man nicht!“

„Herr Gott, Herr Gott, wie werden Sie denn auf einmal aussehen!“ rief der alte Mann, als ich den Brief aus meinen zitternden Händen fallen ließ und in halber Ohnmacht an den Stamm des Baumes zurücksank. Er hatte mir seine Flasche an den Mund gesetzt, aus der ich instinktiv gierig trank. Dann sprang ich auf die Füße.

„Gott lohne es Ihnen! Nach dieser Seite, sagten Sie?“

Er rief etwas hinter mir her, ich weiß nicht was. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich den Weg nach Neuenfähr zuruckgelegt habe. Es ist mir nur eine dunkele Erinnerung geblieben von zischelnden Kornfeldern, die endlos sind und über denen eine blendende Sonne mit seltsamer Schnelligkeit gen Westen sinkt, und von rothglühenden Wiesen; und einer Frau, die mit einem Kinde auf dem Arme vor mir steht und immerfort: armer Mensch! und dann wieder: willst du still sein! sagt, während ich aus einem irdenen Kruge trinke und vor Erschöpfung weine und das Kind jämmerlich schreit; und wieder von zischelnden Kornfeldern, über denen aber keine Sonne mehr glüht, und von Wiesen, über denen grauer Abenddunst in Streifen zieht, und von einem großen Fährboot, das mit Menschen und Pferden überfüllt ist und nicht aus der Stelle zu rücken und den Thürmen nicht näher zu kommen scheint, die vor uns gespenstisch in den schwarzgrauen Himmel ragen, über welchen ungeheure Wolken von Krähen ziehen, während hier und da ein Stern zu flimmern beginnt.

Dann stößt das Boot an die Landungsbrücke, daß es einen Krach giebt, und Weiberkreischen und Pferdestampfen und fluchende Männerstimmen – aber Alles schon hinter mir. Das dunkle Hafenthor, die Hafengasse mit den Matrosenkneipen, in denen bereits die Lichter brennen in den tiefen niederen Zimmern, aus deren offene Fenstern wüster Lärm schallt – Schuster Pahnk’s Haus, Zimmermann Schröder’s – Hopp’s – endlich des Vaters – gelobt sei Gott!

Ich will die vier Hausthürstufen mit einem Satze hinauf, und plötzlich ist meine Kraft zu Ende; ich ziehe mich mühsam an dem eisernen Geländer von Stufe zu Stufe. Die Schelle klappert, als ich die Thür aufdrücke; die alte Christel muß es nicht gehört haben; ich tappe durch den dunklen Flur nach der Thür zum Hofe. Auf dem Hofe ist es wieder etwas heller; in der Werkstatt brennt Licht, aber der Vater arbeitet nicht – wie kann er arbeiten, wenn er krank ist!

Ich stehe vor der Thür zur Werkstatt und habe den Drücker in der Hand. Aber ich drücke nicht auf. Dasselbe Grauen, das ich im Walde empfunden, will mich wieder überkommen – mit einem letzten Aufgebot meiner Kraft schüttele ich es ab und öffne die Thür.

Auf der Drehscheibe mitten in der Werkstatt steht ein fertiger Sarg; ich sehe auf den ersten Blick, daß er nicht von des Vaters Hand ist, mit dem zweiten, daß ein Todter im Sarge liegt.

Ich bin zu spät gekommen!

Ich sage es ganz laut, und es ist auch das Einzige, was ich empfinde. Keine Spur mehr von dem Grauen, das mich eben noch geschüttelt. Ich bin ja bei ihm, dem Besten, Gütigsten, der keine Todesfurcht kannte. Wie dürfte ich mich in seiner Gegenwart fürchten, obschon er nun todt ist!

Vor dem Todten, der so mild ist, so friedlich lächelt, wie ein schlafendes Kind.

So sehe ich ihn im sanften Schein der Lampe, der von oben auf seine lieben Züge fällt.

Ich küsse die lieben Züge, und dann küsse ich die Hand, die sie ihm auf die Brust gelegt haben, die liebe linke Hand, die nur vier Finger hat.

Und dann ruht meine Linke auf dieser Hand und über dem besten Herzen, und ich hebe die Rechte empor und spreche, abermals ganz laut, als ob ich zu ihm spräche:

„Nie wieder will ich Dein vergessen, Du Armer, Verlassener! Und will der Sache der Armen und Verlassenen treu bleiben, bis mein Herz still steht, wie Deines!“

Ich will am Sarge niederknieen und komme auch auf die Kniee. Dann aber saust es mir vor den Ohren; vor meinen Augen wird es Nacht; ohnmächtig sinke ich zusammen am Sarge des Vaters.

Da hat mich denn der gute Nachbar Hopp gefunden, als er eine Stunde später kam, zu sehen, ob das Oel auch wohl noch reiche für die Todtenlampe nebenan bei Nachbar Lorenz.

(Fortsetzung folgt.)

[249]

Speisung der Truppen auf dem Tempelhofer Felde bei Berlin.
Originalzeichnung von E. Hosang.

[250]

Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


In Rodens Hause ging Alles ruhig so weiter, ganz wie es angefangen hatte. Lotte spielte Klavier, wir aßen zusammen und plauderten zusammen, nach wie vor verband ich Fritz den Arm, nach wie vor las ich laut die Zeitung vor; und daß Lotte allmählich immer öfter die Wohnstube betrat, schien nur natürlich: was sollte sie da droben allein sitzen. Sie strickte eines Tages sogar, ohne nervös zu werden, an einem großen wollenen Soldatenstrumpf.

Sie war stiller als sonst, aber sie sah bezaubernd aus, besonders wenn sie die schönen Haare einfach um den Kopf gewunden trug, ein anspruchsloses weißes Schürzchen vorgebunden hatte und mit sanfter Stimme die Frau Amtsräthin fragte, ob nicht irgend Etwas zu helfen sei?

Sie schien so geknickt, so reuig; ich glaube, sie hätte ohne Zögern die bewußte Ledertasche mit dem rothen Saffianherz und dem schmutzigen Kupfergeld angehängt und Milch verkauft, wenn es nur irgend leise gewünscht worden wäre. Aber die kleine Hausfrau trug das Zeichen ihrer Würde unentwegt unter ihrer weiten schwarzen Wollschürze, die sie nur Sonntags mit einer seidenen vertauschte, und schien keineswegs gewillt, der schönen Frau auch nur eine Haarbreite von ihrem Recht abzutreten. – Jedenfalls ist Lotte niemals mit mehr Höflichkeit behandelt worden, niemals öfter „Frau Gräfin“ genannt, wie in jener Zeit von Frau Roden. Eines Tages, als das Stubenmädchen der alten Dame den gefüllten Suppenteller zuerst reichte, bemerkte diese unwillig: „Rieke, wie tausendmal habe ich Dir befohlen, daß Frau Gräfin zuerst bedient wird. – Verzeihen Sie, Frau Gräfin!“ Und sie reichte ihr so energisch den Teller hinüber, daß an ein Zurückweisen gar nicht zu denken war.

Als das Mädchen hinausgegangen, bat die junge Frau erröthend: „Liebe Frau Roden, ersparen Sie mir dies entsetzliche ‚Frau Gräfin‘; nennen Sie mich doch einfach wieder ‚Lotte‘.“

„Frau Gräfin,“ lautete die freundlich ernste Erwiderung, „das würde ich mir nie gestatten; nicht wahr, das sehen wir auch Beide vollkommen ein?“ Und Lotte ward blaß und schwieg. Fritz Roden aber führte die Unterhaltung fort, als habe er kein Sterbenswort vernommen.

Und so kam das Weihnachtsfest näher, und nichts änderte sich in unserem wunderbaren Zusammenleben. Schnee lag auf den Feldern und Bergen, und die Wohnstube duftete wieder nach den Bratäpfeln der alten Dame. In Frankreich aber zog es von allen Seiten gegen Paris heran, und der furchtbare eiserne Gürtel schloß sich fest und fester um die unselige Stadt.

Wir hatten Niemand mehr da draußen in Feindesland, bei Kälte und Eis. Der Sohn des Hauses weilte siech daheim, unser Hans ruhte in den Gräbern von St. Privat, und Lotten’s Gemahl – er ward nicht mehr genannt. Ob sie seiner noch gedachte, und wie? Ich sollte es erst durch einen Zufall erfahren.

Eines Abends im allerletzten Tagesgrauen kam Anita, just in dem Augenblick, als mir der Briefträger einen Feldpostbrief in die Hand legte, mit der Adresse der Hausfrau. Anita wollte mich sprechen, und ich ließ sie in Frau Roden’s Stübchen treten, denn oben spielte Charlotte Klavier.

„Ich will nur erst Frau Roden den Brief geben, warten Sie einen Augenblick,“ bat ich und ging in die Wohnstube, wo Mutter und Sohn noch im Dunkeln am Ofen saßen und sprachen.

„Wer kommt?“ rief die alte Dame. „Ich hör’s am Schritt – es ist unser Tonchen!"

„Ja; und denken Sie, Frau Roden, mit einem Briefe komme ich, einem Feldpostbrief an Sie.“

„Ei, was in aller Welt?“ fragte sie und nahm den Brief. Tonchen, klingeln Sie, Rieke soll die Lampe anzünden. Ein Feldpostbrief an mich? Ich kenne keine Seele da draußen, außer unsern David und Oberförsters Georg, und die – –. Von wem ist er denn, Tone?“

„Ich weiß es wirklich nicht,“ betheuerte ich und ging zu Anita.

„So Anita, da bin ich, was wünschen Sie?“

„Fräulein von Werthern,“ begann das Mädchen, „der Kammerherr von Oerzen ist vorhin angekommen; – ich glaube, er will morgen die Gräfin besuchen. Er war sichtlich in schlechter Laune und fragte, wie es denn zugehe, daß die Gräfin nicht ruhig drüben in ihren Zimmern geblieben sei. Ich sagte, sie habe sich zu sehr gebangt und wäre zu ihrer Schwester gegangen. Nun haben sie ja wohl drüben in R. etwas davon gehört, was sich hier die Spatzen auf den Dächern erzählen, nämlich, daß Herr Roden und die Gräfin sich ausgesöhnt hätten und daß es nicht unmöglich sei, sie strichen die prinzliche Heirath ganz aus in ihrem Gedächtniß, und es bliebe beim Alten. Das aber scheint der Frau Herzogin geradezu gefährlich, denn der Prinz ist keineswegs so sehr entzückt gewesen von dem raschen Eingreifen der Herrschaft in seinen Liebestraum. – Kurz und gut, Fräulein von Werthern, aus den Fragen des Kammerherrn habe ich mir so viel herausgerechnet, daß man auf jeden Fall die Gräfin von dieser Idee abbringen möchte, denn wenn der Prinz öfter Gelegenheit hat, sie zu sehen, so ist das keine glückverheißende Aussicht für seine künftige Ehe.“

„Liebe Anita,“ sagte ich, „wenn sich die Zwei heirathen wollen, wird es auch der Herzog nicht hindern. Doch noch ist es nicht so weit. – Fritz Roden ist krank, und meiner Schwester Scheidung noch nicht ausgesprochen.“

„Ich wollte es Ihnen auch nur mittheilen, Fräulein von Werthern; es ist mir, als beruhige sich mein Gewissen, wenn ich der Gräfin nützen könnte. Ich habe ihr im Frühling alle Briefe des Prinzen gebracht.“ –

„Das habe ich längst gewußt,“ bemerkte ich bitter.

„Es thut mir heute leid,“ sagte sie leise, „aber ich habe auch keinen freien Willen. Sie glauben nicht, wie heftig die Leidenschaft des Prinzen war, und wie sehr die Gräfin die Flamme zu schüren verstand, mit ihrer äußerlichen Kälte.“

„Da ist ja auch nichts mehr zu ändern durch Reue, Anita.“

Sie stand noch ein Weilchen zögernd an der Thür, dann ging sie, und ich kehrte in das Wohnzimmer zurück. Auf den ersten Blick sah ich schon, daß der Feldpostbrief, der vor Frau Roden auf dem Tische lag, etwas Besonderes enthalten mußte, denn die kleine Frau schien ganz ungewöhnlich echauffirt zu sein und warf mir einen so wunderlich fragenden Blick über die Brille hinweg zu, als wollte sie mich irgend eines schweren Verbrechens anklagen. Fritz war verschwunden. – Noch aber hatte ich keine Ahnung, wie nahe mich der Inhalt des Briefes anging, und daher fragte ich nur: „Doch keine schlechten Nachrichten?“

„Nein, – aber unerwartete, Tonchen. Sie hätten wohl Vertrauen zu mir haben können!“

Ich stutzte. „Worum handelt es sich denn?“

„Um Sie.“ –

„Um mich?“

„Hier ist ein Brief für Sie, der als Einlage sich in dem meinen befand. Er enthält einen Heirathsantrag.“ – –

„Für mich?“ Ich lachte auf einmal so herzhaft, wie seit langer Zeit nicht mehr.

„Aber, Kind, das ist doch weiß Gott nicht zum Lachen!“ sprach die alte Frau gereizt.

„Aber Wer denn in aller Welt? Es muß ein Irrthum sein, man wird Lotte meinen.“

„Nicht so vorschnell! Setzen Sie sich gefälligst, ich werde Ihnen das an mich gerichtete Schreiben vorlesen.“

Erwartungsvoll nahm ich Platz.

„Unterschrieben ist es: von Brenken, Hauptmann im X ten Regiment,“ – Und sie sah mich bei Nennung dieses Namens forschend an.

„Ich kenne ihn,“ erwiderte ich stotternd, „er war Adjutant meines Papa’s und kam täglich in unser Haus. Indessen – er muß Lotte meinen.“ –

Aber sie unterbrach mich, indem sie zu lesen begann:

 „Verehrte Frau!
Sie werden sich wundern, daß der fremde Mensch, der sich am Schlusse unterzeichnet, an Sie zu schreiben wagt und, mehr [251] als das, sogar eine herzliche Bitte an Sie richtet, für deren Erfüllung er Ihnen immer dankbar bleiben wird.

In Ihrem Hause lebt die Tochter meines leider zu früh verstorbenen Kommandeurs, Fräulein Antonie von Werthern. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Sie, verehrte Frau, bei der jungen Dame Mutterstelle vertreten, und darum wende ich mich zunächst an Sie. Ich liebe Fräulein von Werthern schon lange; ihre liebliche Erscheinung hat es mir nicht minder angethan, wie ihr sanftes, allezeit freundliches Wesen, und wenn ich mich stets bescheiden im Hintergrunde hielt, ihr bisher kein Zeichen meiner Neigung gab, so geschah es, weil ich dem geliebten Mädchen nichts für die Zukunft zu bieten vermochte.

Vor zwei Wochen bin ich Hauptmann geworden, ich besitze ein kleines Vermögen und brauche nun nicht länger zu zögern, Fräulein von Werthern um ihre Hand zu bitten. – Sie schütteln vielleicht über die Thorheit den Kopf, im Kriegsgetümmel an Liebe und Freien zu denken, – aber gerade hier hat mich mächtiger denn je die Sehnsucht gepackt, ihr zu sagen, daß ich sie liebe; zu wissen, daß sie meiner freundlich gedenkt.

So lege ich beifolgendes Schreiben zunächst in Ihre Hände mit der Bitte, es Fräulein von Werthern zu überreichen. –“

Sie schwieg und ich auch. Mir schwindelte; es war ein neues mächtiges Gefühl für mich: Du wirst begehrt! Du wirst geliebt! Du, „Die Andere“! – Ist es denn möglich, mich hätte jemand bemerkt? Mich? fragte ich unbewußt halblaut.

Frau Roden stand auf und ging in das Nebenzimmer. Hastig griff ich nach dem Brief. Ja, da stand es, und da lag auch das andere Schreiben „an Fräulein Antonie von Werthern“. Mit einem Wohlgefühl ohne Gleichen nahm ich das schlichte Kouvert; es war nicht das himmeljauchzende Glück, das ein Mädchenherz empfindet, wenn es den Antrag des Mannes empfängt, dem ihr Herz gehört – daran dachte ich nicht; es war etwas Anderes. So muß der Blume zu Muthe sein, die unbeachtet unter Gestrüpp erblüht ist, und auf die plötzlich ein Sonnenstrahl fällt.

Ich war ihm so dankbar, dem Verfasser des Briefes, den ich ja tausendmal gesehen, ohne eine Ahnung von dem, was in seinem Herzen vorging. Deutlich stand der schlanke blonde Mann vor meinen Augen, still und ernst und immer höflich, unermüdlich um die Zufriedenheit seines Kommandeurs besorgt; und ich erinnerte mich auch der Thränen in seinen Augen, als er mir beim Begräbniß des Vaters die Hand drückte. Und der hatte mich lieb?

Ich stand und stand, ehe ich mich entschloß, den Brief zu erbrechen, und dann las ich treue herzliche Worte. Wie war es denn möglich?

Und nun ging ich endlich hinauf und zu Lotte. Sie hatte Licht angezündet und schrieb. „Wie siehst Du denn aus?“ fragte sie, mich erstaunt betrachtend. Und stockend erzählte ich ihr und zeigte ihr den Brief.

„Der Brenken? Herr des Himmels. Darum stand er auch immer so ewig lange auf dem Korridor herum! Nun, das ist ja ein großes Glück; ich gratulire Dir. – Und wenn ich mir’s recht überlege, Ihr paßt auch zusammen.“

Meine Gedanken bekamen auf einmal eine andere Richtung. „Ich kenne ihn nicht genug,“ erwiderte ich, „und ich liebe ihn nicht.“

„Ach, um Gotteswillen, fange damit nicht an,“ rief sie. „Es ist ja ein riesiges Glück für Dich, Tone.“

„Ich habe eben besondere Ansichten vom Glück,“ gab ich zurück.

„Du möchtest vermuthlich weit lieber ein Pensionat anlegen oder in einem Badeort möblirte Zimmer vermiethen?“

„Lieber, als einen guten braven Menschen belügen.“

„Was heißt denn das?“ fragte sie; „wieso würdest Du ihn belügen? Weil Du an den vom Himmel geschneiten Freier bisher gar nicht dachtest und ihn folglich auch nicht lieben kannst? Er liebt Dich ja, – das ist genug.“

„Ich kann Dir nicht alle meine Gründe sagen, Lotte; aber, bitte, nimm an, sie seien triftig; lasse mich ohne Dein Zureden handeln.“

Sie warf einen forschenden Blick auf mich, dann sagte sie langsam: „Sollte am Ende gar Dein Herz nicht mehr frei sein?“ – Und als mir heiß das Blut zum Kopfe empor wallte, nickte sie mit einem langgedehnten: „Ach so! – Aber überlege es doch recht ordentlich, Tone; ein Sperling in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dache. Frage nur Deine lebenserfahrene Gönnerin unten; sie wird es Dir sicher bestätigen.“

Ich antwortete ihr nicht, holte mir Tintenfaß und Feder und schrieb einen Absagebrief. Wie dankbar ich ihm war! Weßhalb ich seine Hand zurückwies – ich konnte es ihm natürlich nicht sagen, so wenig, wie ich sein ehrliches Herz betrügen wollte, indem ich ihm das meine gab, das auch nicht den allerkleinsten Platz mehr für ihn hatte. ich schrieb freundliche gute Worte und wünschte ihm aufrichtig ein anderes schöneres Glück.

Wie immer kamen wir um acht Uhr zum Abendbrot hinunter, Lotte und ich; und wie immer machte ich mich daran, den Thee einzuschenken. Fritz kam nicht zu Tische; er sei etwas angegriffen, sagte die Hausfrau, und wolle in seinem Zimmer speisen.

„Fritz geht im Januar nach Wiesbaden,“ erzählte sie dann, „der Doktor sagt, es wäre Zeit, weil die Wunden nun vernarbten. Ich hätte ihn gern begleitet,“ fuhr sie fort, „aber was soll aus der Wirthschaft werden, da tanzte wohl hier Alles auf den Köpfen herum; die Mamsell hat’s faustdick hinter den Ohren, und dem guten Müller pariren sie nicht.“

„Ich würde schon aufpassen,“ erwiderte ich.

„Ach Sie!“ sagte die alte Frau. „Nein, nein, Tonchen, so angehende Bräute, Leute mit Liebesgeschichten im Kopf, sind schlechte Wächter.“

Ich lachte; es mochte so herzlich klingen, daß Beide mich erstaunt ansahen.

„Liebste Frau Roden,“ begann Lotte, „da nun einmal das Gespräch auf diese Angelegenheit kommt, so setzen Sie doch Tone den Kopf ein wenig zurecht. Sie kennen ja unsere Lage – ist es nicht eine Thorheit, wenn sie sich da noch lange Bedenken macht, weil sie ihn nicht – liebt?“

Frau Roden sah plötzlich mit einem gänzlich veränderten Blick zu mir herüber. „Beim Heirathen soll man die Worte sparen, Frau Gräfin, es ist eine alte Lehre; das mögen die Zwei allein, und jeder für sich mit seinem Herzen ausmachen.“

Lotte schwieg; ich sah auf den Teller. Wenn sie gewußt hätte, daß eine ablehnende Antwort schon frisch und fröhlich auf dem Wege nach Frankreich dahin flog! Ich hatte keineswegs das Gefühl, eine Uebereilung begangen zu haben, und – Ueberlegen? Läßt sich damit Liebe schaffen? Schwindet sie denn vor – Ueberlegung? Wenn ich hundert Tage darüber nachgedacht hätte von Morgens bis Abends, die Sache wäre nichts anders geworden. Und weil ich ein armes Mädchen war, dem die Zukunft düster und schwarz vor Augen lag, darum sollte ich einem ehrlichen Menschen das Wort geben, das mir die Vernunft abgepreßt, sollte neben ihm gehen wie eine Heimwehkranke, die immer und immer wieder den Kopf nach dem Lande zurückwendet, wo ihr Herz geblieben ist? Die nicht einmal dahin denken dürfte, weil es Sünde wäre?

Nein, so vernünftig konnte ich nicht sein! Mich fror bei dem Gedanken. – Und warum sollte ich nicht allein durchs Leben gehen können? Immer doch besser, als zu Zweien – ohne Liebe. Ich konnte nicht traurig sein heute Abend, es war unmöglich.

Nach Tische, als Lotte hinaufgegangen war, pochte ich an Fritz Roden’s Thür, die frischen Binden in der Hand. „Die barmherzige Schwester ist da!“ rief ich neckend.

„Herein!“ erwiderte er, und Frau Roden erhob sich von dem Stuhle zur Seite des Sofa, um mir Platz zu machen, und ging hinaus.

Er sah mich so groß und forschend an, als ich nun neben ihm stand, daß ich roth wurde und die Augen niederschlug. „Und so plötzlich erfährt man es?“ sagte er, „so unvermittelt? Haben Sie gar nichts gewußt? Ich glaube, Mutter kränkt sich über Ihren Mangel an Vertrauen.“

Ich mußte lächeln wider Willen. „Sie konnten nicht erstaunter sein, als ich. Aber nun, bitte, Ihren Arm.“

„Ueberlegen Sie ernstlich!“ sagte er, eigenthümlich gepreßt.

„Ueberlegen?“ rief ich empört. „Was ist da zu überlegen?“ – Ich war in dem Wahne, er wolle zureden. Und der Sonnenschein, der mich umfangen hielt, wich plötzlich dem tiefsten Schatten; [252] mit zitternden Fingern legte ich die Binde um und heftete die Nadel darein. „Und daß gerade Sie und Lotte mir diese Rathschläge geben, das macht mich lachen!" stieß ich hervor. Aber ich lachte nicht; mir liefen die Thränen aus den Augen.

Er sprang auf die Füße und hielt mich bei der Hand. „Lachen Sie doch,“ sagte er, „lachen Sie gründlich, Sie haben Recht. – Aber daß Sie mich daran erinnern, Sie – –“

„Ich wollte Ihnen nicht weh thun,“ stotterte ich; er sah so blaß auf einmal aus.

„Ich Ihnen auch nicht, bei Gott nicht!“

So standen wir neben einander, und noch immer hielt er meine Hände. „Ich will Sie um Verzeihung bitteb, Tone,“ flüsterte er, „wenn – –“

„Nein, nein!“ wehrte ich ab; ich ahnte, was das ‚Wenn‘ heißen sollte. Und als in diesem Augenblick wieder Lotte’s Klavierspiel herunter scholl, da konnte ich es nicht lassen, und wie im Scherz sprach ich seine eigenen Worte: „Ueberlegen Sie, Fritz, überlegen Sie!“ Und dabei kamen mir wieder die dummen Thränen auf den Wangen heruntergelaufen, und ich konnte sie nicht einmal trocknen, denn er hielt meine beiden Hände noch immer fest und ließ sie eine ganze Weile nicht los. „Sie liebe treue Rathgeberin!“ sagte er warm; aber eine Antwort auf meine Warnung bekam ich nicht. Er seufzte nur, ließ meine Hand sinken und setzte sich still an den Tisch; und still ging ich hinaus.

Es war wohl schon zu spät.

Und sein Stolz? „In Liebessachen kennen die Männer keinen Stolz,“ sagte meine Großmutter einmal. – Auch er nicht? Wie durfte, wie konnte ein Mann die Frau noch einmal an seine Seite ziehen, die ihn betrogen?

Bang und grübelnd setzte ich mich zu der alten Dame, die mit sorgenvoller Miene am Tische strickte. „Haben Sie geweint?“ fragte sie.

Ich wurde verwirrt und küßte ihre Hand.

„Die Heirathsgeschichte geht Ihnen im Kopfe herum, Tonchen.“

„Schelten Sie mich und halten Sie mich für unvernünftig, liebe Frau Roden, – ich kann den Hauptmann von Brenken nicht heirathen,“ erklärte ich fest.

„Ach Kind,“ sagte sie, „ich Sie schelten? Gott sei gelobt – es war mir ja, als wollte Einer meine eigne Tochter wegholen.“ Und sie küßte mich auf beide Augen. „In die Augen hatte sich der Mann verliebt und in dies liebe Gesicht? Aber es ist wirklich wahr, Tonchen, Sie sind hübsch! Ich habe es zwar schon immer gewußt, so wie heute ist es mir aber noch nicht aufgefallen; – muß mich da ein Wildfremder erst aufmerksam machen!“

Und sie küßte mich und sah mich freudig erregt an; und mir war doch so bang zu Muthe. Wo war mein Stolz geblieben?




Am andern Morgen ließ der Kammerherr fragen, wann Frau Gräfin zu sprechen sei. Lotte, die gerade am Kaffeetisch in unserem Stübchen saß, gab den Bescheid: „Um fünf Uhr Abends.“

Anita verzog den Mund zum Lächeln, denn sie hatte eben erzählt, daß Herr von Oerzen um vier Uhr wieder abzureisen gedächte, weil er Abends bei der Frau Herzogin zur Tafel befohlen sei. Ich glaubte, Lotte habe es überhört, und bemerkte: „Aber Lotte, das geht nicht, Herr von Oerzen will doch – –“

„Um fünf Uhr!“ unterbrach sie mich. „Ich habe Kopfschmerzen und bin nicht im Stande, eine aufregende Unterhaltung zu führen; gegen Abend wird es gewöhnlich besser; ich kenne mich.“

„Lotte, wenn Du nur nicht auf mich dabei rechnen willst; ich kann nicht bei Dir bleiben, weil ich Frau Roden versprochen habe, Besorgungen mit ihr zu machen.“

„Aber, süßes Kind, ich habe Dich ja noch gar nicht aufgefordert, dieser Konferenz beizuwohnen.“

„Dann ist es gut,“ sagte ich ärgerlich über ihren ironischen Ton.

Lotte trank ruhig ihren Kaffee aus, verabschiedete Anita, die noch immer an der Thüre stand, und ging in das Schlafzimmer. Ich horte sie am Kleiderschrank und an der Kommode kramen; dann kam sie wieder, über den Arm ein weißes Kaschmirnegligé und begann die blaßblauen Schleifen davon abzutrennen.

Ich wußte nicht recht, was das bedeuten sollte, und ging hinunter, den Pflichten nach, welche die alte Frau mir allmählich im Haushalte übertragen hatte. Einige Stunden war ich, mit dem klappernden Schlüsselbund an der Seite, umher gewandert, im Keller und in der Wäschekammer, nun kam die gemüthliche Frühstücksstunde und die neue Zeitung. Frau Roden war aufgeräumt und guter Dinge, sie saß neben Fritz und schrieb einen langen Zettel für Weihnachtskommissionen. „Tonchen, nun machen Sie ein anderes Gesicht,“ bat sie, „weinen Sie nicht um die Angelegenheit mit dem Kammerherrn, die Sache wird sich schon ausgleichen.“

Aber ich konnte meiner Stimmung nicht Herr werden; ich hatte es auf der Zunge, zu bitten: lassen Sie mich heute hier! Mir war Lotte’s Wesen so räthselhaft, erschien mir so siegesgewiß; irgend etwas plante sie. ich mußte immer daran denken, sie setze sich während unserer Abwesenheit Fritz gegenüber im dämmerigen Zimmer und erzähle ihm und lache mit ihrer klingenden Stimme, die so süß und weich sein konnte; und dann und dann – – Ich war auf dem Punkte, vor brennender Angst zu weinen: sie – so schön und klug, und er hatte sie so lieb!

Lotte ließ sich Kopfschmerzen halber bei Tische entschuldigen. Ich wußte aber, sie lag auf dem Sofa, las und knabberte Bonbons. Frau Roden, die mitleidig hilfsbereit mit Eau de Cologne und Citronenscheiben hinaufeilen wollte, hielt ich nur mit Mühe zurück.

„Ach so!“ lächelte sie. Sie kannte diese Kopfschmerzen noch aus der Brautzeit her.

Als ich gegen vier Uhr hinaufkam, um Hut und Mantel zum Ausgehen zu holen, blieb ich staunend an der Schwelle des Schlafzimmers stehen; Lotte war im weißen spitzenbesetzten Kaschmirkleid und steckte sich eben ein zierliches Häubchen auf das dunkle Haar. Reizend sah sie aus in diesem einfachen Anzug, dessen eleganter Schnitt der Figur sich vollendet anpaßte. Aber mir ward nur noch beklommener zu Muthe.

„Wozu das?“ fragte ich.

Sie erröthete ein wenig und nahm das Flakon mit ihrem Parfüm.

„Ich glaubte, Du seist ausgegangen,“ erwiderte sie ausweichend und rauschte an mir vorüber wie eine Fee, nur eine Wolke des schweren süßen Geruches blieb im Zimmer. Ich hörte, wie sie sich drinnen wieder auf das Sofa legte; über die Lampenglocke hatte sie wohl den purpurrothen Seidenschirm geworfen, wie sie es liebte, denn gluthrothes Licht quoll durch die Thürspalte. Ich konnte mich nicht entschließen, sie noch einmal zu sehen, und ging direkt aus der Schlafstube hinunter.

Im Hausflur stand die Frau Amtsräthin schon bereit; Rieke mit der Laterne und einem mächtigen Handkorb schritt voran. Und so, die alte Dame am Arm, wanderte ich vom Hofe. Unter den Kastanien eilte ein Herr an uns vorüber mit leichtem eleganten Schritt, das war der Kammerherr.

„Gott im Himmel, was wird Lotte thun?“

„Aengstigen Sie sich nur nicht, Tonchen,“ tröstete Frau Roden, „es wird schon Alles gut werden.“ – Ob sie denn gar nicht mehr besorgt war? Oder hatte sie sich darein gefunden, daß die Beiden – –?

Und aus einem Laden wanderten wir in den andern; ich achtete kaum der Einkäufe und schrak wie aus einem Traume empor, wenn die Frau Amtsräthin mich um meine Ansicht über dies und jenes fragte. Ich sah nur immer das weiße Kleid vor mir, das purpurrothe Licht darüber ausgegossen; das Antlitz, das so schön, die Augen, die so gluthvoll blicken konnten!

Und Minuten auf Minuten verrannen, endlos schienen die Besorgungen. Ich zählte in Gedanken die Stufen der Treppe, ich sah zwei kleine Füße darauf hinunter gleiten und sah eine weiße Schleppe durch den Hausflur rieseln; meinte ein leises Klopfen an einer wohlbekannten Thür zu hören und die klare Stimme: „Darf ich eintreten?“

Wie hundertmal hatte ich diese Frage während der letzten Wochen gehört! Ich preßte die Hände im Muff zusammen:

„Ja, ja!“ antwortete ich zerstreut auf eine Frage der alten Dame.

„Aber Tone, was ist Ihnen? Sie sehen ja so wunderlich blaß aus?“ fragte sie und blickte von der Reihe Petroleumlampen, die zur Auswahl vor ihr stand, in mein Gesicht.

„Augenblicklich gehen Sie nach Hause, Kind,“ fuhr sie fort, „ich werde allein fertig. Gehen Sie, Tonchen!“

Ich gehorchte ganz mechanisch. Eine Weile stand ich noch auf dem Bürgersteig im Schein des Ladenfensters, als müsse ich mich besinnen auf das, was ich eigentlich wollte, dann trieb es mich vorwärts durch die spärlich erhellten Straßen. Ob es Ahnungen giebt? Ich glaiibe daran seit jener Stunde.

Durch die kahlen Aeste der Bäume schimmerte mir das rothe Licht entgegen, und darin glitt ein Schatten auf und ab. Ich blickte hinauf; also noch immer war der Kammerherr oben – Gottlob!

[253] Langsam schritt ich weiter, und meine Blicke flogen zu den zwei Fenstern unter den unsern – sie waren dunkel. Ich wunderte mich, denn er liebte es nicht, lange in der Dämmerung zu sitzen; sein Wesen war so ganz und gar nicht angethan, sich in müßige Träumereien zu versenken.

Nun trat ich in das Haus, stieg die Treppe empor und kam leise in unser Schlafzimmer. Mir brannte die Stirn unter dem Pelzmützchen, der Mantel drückte mich fast zu Boden, hastig warf ich Beides ab; dann blieb ich starr, die Sachen noch in der Hand – deutlich und klar drang mir FritZ Roden’s Stimme ins Ohr.

„Nein, das bestreite ich,“ sagte er.

Er hier oben –– er bei ihr! Die Thür stand nur angelehnt; ich wollte hin, um sie zu schließen; was ging es mich an, wenn sie zusammen sprachen! Aber ich kam nicht vom Fleck, die Glieder versagten mir den Dienst.

Und nun drangen sie in mein Ohr, herzverwirrend und süß, jene paar einfachen Worte, die es vermochten, daß ich in die Kniee zusammenbrach und wie betäubt meinen Kopf an die Bettpfosten lehnte: „Ich darf es Ihnen wohl anvertrauen, Frau Gräfin, ich liebe ihre Schwester.“

Mir war, als müßte ich weinen und lachen, als müßte ich aufschreien wie erlöst von dumpfer jahrelanger Qual. Ich schloß die Augen wie ein Mensch, den plötzlicher Sonnenglanz blendet, und ich öffnete sie weit und sah den Spalt der Thüre und hörte seine gedämpften Schritte auf dem Teppich und hörte, wie Lotte zu lachen begann.

„O! So rasch?“ sprach sie dabei.

„Das sollten Sie nicht fragen,“ erwiderte er.

„Sie wollen sich als leidenschaftlicher Charakter aufspielen? Sie Fritz?“ Und wieder brach sie in ihr helles klingendes Lachen aus, das doch so verzweifelt und so gereizt klang. – Und nun rauschte ihre Schleppe und dann erlosch der helle Streifen; sie mußte bei ihrem Wandern just vor der Thür stehen geblieben sein.

„Mein Herr,“ hörte ich sie spöttisch sagen, „wir spielen hier Komödie! Die Rollen sind in unseren Händen ganz allein; wollen Sie den Inhalt des Stückes mit ein paar Worten erfahren? Ich gehe morgen nach Dresden, in eine Art Gefängniß, das mir die Herzogin dort bereitet hat, um mich hier los zu werden: sie hat Angst, der Prinz könnte mich doch wohl nicht so rasch vergessen. Ich bin ehrlich genug zu gestehen – ich gehe ungern, sehr ungern; und deßhalb wünschte ich Sie zu sprechen –. Ich wäre hier geblieben, – – ich hätte gern den goldenen Reif, den ich einst aus der Hand schleuderte, wieder vom Boden aufgenommen und an meinen Finger gesteckt –. Sie sehen, ich bin wirklich ehrlich; – – gern, sage ich; und wollen Sie wissen aus welchem Grunde?“

Aus Rache, Frau Gräfin,“ erwiderte er ruhig.

„Aus Rache!“ bestätigte sie langsam. „Und Sie, Fritz Roden, Sie lieben mich noch, lieben mich eben noch so wie in jenen Tagen, wo Sie mir Tone mit Ihrer Werbung schickten. Und nun stellen Sie sich hin, schlagen die Arme unter einander und lügen mir vor mit einer Miene, wie sie gleichgültiger nicht sein kann, wenn Sie mit dem Verwalter reden: ‚Ich liebe Ihre Schwester!‘ Und würde ich Sie fragen: ‚warum? wie kam es?‘ so müßten Sie als ehrlicher Mann antworten: ‚Aus Rache, Frau Gräfin, aus Rache‘.“ und sie begann wieder zu lachen.

„Welche Gründe mich leiten, – das muß Ihnen völlig gleichgültig sein.“

„Ist es mir auch!“ rief sie, „mich dauert nur das arme Närrchen, denn –“

Weiter hörte ich nichts mehr. Ich raffte mich auf und eilte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Im Hausflur stand ich mit meiner Empörung, meinem heißen Zorn und wußte nicht wohin? Dann riß ich die Thüre auf und stürmte über den Hof, dem Garten zu; – nur jetzt Niemand sehen!

Aus Rache! –

Es hatte angefangen zu schneien; große weiße Flocken taumelten hernieder und kühlten mein heißes Gesicht. Unter die Linde setzte ich mich, auf die Steinbank, lange Zeit; mich fror nicht, ich hörte nur das eine Wort: „Aus Rache!“ Und dabei starrte ich in das immer dichter werdende Gewimmel um mich herum, welches sich allmählich weiß und locker, eine schimmernde Decke, über den Garten breitete. Mir schwindelte vor dem tanzenden Treiben; ich konnte nicht denken und es war mir, als leuchtete durch dieses lautlose Gewimmel der purpurrothe Lichtschein aus Lotten’s Zimmer.

Dann hörte ich meinen Namen rufen; kraftvoll und laut scholl es durch die dunkle Nachtluft „Tone! Tone!“ Entsetzt fuhr ich empor; ich hätte ihm nicht mehr begegnen können heute, nur jetzt nicht, in diesem elenden Kampf mit meinem Herzen. – Und ich lief weiter auf alten wohlbekannten Wegen, tiefer, immer tiefer in den Garten hinein, und dann stand ich vor der Thür zu unserer ehemaligen Wohnung. Hastig faßte ich in meine Tasche und fand den Schlüssel; er war vom Tage vorher darin geblieben, als ich zur Mittagszeit die Fenster hier geöffnet hatte. In zitternder Eile erschloß ich die Thür und flüchtete hinauf in Großmutters Zimmer, in ihren Lehnstuhl. Dort wähnte ich mich sicher; für diesen Moment die größte Wohlthat, die mir werden konnte.

Todtenstill war es um mich, nur ein Holzwurm begann zu ticken. In dem schwachen Schneelicht konnte ich allmählich die Gegenstände unterscheiden; dort das große Himmelbett, drüben der Schreibtisch; und mit diesem Erkennen trat so furchtbar deutlich die letzte Vergangenheit vor meine Seele. Ich sah Lotte dort stehen und ihn, den zärtlichen glühenden Bräutigam. – Verschwindet Liebe so bald? Sie hatte wohl Recht, er liebte sie noch ebenso. Aber er war zu beleidigt, zu stolz, und darum nahm er sein zuckendes Herz und rettete sich hinter eine künstlich aufgebaute Schutzwehr, indem er zu dem schönen Weibe sagte, das ihn spielend wieder zu ihren Fußen zu zwingen glaubte: „Ich liebe eine Andere! Und diese Andere ist, weil ich sie gerade so bei der Hand habe, Deine Schwester!“ Das arme Närrchen, sie mußte ja hochbeglückt sein; sie hatte schon tausendmal verrathen, daß ihr Herz ihm willenlos ergeben, – da paßte es ja ganz vorzüglich!

Seinem Mannesstolz war Genüge geschehen, die schöne Braut von ehemals – gedemüthigt bis an die Erde! Was aus der „Andern“ wurde, davon konnte erst später die Rede sein – – er war gerächt!

Ich stützte die Ellenbogen auf die Seitenpolster des alten Sessels und begann zu überlegen. Hier bleiben konnte ich nicht länger. Mit Lotte gehen? – Nein! rief es in mir mit ehrlichster Entrüstung, und meine Hände ballten sich.

Nach Berlin, in irgend ein Lazareth? Ja! Morgen schon! Dann fiel mir wie ein Funken der Name „Brenken“ in die Seele.

Ja! ja! flüsterte ich, es ist ein Menschenherz, ein ehrliches! Aber gleich darauf stieg mir das Blut siedendheiß in das Gesicht vor Scham –. Niemals!

In meinen Ohren sang und klang es so eigenthümlich und hell; ich hörte das Pochen meiner Schläfe gegen das Polster, und wieder kam das Gefühl des Schwindels über mich, so daß ich mit bebenden Händen nach der Lehne des Sessels griff; ich meinte zu versinken in einen bodenlosen Abgrund. Einmal war es auch, als hörte ich wie aus weiter Ferne meinen Namen rufen, und sagte: „Die Großmama!“

Dann sang und klang es weiter, und endlich schreckte ich empor und starrte nach der Thür; ich sah noch eine hohe Gestalt im schwankenden Schein einer Laterne und hörte eine Stimme: „Aber um Gotteswillen, Tone!“ – Dann nichts mehr. 0000000000000000000000

Später haben sie mir erzählt, wie sie mich fiebernd und bewußtlos gefunden, Fritz und seine Mutter: wie sie mich zu Bette gebracht und wie Lotte so todtenblaß geworden, als der Arzt gesagt, ich würde schwer krank werden. Die Spuren meiner Füße im Schnee hatten sie zu mir geleitet. Ich wußte nichts von der nächsten Zeit. Als ich zum ersten Male wieder mit Verständniß die Augen aufschlug, schien ein klarer Januartag in die Fenster und zwei alte mütterlich gute Augen schauten mich an. Nur mühsam konnte ich mich besinnen; und was ich aus der Erinnerung hervorholte, war nicht darnach angethan, die Genesung zu fördern.

„Wo ist Lotte?“ fragte ich angstvoll.

„In Dresden, Kindchen,“ antwortete die alte Dame ruhig. „Schon seit Wochen.“

„Allein?“ stammelte ich.

„Nein, nein! Die Herzogin hat gesorgt für sie, wie eine Mutter. Sie lebt bei Frau von Millern, der pensionirten Hofdame.“

Ich schwieg; ich war so müde und matt. Und wieder versank ich in halbe Bewußtlosigkeit. Ich hörte das leise Walten [254] der alten Frau und wußte, ich sei krank gewesen, lange krank und fand es so grenzenlos unnöthig, daß ich wieder gesund wurde. Und dann kam der Doktor.

„Na, das schaut ja schon mit ganz anderen Augen in die Welt,“ sagte er freundlich. „Nun hübsch etwas essen und folgsam sein und keine dummen Gedanken sich machen, da geht’s mit Riesenschritten in die Gesundheit hinein. Und das Fräulein wird sich später hüten, im December unter der Linde auf der Steinbank zu sitzen, als wäre es im Mai – nicht wahr?“ – Der kleine Mann drückte mir die Hand und ging ins Nebenzimmer.

„Du kannst reisen, Fritz,“ hörte ich ihn sagen; „es ist Alles vorzüglich.“

Gott sei Dank – er reist! Und bis er wiederkehrte, würde ich gesund sein, so gesund, um meinen Weg allein zu finden, weit – weit draußen in der Welt. Ich schlief wieder ein, schlief sehr lange und erwachte von flüsternden Stimmen; ich hatte das Gefühl, als küßte Jemand meine Hand. Im Zimmer tiefe Dämmerung, nur das Nachtlicht warf einen großen hellen Kreis an die Decke; ich wußte nicht, war es Abend oder Morgen?

„Gott behüte Dich, mein lieber Junge!“ hörte ich Frau Roden sagen; mir war es, als gleite eben seine Hünengestalt aus dem Zimmer, gefolgt von der kleinen Mutter; dann Pferdegetrappel und Wagenrollen vor den Fenstern.

Fritz Roden verließ das Haus, er hatte Abschied von mir genommen! Ich legte meine Wange auf die Hand, die er geküßt, und weinte. Nun waren wir getrennt, auf immer!

(Schluß folgt.)

Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Der Erfinder des Telephons. Eine Zeit lang hielt man nicht nur jenseit des Oceans, sondern zum Theil auch in Deutschland den Bostoner Professor A. G. Bell für den Erfinder des Telephons, das in wenigen Jahren in förmlichem Siegeszug sich alle Welttheile eroberte.

Das Telephon von Philipp Reis.
Nach einem Holzschnitt aus dem Jahrgang 1863 der „Gartenlaube“.

In Deutschland hätte indeß Niemand daran zweifeln sollen, wer der eigentliche Erfinder des Telephons gewesen; hat doch die „Gartenlaube“ schon im Jahrgang 1863 Nr. 51 die nebenstehende Abbildung des ersten Telephons und einen erläuternden Artikel „Der Musiktelegraph“ ihren Lesern diesseit und jenseit des Oceans gebracht. Nachdem in der Einleitung desselben das Princip erklärt wurde, nach welchem man mit Zuhilfenahme des elektrischen Stromes „nicht nur einzelne Melodien, sondern ganze Orchester-Aufführungen, ja auch Reden“ nach entlegensten Orten übertragen könne, hieß es ferner: „Die Möglichkeit der Lösung dieser Aufgabe hat ein Herr Reis zuerst durch Experimente nachgewiesen. Es ist ihm gelungen, einen Apparat zu konstruiren, welchem er den Namen Telephon giebt und mittels dessen man im Stande ist, Töne mit Hilfe der Elektricität in jeder beliebigen Entfernung zu reproduciren. Nachdem er schon im Oktober 1861 mit einem ganz einfachen, kunstlosen Apparate in Frankfurt am Main vor einer zahlreichen Zuhörerschaft einen mit ziemlichem Erfolg gekrönten Versuch angestellt, legte er am 4. Juli d. J. ebendaselbst in der Sitzung des physikalischen Vereins seinen seitdem wesentlich verbesserten Apparat vor, der bei verschlossenen Fenstern und Thüren mäßig laut gesungene Melodien in einer Entfernung von cirka 300 Fuß deutlich hörbar übertrug.“ Hierauf folgt eine ausführliche Beschreibung des Apparates, welcher allerdings die Vorzüge des heutigen Telephons noch nicht besaß, und zum Schluß die Bemerkung, daß der Mechaniker Wilhelm Albert in Frankfurt am Main das Instrument zu einem billigen Preise etwaigen Liebhabern überlasse.

Somit war das Telephon von Philipp Reis sogar im Handel zu beziehen, es blieb aber unbeachtet und wurde sogar vergessen, bis ein praktischer Amerikaner, A. G. Bell, es „zum zweiten Male“ erfand. Demselben wurde in letzter Zeit das von ihm in Anspruch genommene Erfinderrecht auch in Amerika streitig gemacht. Hervorheben möchten wir noch, daß der oben erwähnte Artikel der „Gartenlaube“ von der Tagespresse als wichtiges Beweisstück gegen Bell angeführt wird, indem man mit Recht betont, daß eine Erfindung, die durch ein so weit verbreitetes Blatt veröffentlicht wurde, unmöglich den Charakter eines für einen kleineren Bekanntenkreis bestimmten Experimentes tragen könne. *     

Das Lick-Observatorium auf dem Hamilton-Berge in Kalifornien. Das ferne Kalifornien wird demnächst den Ruhm haben, das größte und mächtigste Fernrohr der Welt zu besitzen, und zwar gleichzeitig mit einer Sternwarte, welche die besteingerichtete und bestgelegene auf dem ganzen Erdballe ist. Alles dies auf Kosten eines einzigen Mannes, des inzwischen verstorbenen James Lick, der für die Errichtung dieser Sternwarte die ungeheure Summe von 700000 Dollars, also fast 3 Millionen Mark spendete. Lick war von Herkunft ein Deutscher, da er 1796 in Pennsylvanien von deutschen Eltern geboren wurde. Als armer Junge kam er nach Philadelphia zu einem Klaviermacher in die Lehre. Das Glück war ihm hier jedoch nicht günstig, er wandte sich deßhalb nach Buenos Ayres, wo es ihm durch Fleiß und Tüchtigkeit gelang, im Laufe vieler Jahre etwa 45000 Dollars zu erwerben. Mit dieser Summe zog er 1847 nach Kalifornien, kaufte sich auf dem Grund und Boden der heutigen Stadt San-Francisko an und wurde durch die riesenhafte Entwickelung der letzteren und das ungeheure Steigen der Bodenpreise rasch zu einem der reichsten Leute am Pacific. Sein Interesse für die Sternkunde datirt von vielen Jahren her, und er wußte sehr genau, daß es für die Weiterentwickelung dieser Wissenschaft wichtig sei, eine Sternwarte auf hohem Berge zu besitzen, wo die Luft so ruhig und klar ist, daß die größten Fernrohre ihre volle optische Kraft bewähren können. Es dauerte lange, ehe man einen solchen Berg, der dazu von menschlichen Ansiedlungen nicht allzuweit entfernt lag, auffand. Zuletzt entschied man sich für den Mount Hamilton, 4500 Fuß hoch, 50 englische Meilen südöstlich von San-Francisko gelegen und 13 Meilen von San José. Die Luft ist hier ebenso klar und durchsichtig wie in der benachbarten Sierra Nevada, wo einst Professor Davidson ein im Sonnenlicht blinkendes Spiegelchen von 5 Zoll Durchmesser aus einer Entfernung von 175 englischen Meilen mit bloßem Auge zu sehen vermochte. Nachdem der Berg zur Errichtung der Sternwarte gefunden war, handelte es sich um Beschaffung eines großen Fernrohrs, nach der Bestimmung von Lick des größten Refraktors, der überhaupt hergestellt werden könne. Es zeigte sich bald, daß der Platz für das Observatorium und selbst das Geld dafür leichter beschafft waren, als das Fernrohr, ja als die Rohglasscheiben dazu. Nach sehr langen Bemühungen gelang es endlich, zwei geeignete Glasscheiben von 38 Zoll Durchmesser herzustellen, und der berühmte Optiker Alvan Clark in Cambridgeport erklärte sie für tauglich, um daraus ein Objectiv zu schneiden und zu schleifen, lehnte jedoch im Voraus eine Verantwortung für das Gelingen der Arbeit ab. Den neuesten Nachrichten zufolge ist jedoch das Unternehmen völlig gelungen, und die Sternwarte auf Mount Hamilton wird demnächst in den Besitz eines Riesenrefraktors von 3 Fuß Durchmesser der Linse und 50 Fuß Länge treten. Dieses Instrument, dessen Gesammtkosten sich auf etwa eine halbe Million Mark berechnen, wird nun das mächtigste Sehwerkzeug sein, welches jemals aus Menschenhand hervorging. Niemand vermag vorauszusagen, welche neue Entdeckungen damit in der reinen Luft jener Höhen, auf denen es Platz findet, gemacht werden. Nur so viel weiß man, daß an der Stelle, wo es aufgerichtet wird, kleinere Instrumente so starke Vergrößerungen anzuwenden erlauben, wie nirgendwo an andern Orten.

Nach David Todd’s Meinung ist es wahrscheinlich, daß jenes neue Riesenteleskop in besonders günstigen Nächten die Anwendung einer 3500-fachen Vergrößerung gestatten wird. Diese übertrifft so sehr alle bis jetzt gebräuchlichen, daß man sich von ihrer Wirkung keine rechte Vorstellung machen kann. Die nächste Frage ist immer: Wie wird sich bei einer solchen Vergrößerung der Mond darstellen? Was wird man dann auf dessen Oberfläche sehen? Todd sagt, daß der Mond, der sich nahezu 50000 Meilen von uns entfernt befindet, durch dieses Fernrohr bei jener Vergrößerung bis auf 20 Meilen unserm Gesichtskreise nahe gerückt werde. Wenn man einen Punkt seiner Oberfläche, der gut von der Sonne beleuchtet wird, betrachtet, so wird man alsdann genügend deutlich Objekte derselben erkennen können, welche unsere größten irdischen Gebäude nicht an Ausdehnung übertreffen. Diese Erwartungen sind durchaus nicht zu groß, denn mit schon viel kleineren Instrumenten kann man bei sonst günstigen Umständen Gegenstände auf der Mondoberfläche wenigstens als schwirrende Pünktchen erkennen, die 500 Fuß Durchmesser haben. Man mag hiernach ermessen, was nach dieser Richtung hin noch zu hoffen ist. Nur muß man nicht wähnen, der Beobachter brauche bloß sein Auge ans Fernrohr zu bringen, um dann ohne weiteres Großartiges zu entdecken, vielmehr gilt auch hier der Satz: „Ohne Fleiß und Schweiß kein Preis!“ K. 


Blätter und Blüthen.

Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus der 1. Beilage zu Nr. 5.)[WS 1]

46) Der Klempnergeselle Otto Ludwig Behr, geb. 27. August 1859 zu Altenberg in Sachsen, sandte die letzte Nachricht aus Kopenhagen 5. April 1883 und ist seitdem spurlos verschollen. Die tiefbetrübte alte Mutter bittet dringend um irgend eine Nachricht über ihren Sohn.

47) Der zu Windhausen in Braunschweig am 23. Oktober 1848 geborene Theodor August Armbrecht ist als Schiffsmann am 18. März 1868 auf dem britischen Schiffe „Willy of Salcombe“ zu Hamburg angemustert und bereits am 4. August desselben Jahres in London abgemustert. Seitdem fehlt jede Nachricht über ihn.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zum Anschluss an „Vermißte (Die Gartenlaube 1885)“ müsste diese „1. Beilage zu Nr. 5.“ die lfd. Nummern 15 bis 45 umfassen. Sie liegt aber nicht vor.

[255] 48) Der Bäcker Johann Gottfried Hammer, zu Klein-Böhlitz bei Mutzschen am 25. Mai 1830 geboren, betrieb in den siebziger Jahren in den russischen Süd-Gouvernements Handelsgeschäfte und hat seit seinem letzten Briefe aus Simferopol (1876) nichts mehr von sich hören lassen.

49) Der Steuermann August Friedrich Wilhelm Brandshagen, am 20. Febr. 1849 zu Uckermünde geboren, ist am 4. April 1882 mit dem Dampfschiff „Aetna“ der Sloman’schen Linie als zweiter Officier nach Melbourne gefahren, trieb dann als Steuermann und als Kapitän auf verschiedenen Schiffen in Australien Küstenschifffahrt und ging zuletzt als Steuermann auf dem italienischen Schiffe „Elvetico“ von Melbourne nach Mauritius, von wo sein letzter Brief (1. Januar 1884) datirt. Seine tiefbetrübte Frau bittet um Nachricht über ihn oder ein Lebenszeichen von ihm.

50) Der Kaufmann Karl Hermann Heinig, 22. Decbr. 1835 in Reichenbach i. Voigtl. geboren, verließ 1867 seine Heimath, um – vermuthlich – nach Südamerika zu gehen. Sein Bruder ist seitdem ohne jede Nachricht.

51) Heinrich Teltschik, Sohn des Erbrichters Heinrich Teltschik, geboren am 20. Januar 1826 in Zauchtel in Mähren, gab aus Budapest im Herbst 1867 die letzte Nachricht von sich und ist seitdem spurlos verschollen. Sein Bruder vermuthet ihn auf Reisen in der Türkei, Afrika oder Amerika.

52) Seit 16 Jahren hat der Metalldreher Johann August Gustav Bernau, geb. 18. Septbr. 1846 zu Roßlau a. d. Elbe, seine Mutter ohne jede Nachricht gelassen. Er war zuletzt in Meißen, vorher in Eylau bei Sprottau beschäftigt.

53) Gustav Adolf Kaden, geb. 7. April 1821 zu Pfeilhammermühle bei Schwarzenberg im Erzgebirge, ging 1843 als Gürtlergesell auf die Wanderschaft und gab 1845 von Kronstadt in Siebenbürgen aus durch einen heimkehrenden Bekannten die letzte mündliche Nachricht, daß er nach Konstantinopel und wenn möglich nach Kleinasien wandern wolle. Seitdem fehlt jede Spur von ihm.

54) Vor etwa zehn Jahren arbeitete der Stellmacher und Wagenbauer Karl Tabat, geb. 2. Juni 1845 in Prämnitz, Prov. Posen, an verschiedenen Orten der Provinz Posen, unter andern auch in Glofno-Putwitz. 1878 ging er nach Berlin, um von dort nach Amerika auszuwandern, und ist seitdem verschollen.

55) Der Malergehilfe Karl August Rudolf Marx, geb. 29. Oktober 1838 in Wohlau, Reg.-Bez. Breslau, ging im Jahre 1856 von Liegnitz aus in die Fremde, gab acht Wochen später Nachricht von Magdeburg und hat seit dieser Zeit nichts wieder von sich hören lassen.

56) Johann Scharnagel, geb. 1. November 1861 in Voitersreuth bei Wildstein, wurde nach seiner Angabe im Oktober 1877 zum k. k. österreichischen Marinedienst einberufen und gab vom Transporthause in Wien seine letzte Nachricht unter der Adresse seines Freundes Josef Lindner in Wien Stadt A. S. poste restante.

57) Seit 17 Jahren ist der Landmann Karl Jochen Wegner, geboren 26. Mai 1824 in Wobbelkow bei Barth in Pommern, verschollen; er war zuletzt in Südrußland in der Nähe des Asow’schen Meeres wohnhaft.

58) Albin Köhler, geb. 15. Oktober 1860 zu Hörselgau im Herzogthum Gotha, trat, nachdem er als Schlosser seine Lehrzeit beendet hatte, ohne die Zustimmung seiner Eltern bei dem Uhrmacher Hermann Köhler in Holzminden im März 1879 in die Lehre, aus der er sich jedoch bereits 30 Tage später heimlich entfernte. Seitdem ist er spurlos verschwunden, und seine so schwer heimgesuchten Eltern bitten dringend um Nachrichten über den geliebten Sohn.

59) Heinrich Anton Strobel, Weber und Markthelfer, geb. 15. April 1847 zu Eschenbach bei Schöneck i. V., zog am 29. Oktober 1877 von Dresden nach Berlin und ist seitdem verschollen.

60) Gustav Klotzsch, geb. 30. September 1850 zu Vockerode bei Dessau, wurde als angeworbener Soldat im April 1874 mit dem Dampfer „Conrad“ von Holland nach Batavia befördert und hat seitdem kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben; eingeschrieben war er in den betr. Listen unter Nr. 71 752.

61) Der Sattler und nachherige Kellner Adolf Otto Kowald, am 2. September 1863 zu Meseritz in der Prov. Posen geboren, reiste im Jahre 1882 nach Melbourne, von wo aus er seinen letzten Brief am 7. Oktober 1882 an seine Angehörigen schrieb.

62) Gesucht wird anläßlich einer ihm zugefallenen Erbschaft Camillo von Bredow, geb. in Steyr, Ober-Oesterreich, am 6. Januar 1842, verschollen seit 1872, in welchem Jahre er vermuthlich von Hamburg, seinem letzten bekannten Aufenthaltsorte, nach Amerika übersiedelte.

63) Der Matrose Karl Heinrich Robert Stübner, geb. 26. Juli 1862 zu Forst i. d. Lausitz, ging in seinem 16. Jahre zur See. Nachdem er 3 Jahre auf Segelschiffen gefahren, kehrte er nach Forst zurück, ging aber nach einigen Wochen, im Januar 1881, wieder zu Schiffe. Im Juli desselben Jahres schrieb er von Rio de Janeiro, daß er an Bord der „Clara Maria“ gegangen sei und daß es ihm dort sehr gut gefiele. Seit dieser Zeit fehlt jede Nachricht.

64) Eine trostlose alte Mutter sucht ihren Sohn. Derselbe, Karl Thomas Hundterisser, geb. 15. December 1849 zu Münnerstedt bei Kissingen, ging Ende August 1869 nach Hamburg, um als Matrose neue Heuer zu suchen. Von dort schrieb er im September des genannten Jahres, daß er mit dem Schiffe „Borventia“, Kapitän Fock, eine längere Seereise nach Norwegen, Schweden und Mexiko antreten wolle, und seitdem ist kein Lebenszeichen von ihm mehr eingetroffen.

65) Heinrich Ingobert Ettmüller, geb. 1. September 1845 zu Unterstraß, Zürich, ward nach längerem Aufenthalt in Stuttgart, wo er sich litterarisch beschäftigte, Lieutenant in der schweizerischen Armee und stand während der Kriegszeit 1871 bei der Grenzbefestigung von Pontarliers. Später trat er in karlistische Dienste und wurde hier Hauptmann. Zuletzt soll er sich an einem Exporthaus in Paris, welches Handel in Algier trieb, als Associé betheiligt und unter dem Namen Baron von Möllerstein, Rue de l’Arcade, gewohnt haben. Ein Brief seines Bruders vom Jahre 1877 kam mit dem Bemerken „Abgereist, Adresse unbekannt“ als unbestellbar zurück. Sein Bruder bittet dringend um Nachricht.

66) Seit 1876, als er von Düsseldorf aus seine weitere Wanderschaft antrat, ist der Tischlergesell Gustav Hermann Geißler, geb. 7. April 1839 in Bautzen, verschollen.

Der zerstreute Frosch. Nach dem Oelgemälde von C. Reichert.
Photographie im Verlage von V. A. Heck in Wien.

Speisung der Truppen auf dem Tempelhofer Felde bei Berlin. (Mit Illustration S. 249.) Die Verpflegung der heutigen Massenheere ist eine der schwierigsten Fragen moderner Kriegsführung, ein großes Räthsel, dessen Lösung sich allein von Fall zu Fall finden läßt. Unsere Erfahrungen von 1870 und 1871 sind nur einseitiger Natur, denn der Feldzug gegen Frankreich wurde in einem durchschnittlich sehr reichen Lande geführt, dessen Hilfsmittel wir voll auszunutzen Gelegenheit hatten – sind wir aber einst gezwungen, unser Heer in weniger ergiebige Gegenden zu führen, so werden nur die umfassendsten Maßregeln das Bedürfniß des nimmersatten Riesen befriedigen können, eine ausgedehnte Anlage von Magazinen wird mit der sorgfältigsten Ausnutzung der Eisenbahnen, dieser Lebensadern unserer Heere, Hand in Hand gehen müssen. Der Laie vermag sich nur schwer eine Vorstellung von den ungeheuren Mengen von Nahrungsmitteln zu machen, deren eine Armee täglich bedarf. Für die Paris cernirenden deutschen Korps in einer ungefähren Stärke von 200 000 Mann mußten pro Tag 215 000 Portionen sicher gestellt werden, welche allein an Brot und Fleisch ein Gewicht von rund 300 000 Kilogramm repräsentirten, während sich das Gewicht der täglichen Fourage für die zugehörenden 30 000 Pferde etwa auf 400 000 Kilogramm berechnen läßt.

Eine große Hilfe für die Armee-Verwaltung werden in Zukunft zweifellos die Konserven bilden und das um so mehr, als sie bei dem Transport einen verhältnißmäßig kleinen Raum einnehmen. Sie werden sich namentlich bei der Koncentration großer Truppenmassen auf beschränkten Raum nützlich erweisen, wie z. B. während des strategischen Aufmarsches der Armee oder kurz vor entscheidenden Schlägen, wo die Verpflegung mit frischem Fleisch und frischem Brot häufig geradezu unmöglich wird. Aber die Konserven werden stets nur eine Aushilfe bilden können, da bei länger dauerndem Genuß derselben sich schließlich bei den Soldaten eine unüberwindliche Abneigung gegen diese Art von Verpflegung einstellt und die Rückkehr zu einer anderen Nahrung zur unabweislichen Nothwendigkeit wird.

Abgesehen von der Schwierigkeit der Beschaffung der Subsistenzmitel für die Armee im Felde, spielt jedoch auch deren Zubereitung eine wesentliche Rolle. Im Allgemeinen ist ja der Soldat sich selbst der beste Koch; [256] manche unserer Braven bringen es im Lauf eines Feldzugs zu einem Raffinement, um das jede Hausfrau sie beneiden könnte, und ich erinnere mich noch mit Vergnügen der zahllosen Variationen, durch die mein Bursche mir vor Paris den „ewigen Hammel“ genießbar zu machen wußte. Aber es giebt im Kriege auch häufig Situationen, in denen die Zeit fehlt, dem Soldaten die Zubereitung der ihm gelieferten Lebensmittel zu überlassen. Bei Bahntransporten z. B. ist dies stets unmöglich, und gerade hier stößt die ausgiebige, rechtzeitige Speisung der Truppen durch die schnelle Aufeinanderfolge der Züge und die mangelhafte Vorbereitung der Stationen oft auf erhebliche Schwierigkeiten. Auf einer zweigleisigen Bahn können z. B. die Züge in der Zwischenzeit von kaum 30 Minuten auf einander folgen; jeder Zug führt der Verpflegungsstation ein kriegsstarkes Bataillon, das heißt tausend hungriger Magen zu, und es ist ohne Weiteres einleuchtend, daß deren Befriedigung innerhalb des knapp bemessenen Aufenthalts keine leichte Sache ist. Auch hier heißt es: Probiren geht über Studiren; es haben daher im Laufe dieses Winters auf dem Tempelhofer Felde bei Berlin umfassende Versuche mit provisorischen Feldkücheneinrichtungen stattgefunden – Versuche, aus denen unser Künstler mit frischem Griffel einige packende Momente herauszugreifen gewußt hat. Rechts oben giebt er die Feldküche wieder mit ihren brodelnden Kesseln, dem mächtigen Küchentisch und dem emsig hantirenden Personal, unten die Speisung der Mannschaft selbst in unmittelbarer Nähe der zusammengesetzten Gewehre. Selbst der „Posten vor Gewehr“ fehlt nicht; mit sicher erheuchelter Gleichgültigkeit wendet er den schmausenden Kameraden den Rücken zu: sollte der Grenadier vielleicht gar bei dieser passenden Gelegenheit eine kleine „Strafwache“ absolviren? Nun, auch sie geht vorüber, und seine Portion ist ihm nicht verloren – ihm und allen den frischen Burschen aber möchte man herzlich zurufen: „Guten Appetit!“ x.     

Ein Späßchen. (Mit Illustration S. 240 und 241.) Es ist Sonntag; der Kronenwirth steht vor der Thür der Wirthsstube, in Hemdsärmeln, die Hände in den Taschen guckt er die feierlich stille Gasse entlang. Da kommen einige Bursche singend und johlend des Wegs daher, und der Kronenwirth denkt laut: „Jetzt, wo werde die einkehre? – Aber,“ unterbricht er seinen Gedankengang, „isch des nit bi Gott, er isch’s – Korle, he, Korle. was bringt Di schon Heim?“

Die Bursche kommen näher, sie lachen und schreien alle durch einander; der aber, der jetzt dem Kronenwirth die Hand zum Grüß Gott hinstreckt, der sauberste von allen, sagt statt jeder Antwort: „Wo isch se?“

Aber der Alt’ schüttelt den Kopf: „A biwahr, a biwahr, was Di heim bringt, Herr Soldat – drei Johr sin no nit um –“

„I bin halt Dispositions-Urlauber,“ entgegnet der Bursche, thut einen lauten Juchzer und wiederholt, den Kopf zur Thür hinein streckend: „Wo isch se?“

„Wart – wart – wart ä bisle,“ schreit der Kronenwirth und fährt in seinen weißen Rock und setzt den Dreimaster auf, „se sin alle drübe bi der Aeltscht – ’s isch jo der Xaverle ihr Geburtstag –“

Damit rennen sie mit einander über die Gasse, der Alt’ und der Bursche sich fortwährend den Vorrang ablaufend, die Andern vergnügt schwatzend hinter drein.

Am Haus der „Aeltscht“, vor der Stubenthür giebt aber der Kronenwirth dem ungestüm drängenden Burschen einen Stoß: „Nur z’ruck bliebe – z’erscht kumm i, i bin der Vadder –“ Und sachte öffnet er die Thür – da sitzen sie beim Kaffee, das Xaverle mit dem Rücken gegen die Eintretenden – schnell springt der Alt’ auf das sich eben umwendende Mädel zu, schließt ihr die Augen und schreit ihr in die Ohren: „Nu roth’, wer kummt?“ Der Bursch bleibt unter der Thür, er will dem Alten den Spaß nicht verderben, und so steht er, schaut seinen Schatz an und lacht mit dem ganzen Gesicht, die sich neugierig vordrängenden Kameraden zurück haltend. Die „Aeltscht“ und ihr Mann sagen kein Wort, sind von Herzen vergnügt über das Ereigniß – nur des Kronenwirths Jüngste, die grad das Brot anschneidet, schaut bald ein bisle überrascht nach dem Alten, bald ein bisle zaghaft nach den lustigen Burschengesichtern.

Aber der „Vadder“ haltet auch das Xaverle gar so lang fest – schon eine ganze Weil ist’s her, daß sie „Jesus Maria“ geschrien hat – nun aber lacht sie – und wie lacht sie! Denn, wenn sie ihn auch nicht sieht, den Burschen an der Thür – sie fühlt’s: er isch’s – er isch’s!H. Villinger.     

Eine dramatische Dichtung von Ernst Scherenberg. Ernst Scherenberg, unseren Lesern seit vielen Jahren als Lyriker wohlbekannt, bereitete uns vor Kurzem eine litterarische Ueberraschung, indem er unter dem Titel „Germania“ (Verlag von Baedeker in Elberfeld) eine dramatische Dichtung veröffentlichte. Ein überaus warmer idealer Zug weht durch dieses meisterhaft komponirte Werk.

In einer verwüsteten Landschaft aus der Zeit gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges sitzt trauernd die Idealgestalt Germania, welcher der Genius der Geschichte erscheint, um die Muthlose zu stärken und ihr durch die Genien der Freiheit, Macht, Kunst, Wissenschaft, des Reichthums und des Glaubens den richtigen Weg zur Erhebung zu weisen. Das Wirken dieser Mächte auf die Geschicke der Völker wird in drei glanzvollen Bildern dargestellt: Auf dem Kampfplatz von Olympia erscheinen Gestalten aus dem Zeitalter des Perikles, in welchem die Freiheit und die Kunst der Hellenen zur höchsten Blüthe gelangten; im goldenen Palast des Kaisers Nero spiegelt sich der sinnberückende Einfluß von Macht und Reichthum auf das weltbeherrschende Rom; und in den Wunderhallen der Alhambra schauen wir den letzten Maurenkönig von Granada, welcher dem Glauben und der Wissenschaft den Emporgang und den Fall seines Reiches verdankte. Trotz des blendenden Glanzes, der aus den drei Scenen uns entgegenstrahlt, bemerkt man in allen schon den Keim des Unterganges, welcher die hier auftretenden Völker und Reiche bedroht. Die einzelnen Genien streiten um die Palme. Alle wollen sie als die einzigen Beglücker der Nationen gelten. Aber Germania spricht in überzeugenden Worten aus, daß nur ihre Gesammtwirkung dauernd ein Volk zu heben vermag, und empfängt den Segen sämmtlicher Genien.

Die Dichtung schließt mit einer Prophezeiung auf Deutschlands künftige Größe und einer Vision des neuen Kaiserreichs.

Trotz der Kürze der einzelnen Bilder ist es Scherenberg gelungen, die leitenden Gedanken mit außerordentlicher Klarheit und poetischer Schönheit durchzuführen, sodaß diese Dichtung, die uns als Buch ungemein fesselt und anregt, auch auf der Bühne sicher eine große Wirkung erzielen würde. Wir feiern so gern nationale Jubiläen; in unserer Litteratur dürften sich nur wenige Werke aufweisen lassen, welche bei derartigen Anlässen wegen ihrer patriotischen Tendenz und poetischen Schönheit sich so zu glanzvollen Festvorstellungen eigneten, wie Scherenberg’s „Germania“. *     

Winter-Ausflüge. Zur Ergänzung unserer S. 200 veröffentlichten Notiz über die Winter-Ausflüge der Sektion Wienerwald des Oesterreichischen Touristenklubs wird uns Folgendes geschrieben:

Schon seit 1868 unternimmt der Taunus-Klub Frankfurt am Main Gesammt-Ausflüge während der Winterzeit. Der Klub ward am ersten Sonntage im Januar des genannten Jahres auf dem Großen Feldberge 881 Meter überm Meere inmitten von Schnee und Eis in dem damals noch kleinen Bergwirthshause gegründet. Seit dieser Zeit wurden jeden ersten Sonntag im Januar und am letzten Freitag im November, mochte das Wetter sein wie es wollte, Ausflüge auf die höchsten Spitzen des Taunus veranstaltet. Diese Touren fanden solchen Anklang, trotzdem der Schnee um diese Zeit meistens 50 bis 70 Centimeter hoch liegt, daß nun seit drei Jahren auch im Februar und März ähnliche Ausflüge ausgeführt werden, woran sich durchschnittlich 50 bis 70 Personen, darunter dann und wann auch Damen, betheiligen. Zu den Januartouren kommen auch die Genossen der Taunus-Klubs Wiesbaden, Idstein und Schmitten, theilweise aus einer Entfernuug von vier bis fünf Stunden, zu Fuß herbei. Im Feldberghause wird ein gemeinsames Mittagsmahl eingenommen, bei dem ein köstlicher Humor herrscht. Ueberhaupt ist die Stimmung bei den winterlichen Ausflügen stets animirter als sonst zu anderer Jahreszeit. J. A. F.     

Die Ausnützung der Ebbe und Fluth. Seit Jahrzehnten beschäftigt die Ingenieure lebhaft das Problem, die durch Ebbe und Fluth veranlaßten periodischen Bewegungen der Meereswogen als Kraftquelle für technische Zwecke zu verwerthen. Die Lösung dieser Aufgabe scheint im kleineren Maßstabe Herrn Le Dantée gelungen zu sein, der eine Maschine durch Meereswogen in Bewegung setzen lassen will, um mit Hilfe derselben die Leuchtthürme mit elektrischem Licht zu versorgen.*     

Auflösung der Geometrischen Komponir-Aufgabe auf Seite 236:


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

D. K. in E. Sie werden die gewünschte Aufklärung am besten in dem bezüglichen Werke von Professor Dr. Herman Semmig: „Die Jungfrau von Orleans und ihre Zeitgenossen“ (Leipzig, 1885) finden können. Die Arbeit ist eine außerordentlich tüchtige und verbindet mit Zuverlässigkeit der Daten eine ansprechende, fesselnde Darstellung. Hervorragende Bedeutung sichern diesem Werke die neuen Resultate der geschichtlichen Forschung, namentlich über Agnes Sorel. Der Verfasser hat alle seine Nachforschungen über die Person und die Schicksale der „Jungfrau“ an Ort und Stelle ihrer Erlebnisse gemacht. Urtheile aus Paris gestehen, daß dieses Werk selbst für Franzosen viel durchaus Neues enthalte.

A. L. in Wien. Eines der besten Bismarck-Portraits ist der im Verlage von Riefbold u. Comp. in Berlin erschienene Aquarelldruck von Gustav Kirmse. Sowohl in Betreff der Aehnlichkeit als der künstlerischen Ausführung verdienst dieses Bild das uneingeschränkte Lob. Gustav Kirmse hat schon früher durch seine trefflichen farbigen Reproduktionen der Madonnen der Dresdener Galerie (Sixtina und Murillo-Madonna) die Aufmerksamkeit der Kunstkreise auf sich gelenkt.

„Dornröschen in Cöslin“. Besten Dank. Leider nicht geeignet.


Inhalt: Die Lora-Nixe. Novelle von Stefanie Keyser. S. 237. – Ein Zukunftsmusiker. Illustration. S. 237. – Wie erhält man dem Kinde einen gesunden Knochenbau? Von Sanitätsrath Dr. L. Fürst (Leipzig). S. 242. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 245. – Die Andere. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 250. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit: Der Erfinder des Telephons. Mit Abbildung. Das Lick-Observatorium. S. 254. – Blätter und Blüthen: Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus der 1. Beilage zu Nr. 5.) S. 254. – Der zerstreute Frosch. Illustration. S. 255. – Speisung der Truppen auf dem Tempelhofer Felde bei Berlin. S. 255. Mit Illustration S. 249. – Ein Späßchen. Von H. Villinger. S. 256. Mit Illustration S. 240 und 241. – Eine dramatische Dichtung von Ernst Scherenberg. – Winter-Ausflüge. – Die Ausnützung der Ebbe und Fluth. – Auflösung der Geometrischen Komponir-Aufgabe auf S. 236. – Kleiner Briefkasten. S. 256.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)