Die Gartenlaube (1886)/Heft 30

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[517]

No. 30.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Michael stand vor dem Manne, den er nur ein einziges Mal vor zehn Jahren gesehen hatte und dessen Bild doch unauslöschlich in seiner Erinnerung stand, denn es verband sich mit einer der herbsten Erfahrungen seines Lebens.

Graf Michael Steinrück hatte jetzt bereits die Siebzig überschritten, aber er war eine jener Naturen, an die sich das Alter nicht zu wagen scheint, und die Jahre, die sonst unerbittlich den Verfall zu bringen pflegen, fanden ihn noch aufrecht und ungebeugt, wie einst in seiner vollen Manneskraft. Haar und Bart waren weiß geworden, das war aber auch die einzige Veränderung des letzten Jahrzehntes. Die stolzen, energischen Züge hatten sich kaum etwas tiefer gefurcht, die Augen blickten noch scharf und feurig, und es war auch noch die alte gebietende Haltung, die in jeder Bewegung die Gewohnheit des Befehlens verrieth. Diese stählerne und durch körperliche und geistige Anstrengungen aller Art gehärtete Natur bewahrte sich noch im Greisenalter eine Lebenskraft, um welche sie ein Jüngling hätte beneiden können.

Der General musterte scharf und prüfend den jungen Officier, aber die Prüfung fiel offenbar günstig aus. Er liebte bei der militärischen Jugend diese männlich kraftvolle Erscheinung, diese ernste Ruhe, die auch auf geistige Disciplin deutete, und er eröffnete das Gespräch mit mehr Wohlwollen, als sonst in seiner Art lag.

„Oberst Reval hat Sie mir warm empfohlen, Lieutenant Rodenberg, und ich gebe viel auf sein Urtheil. Sie sind sein Adjutant gewesen?“

„Zu Befehl, Excellenz.“

Steinrück wurde aufmerksam, es lag für ihn etwas Bekanntes in dieser Stimme, als habe er sie schon einmal gehört, und doch war es ihm eine ganz fremde Erscheinung. Er begann von militärischen Angelegenheiten zu sprechen und stellte dabei häufige Fragen nach den verschiedensten Richtungen hin, aber Michael bestand das scharfe Examen, das in Gesprächsform über ihn verhängt wurde, zur vollen Zufriedenheit. Seine Antworten klangen allerdings einsilbig, nicht ein Wort mehr, als unbedingt nothwendig erschien, aber sie waren knapp, klar und unbedingt zutreffend, ganz im Geschmack des Generals, der sich immer mehr überzeugte, daß der Oberst ihm nicht zu viel gesagt hatte. Graf Steinrück war in der That gefürchtet wegen seiner eisernen Strenge, aber er war ebenso gerecht, wo ihm

Luitpold, Prinzregent von Bayern.
Nach der Büste von Prof. Chr. Roth in München.

[518] Verdienst oder Talent entgegentrat, und diesem jungen Offieier gegenüber, der sich zweifellos als einer der Tüchtigsten erwiesen hatte, ließ er sich sogar zu einem Lobe herab.

„Die große Laufbahn ist Ihnen nunmehr geöffnet,“ sagte er am Schlusse der Unterredung. „Sie stehen auf der ersten Stufe, und das Emporsteigen ist in Ihre Hand gegeben. Wie ich höre, haben Sie sich schon in sehr jugendlichem Alter im Felde ausgezeichnet, und Ihre jüngste Arbeit beweist, daß Sie noch mehr können, als nur mit dem Schwerte dreinschlagen. Es soll mich freuen, wenn sich die Hoffnungen, die Sie daran knüpfen, dereinst erfüllen, wir können jungen kräftigen Nachwuchs brauchen. Ich werde mich Ihrer erinnern, Lieutenant Rodenberg – wie ist Ihr Vorname?“

„Michael!“

Der General stutzte bei diesem ungewöhnlichen Namen, ein seltsamer, ein unmöglicher Gedanke blitzte in ihm auf, freilich nur, um im nächsten Augenblick schon wieder verworfen zu werden, aber er musterte noch einmal scharf die Züge des vor ihm Stehenden.

„Sie sind ein Sohn des Oberst Rodenberg, der in W. kvmmandirt?“

„Nein, Excellenz.“

„Aber doch mit ihm verwandt?“

„Auch das nicht. Ich kenne weder den Oberst noch seine Familie.“

Jetzt flog ein jähes Erbleichen über das Antlitz Steinrück’s, und er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Und welchem Berufe gehört Ihr Vater an?“

„Mein Vater ist todt, schon seit Jahren.“

„Und die Mutter?“

„Gleichfalls.“

Es folgte eine sekundenlange Pause, die Augen des Grafen bohrten sich förmlich in das Gesicht des jungen Offiziers, endlich fragte er langsam:

„Und wo – wo haben Sie Ihre Jugendzeit verlebt?“

„Auf einer Försterei in der Nähe von Sankt Michael.“

Der General zuckte zusammen, die Entdeckung, die er freilich während der letzten Minuten geahnt hatte, traf ihn dennoch wie ein Schlag.

„Du bist es? – Unmöglich!“ stieß er halblaut hervor.

„Excellenz befehlen?“ fragte Michael in eisigem Tone. Er stand unbeweglich da, in streng dienstlicher Haltung, nur seine Augen flammten, und jetzt erkannte Steinrück auch diese Augen wieder. Er hatte sie schon einmal so wildflammend gesehen, als er dem Knaben jenen unverdienten Schimpf angethan, sie hatten genau denselben Ausdruck wie damals.

Aber Graf Michael verlor selbst nicht in einem solchen Augenblick die Haltung. Schon in der nächsten Minute hatte er sich gefaßt und stand da in der alten gebietenden Weise.

„Gleichviel! Die Vergangenheit mag abgethan sein, und ich sehe den Lieutenant Rodenberg heut zum ersten Male. Ich nehme weder das Lob zurück, das ich Ihnen ertheilte, noch die Hoffnungen, die ich hinsichtlich Ihrer Zukunft aussprach. Sie dürfen nach wie vor auf mein Wohlwollen rechnen.“

„Ich danke, Excellenz,“ unterbrach ihn Michael mit schneidendem Ton. „Es genügt mir, aus Ihren, eigenen Munde zu hören, daß ich denn doch noch zu irgend etwas in der Welt tauge. Ich habe allein meinen Weg gefunden und werde ihn auch allein weiter gehen.“

Auf der Stirn des Generals stieg eine Wetterwolke empor.

Er wollte großmüthig vergessen und glaubte mit seiner widerwilligen Anerkennung etwas Ungeheures zu thun, und jetzt wurde Beides in der schroffsten Form zurückgewiesen.

„Sehr hochmüthig!“ sagte er in einem beinahe drohenden Tone. „Sie thäten besser, diesen unbändigen Stolz zu zügeln. Es ist Ihnen einmal Unrecht geschehen, und das mag Ihre Antwort entschuldigen, ich will sie nicht gehört haben. Sie werden sich jedenfalls eines Besseren besinnen.“

„Haben Excellenz noch Befehle für mich?“ fragte Michael kalt.

„Nein!“

Ein zorniger Blick traf den jungen Offieier, der es wagte, sich selbst zu verabschieden, ohne die Entlassung abzuwarten, aber Michael schien jenes Nein dafür zu nehmen, er grüßte militärisch, wandte sich um und schritt davon.

Stumm nud finster blickte ihm der General nach. Er konnte sich noch immer nicht in das finden, was er doch vor Augen sah. Es war ihm freilich damals gemeldet worden, daß der „mißrathene Bube“ seinem Pflegevater entlaufen und nicht wieder zurückgekehrt sei, wahrscheinlich aus Furcht vor Strafe. Er hatte es nicht der Mühe werth gehalten, Nachforschungen nach dem Entflohenen anzustellen: wenn der Bube verschwunden blieb, um so besser, dann war man ihn los, und mit ihm die letzte Erinnerung an ein Familiendrama, das begraben bleiben sollte um jeden Preis; er war ja stets im Wege gewesen. Wohl drohte bisweilen wie ein dunkler Schatten die Befürchtung, der Verschwundene könne dereinst aus Schande und Elend wieder auftauchen und seine verwandtschaftlichen Beziehungen, die sich doch nun einmal nicht ableugnen ließen, zu Erpressungen benutzen, aber man war mit seinem Vater fertig geworden, als dieser Aehnliches versuchte, man würde auch mit ihm fertig werden. Graf Michael war nicht der Mann, sich vor Schatten zu fürchten.

Und jetzt tauchte der Verschwundene in der That wieder auf, aber auf demselben Boden, wo die gräflich Steinrück’sche Familie verkehrte, jetzt wurde er genannt, als Einer von denen, die dereinst emporsteigen werden, ohne fremde Hilfe durch eigene Kraft, und jetzt wagte er es, die Protektion zurückzuweisen, die man ihm bot, gezwungen und widerwillig genug, aber doch immerhin bot – sah es doch beinahe aus, als wolle er jetzt die Familie seiner Mutter verleugnen!

Auf der Stirn des Grafen lag noch die drohende Wolke, als er in die Gesellschaft zurückkehrte. Soeben erschienen auch Hertha und ihre Mutter wieder im Saale, und die junge Dame wurde sofort der Mittelpunkt des ganzen Kreises. Alles drängte sich um sie, Alles huldigte ihr, Hans Wehlau brach in einer förmlichen Kometenbahn durch den Salon, um in ihre Nähe zu gelangen, und selbst das finstere Antlitz Steinrück’s erhellte sich flüchtig, als er auf sein schönes Mündel blickte.

Nur Lieutenant Rodenberg schien den Eintritt der Damen nicht zu bemerken. Er stand abseits, im Gespräch mit einem alten Herrn, der ihm ein Langes und Breites von dem unfreundlichen Sommer dieses Jahres und dem schönen Herbste erzählte, und hörte anscheinend sehr aufmerksam zu. Aber sein Blick hing an jenem Bannkreise, dem er doch mit keinem Schritt nahte, so heiß und verlangend, wie vorhin an der Rose zu seinen Füßen, und als der Redselige ihn endlich verließ, murmelte er halblaut: „Der dumme Michel! Ich wollte, ich wäre es geblieben!“


Graf Michael Steinrück nahm in der Hauptstadt eine sehr eiuflußreiche Stellung ein. Im Beginn des letzten Feldzuges zum General ernannt, hatte er sich dort als einer der tüchtigsten und schneidigsten Führer bewiesen, und seine Stimme war von entscheidendem Gewicht in militärischen Dingen.

Der General hatte vor sechs Jahren seinen einzigen Sohn verloren, welcher der Gesandtschaft in Paris attachirt gewesen war, und seitdem lebten Schwiegertochter und Enkel in seinem Hause. Der Letztere hatte ursprünglich in die Armee treten sollen, auf Wunsch, oder vielmehr auf Befehl seines Großvaters, der entschlossen war, seinen Willen selbst gegen den Widerstand der Eltern durchzusetzen, trotzdem war es nicht dazu gekommen. Raoul, der in der That ein zarter Knabe war, kränkelte gerade in der Zeit, wo es sich um die Entscheidung über seine künftige Laufbahn handelte, in so bedenklicher Weise, daß die Aerzte einstimmig erklärten, er sei den Anstrengnngen der militärischen Laufbahn nicht gewachsen. Sie wiesen warnend auf das Brustübel des Vaters hin, das sich schon damals zeigte und dessen Keim in dem Sohne erwachen könne, wenn man ihn nicht hinreichend schone, und dieser Sohn war der einzige und letzte Sprosse des alten Geschlechtes. Dieser Rücksicht beugte sich denn endlich auch Graf Michael, aber er hatte es noch bis zum heutigen Tage nicht verwunden, daß ihm sein Lieblingswunsch versagt geblieben war, um so weniger, als Raoul, nachdem er die kritischen Jahre überwunden hatte, zur vollsten Gesundheit und Schönheit heranwuchs. Er war, nachdem er seine Studien auf einer deutschen Universität vollendet hatte, in den Staatsdienst getreten und arbeitete gegenwärtig im Auswärtigen Amte, wo er freilich, seiner Jugend wegen, noch eine untergeordnete Stellung einnahm.

Der General, nunmehr seit zehn Jahren der Herr von Schloß Steinrück, war der Gewohnheit seines verstorbenen Vetters [519] treu geblieben, auch er brachte regelmäßig zur Herbst- und Jagdzeit einige Wochen dort zu, da ihm seine militärische Stellung selten einen längeren Urlaub gestattete. Schwiegertochter und Enkel begleiteten ihn meist auf diesen Ausflügen, man empfing dann Gäste, veranstaltete Jagden, und das so öde, alte Bergschloß war eine kurze Zeit voll Lärm und Leben, bis es nach wenigen Wochen wieder in seine frühere Einsamkeit zurücksank.

Es war am Morgen nach der Ankunft des Grafen Raoul. Er befand sich in dem Zimmer seiner Mutter, und Beide waren in ein angelegentliches Gespräch vertieft, aber der Gegenstand desselben schien kein erfreulicher zu sein, Mutter und Sohn sahen ernst und verstimmt aus.

Gräfin Hortense Steinrück war jedenfalls eine blendende Schönheit gewesen; man sah noch jetzt die Spuren davon, wo sie die Mutter eines erwachsenen Sohnes war, und sie verstand es meisterhaft, noch immer anziehend zu erscheinen, wenn auch wohl die Kunst der Toilette einen hervorragenden Antheil daran hatte. Das geistvolle Antlitz, mit den dunklen, lebhaften Augen, besaß einen Reiz, der die Jugend zu ersetzen vermochte, und die etwas üppige Gestalt hatte sich die volle Grazie bewahrt.

Raoul zeigte eine auffallende Aehnlichkeit mit seiner Mutter, deren ganze Schönheit er geerbt hatte, auch nicht ein einziger Zug in dieser schlanken, jugendlichen Erscheinung erinnerte an den Vater oder Großvater, an das Steinrück’sche Geschlecht überhaupt. Es war ein herrlicher Kopf, mit dichtem, dunklem Lockenhaar, einer genialen Stirn und dunklen, sprechenden Gluthaugen, aber das Feuer, das sich in der Tiefe dieser Augen barg, konnte verzehrend auflodern, und selbst im ruhigen Gespräche brach es bisweilen daraus hervor wie ein heißer, versengender Strahl. So unbestritten die Schönheit des jungen Grafen war, es lag etwas darin wie ein halbverschleierter, dämonischer Zug, der sie freilich noch fesselnder machte.

„Also gestern Abend noch hat er Dich rufen lassen?“ sagte Hortense in erregtem Tone. „Ich wußte es, daß wieder ein Sturm heranzog, und versuchte, ihn abzuwenden, aber ich glaubte doch nicht, daß er gleich am ersten Abend losbrechen würde.“

„Ja, der Großpapa war äußerst ungnädig,“ erklärte Raoul, gleichfalls gereizt. „Er ging wegen einiger Tollheiten so streng mit mir ins Gericht, als ob es Staatsverbrechen wären. Ich hatte Dir ja schon gebeichtet, Mama, und hoffte auf Deine Fürsprache.“

„Auf meine Fürsprache?“ wiederholte die Gräfin bitter. „Du solltest doch wissen, wie machtlos sie ist, zumal wenn es sich um Dich handelt. Was gelten denn auch Mutterliebe und Mutterrechte einem Manne, der gewohnt ist, rücksichtslos Alles seinem Willen zu beugen und zu brechen, was sich nicht beugen will! Ich habe genug darunter gelitten, daß Dein Vater so völlig abhängig war, daß ich es nach seinem Tode bin, auch ich besitze ja nicht das geringste Vermögen, und man weiß uns festzuhalten an der Kette dieser Abhängigkeit. Wie oft schon haben mich diese Fesseln wund gedrückt!“

„Du irrst, Mama,“ warf Raoul ein. „Was mich zwingt, das ist nicht diese Macht des Großvaters, sondern seine Persönlichkeit. Es liegt etwas in seinem Auge, seiner Stimme, dem ich nicht trotzen kann. Ich will es nöthigenfalls mit der ganzen Welt aufnehmen, aber nicht mit ihm.“

„Ja, er hat Dich trefflich geschult! Das ist die Frucht einer Erziehung, die darauf berechnet war, mir jeden Einfluß zu rauben und Dich einzig an ihn zu ketten. Dir imponirt dieser Gebieterton, dieser Herrscherblick, ich sehe längst darin nur noch die Tyrannei, die ich von Anfang meiner Ehe an ertragen mußte, aber sie wird ja nicht ewig währen!“

Sie athmete tief auf bei den letzten Worten. Raoul erwiderte nichts, er stützte den Kopf in die Hand und sah zu Boden.

„Ich schrieb Dir bereits, daß Du Hertha und ihre Mutter hier finden würdest,“ hob die Gräfin wieder an. „Ich war überrascht von der Erscheinung Hertha’s, sie hat sich in dem Jahre, wo wir sie nicht gesehen haben, zu einer Schönheit ersten Ranges entwickelt. Findest Du das nicht auch?

„Ja, sie ist sehr schön – upd sehr verwöhnt und voller Laune! Ich habe das bereits gestern empfinden müssen.“

Hortense zuckte leicht die Achseln.

„Sie fühlt sich als reiche, gefeierte Erbin und überdies ist sie das einzige Kind einer grenzenlos schwachen Mutter, die ihr gegenüber nie einen Willen hatte. Du hast ihn, Raoul, und wirst ihn Deiner künftigen Frau gegenüber zur Geltung bringen, daran zweifle ich nicht, und ich bin hier einmal in dem seltenen Falle, ganz und rückhaltslos mit Deinem Großvater übereinzustimmen, der den gesammten Familienbesitz dereinst in Deiner Hand vereinigt wissen will. Die Einkünfte des Majorates sind sehr mäßig, dem Großvater ist nicht viel mehr als ein Jagdschloß vermacht worden, Hertha dagegen ist die Erbin der sämmtlichen Allodialgüter, und auch das reiche Witthum ihrer Mutter fallt dereinst an sie zurück. Ueberdies seid Ihr die beiden letzten Sprossen des Steinrück’schen Hauses, da ist eine Verbindung zwischen Euch eigentlich selbstverständlich.“

„Wenn Familienrücksichten allein maßgebend sind, allerdings – Ihr habt Euch ja beeilt, das festzustellen, als wir Beide noch Kinder waren,“ sagte Raoul mit einem Anfluge von Bitterkeit, der seiner Mutter nicht entging, sie sah ihn befremdet an.

„Nun, ich dächte, Du hättest allen Grund, mit dieser Familienübereinkunft zufrieden zu sein. Genügt sie doch selbst mir, die ich sicher die höchsten Ansprüche für Dich stellte. Du warst ja stets einverstanden, was soll denn jetzt die Wolke auf Deiner Stirn? Hat Dich eine bloße Laune Hertha’s so verstimmt? Ich gebe es zu, sie hat Dich gestern nicht besonders liebenswürdig empfangen, aber Du wirst Dich deßwegen doch nicht bedenken, mit der Hand einer schönen Frau einen Reichthum zu empfangen, um den Dich Tausende beneiden werden.“

„Das nicht, aber es widerstrebt mir, jetzt schon meine Freiheit zu opfern.“

„Freiheit!“ lachte Hortense auf. „Wagst Du es wirklich, das Wort in diesem Hause auszusprechen? Bist Du es nicht müde, mit Deinen fünfundzwanzig Jahren immer noch wie ein Knabe behandelt zu werden, dem man jeden Schritt vorschreibt? Ausgescholten zu werden, wenn Dein Betragen nicht genehm ist, um die Erfüllung jedes berechtigten Wunsches erst bitten zu müssen, und Dich demüthig zu fügen, wenn von höchster Stelle ein Nein erfolgt? Kannst Du auch nur einen Augenblick zögern, die Selbständigkeit zu ergreifen, die Dir geboten wird? Schon im nächsten Jahre geht laut Testament die Vormundschaft Deines Großvaters über Hertha zu Ende, dann tritt sie in ihre vollen Rechte und ihr Gemahl mit ihr. Mache Dich frei, Raoul, Dich – und mich!“

„Mama!“ sagte der junge Graf warnend, mit einem Blick auf die Thür, aber die erregte Frau fuhr nur leidenschaftlicher fort:

„Ja, auch mich! Was ist denn mein Leben in diesem Hause Anderes, als ein fortwährender Kampf und ein ewiges Erliegen? Du hattest bisher nicht die Macht, mich zu schützen gegen all die tausendfachen Kränkungen, die ich Tag für Tag erdulde, jetzt wirst Du sie haben, Du brauchst nur zu wollen. Ich flüchte zu Dir, sobald Du Herr auf eigenem Boden bist.“

Raoul erhob sich mit einer heftigen Bewegung. Die leidenschaftliche Beredsamkeit der Mutter blieb nicht wirkungslos, das sah man, und das Bild von Freiheit und Selbständigkeit, das sie ihm ausmalte, war verlockend genug für den jungen Mann, der eben noch so bitter die Strenge des Großvaters empfunden hatte. Dennoch zögerte er mit der Antwort, und es war etwas wie geheimer Kampf in seinen Zügen.

„Du hast ja Recht, Mama,“ sagte er endlich, „vollkommen Recht, ich widerstrebe ja auch nicht, aber wenn die Sache jetzt beschleunigt werden soll, wie es den Anschein hat –“

„So hättest Du doch allen Grund, Dich darüber zu freuen! Ich begreife Dich nicht, Raoul. Ich will doch nicht fürchten – Du hast Dich doch nicht etwa irgendwo gebunden?“

„Nein, nein!“ rief der junge Graf, hastig abwehrend, „davon ist keine Rede, ich versichere es Dir, Mama.“

Die Mutter schien durch diese Versicherung wenig beruhigt, sie war eben im Begriff, noch weitere Fragen zu thun, da wurde die Thür rasch, aber geräuschlos geöffnet, und die Kammerzofe der Gräfin rief mit gedämpfter Stimme: „Seine Excellenz, der Herr General!“

Sie hatte kaum Zeit, zurückzutreten, der General folgte ihr auf dem Fuße. Er blieb noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen und streifte mit einem raschen forschenden Blick Mutter und Sohn.

„Seit wann ist denn diese strenge Etikette in unserer Familie eingeführt?“ fragte er. „Ich werde bei Dir gemeldet, Hortense?“

„Ich begreife Marion nicht. Sie weiß doch, daß die Meldung überflüssig ist.“

[520] „Wenn es ihr nicht eigens befohlen wurde, allerdings, – es klang beinahe wie ein Warnungsruf!“

Mit diesen Worten nahm Steinrück neben seiner Schwiegertochter Platz, während er den Morgengruß seines Enkels nur mit einem flüchtigen Kopfnicken erwiderte. Die Beiden hatten bisher ausschließlich französisch gesprochen, sie bequemten sich aber sofort zur deutschen Sprache beim Eintritt des Generals, der jetzt fortfuhr: „Ich wollte Dich um eine Auskunft ersuchen, Hortense. Ich höre soeben, daß Zimmer für zwei Gäste in Stand gesetzt werden, auf Deinen Befehl. Ich dächte, wir hatten schon unsere Verwandten zu Gaste und wollten diesmal im Familienkreise bleiben. Wen hast Du eingeladen?“

„Es handelt sich nur um einen ganz flüchtigen Besuch, Papa,“ erklärte die Gräfin. „Bekannte, die in Wildbad sind und auf der Rückreise nur zwei oder drei Tage bei uns verweilen werden. Ich habe erst heute Morgen die Nachricht von ihrem Eintreffen erhalten und hätte es Dir jedenfalls mitgetheilt.“

„Nun wohl, aber ich möchte wissen, wen Du erwartest.“

„Henri de Clermont und seine Schwester,“ die Antwort wurde mit einem gewissen Zögern gegeben, und das Antlitz des Generals verfinsterte sich sofort.

„Dann bedaure ich, daß Du mich nicht vorher von dieser Einladung verständigt hast – ich hätte sie nicht erlassen.“

„Es geschah auf Raoul’s Wunsch, auf seine besondere Bitte.“

„Gleichviel, ich wünsche die Clermonts nicht in unserem Kreise zu sehen.“

Raoul fuhr auf bei dieser mit voller Bestimmtheit gegebenen Erklärung, und eine dunkle Gluth bedeckte plötzlich sein Gesicht.

„Verzeih, Großpapa, aber Henri und seine Schwester sind im Winter schon verschiedene Male in unserem Hause gewesen.“

„Bei Deiner Mutter! Ich mache ihr keine Vorschriften in Bezug auf die Besuche, die sie persönlich empfängt, dieser Besuch in Steinrück aber, wo wir im engsten Familienkreise sind, würde eine Intimität bedeuten, die ich entschieden ablehne, und muß deßhalb unterbleiben.“

„Das ist unmöglich!“ entgegnete Hortense, indem sie in nervöser Gereiztheit ihr Taschentuch zusammenpreßte. „Ich habe die Einladung nun einmal erlassen und kann sie nicht rückgängig machen.“

„Weßhalb nicht? Du schreibst einfach, daß Du erkrankt bist und Dich außer Stande fühlst, die Pflichten der Wirthin zu erfüllen.“

„Das würde uns ja lächerlich machen!“ brach Raoul aus. „Der Vorwand würde niemals geglaubt werden, es wäre eine Beleidigung für Henri und seine Schwester.“

„Der Meinung bin ich auch,“ stimmte Hortense bei.

„Wohl, so bin ich anderer Meinung, als Ihr Beide!“ sagte der General mit Nachdruck, „und auf mich kommt es hier doch wohl allein an. Es ist Eure Sache, wie Ihr die Einladung rückgängig machen wollt, geschehen wird es unter allen Umständen, denn ich empfange die Clermonts nicht in meinem Schlosse.“

Das war allerdings der volle Gebieterton, der die leidenschaftliche Frau herausforderte, sie erhob sich stürmisch.

„Soll ich gezwungen werden, die Freunde meines Sohnes zu beleidigen? Freilich, sie gehören ja meinem Lande, meinem Volke an, und das bannt sie von dieser Schwelle. Meine Liebe zu der Heimat ist mir ja stets zum Vorwurf gemacht worden, und bei Raoul gilt die Neigung dafür als ein Verbrechen. Er hat seit dem Tode seines Vaters Frankreich nicht wieder betreten dürfen, sein Umgang wird ihm vorgeschrieben und geregelt wie einem Schulknaben, kaum daß er noch mit meinen Verwandten verkehren darf. Aber ich bin dieser ewigen Sklaverei müde, ich will endlich –“

„Raoul – verlaß uns!“ unterbrach Steinrück sie. Er war ruhig sitzen geblieben, und sein Gesicht erschien unbewegt, nur auf der Stirn zeigte sich wieder die drohende Falte.

„Du bleibst, Raoul!“ rief Hortense heftig. „Du bleibst bei Deiner Mutter!“

Der junge Graf schien allerdings geneigt, Partei für die Mutter zu nehmen, er war wie schützend an ihre Seite getreten und schien entschlossen, dem Großvater Trotz zu bieten, jetzt aber erhob sich dieser auch und seine Augen flammten.

„Du hast gehört, was ich befahl!“ herrschte er seinem Enkel zu. „Geh!“

Es lag etwas so Zwingendes in diesem Gebot, daß Raoul’s Widerstand davor zusammensank. Er vermochte es in der That nicht, diesen Augen und dieser Stimme zu trotzen, einen Moment zögerte er noch, aber auf einen nochmaligen gebieterischen Wink bequemte er sich zum Gehorsam und verließ das Zimmer.

„Ich will nicht, daß Raoul Zeuge von Auftritten wird, wie sie leider zwischen uns nicht selten sind,“ sagte der General kalt, indem er sich zu seiner Schwiegertochter wandte. „Jetzt sind wir allein, was wolltest Du sagen?“

Wenn irgend etwas die erregte Frau noch mehr reizen konnte, so war es diese kalte, überlegene Ruhe, die ihr wie Hohn erschien, sie gerieth darüber völlig außer sich.

„Meine Rechte will ich vertheidigen!“ rief sie. „Ich will mich auflehnen gegen eine unerhörte Tyrannei, die mich wie meinen Sohn knechtet. Es ist eine Beleidigung für mich, wenn ich die Einladung an die Clermonts widerrufen muß, und das geschieht nicht – eher lasse ich es auf das Aeußerste ankommen.“

„Ich rathe Dir, Hortense, fordere dies Aeußerste nicht heraus, Du könntest es bereuen,“ fiel der Graf ein, der jetzt auch seine Ruhe verlor, seine Stimme klang dumpf und drohend. „Wenn Du denn die schonungslose Wahrheit willst, so magst Du sie haben. Ja, es handelt sich in erster Linie darum, Raoul Umgebungen und Einflüssen zu entziehen, die ich bei meinem Enkel nicht dulden kann und werde. Ich verließ mich auf Albrecht’s wiederholte, feierliche Versicherung, daß der Knabe eine deutsche Erziehung erhalte; aber bei Euren kurzen flüchtigen Besuchen konnte ich mich nicht davon überzeugen, und das Kind war leider geschult für diese Besuche. Erst nach dem Tode meines Sohnes ist es mir klar geworden, daß er sich auch in diesem Punkte blindlings Deinem Willen unterworfen, daß er mich absichtlich gctäuscht hat.“

„Willst Du meinem Gatten noch im Grabe Vorwürfe machen?“ fuhr Hortense auf.

„Ich kann ihm auch dort den Vorwurf nicht ersparen, den ich dem Lebenden ins Antlitz geschleudert hätte. Er hat zugelassen, was er nie zulassen durfte. Raoul war ein Fremdling in seinem Vaterlande, fremd in seiner Geschichte, seinen Aufgaben, in Allem, was ihm theuer und heilig sein sollte, er wurzelte mit jeder Faser in dem fremden Boden. Der Einblick, den ich damals erhielt, als Du mit ihm in mein Haus zurückkehrtest, war derart, daß er mich zum sofortigen energischen Einschreiten zwang. Es war die höchste Zeit – wenn es nicht schon zu spät war!“

„Ich bin sicher nicht freiwillig in Dein Haus zurückgekehrt,“ die Stimme der Gräfin klang in schneidender Bitterkeit. „Ich wäre gern zu meinem Bruder geeilt, aber Du beanspruchtest ja Raoul, Du nahmst ihn mir, kraft Deines vormundschaftlichen Rechtes, und ich konnte und wollte mich nicht von meinem Kinde trennen. Hätte ich es mit mir nehmen dürfen –“

„Um vollends einen Montigny aus ihm zu machen!“ ergänzte Steinrück. „Das wäre Dir nicht schwer geworden, er hat nur zu viel von Dir und den Deinen. Ich suche vergebens mein Blut in ihm, aber verleugnen wird und soll er dies Blut niemals. Du kennst mich in dem Punkte, und auch Raoul wird mich kennen lernen. Wehe ihm, wenn er es jemals vergißt, daß er den Namen Steinrück führt, daß er einem deutschen Geschlechte angehört!“

Er sprach mit gedämpfter Stimme, aber es lag etwas so furchtbar Drohendes darin, daß Hortense leise zusammenbebte. Sie wußte, daß es ihm Ernst war mit der Drohnng, und in dem Gefühl, daß sie wieder einmal erlag in dem alten Kampfe, nahm sie ihre Zuflucht zu Thränen und brach in einen Weinkrampf aus.

Der General war an dergleichen zu sehr gewöhnt, als daß es ihn hätte überraschen sollen, er zuckte schweigend die Achseln und ging. Im Vorzimmer fand er Raoul, der dort unruhig auf und nieder schritt und plötzlich stehen blieb beim Eintritt des Großvaters.

„Geh zu Deiner Mutter!“ sagte dieser bitter. „Laß es Dir wieder einmal sagen, daß ich ein Tyrann bin, ein Despot, der seine Freude daran hat, sie und Dich zu quälen, Du hörst das ja täglich, Du wirst ja regelrecht hineingehetzt in den Argwohn, in die Bitterkeit gegen mich, und das hat längst seine Früchte getragen.“

So herb die Worte klangen, es lag ein unterdrückter Schmerz darin, und derselbe finstere Schmerz stand in den Zügen des Grafen. Raoul mochte das sehen und fühlen, denn er schlug die Augen nieder und entgegnete leise: „Du thust mir Unrecht, Großpapa.“

[521]

Aus der Jubiläums-Kunstausstellung in Berlin:
Der Storch.
Nach einem Oelgemälde von H. Salentin.
Holzschnitt nach der Photogravure in „Deutsche Malerei der Gegenwart“. Verlag von F. Hanfstängl in München.

[522] „So beweise es mir! Zeige mir endlich einmal volles, rückhaltloses Vertrauen, Du wirst es nicht bereuen. Ich habe gestern erst wieder zürnen und drohen müssen, Du hast mich oft genug dazu gezwungen in der letzten Zeit, und trotz alledem habe ich Dich lieb, Raoul – sehr lieb!“

Die sonst so strenge, befehlende Stimme hatte einen Ton von Güte, ja von Weichheit, und das blieb nicht ohne Wirkung auf den jungen Mann. Auch in ihm wallte die Liebe zu dem Großvater empor, dem er seit seiner Jugend entfremdet worden war, vor dem er immer nur Scheu empfunden hatte, in diesem Augenblick empfand er nichts davon.

„Ich habe Dich ja auch lieb, Großpapa!“ brach er aus.

„Komm,“ sagte Steinrück, mit einer Wärme, die ihm selten eigen war. „Laß uns einmal eine gute Stunde mit einander haben, wo kein fremder Einfluß zwischen uns steht. Komm, Raoul!“

Er legte den Arm um die Schultern seines Enkels und zog ihn mit sich fort, da wurde die Thür hastig aufgerissen, und Marion erschien.

„Um Gottes willen, Herr Graf, kommen Sie – die Frau Gräfin ist sehr unwohl – sie verlangt nach Ihnen!“

Raoul fuhr bestürzt auf, als wolle er zu der Mutter eilen, hielt aber plötzlich inne, denn er begegnete dem Blick seines Großvaters, der ernst, aber fast bittend auf ihn gerichtet war.

„Deine Mutter hat wieder ihre Nervenzufälle,“ sagte er ruhig. „Du kennst sie ja so gut wie ich und weißt, daß dabei nichts zu besorgen ist. Komm mit mir, Raoul!“

Er hatte ihn nicht losgelassen, Raoul schien mit sich zu kämpfen, nur einige Minuten lang, dann aber versuchte er, sich freizumachen.

„Verzeih, Großpapa – die Mama ist leidend, sie verlangt nach mir – ich kann sie jetzt nicht allein lassen!“

„So geh!“ rief Steinrück hart, indem er ihn fast von sich stieß. „Ich will Dich Deiner Kindespflicht nicht entziehen. Geh’ zu Deiner Mutter!“

Und ohne auch nur einen Blick weiter auf Raoul zu werfen, wandte er sich um und verließ das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Sonne und Kind.

Eine Sommertags-Epistel.


„Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Es kommt der Ritter Sonnenschein,
Der bricht mit goldnen Lanzen ein ...“


Zum ersten Male denn hinaus in den lichten, milden Sonnenschein, du Menschenkind! Die Lüfte sind lind; kein rauher Wind stört den jungen Erdenbürger bei seinem ersten Ausgang in Gottes freie Luft, wo er nun im wahrsten Sinne des Wortes erst das Licht der Welt erblicken soll. Die liebe Sonne! Selbst im Winter weiß sie den Mittagsstunden einen angenehmen Charakter zu geben, im Sommer den ersten Morgen- und den späten Abendstunden einen entzückenden Reiz, während sie bei schönem Frühlings- und Herbstwetter wenigstens einen Theil des Tages für das Kindlein verfügbar macht. „Komm heraus zu mir!“ ruft sie dem Kinde durch die dichten Vorhänge der Kinderstube zu, mitleidig lächelnd über die kindische Angst und Scheu mancher Eltern vor Licht und Luft. „Komm heraus und bade dich in meinem erwärmenden, belebenden Schein! Seht, wie in meinem Licht die Blumen ihre Farbenpracht, die Blätter ihr saftiges Grün erhalten, wie die Bäume Blüthen und Früchte ansetzen, die Thiere ein bunteres, schöneres Kleid und ein rascheres Wachsthum zeigen! Warum soll euer Kind Tage, Wochen, Monate lang von meinem belebenden, erquickenden Strahl fern gehalten, zwischen die Wände des Hauses gebannt sein, verurtheilt zu einem recht trostlos öden Dasein? Seine blassen Wangen werden sich röthen, seine Haut wird derber, wetterfester werden, seine Athmung ergiebiger, sein Herz kräftiger, selbst sein Gemüth erheitert sich! Singt ihr doch selbst, ihr thörichten Menschen, vom Sonnenschein, der ,ins Herz hinein’ strahlt. Erfreut ihr euch doch an einem sonnenhaften Lächeln, an einem sonnigen Angesicht. Seht ihr es doch als günstig an für Wachsthum und Gedeihen, wenn Regen im Sonnenschein aufs Haupt träufelt. Kehrt euch nicht daran, ob Winter im Kalender steht! Laßt euch selbst durch Schnee nicht abhalten! Es schadet eurem Kindlein nichts, wenn es – genügend verwahrt – schon nach zwei bis drei Wochen in die freie Natur hinausgetragen wird und die kleinen Augen zu mir emporhebt! Natürlich zu kalt oder gar rauh und windig darf’s nicht sein. Dann will ich mich damit begnügen, durch die Fensterscheiben dem Kinde meinen ersten Gruß zu senden, wenn ihr nur meinen Strahl einlaßt und nicht – unverständiger Weise – dem Kinde ein nach Norden gelegenes Zimmer zum Aufenthalt gegeben habt. Besitzt ihr eine sonnige Wohnung oder doch einen sonnigen Raum, dann will ich schon hineinblicken und eurem Kindlein einen Himmelskuß geben.“

Die liebe Sonne! Als gemüthlich freundliche, behäbige Frau mit einer großen Haube wird sie schon in den Kinderbüchern abgebildet. „Die beste Mutter“ nennt sie Byron, und Hebel schildert sie gar traulich, wie sie früh erwacht, Toilette macht und nach den Kindern sieht, die sie nicht minder liebt und hegt, als die Keimchen des Getreides:

„Aber nun kämmt sich die Sonne, und ist sie gekämmt und gewaschen,
Tritt mit dem Strickzeug schnell sie hervor dort hinter den Bergen,
Strickt und schauet herab, wie eine freundliche Mutter
Nach den Kinderchen sieht.“

Volk und Gelehrte sind darüber einig, sie ist eine prächtige, liebe Frau, die Frau Sonne. Sonntagskinder – und diese haben ja auch eine gewisse Beziehung zur Sonne – hält der Volksglaube für besondere Glückskinder, ja selbst für befähigt, Geister zu sehen. „Sonne und Erde mögen dich in ihren Schutz nehmen,“ lautete ein Segensspruch, den die alten Mexikaner beim ersten Bad des Kindes darbrachten. Freilich hat auch der beschränkte Aberglaube manche unnöthige Furcht vor der Sonne entstehen lassen. Das erste Badewasser gießt man, wie uns Ploß mittheilt, in der Potsdamer Gegend nicht in die Sonne, „sonst bekommt das Kind Sommersprossen“, oder „das Kind verbrennt“ nach Ansicht der schlesischen und brandenburgischen Landleute. Die Windeln vor der Taufe in der Sonne zu trocknen, hält man in der Schweiz für gefährlich, „weil alsdann das Kind behext wird“, und in Steiermark schützt man das Kind bei dem Gang zur Taufe ängstlich mit Tüchern und Schirmen, „damit es nicht Sommersprossen bekommt“, während man es in Schleiz vor der Taufe in die Sonne hält, „damit es eine schön weiße Gesichtsfarbe erhalte“. Die Sonne lächelt über diese Gegensätze in Volksgebräuchen und Aberglauben still und erhaben. Ist sie doch von Alters her den Kleinen eine Wärme- und Lebensspenderin und soll doch selbst das Wagenrad, welches man dem Storch als Grundlage für sein Nest auf den Dachfirst setzt, nach uraltem Brauch nur ein Symbol des Sonnenrades sein. So lange es religiöse Vorstellungen und einen Naturdienst giebt, so lange hat man auch die Sonne in Beziehung zur werdenden Generation, zum aufwachsenden Menschen gebracht. Der Buddhismus, der Schiva-Kultus und die ägyptische Götterlehre verehren die Sonne als Lebens- und Segensspenderin eben so, wie die Naturvölker Südamerikas es thun, welche sie als „Mutter des Tages und der Erde“ betrachten. Warum sollen wir uns spröder gegen dies „rosige Licht“ verhalten, von dem Heine singt:

„Das rothe, flammende Sonnenherz
Goß seine Gnadenstrahlen
Und sein holdes, liebliches Licht
Erleuchtend und wärmend
Ueber Land und Meer.“

Möge sich immer das kleine Kind, das des Lichtes bedarf, in deinem Glänze sonnen, du liebe Sonne! Möge es aus dunklen Kellerwohnungen, aus dumpfigen kühlen Höfen hinausgetragen werden, wo die Luft durch das Licht gereinigt wird, wo seine Lungen mehr Kohlensäure ausathmen, mehr Sauerstoff aufnehmen, als im dunklen Zimmer, wo gewissermaßen Haut und Augen „mit athmen“, ja selbst der Muskel mehr Kohlensäure ausscheidet. Ist es an sich schon eine Wonne, in der schönen reinen Morgenluft Leib und Seele zu baden, wie viel mehr, wenn die Sonne ihr Kämmerlein verläßt:

„Solch eine prächtige Frau und doch so gütig und freundlich.“

Nun steigt sie höher und höher am Himmel empor, erst nach und nach den Erdboden erwärmend. Da heißt es, das Kind – und was besonders wichtig ist, auch dessen Betten – lüften, ja, so lange die Wärme noch mäßig ist, auch auf trockenem Sande sich sonnen lassen. Der von der Sonne mäßig erwärmte Sand, dies natürliche Sandbad, ist, wie Viele vom Meeresstrande her sich erinnern, geradezu ein wohlthätiges Heilmittel; Hunderte von Kindern kriechen, sitzen und liegen in dem weißgelblichen Dünensande, unbekümmert darum, ob Frau Sonne dabei die Haut bräunt und ihrem Farbstoff einige tiefere Töne giebt. Wandern wir durch ein Dorf, so fallen uns bei dem Anblicke der Kinder die Verse des Freiherrn von Eichendorff ein:

„Die Gegend lag so helle,
0Die Sonne schien so warm;
Es sonnt sich auf der Schwelle
0Ein Kindlein krank und arm.“

Nicht nur die größeren, kräftigen, bausbäckigen Kinder, sondern auch die kleinen, zarten, schwächlichen und kranken liegen fast den ganzen Tag in der Sonne; diese ist gerade den Letzteren eine sorgsame Pflegerin, in deren Obhut sie schneller gesund werden, als die Stadtkinder in ihren durch Vorhänge, Vitragen, Jalousien, Marquisen und Rouleaux abgesperrten Kinderstuben oder auf ihren dem Staub und Ruß ausgesetzten Veranden.

Eins läßt sich ihnen durch allen Komfort nicht ersetzen: „Die liebe Sonne“.

Aber, ach, auch die Sonne hat kein fleckenloses Licht. Sie scheint nicht bloß über Gerechte und Ungerechte, sondern auch über Verständige und Unverständige, welche es nicht zu begreifen vermögen, daß ein Zuviel des Guten an Sonnenlicht und Sonnenwärme dem Kinde Tod und Verderben anstatt Heil, Genesung und Segen spenden kann. Die Erfahrung lehrt aber, was die silbernen Pfeile zu bedeuten haben, mit denen einst Apollo, der Sonnengott, die Menschen hinstreckte; denn ein voller Köcher solcher todbringender Strahlen fehlt der Sonne nicht.

Wenn der Hochsommer ins Land gegangen, so kommen jene Tage, an denen das Feld „verbrannt von scheitelrechter Sonne Gluthen“ daliegt, [523] wo „in allen Wipfeln kaum ein Hauch“ zu spüren ist. Es ist jene Mittagsstimmung, auf welche so recht die Worte zu passen scheinen: „Keine Luft von keiner Seite, Todesstille fürchterlich.“

Es wäre so natürlich, so selbstverständlich, jetzt das zarte Kind im kühlen, gut gelüfteten Zimmer, dessen Licht gedämpft ist, zu lassen, hier den Fußboden zuweilen kühl zu sprengen und so dem Kinde eine behagliche Existenz zu sichern. Es wäre so naheliegend, es im Hochsommer von neun Uhr früh bis sechs Uhr Abends, wenn es nicht ganz schattigen, kühlen Aufenthalt im Freien haben kann, lieber der Sonne nicht auszusetzen. Daß diese alte Erfahrung aber oft nicht beachtet wird, kann man täglich beobachten. Die Kinder werden oft zu unzweckmäßigen Zeiten und an nicht genügend geschützte Orte gebracht und dort der „schlimmen Sonne“ ausgesetzt. Es ist Mittag, und zu dieser Zeit, wo

„Kein Laut ergeht, kein Hauch, kein Lied
Giebt noch vom Leben Kunde,
Als ob der Erdengeist verschied
Um diese dürre Stunde“,

soll das Kind ungestraft im Freien verweilen? Oft mag es der Fall sein, aber – ach – nur zu leicht kehrt es heim mit hochgeröthetem Gesicht, Erbrechen, Unruhe, Schlaflosigkeit, beschleunigtem, vollem Puls, höherer Temperatur, fliegendem Athem. Oft gesellen sich bei größeren Kindern Schwindel, Ohrensausen, Kopfschmerz, bei kleineren, unter Verengerung der Pupillen, Krämpfe hinzu, und sehr rasch, manchmal in wenig Stunden, ist dieses schwere Reizstadium des „Sonnenstichs“ in das Stadium der Lähmung, der Depression übergegangen – kaum noch einer Wiederherstellung zugängig. Wenn irgend ein Leiden an Geibel’s Wort gemahnt: „Der schnellste Reiter ist der Tod,“ so ist es in ihrem Verlauf die Ueberfüllung des noch weichen, wasserreichen Kindergehirns durch Blut in Folge der großen Hitze, oft nicht einmal bei direkter Einwirkung heißer Sonnenstrahlen auf das unbedeckte Haupt. Das plötzliche Auftreten, der besonders bei jüngeren Kindern erschreckend schnelle Verlauf, der rasche Uebergang der Reizerscheinungen in die der Gehirnlähmung geben diesem Krankheitsbilde etwas Furchtbares.

Aber fast noch verhängnißvoller ist es, daß die ersten Symptome nicht immer richtig gedeutet, daß oft nicht schnell genug eine zweckmäßige ärztliche Behandlung eingeleitet wird. Jede Viertelstunde ist hier kostbar, jedes Zögern, jeder Mangel an Energie gefährlich. Nicht lange kann das von Flüssigkeit umgebene Hirn dem Drucke widerstehen, den der plötzliche Blutandrang und der rasche Austritt von Lymphe auf seine leicht zerstörbaren Gewebe ausüben. Wenn jetzt nicht rasch durch sofortiges kühles Lagern im etwas dunklen Zimmer, Kälte (Wasser- oder Eisumschläge) auf den Kopf, Blutegel hinter die Ohren, Klystiere von Essigwasser, unter Umständen durch kalte Uebergießungen über Hinterkopf und Nacken unter sachverständiger Leitung das Gehirn entlastet wird, so entsteht, durch Druck auf die Hirnrinde, Blutmangel derselben und Lähmung. Das Kind starrt mit weitgeöffneten, immer weniger bei Berührung zuckenden Augenlidern bewußtlos nach oben, ist völlig theilnahmlos, verfällt in einen schlafsüchtigen Zustand und geht meist unter Lähmung aller Lebenserscheinungen ziemlich rasch zu Grunde. Natürlich würde in diesem Stadium des Verfalles das eben geschilderte Verfahren nicht mehr zweckmäßig sein. Erfolg können höchstens im Beginne dieser Zustände noch warme Bäder mit kalten Uebergießungen gewähren. Von Medikamenten ist, da das Kind auch in der Regel alsdann nicht mehr schluckt, kamn noch etwas zu erwarten. Reizmittel können den übermäßigen Druck in der Schädelhöhle nicht verringern, höchstens das erlöschende Leben kurz aufflackern lassen. – „Die schlimme Sonne!“ seufzen dann gramerfüllt die Menschen.

Wie viele Tausende kleinster Kinder die Sonnenhitze des Juli und August durch Magendarmkatarrhe dahinrafft, lehren die Kurven der Säuglings-Sterblichkeit, welche in diesen Monaten besonders bei der Bevölkerung der Großstädte ihren Höhepunkt erreichen. Kommen auch hier noch Störungen der Ernährung in Frage, so ist die Grundursache dieser die jüngste Generation decimirenden Leiden die Hitze, welche die Zersetzung der Nahrung und die Störung der Verdauung begünstigt. Wieder ist es „die schlimme Sonne“, welcher man die Schuld giebt, ohne zu bedenken, daß Vorsicht in der Wahl und Bereitung der Nahrung, kühles Verhalten des Säuglings so manches junge Leben erhalten könnte.

Die Sonne aber strahlt und glüht vom wolkenlosen Himmel majestätisch weiter; denn sie hat große Aufgaben zu erfüllen, das Getreide und die Früchte zu reifen, damit es der Menschheit nicht an Nahrung mangle. Nichtachtend den Unverstand einzelner Menschen, gleichgültig gegen Lob und Tadel, nach ewigen Gesetzen vor unsern Augen auf- und niedertauchend, Licht und Wärme spendend zum vernünftigen Gebrauche wandelt sie ruhig weiter.

Dem hellstrahlenden Himmelslicht sind die Interessen des Einzelnen Nichts gegen die des Weltalls, und doch ist das kleinste Kind in ihm geborgen zur rechten Stunde und in rechter Weise. Wird es vor der Ueberfülle seiner Spenden, zumal der direkten Einwirkung der Wärmestrahlen, beschützt, wie es ein verständiger Gärtner auch mit seinen Pflänzchen hält, so stört Nichts des Kindleins Gedeihen, und sie bleiben gar gute Freunde: Sonne und Kind. F.     


Kleine Ursachen – große Wirkungen.

Bühnenerinnerung von Marie Knauff.

Kein Mensch ist wohl, was den guten Erfolg seiner Thätigkeit und seiner Mühen anbelangt, so abhängig von den winzigsten Zufälligkeiten wie der arme Schauspieler. Der Mime, welchem ja bekanntlich die Nachwelt keine Kränze flicht, muß den Erfolg des Augenblicks haben; die Stimmung des Publikums, die Illusionen der Zuhörer während der kurzen Spanne eines Abends bedingen seinen Ruhm, und wehe, wenn nur das kleinste Sandkorn oder das unbedeutendste Insektchen sich gegen ihn verschworen hat! Ein kaum sichtbares Eintagsmückchen, welches z. B. dem Wallenstein-Darsteller während des großen Monologes: „Es giebt im Menschenleben Augenblicke“ in die Nase fliegt und den unglücklichen Heldenvater zu einem kräftigen Niesen reizt gerade inmitten des Verses: „Und Roß und Reiter sah ich niemals wieder!“ – verursacht doch gewiß mehr Schaden, als zwanzig der blutdürstigsten Recensenten zuwege bringen könnten.

Ich will die kleinen Neckereien eines boshaften Geschickes, welche mich mit infernalischer Schadenfreude ganz aus dem Koncepte und um allen Erfolg brachten, als ich an der Weimarer Hofbühne zum ersten Male in der „Räuber“-Vorstellung die Amalie spielte, treu nach dem Leben schildern, zugleich als Beweisführung, daß unser Ruhm von recht jämmerlichen Dingen abhängt!

Meine erste Scene mit Franz-Lehfeld ging eine Zeit lang recht gut; das Publikum blieb in der gehobensten Stimmung; was Wunder! Lehfeld war damals noch auf der Höhe seiner Kunst! Wir waren bereits glücklich durch manchen Bombast des Dialogs bis zum Scblusse des ersten Aktes gelangt, und mit den Worten: „Du hast mir eine kostbare Stunde gestohlen – sie werde Dir an Deinem Leben abgezogen!“ hatte ich Franz von der Scene gejagt, den darauf folgenden Schlußmonolog beginnend: „Karl ein Bettler, sagt er?! Bettler sind jetzt Könige, und Könige – Bettler! In den Staub mit Dir, prangendes Geschmeide!“ Damit wollte ich mich, in edelmüthiger Entsagung, meines Halsschmuckes entäußern und denselben zur Erde schleudern, wie vorgeschrieben war. Aber – was ist das? Das Schloß der einreihigen langen Perlenkette, welches sonst jeder leisen Berührung nachgab und sich beqnem öffnen ließ, war plötzlich ganz rebellisch geworden – die Kette wankte und wich nicht vom Halse! „In den Staub mit Dir!“ rief ich noch eimnal mit erhöhtem Pathos und zerrte krampfhaft an der Perlenschnnr. Umsonst; das Schloß sprang nicht auf, die Kette gab nicht nach; es schien, als wollte sie meinen Hals für alle Ewigkeiten umschlingen!

Durch die Reihen des Publikums ging bereits eine sehr bedenkliche Unruhe, das für den Schauspieler so beängstigende Geräusch von Räuspern – etlichen Ah’s und Oh’s – unterdrücktem Kichern – Vorboten einer nahenden „Heiterkeit“. Was beginnen? ich war rathlos!

Solche Niederlagen des Schauspielers spotten jeder Beschreibung! Mein Blut stockte und halb weinend, mit bebenden Lippen und schlotternden Knieen, mit derselben Kraftäußernng, als gelte es einen Backzahn von acht Wurzeln aus dem eigenen Oberkiefer zu reißen, riß ich – riß ich an dem Geschmeide so lange mit Berserkerwuth, bis endlich – endlich das Schloß aufsprang!

Leider hakte sich nun die eine Hälfte desselben mit dem Schnapper ganz fest oben in die Halskrause des Spitzenkleides, und die Perlenschnur baumelte jetzt wieder der Länge nach vom Halse herunter, auch in dieser pendelnden Weise nicht die mindeste Absicht verrathend, meiner Aufforderung: „In den Staub!“ nachzugeben.

Das war zu viel! Ein Taubengemüth hätte nun der gerechte Zorn übermannt! „Biegen oder brechen“ – rief es in mir. „Hinab!“ knirschte ich heimlich – ein letzter wüthender Ruck an der Kette – dann ritsch! ratsch! – und indem ich jetzt die ganze Halskrause des Kleides mit losriß, hatte ich zwar endlich das elende Geschmeide, aber auch – ein an dem Schlosse desselben fest eingeklammertes Stück weißer Spitze, mindestens eine Elle lang, frei in der Hand. „In den Staub!“ Endlich! Gott sei Dank!

Ich schleuderte Kette und Spitze – mit imposanter Gebärde – weit von mir! Sei es jedoch, daß die fürchterliche Aufregung, in welche ich ob des Ungeheuerlichen gerathen war, mich die Distanz nicht recht abmessen ließ, sei es, daß Kobolde des Freitags spukten – genug! ich warf Beides, Kette und Spitze, anstatt in die Mitte der Bühne, einige Schritte weiter – Himmel! welch ein unglücklicher Wurf! – – gerade auf den Souffleurkasten! –

Da lag es nun, das verwünschte Geschmeide, in voller Beleuchtung des Gaslichtes, ganz oben auf der kleinen Behausung unseres unsichtbaren Schutzgeistes. Die losgerissene Spitze der Halskrause hing an beiden Seiten des eisernen Kastens recht malerisch herunter, und dazwischen schlängelte sich die Perlenschnur wie eine kleine giftige weiße Viper. Ich überschaute im Augenblicke Alles; ich fühlte die ganze Schwere meines Mißgeschickes – der Aktschluß war verloren! Nicht allein, daß ich in den Logen Gelächter vernahm, ich sah noch, wie alle Blicke nur neugierig dem corpus delicti auf dem Souffleurkasten zugewendet waren, und mit ganz erbärmlicher Miene schloß ich kläglichen Tones Monolog und Akt mit den vorgeschriebenen Worten: „Karl – Karl! so – bin ich Deiner werth!“ – Armer Karl, du hattest keine Ursache, heute Abend stolz auf deine Amalie zu sein! Der Vorhang senkte sich lautlos, aber das Publikum war in der heitersten Stimmung.

Als der General-Intendant Dingelstedt in dem darauffolgenden Zwischenakte auf der Bühne erschien und mich mit niedergeschlagener Miene in der ersten Koulisse stehen sah, schlug er eine helle Lache auf und rief mir in seiner sarkastischen Weise zu: „Bravo, liebes Kind! Sie haben mit dieser Rolle – einen sehr guten Wurf gemacht!“

Der Abend war – Dank der von mir erwähnten Unfallsteufelchen – einer der schlimmsten Freitage meiner Bühnenlaufbahn; beim Nachhausegehen klangen mir fortwährend die Worte Karl Moor’s in den Ohren; „Darum Räuber und Mörder?!“



[524]

Im deutschen Böhmerwalde.

Reiseskizzen von Karl Pröll.0 Mit Originalzeichnungen von R. Püttner.
II.[1]

Stifter-Denkmal am Plöckensteinsee.

Von Krumau ging meine Fahrt moldauaufwärts nach Hohenfurt. Ich sollte jetzt das grüne Waldhügelgeländ besuchen und den böhmischen Urwald schauen.

Eine halbe Stunde oberhalb Hohenfurt liegt die Teufelsmauer, bei welcher die Moldau sich durch vorgelagerte Felsen in schäumenden Fällen Bahn bricht. Zahllose Granitblöcke sind an den Schluchtwänden auf- und nebeneinander gelagert, über die sich dann düsterer Nadelwald emporschwingt. Diese wilde Naturromantik wird zu unserem Erstaunen einen Kilometer weiter aufwärts durch ein Bild abgelöst, das an amerikanischen Unternehmungsgeist gemahnt. In der Steinwüstenei sind Hunderte von Arbeitern ameisenartig thätig, um Raum für die großartigen Anlagen einer Cellulose-Fabrik zu schaffen, die das starke Gefälle des Flusses ausnützen soll. Kurz vor Feierabend hört man den Knall des in Bohrlöchern hinterlegten Dynamits, und große Felsentrümmer stürzen hernieder. In wenigen Monaten war ein guter Theil des Bodens geebnet, die Arbeitshäuser und Fabrikräume fertiggestellt worden, und nun kamen die weiteren Umgestaltungen und Einrichtungen, der Durchstich des Turbinen-Kanals u. dergl. Mit großer Umsicht leitete dieses Werk ein Mann, welcher seinen deutschen Ursprung abgeschworen und nun als eifriger Parteigänger der Slawen auch eine tschechische Arbeiterbevölkerung in dieser Gegend ansiedeln wollte.

In später Nacht langten mein Fahrtgenosse und ich in Friedberg an und verließen am frühen Morgen den hübschen Marktflecken, um den Weg nach dem Sankt Thoma-Gebirge zu nehmen.

In einer Stunde erreichten wir die Hochebene, etwa 1000 Meter über dem Meere, wo sich ein armseliger Flecken, ein Schwarzenberg’sches Jagdschloß im Schweizervillenstil, eine Wallfahrtskirche und die Reste der Ruine Wittinghausen befinden, einer Stammburg der Witikone oder Rosenberg, auf welche Adalbert Stifter eine seiner reizendsten Erzählungen gedichtet hat. In dem noch erhaltenen Thurm sind die Treppen gangbar gemacht, und die oben sich bietende Fernschau wird als die schönste im ganzen Böhmerwalde bezeichnet. Allein trotzdem die Sonne heiß herniederglühte, der mich auf dieser Reise äffende Höhenrauch wollte auch nach zehn Uhr nicht weichen, und ich sah nur Theile des Grenzkammes, des Salnauer Gebirgs, den Schreiner und Kubani, sowie die dazwischen liegenden Thäler – immerhin noch ein herrlicher Anblick. Wir beschlossen weiter zu gehen, nachdem wir noch mit einem höheren Schwarzenberg’schen Beamten Rücksprache gepflogen. Dieser war sehr freundlich. Aber als er das Gespräch auf politische Dinge lenkte, sahen wir, daß einer der heftigsten politischen Parteigänger des Fürsten sich uns gegenüber befand, welcher die Treue im Dienstverhältnisse selbst bis zur Verleugnung der inneren Ueberzeugung getrieben wissen wollte.

Unser Weg führte über Stögenwald und Glöckelberg, wo wir den Schwarzenbergischen Schwemmkanal kreuzten, zum Plöckensteiner See. „Auf diesem Anger, an diesem Wasser ist der Herzschlag des Waldes.“ So liest man auf dem vor acht Jahren errichteten Granitobelisken von zehnfacher Manneshöhe, welcher am Hange der Plöckenstein-Seewand sich erhebt, rings von aufwärts strebenden Tannen und Fichten eingefaßt. Dieses einfache, aber durch seine landschaftliche Umgebung großartige Denkmal Adalbert Stifter’s stimmt so recht zum Geiste des Dichters der „Studien“, „Bunten Steine“, des „Nachsommers“. Hier verspürt man den Herzschlag des Hochwaldes und blickt von der Felswarte hinaus in die meilenweite Waldfluth, welche bald hoch aufschlägt, bald in Thäler sich hinabsenkt bis zum Andreasberger und Salnauer Gebirge am Horizontrande. Es ist ein wintergrünes Land, welches jetzt in den Strahlen der glühenden Augustsonne seinen stillen Sommerschlaf hält. Nur ein ferner Axtschlag im Holz dringt schwächer als das Hämmern des Spechtes zu uns herüber. Aber Frost und Stürme werden wieder hereinbrechen, und dann muß, in die Nebelkappe gehüllt, der herbe Nadelwald den Kampf aufnehmen gegen feindliche Mächte, um seinen grünen Kranz zu behaupten.

Auf der anderen Seite des Obelisken sind die Worte Stifter’s zu lesen: „Lieg’ in hohes Gras gestreckt, schaue sehnend nach der Felswand.“ Das paßt nicht zu der Stelle, wo man nach dem ermüdenden Aufstieg sich nur auf Felsenplatten lagern oder auf einen Baumstumpf hinsetzen kann. Da müßte man im gewundenen Moldauthale oder bei Hirschbergen am Seebach ausruhen, wo es Wiesengelände und Grasmulden giebt. Nun, über solche Kleinigkeiten setzen sich Denkmalgründer und wohlwollende Denkmalbetrachter hinweg. Den Hauptreiz der Gegend aber haben wir bei unseren kritischen Bemerkungen vergessen. Es ist jenes dunkle Wellenauge, welches vom Fuße der Klippenwand heraufblickt nach Wolken und Sternen mit endloser, ungestillter Sehnsucht: der Plöckensteiner See. Und als durchsichtiger Schleier breitet sich die Einsamkeit über ihn.

Dieser Hochsee liegt mehr als 1150 Meter über der Meeresfläche und wird von dem Plöckenstein und dem benachbarten Dreisesselberg nur noch um 200 Meter überragt. Er hat eine Fläche von etwa 13 Hektaren und ist rings von Wald und Fels umgeben. Wie alle Böhmerwaldseen besitzt er eine braundunkle Farbe, welche nur durch einzelne Lichtstreifen erhellt wird. So gewinnt er seinen düster sinnenden, träumerischen Ausdruck. Stifter hat diese Scenerie auch zum Schauplatz seiner Dichtungen gemacht. Schade nur, daß er selbst diesem Zauber des Stillsinnens und Betrachtens unterlag, daß er sich nicht wie eine Lerche mit schmetternden Jubeltönen erheben und das in patriarchalischen Zuständen eingesargte Bergvolk zum Selbstgefühl und zu jenem Befreiungsdrang erwecken konnte, der alte Ueberlieferungen und Formen sprengt.

Den gewundenen und steilen Weg, der uns zum Stifter-Denkmal auf vorspringender Granitklippe hinaufgeführt, ging es nun lustig hinunter. Wieder zum Ufer des Sees gelangt, warfen wir demselben den Scheideblick zu. Der Abend begann allmählich heranzudämmern, kein Sonnenstrahl streifte mehr die Wasser. Die Krummföhren hockten auf Steinblöcken wie Gnomen, die nach der Arbeit in des Berges Tiefen ein Ruhestündchen halten und sich alte Geschichten vom Hofe ihres Königs und Anekdoten über menschliche Thorheiten erzählen. Ein wurzelloser Baum war durch abwärts gesenkte Zweige in den steinigen Seegrund verankert und streckte kahle Aeste bewegungslos nach oben – das stille, inbrünstige Gebet eines Unglücklichen. Hoch in den [525] Lüften jagte ein Falke oder Geier. Mit beschleunigtem Schritt verfolgten wir den grün überschatteten Steig zur Rosenauer Kapelle. Die nächste Lichtung zeigte ein Bild der Zerstörung. Die untergehende Sonne beschien ein Schlachtfeld der Naturgewalten. Hunderte von Stämmen lagen zu Boden geworfen, zum großen Theile schon entrindet. So sieht ein gesprengtes Karré aus, das durch feindliche Schwadronen niedergestreckt worden. Es war ein „Windbruch“, die unverwischbare Spur, daß im Mai sich hier der Frühlingssturm ausgetobt. Den Todtengräberdienst besorgen jetzt die Borkenkäfer. Unweit der Rosenauer Kapelle nahm uns ein entgegengeschickter Wagen in Empfang und führte uns durch das im Mondlicht erglänzende Seebachthal und die Moldau-Mulde nach Ober-Plan, dem Geburtsort Stifter’s.

Am nächsten Morgen sahen wir uns das Häuschen an, in dem Stifter das Licht der Welt erblickte und das seine Mitbürger mit einer Gedenktafel versehen haben. Der noch lebende ältere Bruder des Dichters wies uns verschiedene Reliquien desselben, Briefe, Familienbilder u. s. w. vor und belebte die Erinnerung an dessen Leben und Wirken.

Auf dem Gipfel des Dreisesselberges.

Nun galt es, die Besteigung des etwa 1400 Meter hohen Dreisesselberges nachzuholen. Der höchste Punkt desselben liegt schon in Bayern. Unser Bild zeigt die ungeheuren Granitblöcke, welche die Spitze bekrönen und die eine lebhafte Einbildungskraft wohl für Riesen halten könnte, die vor ihr Fehmgericht Wolken und Stürme forderten. Für den Touristen sind Treppen zur Besteigung der natürlichen Plattform, Bänke, Tische und ein Schutzdach hergerichtet. Nur ein wirkliches Unterkunftshaus mit Restauration wird schmerzlich vermißt, und die darauf abzielenden Wünsche harren noch ihrer Erfüllung. Eine Quelle sprudelt in der Nähe; den Mundvorrath aber muß man sich mitbringen. Trotz dieser Unbequemlichkeiten hatte an dem schönen Augusttage sich hier ein Dutzend Menschen eingefunden; die meisten waren Bayern, welche von ihrer Seite bequemeren Aufstieg nehmen können und namentlich keine Sumpfstellen zu überschreiten brauchen. Luft und Licht waren herrlich, aber auch hier schob sich der Schleier der Maja, welcher diese Erscheinungswelt umhüllt, als dünner, glanzzitternder Fernnebel dazwischen und ließ uns nicht die dahinter gelagerten Alpen erspähen. Alles weist darauf hin, daß man Bergbesteigungen im Böhmerwalde auf den Herbst, oder noch besser auf den Winter verschieben soll, wo die größere Mühe auch mit jener ungetrübten Ausschau gelohnt wird, welche eine dunstfreie Atmosphäre gewährt.

Lucken-Urwald bei Schattawa.

Wir kehrten nach Neuthal zurück und gingen von da ab nach dem schöngelegenen Böhmisch-Röhren, wo uns der Mond und der dunkle Tussetwald in das Schlafzimmer hineinschauten. Am nächsten Tag besuchten wir den Markt Kuschwarda und fuhren dann längs der „grasigen Moldau“ nach Elenorenhain, der berühmtesten Glashütte im Böhmerwalde. – Von hier aus machte ich mit dem Buchhalter der Fabrik, einem Deutschen aus Nordböhmen, und mit einem Forstadjunkten, welcher in freundlicher Weise unsere Führung übernahm, den Ausflug zum Lucken-Urwald bei Schattawa am Fuße des 1350 Meter hohen Kubani. Dieser Besuch der Urwaldsmajestät gehört zu den stimmungsvollsten Erlebnissen meiner Wanderschaft. Die Skizze, welche eine Partie der großartigen Baumwildniß darstellt, kann nur schwach den Eindruck wiedergeben, welchen diese fessellose Natur hervorruft, die hier eine gewaltige Orgie von sprossendem Lebensdrang und erbarmungsloser Zerstörung feiert. Von der Bergstraße blickt man in dieses Chaos von Hochtannen und bärtigen Fichten hinein, zu deren Füßen die gefallenen Brüder wirr durch einander liegen und sich der junge Nachwuchs im Verein mit üppigem Gesträuche drängt. Etwa sechzig Hektaren sind für „ewig“ von der strengen Zucht der Axt befreit, welche Wachsthum und Vergehen regelt. Wir stiegen hinab zu dem Kampfplatz.

Es war eine der schwierigsten und mühseligsten Arten des Anschauungs-Unterrichtes. Die fast vergessenen Turn- und Kletterkünste jüngerer Jahre mußten hervorgeholt werden, damit wir weiter kommen konnten. Da galt es, vorsichtig auf einem quer über andere Baumleichen hingestreckten mächtigen Stamme sich zu bewegen, die dürren, oft in der Hand zerbrechenden Aeste zur Seite zu beugen, von dem schlüpfrigen Moos, welches als grünliches Sterbelaken den Todten bekleidete, nicht abzugleiten. Denn ringsumher hielten andere Bäume ihre spitzen Aeste vor, um den Fallenden aufzuspießen. Aus den morschen Fallstämmen, die man „Ronnen“ oder „Raanen“ nennt, und aus den stehengebliebenen Wurzelstöcken derselben sprießen junge Fichten und Tannen hervor, während unter ihnen Farren und Kräuter sich ungehemmt entwickeln. Aber auch manche schon vollständig ihrer Rinde entblößte Stämme stehen noch aufrecht da und strecken ihre verdorrten Wipfel in die Lüfte – [526] unheimliche Spukgestalten. Um hier vorwärts zu kommen, mußte man manchmal glatt auf dem Bauche uuter einem Riesenstamme durchkriechen und sich durchwinden und dabei Acht geben, daß man nicht plötzlich in ein von Himbeersträuchern verdecktes Sumpfloch gerathe. Der geübte und mit dem Terrain vertraute Forstmann, welcher eine der ungangbarsten Stellen gewählt hatte, um uns ein gründliches Studium des Urwaldes möglich zu machen, sah mit leisem Schmunzeln den verzweifelten Anstrengungen der Schreibtischmenschen zu. Nach einer starken Stunde des tollsten Herumkletterns, wobei wir uns oft hin und her winden und ducken mußten, hatten wir die Sache satt und begehrten nach kultivirtem Wald. Der Adjunkt brachte uns auch wieder auf die Straße. Zum Durchschreiten des Urwalds in beliebiger Richtung hätten wir mindestens zwei Stunden gebraucht. Ich war aber in der einen schon müder geworden, als bei all’ meinen Aufstiegen im Böhmerwalde und bei zwölfstüudigem Tagemarsche.


Was will das werden?
Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)
8.

Viel zu früh für Adele und mich, die beiden Glücklichen, die sich einander mit Fragen bestürmten, auf welche selten eine Antwort folgte, kamen Graf Pahlen und Adalbert aus dem Nebengemach.

„Verzeihen Sie die Mystifikation,“ sagte der Graf, mir mit einem herzlichen Lächeln die Hand reichend; „ein so scheuer Vogel wie Sie will vorsichtig behandelt sein. Wer konnte wissen, ob der seltsame Zufall, der uns zusammengeführt, Ihnen dieselbe hohe Freude bereiten würde wie uns; und um die Ueberraschung wäre es jedenfalls geschehen gewesen, wenn ich Ihnen meinen wahren Namen genannt hätte.“

„Er wäre dann gar nicht gekommen!“ rief Adele, mich von neuem umarmend.

„Wenigstens hat er mit seinen alten Freunden gründlich Versteckens gespielt,“ sagte Adalbert.

„Wie wär’s, Adele, wenn Du uns ein Glas Thee oder Punsch zurecht machtest?“ sagte der Graf. „Es plaudert sich dabei doch besser, und ich meine, wir, die wir hier sind, haben einander gar viel zu erzählen.“

Adele war gleich bereit und eilte geschäftig ab und zu, während der Graf Cigarretten anbot, von denen auch Adalbert nahm zu meiner Verwunderung – er hatte früher das Tabakrauchen verabscheut. Ich erinnerte ihn daran; er zuckte die Achseln.

„Ich fürchte, Du wirst mich auch sonst sehr verändert finden.“

Ich fand es in der That, wenigstens so weit es sein Aeußeres betraf. Gestern, wo ich ihn nur von ferne sah, mußte mir das entgehen. Er schien um zehn, ja um noch mehr Jahre gealtert zu sein. Die früher jugendlich feinen Züge waren stärker geworden und trotzdem schärfer, die weiße Stirn steiler und breiter, die Brauen zogen sich dunkler über den grauen Augen, die durchdringender blickten, während die dünnen Lippen, welche jetzt ein kurzgeschorener Schnurrbart beschattete, sich, wenn er schwieg, fester auf einander schlossen – Alles in Allem ein Gesicht, wie es einem geborenen Herrscher zukam, und in das ich doch, bei aller Bewunderung, nicht ohne bange Wehmuth blicken konnte: es lag auf der imperatorischen Großheit ein so tiefes, hoffnungsloses Weh, besonders wenn er, was freilich selten genug geschah, lächelte: es war dann wie der Scheideblick der Sonne über einem erhabenen Meer, während von der anderen Seite schon die Nacht heraufzieht.

Ich hütete mich, meine Beobachtungen laut werden zu lassen, ja, vermied es, ihn weiter prüfend anzublicken, wurde freilich dann auch von Adele, die jetzt mit dem Samovar wieder ins Zimmer kam, ganz in Anspruch genommen. Auch mit ihr war eine große Veränderung vorgegangen, aber, wo möglich, noch zu ihren Gunsten, trotzdem ihre frühere reizende jugendliche Fülle und Frische verschwunden war. Die Gestalt war schlanker, das Gesicht schmaler und blasser, auch der helle Silberglanz ihrer Stimme hatte sich vertieft; aber sie war mir nie so schön und vornehm erschienen damals als Châtelaine in ihrer prächtigen Villa, umgeben von all den tausend kostbaren Brimborien einer eleganten Dame, wie jetzt in dieser dürftigen, alles Luxus’ und Komforts entbehrenden Mansardenwohnung, an deren ungedecktem Theetisch sie nun hausfraulich waltete mit einem Schürzchen über der dunklen, völlig schmucklosen Kleidung.

Der Samovar sang sein trauliches Lied; aus den Cigarretten der beiden Herren stieg der bläuliche Rauch zu der niedrigen Zimmerdecke und hüllte uns alle in eine behagliche Wolke; munter schwirrte das Gespräch um den runden Tisch, wohl von keinem so gewürdigt und so eifrig gepflegt, wie von mir. Als der Neuling in dem kleinen Kreise, in welchem jeder die Schicksale, Gedanken und Strebungen des Andern längst kannte, war ich, so wie so, vor der Hand der Mittelpunkt des gemeinsamen Interesses, und mir war es Bedürfniß und Lust, mich endlich einmal wieder frei vor freien, hochgebildeten Menschen aussprechen zu dürfen. Hatte ich doch dieses Glück so lange Jahre entbehren, in meinen Schauspielerkreisen immer erst selbst das Gespräch auf höhere Gegenstände lenken müssen, um nur zu bald zu sehen, daß Keiner mich verstand, der Horizont Keines über die klägliche Enge des Metiers hinausging. Hier ging der Horizont so weit Gedanken von Menschen reichen, die sich von keinem Vorurtheil einschränken, sich von keiner hergebrachten Meinung imponiren lassen. Dieses wonnige Gefühl, diese erhebende Gewißheit erfüllten mich gänzlich und ließen mich mein Innerstes erschließen rücksichtsloser, als ich es vielleicht vor mir selbst je gewagt hatte.

Dem Redseligen war vollste Theilnahme geschenkt worden; Adele, neben der ich saß, hatte den Blick nicht von mir gewandt, und bei Schilderungen von Situationen, in denen es mir besonders mißlich ergangen, wie bei denen meiner Hamburger Abenteuer, waren ihre lieben Augen feucht geworden, und sie hatte mir innig die Hand gestreichelt. Und ich hatte die Liebkosung ebenso erwidert, längst befreit von der qualvollen Sorge, die mir im Anfang meiner Erzählung doch noch das Herz bedrückt: es könne in ihrer, Seele eine Ahnung, vielleicht die Gewißheit davon sein, daß ich sie einst mit einer anderen, ach, so ganz anderen Liebe geliebt.

Aber sie spottete so heiter über meine Kurzsichtigkeit, ein Verhältniß nicht durchschaut zu haben, das für Niemand sonst bei Hofe und in der Stadt ein Geheimniß war, zum Erstaunen des Herzogs, der geneigt gewesen, mich in meiner Naivetät für den größten Schauspieler der Welt zu halten, bis er sich Wohl überzeugen mußte, daß meine Unbefangenheit ganz echt war, und er mich gerade deßhalb nur noch mehr geliebt hatte.

„Denn er hat Dich geliebt,“ sagte Adele, „Wohl noch mehr als mich, als sein besseres, reineres, höheres Selbst; das mag Dir auch die Katastrophe erklären, in welcher er so kleinlich erscheint und doch nur bejammerungswürdig ist. Er glaubte, in seinen Gedichten sein Höchstes gegeben zu haben. Und dies Höchste verworfen, von Dir verworfen zu sehen, um derentwillen er stolz auf seine Leistung war, nach dessen Lob und Anerkennung er gebangt hatte, wie ein Schüler nach einem guten Wort des Meisters – das machte ihn rasend und würde auch andere Leute so gemacht haben, die keine Herzöge sind. Aber, Lothar, ich wundere mich schon lange, daß Du kein Wort von Deiner Mutter sprichst. Du kannst uns hier doch voll vertrauen. Alexei ist natürlich längst unterrichtet, und ich hielt es für unnöthig, Deinem Freunde ein Geheimniß aus Deiner Abstammung mütterlicherseits zu machen, nachdem ich ihm nicht verschwiegen hatte, daß wir Geschwister sind. Es ist doch undenkbar, daß es Dir selbst ein Geheimniß geblieben wäre, wenn Du auch vorhin von dem Hauptmotiv Deines verunglückten Auswanderungsplanes, ich meine: von dem Wunsche, Dich wieder mit Deiner Mutter zu vereinigen, ich weiß nicht weßhalb, geschwiegen hast.“

Ich erschrak. Ich hatte geglaubt, daß der Herzog selbst Adelen – gerade Adelen – gegenüber den Schleier nicht gelüftet [527] von einem Verhältniß, in welchem er eine so traurig unritterliche Rolle spielte. Und nun wußte sie, nun wußten die Freunde, wovon ich gehofft, daß es mit den zunächst Betheiligten ins Grab gehen werde!

„Und er hat den Muth gehabt, Dir das zu sagen?“ fragte ich in meiner Verwirrung.

„Er mußte wohl,“ erwiderte Adele; „wenigstens war es kaum zu vermeiden, als es sich darum handelte, Dich zu nobilitiren. Die Mutter des Barons von Hochheim (zu diesem wollte er Dich machen) durfte keine, wenn mich noch so schöne und liebenswürdige Schauspielerin, sie mußte eine vornehme Dame gewesen sein. Ich hatte dafür zu sorgen, daß das in den adligen Kreisen herumkam; ja, ich sollte im Nothfalle vor einer Namensnennung nicht zurückschrecken. Nun, und der Herzog wußte recht gut, wie schwer mir die Lüge wurde. Da zog er es denn doch vor, mir die Wahrheit zu sagen, mir alle!n; wie er auch allein, nach seiner Versicherung, die Familienverhältnisse Deiner Mutter kannte. Möglich, daß Weißfisch, als wir endlich herausbrachten, daß Du Dich nach Hamburg gewandt hattest, und er Dir nachgeschickt wurde, geheime Instruktionen mitbekommen hat, um sich nöthigenfalls der Mitwirkung des amerikanischen Konsuls und anderer Behörden versichern zu können. Aber durch Dein spurloses Verschwinden wurde das Alles hinfällig. Ueberdies ist der Mann verschollen, und so hast Du nichts mehr von ihm zu fürchten.“

„Er ist wieder aufgetaucht,“ erwiderte ich und erzählte, wo und wie ich gestern Abend Weißfisch gefunden.

Adele verfärbte sich und warf einen ängstlichen Blick auf ihren Gatten, der lächelnd die Achseln zuckte.

„Die Sache scheint mir sehr ernsthaft,“ sagte Adele; „dieser Mann ist, so viel ich weiß, der einzige, der mich hier kennt, und der Dich, sobald er Dich mit mir zusammensähe, sofort rekognosciren würde.“

„Was hätte er davon?“ sagte der Graf. „Jemand, der socialdemokratische Versammlungen besucht, ist Wohl für unser Einen nicht fürchterlich.“

„Ueberdies,“ fiel ich ein, „haßt er den Herzog, der ihn weggejagt hat; ich glaube mich auch sonst für den Mann verbürgen zu können.“

Und ich theilte seine Aeußerung von gestern Abend betreffs Adelens mit, hinzufügend, daß ich dessen ungeachtet und trotz der fast hündischen Anhänglichkeit, welche der Mann für mich an den Tag lege, die nöthige Vorsicht nicht aus den Augen lassen werde.

„Aber,“ fuhr ich fort, „dabei habe ich noch immer nicht gesagt, weßhalb ich so beharrlich von meiner Mutter geschwiegen habe, ebenso wie es mir jetzt, nachdem die Rede auf diesen wundesten Punkt meines Lebens gekommen und es kein Geheimniß mehr zu bewahren giebt, ein Bedürfniß ist, mich mit Dir und den Freunden offen darüber auszusprechen. Ja, ich kenne die Familienverhältnisse meiner Mutter durchaus. Der Herzog hat mir noch am letzten Abende unseres Beisammenseins, offenbar um mich zu prüfen, wie weit ich etwa schon von dem wahren Sachverhalt unterrichtet sei, oder um mich nöthigenfalls auf das Kommende vorzubereiten, die wahre Geschichte meiner Mutter erzählt und nur die Identität der amerikanischen Dame mit der ehemaligen Schauspielerin bis auf Weiteres verschwiegen. Diese Identität aber mußte für mich zweifellos erhellen durch die Erzählungen der Müllersleute, denen meine Mutter wohl im Ueberschwange ihres erträumten Glückes Alles gesagt hatte, und die den Sohn an der Ähnlichkeit mit der Unseligen auf den ersten Blick erkannten. Dennoch, liebe Adele: nicht der Wunsch, mit meiner Mutter wieder vereinigt zu sein – .wie hätte der auch in mir aufkommen können, da das Gegentheil von Einigkeit stets zwischen ihr und mir bestanden! – nein, eher der Rachegedanke, vor sie hintreten und sagen zu dürfeu: das hast Du an mir gethan, war einer der Beweggründe, die mir den Weg nach Amerika wiesen. Dieser Beweggrund trat aber bald gänzlich hinter dem anderen zurück: mich drüben all der Fesseln, die mich hier drückten, entschlagen, auf freiem Boden frei ausleben zu können. Es ist nun anders gekommen, aber deßhalb bin ich kein Anderer geworden. Im Gegentheile: dieser Freiheitsdrang ist nur in mir gewachsen zur vollen, mich ganz erfüllenden Leidenschaft, der ich auf meine Weise gerecht zu werden suche. Auf eine sehr bescheidene, ich gebe es zu, die sich kläglich genug ausmmmt, zum Beispiel im Vergleiche mit den agitatorischen Leistungen und Erfolgen dieser Herren hier. Es muß sich eben Jeder nach seiner Decke strecken, und ich habe, durch traurige Erfahrungen gewitzigt, herausgefunden, daß meine Decke nun einmal nicht länger ist. Ja, ich habe resignirt, voll und ganz. Der Gedanke der Möglichkeit, die mir heute erst wieder näher gelegt wurde, doch noch als Dichter durchzudringen, erscheint mir schon jetzt wieder völlig kindisch, wenn er mich auch auf einen Augenblick erregen konnte; und fratzenhaft bis zum Grausen die andere Möglichkeit, daß irgend ein abscheulicher Zufall meine Abstammung mütterlicherseits von den Vogtriz ans Licht brächte.“

Zu meinem Erstaunen fand die kleine Rede nicht den Beifall, auf den ich gehofft hatte. Adele lächelte verlegen, wie mir schien; Adalbert blickte starr vor sich hin, und gar der Graf schüttelte leise den Kopf. Ich sah ihn erstaunt fragend an.

„Verzeihen Sie,“ sagte er, „wenn ich bei aller Würdigung Ihrer Gefühle mich zu Ihren Anschauungen nicht ganz bekennen kann. Bei Freund Adalbert müßte es folgerichtig der Fall sein, aber er mag hernach für sich selber sprechen. Sie haben da nämlich einen Hauptpunkt berührt, über den er und ich uns durchaus nicht einigen können. Ich bin der Meinung, daß die grundmäßige Umgestaltung der Verhältnisse, in denen wir leben und leiden, von unten her, von dem Volke nicht ausgehen kann. Die träge Masse vermag sich nicht aus eigener Kraft zu heben; sie wird immer gehoben werden müssen und kann nur gehoben werden von Denen, welche im Vollbesitze der Bildung sind, die Mittel derselben kennen und diese Mittel auch anzuwenden verstehen und anzuwenden willens und entschlossen sind. Revolution von unten, wie die Jacquerie, die Bauernkriege, selbst noch die Erhebung des tiers-état> 1789, oder heut zu Tage der irischen Landliga, oder unser kosmopolitischer Socialdemokratismus werden immer unterdrückt, zertreten, zerschmettert werden und sich dann in ihr Gegentheil verwandeln und eine mehr oder weniger wüste Reaktion im Gefolge haben, so lange sich nicht die gebildeten Klassen an der Erhebung betheiligen und die Sache in die Hand nehmen. Deßhalb mein beständiger Refrain: gewinnen wir die oberen Klassen, den Adel, die Officiere, das Beamtenthum, die oberen Zehntausend der Gelehrsamkeit, der Kunst und nicht zum wenigsten: des Reichthums. Begnügen wir uns nicht, Außenwerke zu erobern und zu zerstören, an welchen dem Feinde nichts liegt, oder die er doch mit einem einzigen kühnen Ausfalle zweifellos wieder in seine Hände bringen wird. Dringen wir in seine Hochburg! Dann, und dann erst kann, dann aber wird auch Troja fallen, und der Leidenskrieg der Menschheit, wenn nicht ein Ende – an das ich nicht glaube – so doch einen vorläufigen Abschluß haben, mit dem wir zufrieden sein dürfen. Und eben deßhalb: ich sehe kein Heil weder für unsere Sache noch für ihn selbst darin, daß unser Freund hier, mein lieber Schwager, so weiter Bretter sägt und hobelt; aber sehr bin ich dafür, daß er mit seinen Gesinnungen, seiner Ueberzeugungstreue und seinem Opfermuth die Millionen seiner Mutter erbt und, als ein großer Mann, der er dann in den Augen seiner Vogtriz’schen Verwandten sein wird, das Lager derselben stürmend nimmt und uns unter Anderem den Oberst von Vogtriz als Gefangenen zuführt.“

„Mein Gott, wie kommen Sie gerade auf den?“ rief ich erschrocken.

Der Graf lächelte; Adalbert antwortete für ihn: „Er hat im Reichstage die Militärvorlage als Regierungskommissar zu vertheidigen gehabt und nur schlecht vertheidigt – im Sinne des Ministers selbstverständlich. Wenigstens giebt man ihm schuld, daß es wesentlich durch sein versöhnliches Auftreten zu dem Kompromiß des Septennats mit den sogenannten liberalen Parteien gekommen ist. Seine Stellung soll in Folge dessen schwer erschüttert sein; eine der reaktionären Zeitungen warf ihn heute schon ganz offen zu den Todten. Und die Todten, mußt Du wissen, reiten in jenen Kreisen besonders schnell. Du brauchst also, wenn Du Deinem Idol – er war es wenigstens einst – zufällig begegnest, Dich nicht zu wundern, wenn einige der reaktionären Farben, in welchen er sonst strahlte, etwas eingedunkelt sein sollten. Schiller hat nicht umsonst die ,Drei Unzufriedenen’ in seine revolutionäre Fiesko-Liste gebracht, wenn auch die richtigen Verrinas, sobald ihnen etwas contre coeur passirt, immer wieder ,zum Herzog gehen’ – was sich unser lieber Graf als Beitrag seiner Theorie der Revolution von oben gefälligst merken möge.“ [528] Adalbert hatte das in einem müden Tone gesagt und über sein bleiches Gesicht zitterte wieder das melancholische Lächeln. Auch erhob er sich nach den letzten Worten und erklärte, noch von gestern her, wo er nach der Versammlung mit der Elite seiner Zuhörer in einer gräulichen Kneipe bis drei Uhr habe beim Biere sitzen müssen, tödlich erschöpft zu sein. So war ich ebenfalls gezwungen, aufzubrechen. Adele nahm schwesterlich zärtlichen Abschied von mir und verpflichtete mich, am nächsten Abend wiederzukommen. Der Graf leuchtete uns – diesmal mit einer Laterne – die steilen Treppen hinab und über den Hof durch den Flur zum Hause hinaus, das mittlerweile auch verschlossen war, nachdem er uns an der Thür gute Nacht gesagt, trotz der Laterne in seiner Linken vom Scheitel bis zur Sohle der vornehme und gegen mich noch besonders höflich-freundliche Kavalier.

Wir machten schweigend ein paar Schritte auf der dunklen, einsamen Gasse, durch welche ein Regensturm heulte.

„Unsere Wege trennen sich gleich hier,“ sagte Adalbert stehen bleibend; „ich wohne ganz in der Nähe“ – und er nannte mir Straße und Nummer, während ich mich schämte, zu sagen, daß ich dieselben, schon längst aus dem Adreßbuche kannte.

„Auch ich hoffe natürlich, Dich recht bald zu sehen,“ fuhr er fort, „wenn ich auch morgen Abend nicht zu Deiner Schwester kommen kann. Und, was ich sagen wollte: ich denke, Du erinnerst Dich daran, daß auch ich eine Schwester habe, die Dich herzlich liebt, und in deren dunkles Leben Du einen Sonnenstrahl bringen würdest. Sie wohnt mit meiner Mutter zusammen. Und nun lebe wohl und auf Wiedersehen!“

Er schlug den Rockkragen in die Höhe und wandte sich, ohne mir diesmal die Hand gereicht zu haben, wie er das ja auch in der Maienzeit unserer Freundschaft auf der Schule nicht zu thun pflegte. Wollte er damit ausdrücken, daß wir so weit als möglich wieder die Alten sein wollten?

So weit als möglich? wie weit?

Ich grübelte darüber nach, während ich nun meinen einsamen Weg nach der weit entfernten Wohnung fortsetzte. Wie gestern Abend mit leidenschaftlicher Bewunderung, so gedachte ich heute seiner mit innigster Theilnahme. Großer Gott, war diese, wie es schien, hoffnungslose Schwermuth der ganze auf ihn gefallene Antheil jeues Wohlergehens, welches er Anderen zu bereiten mit der vollen Kraft seiner starken Seele strebte? Das konnte mich wahrlich um das wenige Glück, das ich nur errungen hatte, bange machen; geschweige denn um das viele, große, das mir an diesem Tage aus den Wolken, aus der Götter Schoß zugefallen. Der Freund, den ich in thörichter Bangigkeit hatte meiden wollen; die Schwester, nach der ich mich, ohne es mir einzugestehen, alle diese Jahre herzlich gesehnt und die jemals wiederzusehen ich aufgegeben hatte! Das war schon schier zu viel aus einmal für den Glückentwöhnten. Aber die Götter rächen ja nur den Uebermuth. Sie sollten scharf ausspähen müssen, bis sie den Tischlergesellen darauf ertappten!

9.

Nein, der nächste Morgen fand mich nicht übermüthig, aber die Götter thaten, als wäre ich es, und versuchten auf mancherlei Weise, mir zu schaden und, wollte das nicht gehen, mich wenigstens zu schrecken.

Das Letztere durch die Erkrankung der beiden jüngsten Kinder meines Bruders, bei denen zugleich über Nacht der Scharlach ausgebrochen war. In einem kleinen und ärmlichen Haushalte, wie der unsere, gab das immer, auch wenn vorläufig von Gefahr nicht die Rede war, eine empfindliche Störung und einen Arbeitszuwachs, der, obgleich er im Grunde doch nur die Schwägerin traf, von Otto als ein ihm besonders widerfahrenes Mißgeschick beklagt wurde. Wo nichts sei, da habe bekanntlich der Kaiser sein Recht verloren; aber das Unglück wich lange nicht. Nun, ihm sei es gleich; er sei auf Alles gefaßt.

Er war es nicht einmal, als eine Stunde später unser Mitgeselle Knall und Fall von der Arbeit lief. Dieser Brave hatte binnen vierundzwanzig Stunden die Umwandelung von einem wüthenden Socialdemokraten in einen fanatischen Christlich-Socialen vollständig durchgemacht. Er war gestern Abend in der Versammlung beim Pastor Renner gewesen; Pastor Renner hatte ihm die Augen geöffnet: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, Innungszwang und keine Steuern mehr für die unteren Klassen: das sei von jetzt sein Programm, und der Teufel solle ihn holen, wenn er je wieder bei einem socialdemokratischen Meister einen Hobel anrühre.

Damit war der Biedermann, nachdem er vorher weislich einen Streit mit dem gutmüthigen Otto vom Zaun gebrochen, zur Werkstatt hinausgestürmt.

„Laß ihn laufen, Otto,“ sagte ich; „der Mensch ist nicht unersetzlich, und bis er ersetzt ist, werden wir Zwei für Drei arbeiten.“

Otto sagte gar nichts, dafür seufzte er alle paar Minuten so herzbrechend, daß man hätte lachen müssen, wenn die bodenlose Schwäche des Mannes für mich nicht von so trauriger, schwerwiegender Bedeutung gewesen wäre. Der Fortgang des Geschäftes, das sich jetzt so gut anließ, das Wohl der Familie, die durch mich zum ersten Mal eine Art von Behagen kennen gelernt hatte – es ruhte Alles auf mir. Was sollte daraus werden, wenn ich auch nur auf acht Tage arbeitsunfähig wurde? Ich dachte schaudernd an meinen Arm, der mich schon ein paarmal in Folge von Ueberanstrengung heftig geschmerzt hatte. Ein Krüppel! Es hatte mich blutige Thränen gekostet, als es mich damals verhinderte, in den Kampf gegen den Erbfeind zu ziehen. In diesem Kampfe um Haus und Herd würde Keiner für mich eintreten; hier war ich einfach unersetzlich, und die Schlacht mußte ohne mich verloren gehen.

Ich gestehe, daß diese trübseligen Betrachtungen die freudigen und erhebenden Erlebnisse der letzten Tage wie mit einem grauen Schleier zudeckten, und ich förmlich erschrak, als gegen zehn Uhr Weißfisch, diesmal in der Werkstatt selbst, erschien und mich daran erinnerte, daß ich zu meinen häuslichen und geschäftlichen Pflichten andere, keineswegs leicht zu erfüllende übernommen hatte. Zwar das Manuskript des „Thomas Münzer“ hatte ich schon zurecht gelegt und konnte es jetzt Weißfisch übergeben, mit der Bitte, es Herrn Lamarque zu überbringen. Aber mit diesem Kaufpreis von Lamarque’s Protektion Christine gegenüber war die Rechnung mit den Hopps ja keineswegs beglichen. Gab es Jemand, der den Zorn des Vaters, den Jammer der Mutter beschwichtigen, beide mit der neuen Wendung in dem Geschick der Tochter aussöhnen konnte, so war ich es, und zwar mußte das auf der Stelle geschehen; aber wie hätte ich heute von der Arbeit fortgedurft! Ich klagte Weißfisch meine Verlegenheit; Weißfisch wünschte, daß mich einmal eine größere treffen möchte, nur damit er im Stande sei, mir seine Ergebenheit und hoffentlich auch seine Anstelligkeit zu beweisen. Er habe die Bekanntschaft der Hopps damals, als er – nun, ich wisse ja schon – gesucht und gemacht – eine ganz intime Bekanntschaft in Anbetracht der kurzen Zeit, die er darauf verwenden konnte – und wenigstens die von H. H., den er wiederholt in Kneipen getroffen, hier erneuert. Ich solle ihn nur machen lassen. Und auf dem Wege könne er uns gleich einen neuen Gesellen besorgen. Es liefen so viele arbeitssuchend in der Stadt herum. Um Mittag hoffe er mit seinen Besorgungen fertig zu sein und werde sich dann abermals die Ehre geben.

Wirklich kam er schon gegen Mittag zurück. Der neue Geselle, ein kreuzbraver Kerl und Socialdemokrat selbstverständlich, werde morgen mit dem Frühesten antreten. Was das Uebrige betreffe – Ich fragte Otto, ob er nicht inzwischen zu Tisch gehen wolle; ich würde in einigen Minuten nachkommen. Otto legte seufzend den Hobel weg und verließ die Werkstatt; Weißfisch lächelte, rieb sich nach alter Gewohnheit, die ich jetzt zum ersten Male wieder bei ihm bemerkte, ein paarmal sanft die Hände und berichtete.

Es war Alles nach Wunsch, ja fast darüber hinaus glatt und glücklich gegangen. Herr Lamarque habe ihm in seiner Freude über das Manuskript sofort eine größere Summe eingehändigt, zum Arrangement der Angelegenheiten Fräulein Christinens. Einen Theil dieser Summe habe er bei der Brotherrin Fräulein Christinens gelassen gegen einen Revers, in welchem die Dame auf jedes weitere Anrecht an ihre bisherige Gehilfin verzichtete. Darauf habe er sich stehenden Fußes mit dem Fräulein in einen Wagen gesetzt und dasselbe in einer Chambre garnie bei einer sehr anständigen Familie in unmittelbarer Nähe des Theaters vorläufig für einen Monat, den er vorausbezahlt, eingemiethet, mit der Weisung an das Fräulein, das Quartier bis auf Weiteres nicht zu verlassen. Dann erst habe er sich zu Hopps begeben und auch dort mit

[529]

Schloßhof in Heidelberg.
Nach einer Radierung von Bernhard Manfeld.
Verlag von Raimund Mitscher, Berlin SW., Wilhelmstraße 9.

[530] Hilfe einiger Ueberredungskunst, einigen baren Geldes und vor Allein dadurch, daß er meine Autorität ins Treffen geführt, einen nicht ganz leichten, aber vollständigen Sieg davongetragen.

Weißfisch verbeugte sich und fragte, ob ich sonst noch einen Auftrag für ihn habe. Ich dankte ihm für seine Bemühungen; er versicherte, daß zu danken einzig und allein ihm zukomme, und ging, nachdem er um die Erlaubniß gebeten, morgen wieder vorsprechen zu dürfen, wo er sich verstatten werde, mir betreffs der scenischen Einrichtung des „Münzer“, welchen er von unserer gemeinsamen Zeit her genau kannte, einige Vorschläge zu machen, die ihm über Nacht eingefallen seien und die ihm von zwingender Wichtigkeit zu sein schienen.

Mein freiwilliger Diener konnte sich nicht rühmen, daß ich ihm heute ein „gnädiger“ Herr gewesen war, wie er mich, sobald wir allein waren, unweigerlich nannte. Ich hatte die Warnung Adele’s und mein Versprechen, gegen den Vielgewandten auf der Hut zu fein, nicht vergessen und mich so gegen ihn kühler und gemessener gehalten, als sonst meine Art, und der Eifer des Mannes, mir gefällig und hilfreich zu sein, zu verdienen schien.

Wie lange Zeit würde ich bedurft haben, ins Werk zu setzen, wozu für ihn wenige Stunden hingereicht hatten; und welche große Sorge war mir damit vom Herzen genommen, freilich nur, um einer anderen, kaum minder großen Platz zu machen! Herr Kunze rechnete bei seiner Bewerbung um Christine fest auf meinen Beistand und hatte mit sehr unzweideutigen Worten zu verstehen gegeben, daß er seine geschäftlichen Beziehungen zu uns nach meinem Verhalten in dieser Angelegenheit regeln werde. Nun hatte Weißfisch, wie er selbst sagte, von meiner Autorität in dem Hopp’schen Lager den ausgiebigsten Gebrauch gemacht. Es war kein Zweifel, daß die Hopps wiederum, sich gegen Herrn Kunze zu entschuldigen, diesen Umstand ins Treffen führen, das heißt, mich diesem Ehrenmanne gegenüber vollständig bloßstellen und seiner Rache ausliefern würden. Und leider hatte er Handhaben genug, einem derartigen Gelüste vollste Befriedigung zu gewähren.

(Fortsetzung folgt.)


Vogelmette.

Dringt das erste Dämmerlicht
Grüßend mir ans Bette,
Hör’ ich vor den Fenstern dicht
Eine Vogelmette.

Hell vom Platz vor meinem Haus,
Wo die Sträucher ranken,
Klingt es in die Stadt hinaus
Wie ein kindlich Danken.

Leise da und dort erwacht,
Erst ein Vogelseelchen,
Und halb schlummernd noch und sacht
Stimmen sich die Kehlchen.

„Guten Morgen!“ hör’ ich’s dann,
„Fehlen denn auch keine?“
„Munter, Kinder, fangt nur an:
Noch sind wir alleine!“

Und nun setzt es silbern ein,
Keusch in jedem Klange,
Vogelfröhlich, glockenrein,
Frisch zum Morgensange.

Innig wie ein Kinderlied,
Wie ein Märchen traulich,
Daß es durch die Lüfte zieht
Wundersam erbaulich.

Wie es schwillt und wogt und rollt
Und zum Schöpfer schwebet –
Bis das erste Sonnengold
Um die Dächer webet,

Bis verschlafne Augen schwer
Aus den Fenstern gucken,
Und die ersten Tritte her
Durch die Straßen spuken.

Ferdinand Avenarius.




Fünfhundert Jahre der deutschen Hochschule Heidelberg.

Es war ein wohlwollender und kluger Herr, der Kurfürst Ruprecht I. von der Pfalz, der an die vierzig Jahre lang sein schönes Land regiert und stattlich vergrößert hatte. Macht und Ansehen seines Hauses Wittelsbach, welches die Hohenstaufen als ihnen treu ergeben über die rheinische Pfalz gesetzt, lag ihm ebenso so sehr am Herzen, wie unter seines Gleichen sich durch seine Bildung und Weisheit in Achtung zu erhalten. Darum war er auch mit dem gelehrten Kaiser Karl IV., dem Luxemburger, der in Prag zu Hausen liebte, aufs Innigste befreundet und regierte manchmal als dessen Stellvertreter das ganze deutsche Reich. Beneidete der Kurfürst seinen Oberherrn um etwas, so war dies die Universität, die derselbe im Jahre 1348 in seiner böhmischen Hauptstadt gegründet und die nach Jahrzehnte langem Bestehen zu einer herrlichen Blüthe sich entfaltet hatte. Als eine Bildungsstätte, wo das ganze geistige Leben des Reiches damals einen glänzenden Mittelpunkt gefunden, konnte sie sich den älteren hohen Schulen von Paris, Bologna, Padua und Wien wohl stolz zur Seite stellen. Oft, wenn der nun schon alt und grau gewordene Ruprecht auf seiner festen Burg auf dem Jettenbühel saß und sinnend hinabschaute ins lachende Neckarthal und auf die kleine Klosterstadt Heidelberg, beschäftigte ihn der Gedanke, daß er es seinem kaiserlichen Freunde gleichthun und hier für Westdeutschland eine Hochschule errichten sollte, die seiner kleinen Residenz dann ebenfalls ein reiches geistiges Leben und eine glänzende Zukunft sicherte, sowie ihm selbst einen schönen Friedensruhm.

Da traf es sich einmal, daß er auf Besuch beim Erzbischof von Mainz mit gelehrten Herren bekannt wurde, die der Pariser Universität angehört und ehen wegen theologischer Händel dieselbe verlassen hatten. Es befanden sich darunter Heinrich von Langenstein, der dann nach Wien ging, und Magister Marsilius von Inghen.

Mit ihnen kam er auf seine Idee zu sprechen und begeisterte zumal den Letzteren so dafür, daß dieser es übernehmen wollte, sie im Sinne des ehrgeizigen Kurfürsten zu verwirklichen. Nun drängte Ruprecht mit Feuereifer auch zur Ausführung. Er bat den Papst um Zustimmung und die nothwendige Bulle zur Gründung seiner Universität. Denn anders ging’s damals nicht. Der Papst stand ja über Kaisern und Königen und ebenso über aller Wissenschaft, die zumeist noch von Männern priesterlichen Standes gelehrt wurde und die der Kirche unbedingt dienen und ihr fördersam sein sollte.

Am 23. Oktober 1385 erließ Papst Urban II. gnädiglich die erbetene Bulle, welche die Errichtung eines „Generalstudium“, wie man damals für Universität sagte, in der Stadt Heidelberg genehmigte, „die wegen ihrer gesunden Lage und Luft,“ hieß es darin, „und wegen ihrer fruchtbaren Umgebung zu einer solchen allgemeinen Quelle der Wissenschaften vorzüglich geeignet sei.“ Die Bulle brauchte beinahe ein Jahr, ehe sie in die Hände des Kurfürsten gelangte, der jedoch inzwischen opferfreudig Alles zur würdigen Ausführung seines Planes vorbereitet hatte und in sechs Urkunden die genauen Bestimmungen über die Einrichtung der Hochschule, ihre Rechte, ihre Freiheiten und ihre Einkünfte aus ihr überwiesenen Zöllen und Pfründen erließ. Wie die Präger wurde auch die Heidelberger Universität getreu nach dem Vorbilde von Paris eingerichtet und ihr volle Selbstverwaltung und Selbstherrlichkeit ertheilt.

Die eigentliche Stiftungsurkunde war vom 1. Oktober 1386; am 18. wurde die Anstalt mit einer feierlichen Messe in der alten Heiligengeistkirche Heidelbergs eröffnet. Der erste der Pedellen trug dabei vor dem Altar das Scepter, dessen Spitze ein offenes, vierseitiges Tabernakel bildete mit dem sitzenden Christuskind innen, das von den Sinnbildern der vier Fakultäten umgeben war; die Buckel des Tabernakel zierten das pfalz-bayerische, das päpstliche, das Rektorats-Wappen und das des Bisthums Worms; am Stabe des Scepters war eine Gedenkschrift. In seinem faltenreichen Talar und mit dem Barett stand der erste der Rektoren, Marsilius von Inghen, an der Spitze der in ihre Talare gekleideten Magister und Doktores, Reginaldy von Alva, des Theologen, und Heilmann Wunnenberg’s, des Philosophen, während die Fakultät der Rechtswissenschaft und die der sieben freien Künste, auch die artistische genannt, noch keine Vertreter hatten. Schon [531] eine ansehnliche Schar von Jünglingen, die dem Ruf des Pfalzgrafen gefolgt waren, und theilweis auch von sehr alten Knaben, die noch oder nochmals in die Studien gehen wollten, wohnte der Feierlichkeit der Eröffnung bei und saß am nächsten Tage in den ersten Kollegien, die gehalten wurden. Wie vielversprechend das Unternehmen war, beweist die Thatsache, daß im ersten Jahre 579 Personen ihre Namen in das Matrikelbuch von Heidelberg eintragen ließen.

In dem kleinen Ort war es natürlich sehr schwierig, sogleich passende Unterkunft für soviel junge Leute zu finden, die noch der Zucht unterstehen mußten; denn es kamen nicht, wie heute, tüchtig vorbereitete und ausschließlich gereiftere Jünglinge auf diese Schulen, sondern zum großen Theil nur mittelmäßig in den Klöstern ausgebildete Knaben, selbst noch unter vierzehn Jahren. Dazu Junker und Adlige, die das Studiren nur als neuen Modesport, anstatt der Turnierspiele, ansahen und zum Deckmantel übermüthiger Streiche, Zechgelage und Raufboldereien nahmen. Der Kurfürst gründete deßhalb im Jahre 1390 das Jakobsstift zur Wohnung und Verpflegung einer Anzahl von Schülern; für die Meister der freien Künste wies er ein altes Kloster an, das „große Kontubernium“ oder die „Realisten-Bürsch“, wo dann nach zahlreichen Stiftungen auch mehr und mehr Studirende unentgeltlich Unterkunft erhielten. Gewisse Bürgerhäuser erhielten Begünstigungen, wenn in ihnen Quartiere für die Studenten hergegeben wurden. Diese Häuser hießen dann Bursen oder Kontubernien, die dort wohnenden Studenten Bursarii, woraus Burschen entstand; sie wurden von „Regenten“, welche meist dem Magister- oder doch Baccalariusstande angehörten, überwacht. Jedes neu ankommende, noch erst in die höheren Studien einzuweihende Menschenkind galt als pecus campi, d. h. Rindvieh, wurde dann nach der Einschreibung ein becanus und einem bursarius überwiesen, dem es als Leibfuchs ein Jahr in aller Weise, auch in demüthigenden Verrichtungen, zu dienen hatte.

Nachdem der Zögling der Hochschule diese Prüfung überstanden, mußte er seinen Umgang bei den einzelnen Mitgliedern der Landsmannschaft halten und sich die Absolution erbitten. Beim Absolutionsschmaus wurde darüber entschieden und im günstigen Falle ihm im Namen der heiligen Dreieinigkeit sein Wunsch erfüllt und das jus gladii ertheilt, das Recht, den Schläger zu führen. Damit war er zum Schoristen befördert, wurde Cursarius und Patron, nach dem entsprechenden Examen dann Baccalarius (gemeinhin irrig Baccalaureus), Licentiat, Magister, Doktor gar. Die aus den Klosterschulen Gekommenen trugen eine halbmönchische Kleidung; die Vornehmen Puffenwams, Hut mit wallender Feder, Pludderhosen und Stulpenstiefel, den gewaltigen Hieber zur Seite. Bei der kecken und herausfordernden Haltung der Letzteren konnte es nicht ausbleiben, daß sie die Bürger oft beleidigten und es dadurch zu bösen Raufereien mit ihnen, oft in größerem Umfang, kam. Im Jahre 1406 fand eine förmliche Schlacht zwischen den übermüthigen Studenten und gereizten Zunftbürgern statt, ganz Heidelberg war in Kriegsausstand, die Sturmglocken läuteten, und es floß Blut in Menge. Das Rektorat beschloß in Folge davon, die Vorlesungen einzustellen. Der Landesherr, damals Ruprecht III., der auch deutscher König war, zauderte ob dieser schlimmen Wendung nicht, sich auf Seite seiner „geliebten Tochter“, der alma mater Ruperta, zu schlagen, und nöthigte in einer einberufenen Versammlung aller Heidelberger Bürger im Augustinerkloster ihnen den Schwur ab, nie die Studiosen zu beleidigen, sondern zu beschirmen; auch ward ihnen bei Todesstrafe verboten, je wieder die Sturmglocke gegen die Musensöhne zu läuten. So kam es zum Frieden, und die Vorlesungen wurden wieder aufgenommen.

Unter den drei Ruprechts, die einander bis 1410 folgten, wurde Heidelbergs Ruhm als Universitätsstadt wie auch als einer der lieblichsten Fürstensitze in Deutschland begründet. Außer der alten Burg auf dem Jettenbühel, jetzt die Molkerei, schaute weiter unten das neue Schloß in seinen ersten prächtigen Theilen auf die reizende Neckarlandschaft hernieder. Die Stadt vergrößerte sich; an fünf-, sechshundert Studenten und Lehrer unterhielten in ihr ein reges, buntes, vielgestaltiges Leben und Treiben. Die Hochschule, wie sie der Augapfel der pfälzischen Wittelsbacher blieb, bewahrte sich auch das besondere Wohlgefallen des heiligen Stuhls in Rom in einer Zeit, die schon offen drohende Ketzereien aufwies. Johann Huß, das Koncil von Konstanz, die Hussitenkriege begannen die bisher unfehlbare Macht des Papstthums zu erschüttern. Ein Vertreter der Universität Heidelberg auf dem Konstanzer Koncil, der theologische Doktor Jauer, hatte energisch die Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern gefordert; aber die Universität selbst war für dergleichen noch nicht empfänglich und gut papistisch allweg. Nach und nach freilich klopfte auch da der neue Geist an und brachte Wirrniß und Zweifel in die Köpfe der gelahrten Herren. Es sollte nicht mehr ausschließlich nach dem Kirchenglauben und gleichsam unter päpstlicher Censur die Wissenschaft behandelt werden, sondern nach den Urquellen des Alterthums und im freien forschenden Geist. Darüber kam es zu Hader und Kampf unter den Heidelberger Theologen und Philosophen. Zwei Parteien entstanden, und zunächst gab auch dies nur dem geistigen Leben der Universität Schärfe und Schwung. Die Artisten, welche der vierten Fakultät angehörten, wurden durchweg Fortschrittler; die Mitglieder der drei anderen Fakultäten, die der theologischen vollends, wurden desto eigensinnigere Reaktionäre. Im Jahre 1518 kam Luther, dieser neue Kämpfer gegen Rom, auch nach Heidelberg, um dort im Augustinerkloster eine Disputation über seine reformatorischen Forderungen zu halten. Der Pfalzgraf lud ihn auf sein Schloß zu Gaste, und die Studenten brachten deßhalb dort in vollem Wichs ihrem erlauchten Oberrektor eine Huldigung.

Aber die Reformation faßte darum doch noch keinen Fuß in Heidelberg. Die Scholastiker und Papisten behielten im Lehrerkollegium das Uebergewicht, die freidenkenderen Humanisten schieden deßhalb aus, und dadurch verringerte sich der Besuch der Hochschule merklich von Jahr zu Jahr. Die Pest und der Bauernkrieg thaten das Uebrige zum höchsten Schaden der Universität, so daß die Studentenzahl schließlich bis auf 42 sank.

Anders wurde es wieder, als nach überstandener Landesnoth Otto Heinrich 1556 zur Regierung gelangte. Während seiner nur dreijährigen ruhmreichen Regierung führte er die Reformation ein, gab der Hochschule ein humanistisches, freiwissenschaftliches Gepräge, zu dem Melanchthon ihm seine Unterstützung lieh, und schuf in der Liebe für die neubeseelte Kunst den nach ihm benannten herrlichen Anbau an dem stolz über Heidelberg ragenden Schlosse. Das glücklichste Zeitalter für die Ruperta eröffnete er durch die wissenschaftliche Freiheit, die er ihr sicherte. Doch blieb der lutherische Charakter der Universität nicht haften, sondern sie wurde nach Otto Heinrich’s Tode durch dessen Nachfolger Friedrich III. eine Hochburg des strengeren calvinischen Bekenntnisses, was zu ihrer nun wachsenden weltbürgerlichen Bedeutung indessen unstreitig sehr viel beitrug.

Um so jäher und tiefer war der Sturz, den sie im nächsten Jahrhundert erfuhr. Der dreißigjährige Krieg machte aus der Pfalz eine Wüstenei, Tilly suchte 1622 die Stadt Heidelberg schwer heim, die kostbare Bibliothek wurde nach Rom als Kriegsbeute abgeliefert, die Universität fristete darnach ein fast erstorbenes, elendes Dasein. Als sie endlich sich von diesen Schlägen wieder erholt, brach die Räuberbande Ludwig’s XIV. unter Melac ins Land mit der Parole: brûlez 1e Palatinat! Das Heidelberger Schloß wurde damals zu der Ruine, die noch heute so wehmüthig und empörend an jene Schreckenszeit mahnt. Vernichtet war freilich weder Heidelberg noch seine versprengt gewesene Hochschule durch diese französischen Mordbrenner, aber die Kraft und der Glanz von vorher waren dahin, und während des ganzen 18. Jahrhunderts, unter der Regierung der katholischen Seitenlinie Pfalz-Neuburg, ging die Universität mehr und mehr in ihrer hohen Bedeutung als nährende Mutter für das deutsche Geistesleben zurück und ihrem Verfalle entgegen. Die französischen Kriege zu Ende des Jahrhunderts, der Umsturz der alten Ordnung im deutschen Reich durch Napoleon stellten die Fortexistenz der pfälzischen Souveränetät und damit der Hochschule Heidelberg vollends in Frage.

In der That, Bayern und die Wittelsbacher verloren 1803 den größten Theil der rheinischen Pfalz und damit Heidelberg. Der neue Herr darüber wurde Baden, dessen Markgraf Karl Friedrich zur Kurfürstenwürde aufstieg. Er war nicht nur bereit, die Universität zu erhalten, sondern ging auch sogleich daran, sie aus ihrem Elend zu heben, neu im Sinne der Zeit und durchaus als Freistätte der Wissenschaft einzurichten. Was einst der [532] Wittelsbacher Ruprecht gepflanzt, wollte der Zähringer Karl in gleichem Ehrgeiz zur Verjüngung pflegen. Den Namen Ruperto-Carola, den nun die Universität erhielt, sollte denn auch die nächste Zukunft schon vollauf rechtfertigen.

Aus dem alten Professorenstamm wurden ausgezeichnete Kräfte, wie der protestantische Theologe Karl Daub, dem umgestalteten Institut erhalten, neue mit großer Sorgfalt und besonderem Glück berufen, wie der große Rechtslehrer Thibaut und der große Philologe Creuzer. Dazu kam dann der streitfertige Alterthumsforscher und Homer-Uebersetzer Joh. Heinrich Voß, der denkgläubige Theologe Paulus, der freisinnige Historiker Schlosser. Während Napoleon die Welt durcheinander rüttelte, erstarkte an Heidelbergs Hochschule ein Kreis der ausgezeichnetsten Männer, der ihr einen weithin leuchtenden Glanz verlieh. Im Jahre 1808 wurden die „Heidelberger Jahrbücher“ begründet, die aus diesem gelehrten Kreise zur gebildeten Welt sprachen und einen anregenden wie bestimmenden Einfluß auf Wissenschaften und Forschungen jahrzehntelang ausübten. Die neue deutsche Geistesrichtung der Romantik baute sich dazu ihr warmes Nest unter den romantischen Ruinen des Heidelberger Schlosses und hierbei, wie auch bei den Jahrbüchern, spielte Creuzer mit seiner romantisch-idealen Weltanschauung die Hauptrolle. Die junge Dichterschule, wie sie Schlegel, Arnim, Brentano, Eichendorff, Jean Paul vertreten, machte Heidelberg zu dem, was vorher Weimar gewesen. Die Strebenden und geistig Schaffenden in Deutschland machten eine Pilgerfahrt nach dieser von neuem Ruhm umwobenen Neckarstadt und ließen sich da kürzere oder längere Zeit nieder. Auch Goethe badete sein olympisches Haupt 1814 und 1815 im Morgenroth, das diese Sonne ausstrahlte, und fand in Marianne Willemer seine Suleika, der er im „Westöstlichen Divan“ ein poetisches Denkmal setzte.

Universität Heidelberg.
Nach einer Photographie von Edm. von König in Heidelberg.

Niemals bedeutete Heidelberg so viel wie damals in der Welt der Bildung. Es kamen Studirende aus Frankreich, aus England, aus allen Ländern dahin; neue Bauten entstanden in der Stadt, zahlreiche Landhäuser mit Gärten um ihren sich vergrößernden Kern. Treffliche Pensionen und Erziehungsanstalten lockten außerdem viele Fremde herbei, welche dazu beitrugen, das gesellige Leben in der bergumkränzten Musenstadt aufs Reizvollste zu gestalten. Immer zahlreicher wurden die landsmannschaftlichen Vereine oder Korps, die sich gebildet hatten und denen nach den Befreiungskriegen die Burschenschaften zutraten, deren nationale Tendenzen der Romantik einen scharf ausgeprägten, auf Deutschlands politische Einheit hinweisenden Zug verliehen.

Und auch immer neue Sterne der Wissenschaft tauchten am wolkenlosen Himmel der Heidelberger Hochschule auf. Ein Mittermaier und Vangerow, ein Mohl und Bluntschli in der juristischen Plejade, ein Schenkel in der theologischen, ein Chelius in der medicinischen; ein Gervinus, ein Häusser, ein Rau, ein Bunsen, ein Kuno Fischer in den verschiedenen Abtheilungen der philosophischen – ehemals artistischen. Wer nennt die Namen alle und auch derer, die sie angezogen, die ihr Wissen gebildet und die in „goldbekränzter Jugend“ von Heidelberg seit achtzig Jahren auszogen in die Welt, um dann tausendfältig das Evangelium der Bildung, in glorreich sich entfaltender Thätigkeit oder in bescheidenem Wirken, zu lehren!

Heidelberg war auch die Zufluchtsstätte des vorkämpfenden liberalen Deutschland seit den vierziger Jahren, in denen die Wehen der neuen Zeit sich immer fühlbarer machten. Was da an ausgezeichneten Männern zusammenströmte, erzeugte frische politische Lebenslust, die dann in die stickige Atmosphäre des bundestägigen Jammerdeutschlands abströmte. Gervinus und Häusser hoben durch ihre Schriften die Hoffnungen der deutschen Jugend; eine wirkliche Professorenzeitung, „Deutsche Zeitung“ genannt, wurde in Heidelberg gegründet und versuchte muthvoll und überzeugungstüchtig gegen den Polizeistaat und das verknöcherte Schreiberthum anzukämpfen. Und aus demselben Kreise ging 1848 am 5. März die Versammlung der 51 liberalen Männer hervor, welche über die Maßregeln zur Erreichung politischer Reformen berieth und deren Aufruf das Frankfurter Vorparlament zur Folge hatte. Die Stürme von 1848 und 1849, die Eingriffe der heranwachsenden Reaktion ließen auch Heidelberg, das liberale, nicht unberührt; aber ohne dauernden Nachtheil ging doch die Universität daraus hervor. Sie behauptete ihren hohen Rang, sie arbeitete rührig weiter in der wieder ruhig gewordenen Zeit. Scheffel’s unpolitische Zech- und Preislieder verliehen dann ihrer alten Romantik und ihrem Ruhm eine neue, lebensfrische Volksthümlichkeit, und diese wird sicherlich nicht zum Wenigsten dazu beitragen, ihr fünfhundertjähriges Jubelfest, welches in den ersten Tagen des Monats August stattfinden wird, zu einem solchen zu gestalten, an dem ganz Deutschland mit Stolz und Freude Theil nimmt.




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Die Heidelberger Karcer.

Sollte Jemand bei dem Worte Karcer an mittelalterliche Verließe denken, sollten die Bleikammern Venedigs, Londons Tower, die Bastille, der Spielberg mit dem Freiherrn von Trenck, der Hohenasperg mit dem unglücklichen Dichter Schubart vor den Augen seiner Seele aufsteigen, so braucht er nur einen Blick auf die nebenstehenden Bilder zu werfen, und das aufkeimende Schauergefühl wird sich in eine gelinde Lustigkeit verwandeln.

„Vestibulum“ Eingang zum Heidelberger Karcer.
Nach einer Photographie von Karl Lange in Heidelberg.

Ja, in diesen Räumen ist nichts von Finsterniß, Grabeskälte, Moderluft, Schlangenbiß und Unkenruf, nichts von Ketten und Fesseln. Gottes Sonne schaut voll herein in stattliche Stuben; das unvermeidliche Stroh findet sich nur in den Säcken bequemer Lagerstätten; Wasser und Brot erscheint in Gestalt von Braten und Bier, Austern und Chablis, ja selbst Fruchteis und Champagner, wenn wir den redseligen Wänden Glauben schenken dürfen. Die Stelle des Kerkermeisters vertritt die schmucke Karoline, nach der hier so viele Lippen geseufzt haben und so viele Herzensergießungen in Poesie und Prosa noch seufzen. Kein Schrei der Verzweiflung bricht sich an diesen buntscheckigen Mauern; melodischer Sang jugendlicher Bierkehlen hallt in ihnen wider; statt wilder Flüche steigen zum Himmel die blauen Ringe des duftigen Barinas; statt der krampfhaft geballten Fäuste sind wohlgepflegte Hände bestrebt, mit anmuthiger Galanterie die Freuden des Karcers zu schildern, ihm Schattenrisse und Photographien zu widmen, die Namen unter Beifügung launiger Bildlein und lustigen Reimwerks in das Stammbuch seiner Wände, Balken, Tische, Stühle etc. einzutragen.

„Solitude“ im Heidelberger Karcer.
Nach einer Photographie von Karl Lange in Heidelberg.

Die Karcerstuben sind nicht viel weniger hoch und breit, als auch sonst die Studentenbuden zu sein pflegen, an je einer dem Dach entsprechenden Seite abgestutzt und von Gebälk durchzogen. Ueberall finden sich ein Ofen, zwei Bettstellen mit Strohsäcken, zwei Tische, zwei Stühle, ein Rouleau, in „Solitude“ sogar eine Klingel mit der Unterschrift darunter: „Bitte zu klingeln: einmal Karoline, zweimal Valentin, dreizehnmal ein Polyp[2], 14 Stunden lang unausgesetzt für den Bierrichter!“ – Für Decken, Kopfkissen, Plumeaus, Toilettengegenstände etc. hat der zum Karcer verurtheilte Studio selbst zu sorgen. Das Essen läßt er sich bringen, wenn er es nicht vorzieht, während der ihm für Kollegienbesuch vergönnten freien, manchmal über den ganzen Tag ausgedehnten Stunden seinen Imbiß außerhalb einzunehmen. An Getränken wird eine bestimmte Portion Wein und Bier durch den Hausmeister verabreicht. Doch versteht es der Sträfling, sich damit nöthigen Falles auch auf Schleichwegen zu versorgen. Die Wäscherin, der Stiefelfuchs, benachbarte gute Freunde, ein Strick mit anhängenden Flaschen, der heimlich nach oben gezogen wird, verschaffen ihm den gewohnten Trunk.

Die Nacht wird gewöhnlich im Karcer schlafend zugebracht; doch meldet die Universitätschronik auch von nächtlicher Ueberkletterung des nördlichen Hofthors und Wiederzurücksteigen mittels Leitern, so daß bei der Morgenvisitation die Vögel wieder zwitschernd oder schnarchend im Käfig angetroffen wurden.

Ist der Student aus einer der unzähligen zumeist harmlosen, an den Wänden abzulesenden Ursachen inhaftirt worden, so ist seine nächste Beschäftigung, sich in Bild oder Schrift zu verewigen. Die Silhouetten werden mit Hilfe des Lichts gemalt, indem dasselbe den Schatten des Delinquentenkopfes auf die Wand wirft, der einfach nachgezeichnet wird. Zu diesem Geschäft sind natürlich zwei Personen erforderlich. Das umrissene Konterfei wird dann mit Tusche, Tinte, Oelfarbe, Kienruß, Wichse und anderen schwärzenden Materien ausgefüllt und die umgebende Partie so weit abgekratzt, daß das Profil erkennbar sich abhebt.

Die Namen werden gleichfalls mit dem verschiedensten Material an allen denkbaren Orten angebracht, sie werden geschrieben, gepinselt, geschmiert, gekratzt, geschnitten, gravirt, und zwar auf die Decken, die Balken, die Wand, die Bettstatt, Tische, Stühle, Rouleaus, Fenster; selbst Kaminthüren und Tischschubladen müssen herhalten, um diese internationale Autographensammlung bereichern zu helfen. Dazwischen sind massenhafte Verse gekritzelt, so daß auf den ersten Blick die Karcerwände den Eindruck machen, als seien sie von oben bis unten mit förmlichen Hieroglyphen übersäet. Jetzt sieht der Karcer so aus, wie unsere Bilder ihn naturgetreu wiedergeben, aber in verhältnißmäßig kurzer Zeit wird er eine ganz andere Physiognomie zur Schau tragen. [534] Denn der Kampf ums Dasein zeigt sich auch hier. Ein Name verdrängt den anderen, ein Bild macht dem anderen das Terrain streitig, ein poetischer Erguß läuft dem anderen den Rang ab. Bedeutende Köpfe nehmen plötzlich einer Unmasse bescheidener Existenzen den Raum weg, leuchten wie die Größen der Weltgeschichte und verschwinden wie sie, entweder noch Gewaltigeren oder dem Schwarm der rudis indigestaque moles Platz machend. Zuweilen fährt ein Sturm der Vernichtung in Gestalt weißender Anstreicherpinsel darüber hin und läßt nichts zurück, als eine fahle, kahle Fläche, auf welche dann die Gegenwart mit mächtigem Ungestüm eindringt. Der Karcer ist alt genug, aber darin von einem Greise verschieden, daß er nur das Jüngste behalten kann. Die Vergangenheit, die Jenem so unauslöschbar treu in der Erinnerung steht, kommt ihm immer von neuem abhanden, und sein Gedächtniß reicht nicht über Jahrzehnte hinaus.

Ja, die Karcer der früheren Zeit selbst sind der Vergessenheit anheimgefallen; wir wissen nur, daß ursprünglich Bürger- und Studentengewahrsam gemeinschaftlich war, daß 1545 die Universität das jus incarcerandi erhielt, das heißt, daß sich die Studenten nicht wie „beliebige Knoten“ auf die Stadtwache schleppen zu lassen brauchten, was gleichwohl vorkam, indem die Wächter der Stadt behaupteten, bei Nacht sei es unmöglich, einen Studenten von einem Schneidergesellen zu unterscheiden, „und man muß ihn darum bei nächtlicher Weyl behalten, bis man ihn kennen kann.“ Deßhalb waren die Scholaren verpflichtet, zur Nachtzeit in Studententracht und mit einem sichtbar brennenden Licht auf der Straße zu erscheinen.

Dic jetzigen Karcerräumlichkeiten, bestehend aus den ebenerdigen Kasematten (vincula) und dem viertheiligen Gewahrsam unter dem Dach des Seitenflügels (carceres), fungiren seit Errichtung des jetzigen Universitätsgebäudes (vergl. Illustration S. 532) unter Karl Philipp im Jahre 1735. Daß im Lauf des 19. Jahrhunderts auch die Veste Dilsberg bei Neckarsteinach als Karcer für politische Vergehen der Studenten benutzt wurde, ist bekannt, und die dort übliche strenge Zucht erhellt aus der Antwort, welche einst reisenden Engländern zu Theil ward, als sie die Burgverließe Dilsbergs in Augenschein nehmen wollten: „Die Studenten sind fort und haben die Schlüssel mit.“

Doch kehren wir zu den Heidelberger Karcern der Gegenwart zurück! Wir steigen 47 steinerne, mit eisernem Geländer eingefaßte Stufen empor und treten in das „Vestibulum“, die Vorhalle, ein. An der Wand auf der linken Seite erblicken wir einen Wegweiser, der nach den vier Kerkerzimmern hinweist. Sie sind nicht wie die Zellen in den gewöhnlichen Gefängnissen mit prosaischen Nummern bezeichnet; der Studentenwitz hat ihnen Namen verliehen, die folgendermaßen lauten: Sanssouci, Palais royal, Solitude und Villa Trall. Schon hier sind die Wände mit zahllosen Zeichnungen und Inschriften bedeckt. Vor Allem fällt uns ein mächtiger Reitersmann, der einen Humpen schwingt, in die Augen; neben ihm steht der berühmte Zecher und Wächter am Heidelberger Riesenfaß, der Zwerg Perkeo. Darunter lesen wir den Vers, welcher dem Ankömmling als tröstender Gruß entgegenwinkt:

„Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten;
Wie traurig auch herauf Ihr steigt,
Ich bitt’ Euch, thut die Köpfe aufrecht halten,
Auch hujus loci (dieses Ortes) genius ist feucht.“

Unweit davon blickt uns eine Nachbildung des Heidelberger Wrede-Denkmals entgegen; die Figur trägt einen Hut auf dem Kopf, und darunter lesen wir die erklärenden Reime:

„Weil sie mit Schläue auf die tête
Den Hut gesetzt dem Marschall Wrede,
Brummt Altfelix und Rosenthal
Und Roß zusammen auf einmal.“

Unter dem Gewirr der Namen, welche die Wände bedecken und die selbst vermittels rußender Lichtflamme an der Decke angebracht worden sind, treten uns manche von bekanntem und gutem Klange entgegen; wir heben nur zwei: Helmholtz und Häusser, hervor.

Im Karcerfenster.
Nach einer Photographie von G. Pauli u. Co. in Heidelberg.

In welches der vier Karcerzimmer sollen wir zuerst eintreten? Uns lockt zunächst Solitude, über dessen Thür die viel verheißende Inschrift: „Ein fideles Gefängniß!“ prangt. Es muß in der That in diesen Räumen lustig zugehen, denn die heitere Burschengruppe, die unsern Artikel schmückt, steht in dem Fenster von Solitude. Und das Bild ist nicht etwa das Phantasiewerk eines Zeichners; die Mitglieder der „Rhenania“ drängten sich an einem gewissen Tage wirklich so zum vergitterten Fenster, während der Photograph im Nachbarhause seinen Apparat richtete.

Besonders charakteristisch für Solitude ist die Innenfläche der Thür, auf der sich etwa 120 Photographien unter Glas und Kittrahmen befinden, und zwar 45 Rhenanen, 29 Borussen, 17 Guestphalen, 13 Vandalen, 11 Schwaben, mehrere Vertreter auswärtiger Korps und ein Bummler (unter fühlenden Brüsten die einzige Larve!), der seine nur halbberechtigte Anwesenheit in so erlauchter Gesellschaft dadurch schützen zu müssen glaubte, daß er auf seine Photographie schrieb:

,,Is qui hoc tangit, Anathema sit!“
(„Wer hier Hand anlegt, Den treffe mein Fluch!“)

Originell ist das Bild von F. Klingel, einem Mitglied der Suevia. Darunter ist zu lesen: „2 + 1 + 4 + 8 + 10 + 21 + 8 = 54 Tage. Das genügt!“ welchem Ausspruch beizupflichten wir nicht umhin können. – Auch die hochberühmte Familie derer von Bismarck ist vertreten. „F. Graf Bismarck s. m. l. Karcer 27–29 IV. 74!“ lautet die Widmung. – Die charakteristischen Züge des ehemaligen Studiosus und jetzigen Direktors im Reichsgesundheitsamt, G. Wolffhügel, leuchten uns entgegen. Endlich finden wir hier die beiden Guestphalenmitglieder Gebrüder Schön, die sich so ähnlich sahen, daß Einer den Andern im Karcer oder sonstwo vertreten konnte, ohne daß es Jemand gewahr wurde.

An der Wand dieses fidelen Gefängnisses darf selbstverständlich ein Loblied auf Heidelberg und seinen Karcer nicht fehlen, und in der That lesen wir hier, frei nach Goethe’s Mignon:

„Kennst du die Stadt, nach der sich Alle sehnen,
Mit ihrem Schloß an hohen Bergeswänden?
Hast du gehört des Stromes Lob ertönen
Von lust’gen Kehlen durstiger Studenten?
Kennst du sie wohl? Dahin, dahin
Möcht’ ich mit dir, du mein Geliebter, zieh’n!

Kennst du das Haus, von Ziegeln ist sein Dach,
Doch glänzt von Farben jegliches Gemach.
Und lust’ge Bilder steh’n und schau’n dich an.
Was hast du denn, du armer Kerl, gethan?
Der Karcer ist’s. Dahin, dahin
Möcht’ ich mit dir, Kommilitone, zieh’n!“

Die Krone aller in der Solitude befindlichen Inschriften bildet aber folgender an Ulrich von Hutten erinnernder Ausruf:

O tempora, o mores! In diesem schrecklichen Kerker seufzte ein Opfer moderner Barbarei bei Bordeaux und Sekt. O XIXtes Jahrhundert, es ist eine Lust, in dir zu leben!“

In den drei übrigen Zimmern des Heidelberger Karcers finden wir Aehnliches und Verwandtes, und wir verzichten darum auf nähere Beschreibung derselben. So trennen wir uns von diesen Räumen, die Verse wiederholend, welche vor dem Palais royal geschrieben stehen:

„Auf dem Karcer lebt sich’s herrlich,
Auf dem Karcer lebt sich’s schön.
O wie schrecklich, ach nun soll ich
Von dem lieben Karcer geh’n.

Hätt’ ich doch statt fünf Laternen
Fünfundzwanzig ausgemacht,
Hätte dann statt zwei der Tage
Zehne wohl hier zugebracht.“

Wir steigen nunmehr die 47 steinernen Stufen wieder hinab, gelangen in den Universitätshof und von hier aus durch eine Thür in den Parterregang des Hauptgebäudes. Dort, wo etwas über der Mitte der Südseite die breite, marmorne, früher steinerne Treppe in die oberen Stockwerke führt, gelangt man durch ein Seitengängchen an eine dickeichene, eisenbeschlagene, mit schwerfälligem Riegelschloß versehene niedrige Thür, die sich nur mühsam und unwillig knarrend in ihren eingerosteten Angeln bewegt. Durch dieselbe tritt man gebückt in einen quadergebildeten, ziemlich engen Verschlag, der rechts den Zutritt zum schiefwinkeligen lichten und links zu dem wenige Meter im Geviert betragenden Dunkelkarcer gestattet. Beide sind wieder mit massiven Eichenthüren verwahrt, die in der Mitte eine verschließbare Oeffnung zum Durchreichen von Wasser und Brot besitzen. Auch hier in den engen Kasematten finden wir eine große Anzahl von Inschriften; sie stammen alle aus den Jahren 1768 bis 1785, aus jener längst vergangenen Zeit, wo das Universitätsgericht noch schwere Strafen verhängen durfte. Sie sind indeß nicht heiter und lustig, wie die Wandpoesien der oberen Räume, und ihre Wiedergabe würde wenig zu der gehobenen Feststimmung passen, die jetzt durch die Straßen von Altheidelberg wogt und in welcher aus jungen und alten Kehlen der übermüthige Ruf ertönt: „Vivat concarceria!“ G. W.     




[535]
Blätter und Blüthen.

Der Heidelberger Schloßhof. (Mit Illustration Seite 529.) Wie ein Märchen umfängt es uns, wenn wir aus den schattendunklen Baumhallen des Heidelberger Schloßparkes durch den kühlen, düsteren Thorgang hindurch in den Schloßhof treten. Ein phantastisches Gewirr von Mauern, hier die edlen Linien der italienischen Renaissance, dort der Ernst und die Strenge der Gothik, Erker und Hallen, Bogengänge und reiche, von Karyatiden umschlossene Portale, hochaufstrebende Giebel und ein über Alles hinausragender Riesenthurm; darüber spannt sich der blaue Himmel, und das helle Sonnenlicht fluthet über den rothen Sandstein und das grüne Geißblattgeranke, kost mit den Blüthen der Akazien und dem Strahl des Schloßbrunnens und malt kräftige Schatten neben die Säulentrümmer und Mauerstücke, die, von üppigem Grün umwuchert, da und dort lagern.

Man steht verwundert still und sättigt seine Augen an der berückenden Pracht; man fährt sich wohl auch über die Stirn und fragt sich, ob man nicht träumt. Und wenn nicht – wer hat dieses Bild aufgebaut, das einzig ist in dem Zusammenspiel von Kunst und Natur, in der Verschmelzung klassischer Formenschönheit mit dem traumhaften Zauber der Romantik? Es scheint kaum möglich, daß es Wirklichkeit ist, und doch ist es so, und wer es in seiner Verzückung nicht glauben will, den mahnt gewiß der Fremdenführer daran, der ehrerbietig an ihn herantritt und ihn fragt, ob er die Ruine besichtigen will.

Ja, dieses Märchen ist eine Ruine. Hinter den stolzen Mauern befinden sich ausgebrannte Säle, in denen Unkraut und Gestrüpp wuchert. Kein Edelfräulein wird dir vom Erker herab zunicken, in dem nur die Mäuslein durch Schutt und Moder huschen, und kein fröhlicher Festlärm tönt dir aus den Hallen entgegen. Es ist Alles still und todt, und nur zu Zeiten weht es wie ein Geist der schönen Vergangenheit durch diese Räume. So in diesen Tagen, wo Heidelberg den Jubeltag seiner nun 500 Jahre alten Universität festlich begeht und wo auch ein Theil des Schlosses, das sogenannte Landhaus, zur Festhalle umgeschaffen wird. Wieder werden Trompeten erschallen und Gläser klingen, fröhliche Reden werden von den alten Mauern widerhallen, und die Lieder vom weinfrohen Pfalzgrafen, vom Zwerg Perkeo und vom Heidelberger Faß werden die grauen Ritter in den Wandnischen aus dem Schlafe schrecken und ihnen von der fröhlichen Gegenwart erzählen, die nun hereintönt in den stillen Märchenzauber. Und heller als alle diese Lieder wird das Lied erklingen von „Altheidelberg der feinen, der Stadt an Ehren reich“, als ein Zeugniß, daß diese Gegenwart der reichen Vergangenheit würdig ist und zu den alten neue Ehren gereiht hat.

Aber der Fremdenführer mahnt – entreißen wir uns der Traumwelt und folgen wir ihm. Und während er seinen Leierkasten in Bewegung setzt und die gewohnten Weisen aborgelt, steigt vor unserem Geiste das alte Heidelberg empor, das seinen Mittelpunkt im Schlosse hat, wie dieses ihn wieder im Schloßhof besitzt. In der That – wir brauchen unseren Standort am Portale nicht zu verlassen, wir brauchen unsere Augen nur langsam in der Runde schweifen zu lassen, und dann erzählen uns diese Mauern die Geschichte vieler Jahrhunderte, die Geschichte der Pfalz und ihrer Fürsten, die Geschichte Heidelbergs und seines Schlosses. Die unscheinbaren Bauten zur Linken – sie fehlen auf unserem Bilde – führen in die älteste Zeit zurück. Der Ruprechts-Bau ist zu Anfang des 15. Jahrhunderts auf den Resten der alten, aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammenden Anlage erbaut. An ihn stößt der Rudolfs-Bau, der vielfach als der älteste Theil des Schlosses bezeichnet wird, und an diesen das Bandhaus (einst Küferwerkstätte) und das Gebäude, welches das weltberühmte „Heidelberger Faß“ enthält. Daran grenzt, fast im rechten Winkel, der besterhaltene Theil der Burg, der Friedrichs-Bau, 1601 bis 1607 vom Kurfürsten Friedrich IV. erbaut. Es ist das stattliche Bauwerk mit den beiden Giebeln, das sich auf dem Bilde zur Linken befindet, ein schönes Denkmal deutscher Renaissance in etwas schweren, barocken Formen und mit reichem Skulpturenschmuck. An den Friedrichs-Bau schließt sich der Neue Hof Friedrich’s II., 1549 erbaut, erkennbar an den in drei Etagen über einander befindlichen Arkaden. Ueber diesen Bau blickt der achteckige Thurm herüber, in den 1764 der Blitz schlug, so daß in Folge dessen fast das ganze Schloß ausbrannte.

Das war die letzte Katastrophe, die über das großartige Bauwerk hereinbrach, das schon im Dreißigjährigen Kriege viel gelitten und 1693 von den Franzosen unter Melac in die Luft gesprengt worden war – so weit es sich bei der kolossalen Festigkeit seiner Mauern eben in die Luft sprengen ließ. Am lebhaftesten wird diese barbarischen Gewaltakte wohl Jeder dann bedauern, wenn er sein Auge dem Otto-Heinrichs-Bau zuwendet, der sich in einem stumpfen Winkel an den „Neuen Bau“ anschließt. Otto Heinrich, der ebenso geistvolle als schönheitsfrohe Neffe Friedrich’s II., der mächtige Förderer der Universität, der dem Geist der neuen Zeit freudig die Thore öffnete, erbaute diesen Palast in den Jahren 1556 bis 1559. Einer der herrlichsten Bauten der Welt, erfreut er noch als Ruine das Auge durch die phantasievolle Gliederung, den Reichthum der bildnerischen Ausstattung und die edle Harmonie des Ganzen. Man braucht zu seinem Ruhme nicht mehr zu sagen, als daß sich lange Zeit das Gerücht erhielt, Michel Angelo habe die Pläne entworfen. Der an den Otto-Heinrichs-Bau grenzende Ludwigs-Bau gehört zu den gut erhaltenen Theilen des Schlosses. Er wurde 1508 bis 1524 von Ludwig V. erbaut, ebenso wie die Oekonomiegebäude, die das Viereck des Schloßhofs nach vorne zu abgrenzen und von denen auch unser Bild noch ein Stück zeigt: die von Grün umsponnene Säulenhalle, die zu den malerischsten Theilen des Schloßhofes gehört. Die Halle ist in gothischem Stil ausgeführt und wird von sechs Granitsäulen getragen, die Ludwig der Kaiserpfalz Karl’s des Großen zu Ingelheim entnehmen ließ. Sie enthält den bis auf den Fels gebohrten, gleichfalls von Ludwig angelegten Ziehbrunnen.

Damit ist unsere Rundschau zu Ende, und wir folgen wohl dem Fremdenführer zur Besichtigung der anderen Sehenswürdigkeiten des Schlosses – zum „Gesprengten Thurm“, in den Schloßgraben und dann hinauf zu der von Salomon de Caus erbauten Terrasse, um dort den herrlichen Blick auf das Schloß, das Neckarthal und die freundliche, tief zwischen grüne Berge gebettete Stadt zu genießen. Aber mächtig zieht es uns wieder in den Schloßhof zurück und alle die „alten Herren“, die in den Festtagen ihr geliebtes Heidelberg wiedersehen, werden gewiß manche Stunde dort oben im Angesichte der alten Märchenherrlichkcit verträumen. Man muß aber auch wieder und wiederkehren, um dieses Kleinod voll zu genießen und ganz zu würdigen. Man muß am frühen Morgen kommen, wenn noch kein Engländer mit dem rothen Reisebuch unter dem Arme die Steine beklopft und kein Pfälzer Kindermädchen ihre Schutzbefohlenen mahnt, die „Aache aaf’m Weg zu hawwe“, wenn das feierliche Schweigen, die tiefe Einsamkeit den Zauber der Scenerie noch erhöhen; dann am frühen Nachmittag, wenn die Sonne den rothen Sandstein des Otto-Heinrichs-Baues erglühen läßt und die scharfen Schatten die herrliche Façade erst recht beleben, und endlich am Abend, wenn der Mond über dem phantastischen Gemäuer schwebt und im Schloßgraben die Nachtigallen schlagen, oder – wieder ein gegensätzliches Bild – wenn bunte Lampions die Nacht erhellen, fröhliche Klänge erschallen und heitere Menschen plaudernd auf- und niederschreiten. Wann man aber auch kommen mag, immer empfängt man einen tiefen, bleibenden Eindruck, und auch diejenigen, die in den Augusttagen hier zusammen kommen, um das Jubiläum der Ruperto-Carolina mitzufeiern, werden, wenn sie scheiden, gewiß nur ein herzliches Wort auf den Lippen haben, das eine Wort: Unvergeßlich! Emil Peschkau.     

Eine geschichtliche Parallele. Man hat die Geisteskrankheit des Königs Ludwig II. von Bayern mit mancherlei ähnlichen Fällen aus der Regentengeschichte aller Zeiten verglichen; man hat dabei auch den Wahnsinn der römischen Cäsaren mit herangezogen, und in der That, wenn die Blutbefehle, die der ursprünglich so genial angelegte, bedauernswerthe Fürst in letzter Lebenszeit gegeben, ausgeführt worden wären, so würde diese Aehnlichleit noch weit mehr in die Augen gefallen sein. Doch der Kulturstand der Zeit ist eben ein anderer, und blinde Werkzeuge, wie es die Römer Nero’s waren, würde heut zu Tage kein irrsinniger Fürst finden, der in seinen dunklen Stunden ausschweifenden Despotenlaunen huldigte. Neuerdings hat Professor Stieve in einem Münchener Blatte auf einen deutschen Kaiser hingewiesen, dessen geistiger Zustand mit dem des verstorbenen Königs von Bayern eine auffallende Verwandtschaft hatte, auf Kaiser Rudolf II. In der That, vergleicht man, was auch der große Historiker Leopold Ranke in seiner „Deutschen Geschichte“ über diesen Kaiser sagt, mit den genaueren Mittheilungen Stieve’s, so glaubt man fast, eine geschichtliche Doublette vor Augen zu haben; denn fast alle einzelnen Erscheinungen der Geisteskrankheit decken sich in wunderbarer Weise. Es ist ja bekannt, daß die Lehrer der Seelenheilkunde die Krankheiten in bestimmte Rubriken gebracht haben, und daß es ebenso schwer ist, auf dem Gebiete des Wahnsinns originell zu sein, wie auf dem der schöpferischen Kunst; gleichwohl wird eine so augenscheinliche Wiederkehr derselben Aeußerungen der Seelenstörung zu den größten Seltenheiten gehören. Kaiser Rudolf stattete seine Gemächer mit unerhörter Pracht aus; Scepter, Krone und Reichsapfel ließ er für eine Million Gulden, eine damals ganz ungeheure Summe, anfertigen, und mit dem prachtvollen Schlitten des Königs Ludwig mochte jener Tisch wetteifern, dessen Platte eine aus Edelsteinen zusammengesetzte Landschaft zeigte. Er hatte Verständniß und Neignng für die bildenden Künste. Seine Abneignng gegen eine Heirath war unüberwindlich: man wünschte seine Vermählung mit seiner Kousine Isabelle; so oft aber die Hochzeit anberaumt werden sollte, verlangte er Aufschub. Zwanzig Jahre gingen darüber hin; dann heirathete Isabelle Rudolf’s Bruder Albrecht. Dies Ereigniß brachte den Irrsinn des Kaisers zu vollem Ausbruch. „Die Krankheit Kaiser Rudolf’s,“ sagt Stieve, „offenbarte sich in Menschenscheu, in stets regem Mißtrauen, welches nur ausnahmsweise für kürzere oder längere Fristen ebenso maßlosem Vertrauen Platz machte, in überaus reizbarer Eifersucht auf sein Ansehen und übertriebener Vorstellung von der Erhabenheit seiner Würde, in Trübsinn und angstvoller Erregung und beständiger Furcht, durch Mörder sein Leben oder durch einen seiner Brüder seine Krone zu verlieren. In einer Ständeversammlung zu erscheinen konnte Rudolf nur noch ein einziges Mal durch Androhung von Gewalt gezwungen werden. Höchst selten fuhr er aus, und dann fast ausnahmslos in der Nacht. In der Regel erging er sich nur in den Gärten und Baulichkeiten des Schlosses auf dem Hradschin, und dann durfte ihm Niemand begegnen. Wohnte er Schaustellungen an, so mußte dafür gesorgt werden, daß ihn Niemand sehen konnte. Seine Mahlzeiten nahm er immer allein ein, und die ihn Bedienenden durften dabei kein Wort sprechen.“ Ranke berichtet, daß die Kammerdiener zu den wichtigsten und einflußreichsten Männern gehörten, die Bestallungen für Civil und Militär vermittelten und noch mehr die Gnadenbeweise; daß sich ohne ihr Fürwort Niemand dem Kaiser nähern, geschweige etwas bei ihm erreichen konnte; er spricht von den Ausbrüchen seiner mit Jähzorn gemischten Melancholie, welche die Erzherzöge als „gefährliche Intervalle“ bezeichneten. Dann mißhandelte der Kaiser seine Diener mit den Fäusten und warf ihnen Teller und Tafelgeschirr an den Kopf. Auch mit Selbstmordgedanken trug er sich und versuchte öfter Hand an sich zu legen.

Sollte man nicht glauben, daß die Weltgeschichte sich bisweilen der Kopirtinte bedient und ganze Blätter aus ihren Annalen mit unverwandelten Schriftzügen wiederholt? Das Königsschloß Hradschin an den Ufern der Moldau und die Burg Hohenschwangau in den Alpen erzählen wortgetreu dieselbe Kunde von der traurigen Geistesumnachtung vereinsamter Herrscher. †      

[536] Luitpold, Prinzregent von Bayern. (Mit Portrait auf S. 517.) Die Büste des jetzigen Prinzregenten von Bayern, welche der durch seine vorzüglichen Kolossalbüsten ausgezeichnete Bildhauer Christian Roth in München im Auftrage desselben nach der Natur modellirte, ist anerkannt das beste Portrait des Prinzen Luitpold. Wir bringen hier ein getreues Bild derselben. – Prinz Luitpold ist der dritte Sohn des Königs Ludwig I., Bruder des Königs Max, der sich durch die Förderung von Wissenschaft und Dichtung einen Namen gemacht hat. Er ist am 12. März 1821 geboren, verfolgte die militärische Laufbahn, wobei er zu seiner Specialwaffe die Artillerie wählte; später wurde er Generalfeldzeugmeister und General-Inspekteur des bayerischen Heeres. An den beiden großen Kriegen von 1866 und 1870 hat er sich betheiligt: an dem ersten als Gegner Preußens, indem er vier bayerische Divisionen gegen dasselbe ins Feld führte, an dem zweiten im Hauptquartier des Königs Wilhelm. Den Schlachten bei Gravelotte und Sedan, der Kaiserproklamation in Versailles wohnte er bei; auch hat er stets das bayerische Königthum bei nationalen Feierlichkeiten, wie die Enthüllung des Denkmals auf dem Niederwalde, und bei Berliner Hoffesten, wie die goldene Hochzeit des Kaisers, vertreten. Aus seiner Ehe mit der Prinzessin Auguste von Toskana sind drei Söhne, Ludwig, Leopold und Arnulf, hervorgegangen. Ludwig, der künftige König von Bayern, machte den Krieg gegen Preußen im Jahre 1866 mit und wurde in dem Gefecht bei Helmstedt schwer verwundet. Luitpold ist ein Freund der Kunst ohne jene verschwenderischen Neigungen, welche für Ludwig I. und Ludwig II. so charakteristisch waren. †     

Ein Storch! Ein Storch! (Mit Illustration S. 521.) Wenn die höchste Popularität darin gefunden wird, daß Einen „jedes Kind kennt“, so ist ohne Zweifel der Storch – „Adebar“ sagt der deutsche Norden – das populärste Geschöpf zwischen Alpen und Nord- und Ostsee. Die Legende von dem Kinderbringer wird so leicht nicht aussterben, auf lange hinaus Gevatter Langbein fortfahren, für unsere jüngste Welt ein Märchenvogel zu sein. Und mag der Jagdfreund und Vogelschützler noch so viel über seine Gemeinschädlichkeit deklamiren – wer Herz und Phantasie der Kinder so angelegentlich wie er beschäftigt, zu dem werden die Großen in einem Pietätsverhältnisse verbleiben, das ihm für allerlei Unliebsames respektvolle Nachsicht verbürgt. Ich für meinen Theil möchte keinen Menschen Freund nennen, der, ohne zu zögern, einen Storch zu schießen im Stande ist – diesen würdigen Herrn mit dem scharfen, klugen Auge, mit der imponirenden Bedächtigkeit in jeder Bewegung! Man braucht gar nichts zu wissen von seinem ehelichen Leben, seiner Kindererziehung, seinen Reisevorbereitungen: auf den bloßen Anblick hin wird jeder Beobachter versucht sein, ihn für eine achtunggebietende Persönlichkeit in Federn zu halten, welche nicht daran denkt, der Menschheit eine höhere Rangstufe zuzugestehen. Mir zum wenigsten kommt – in Erinnerung an das bekannte Hauff’sche Märchen – jeder Storch wie ein verkappter Kalif vor.

Und nun versetze man sich erst in die Seele der Kinder! Da wandern just ihrer zwei im Walde, gegen den sumpfigen Waldweiher hin – – pst! und – ah! dort steht er, schwarz und weiß: der geheimnißvolle Vogel! Dicht vor ihnen steht er plötzlich, hebt bedächtig ein rothes Stelzbein, thut einen Schritt – was Wunder, wenn ihnen der Athem stockt, wenn die Kinderaugen ihn verschlingen!

„Adebar, gauder,
Bring mi ’n kleenen – –“

Da fliegt er auf, schwebt breitflüglig zum andern Ufer. „Hest ’n sehn, Lining? Hest ’n ook orndlich sehn? Nu giw Acht, dit Joahr werd dat wat!“ B.     



Allerlei Kurzweil.

Schach.
Von Josef Pospisil in Krc bei Prag.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.

Dieses feinsinnige Problem empfehlen wir der besonderen Beachtung unserer Schachfreunde.



Kleiner Briefkasten.

Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.

O. R. in München. Welche Beweggründe Herrn Josef Kainz veranlaßten, die Veröffentlichung der von König Ludwig II. an ihn gerichteten Briefe zu gestatten, vermögen wir nicht zu entscheiden. Jedenfalls hatten wir keine Veranlassung zu der Annahme, daß bei der Publikation Gewinnsucht, Reklamemacherei etc. im Spiele gewesen sei. Wir nahmen deßhalb auch den uns von der Schriftstellerin Frau Sara Hutzler eingesandten Artikel mit den Briefen des Königs gern auf, nachdem wir uns davon überzeugt hatten, daß ihr Inhalt durchaus harmloser Natur, daß durch die Veröffentlichung derselben keinerlei Indiskretion gegen Dritte begangen werde, daß dieselben überhaupt keine irgendwie bedenklichen, also geheimzuhaltenden Mittheilungen enthalten, daß es endlich – gegenüber den überall veröffentlichten grellen Aussprüchen und Handlungen des geisteskranken Königs – einen wohlthuenden Eindruck machen müsse, auch diese liebenswürdigen, warmherzigen, vielfach von edler Begeisterung und feinem Verständniß für Kunst und Litteratur zeugenden Aeußerungen des schon damals unheilbar Erkrankten kennen zu lernen und dadurch für das Bild des unglücklichen Monarchen eine mildere Beleuchtung zu erhalten. – Von der beabsichtigten Veröffentlichung weiterer Briefe, Erinnerungen etc. hatten wir bei Annahme des Hutzler’schen Manuskripts natürlich keine Ahnung. Die verschiedenen durch diese Veröffentlichungen hervorgerufenen Erörterungen, Erklärungen etc. berühren uns deßhalb nicht.

J. B. in Basel. Vergleichen Sie gefl. den Artikel „Briefliche Kuren“ in Nr. 8 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“. Im Uebrigen rathen wir Ihnen, einen praktischen Arzt zu befragen.

R. 17. in Halle. Wir verweisen Sie auf unsern Artikel „Rathgeber für Kosmetik“ in Nr. 26 der „Gartenlaube“, Jahrgang 1885.



Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 517. – Sonne und Kind. Eine Sommertags-Epistel. S. 522. – Kleine Ursachen – große Wirkungen. Bühnenerinnerung von Marie Knauff. S. 523. – Im deutschen Böhmerwalde. Reiseskizzen von Karl Pröll. II. S. 524. Mit Illustrationen S. 524 und 525. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 526. – Vogelmette. Gedicht von Ferdinand Avenarius. S. 530. – Fünfhundert Jahre der deutschen Hochschule Heidelberg. S. 530. Mit Illustrationen S. 529 und 532. – Die Heidelberger Karcer. S. 533. Mit Illustrationen S. 533 und 534. – Blätter und Blüthen: Der Heidelberger Schloßhof. Von Emil Peschkau. S. 535. Mit Illustration S. 529. – Eome geschichtliche Parallele. S. 535. – Luitpold, Prinzregent von Bayern. S. 536. Mit Portrait S. 517. – Ein Storch! Ein Storch! S. 536. Mit Illustration S. 52l. – Allerlei Kurzweil: Schach. – Kleiner Briefkasten. S. 536.



Im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig sind erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

Ein wunderlicher Heiliger. Eine Wiener Geschichte von Hans Hopfen. Eleg. geb. Mk. 4. –.

Der letzte Hieb. Eine Studentengeschichte von Hans Hopfen. Eleg. geb. Mk. 4. –.

Der Muth zur Wahrheit. Roman von Stefanie Keyser. Eleg. geb. Mk. 5. –.

Aus eigener Kraft. Roman in 3 Bänden von Wilhelmine von Hillern geb. Birch. Zweite Auflage. Eleg. geb. in 3 Bände M. 11. –.

Ein armes Mädchen. Roman von W. Heimburg. Zweite Auflage. Eleg. geb. Mk. 5. 50.

Neue Gedichte von Emil Rittershaus. Fünfte Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt M. 6. 50.

Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Roman in zwei Bänden von E. Marlitt. Zweite Auflage. Eleg. geb. Mk. 8. 50.

Sämmtliche Werke, geschmackvoll gebunden, eignen sich in vorzüglicher Weise zu Geschenken.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. S. 206 der „Gartenlaube“ dieses Jahrgangs.
  2. Studentenausdruck für Nachtwächter, Schutzmann etc.