Die Gartenlaube (1886)/Heft 33
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No. 33. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sankt Michael.
Das Gewitter war mit voller Macht in die Thäler niedergegangen und hatte sich dort, nachdem es wohl eine Stunde lang mit Blitz und Donner getobt, in einen ausgiebigen Regen verwandelt.
Mitten durch den triefenden Wald schritt ein junger Wanderer, den das Wetter auf seinem Wege überrascht hatte. Wäre Hans Wehlau dem Rathe seines Freundes gefolgt und auf der langweiligen Fahrstraße geblieben, so wäre er längst in Tannberg eingetroffen, in dem romantischen Bergwalde verirrte er sich gründlich und schlug eine falsche Richtung ein, die ihn weit von seinem Ziele abführte. Eine überhängende Felswand hatte ihm allerdings einen nothdürftigen Schutz gewährt, jetzt aber, wo die Dämmerung hereinbrach und der Regen noch immer strömte, blieb ihm nur die Wahl, entweder die Nacht in dem nassen Walde zuzubringen oder auf gut Glück vorwärts zu gehen, in der Hoffnung, irgend eine Köhlerhütte oder ein sonstiges Obdach zu erreichen, und er entschloß sich zu dem letzteren.
Endlich nahm der dichte Forst ein Ende, und der junge Mann gewahrte, als er in das Freie trat, einen Lichtschein, der aus einiger Entfernung herüberblinkte. Die Dämmerung und der Nebel ließen nicht erkennen, welcher Art das Gebäude war, das auf einer mäßigen, bewaldeten Anhöhe lag und nur zum Theil aus den Bäumen hervorragte; aber jedenfalls wohnten Menschen dort, und der durchnäßte Wanderer richtete schleunigst seine Schritte dorthin.
Der Weg, der zu der Höhe hinaufführte, schien sehr verwahrlost zu sein. Hans blieb verschiedene Male in dem aufgeweichten Boden stecken; dann mußte er über einen Bach, der quer über den Pfad lief, dann über eine morsche Holzbrücke und endlich durch ein Thor, von dem nur noch die beiden steinernen Pfeiler standen, während das Gitter fehlte. Ein anscheinend umfangreiches, aber halb verfallenes Gebäude mit Mauern und Thürmen lag vor dem jungen Manne, aber die Dunkelheit war inzwischen völlig hereingebrochen, sodaß er nur mit Mühe und nur von jenem Lichtschein geleitet eine kleine Pforte fand, die gerade unter dem erhellten Fenster lag und verschlossen war.
Er pochte, anfangs bescheiden, dann lauter und nachdrücklicher an die Thür; nach Verlauf von einigen Minuten wurde dann auch [574] das Fenster geöffnet, und eine heisere Stimme fragte von oben, wer da sei?
„Ein Fremder, der sich verirrt hat und um Obdach für die Nacht bittet.“
„Ich habe kein Obdach für Vagabunden und Herumstreicher. Macht, daß Ihr fortkommt!“
„Das ist ja ein recht liebenswürdiger Empfang!“ rief Hans entrüstet. „Ich bin weder Vagabund noch Herumstreicher, sondern ein höchst anständiger Mensch und gern bereit, mein Nachtlager zu bezahlen.“
„Bezahlen! In der Ebersburg!“ klang es mit der gleichen Entrüstung von oben. „Hier ist kein Wirthshaus, geht wieder dahin, wo Ihr hergekommen seid.“
„Das werde ich wohl bleiben lassen, denn ich komme gradewegs aus einem Wolkenbruch und habe dabei im Walde Weg und Steg verloren. Ist das eine Art, einen Gast bei solchem Unwetter vor der Thür stehen zu lassen und ihm den Eintritt zu verweigern? Machen Sie auf!“
„Nein,“ sagte die heisere Stimme, offenbar erbost, „Ihr bleibt draußen!“
„Zum Kukuk, jetzt reißt mir die Geduld!“ rief der junge Mann wüthend, der eben von einem neuen Regengusse überschüttet und bis auf die Haut durchnäßt wurde. „Aufgemacht! Oder ich schlage die Thür ein und renne Sturm gegen die alte Baracke.“
Er begann in der That mit beiden Fäusten gegen die Thür zu trommeln, und was der höflichen Bitte nicht gelungen war, das erreichte die Grobheit, sie imponirte offenbar dem unsichtbaren Hüter des Einganges, denn nach einigen Sekunden ließ sich dessen Stimme in bedeutend gemildertem Tone vernehmen:
„Wer sind Sie eigentlich und was wollen Sie?“
„Ich bin vorläufig noch ein gänzlich aufgeweichter Mensch und suche nur Trockenheit. Uebrigens bin ich im Stande, die allerbefriedigendsten Aufklärungen über Stand, Name, Alter, Herkommen, Heimat, Familie und so weiter zu geben, wenn es gewünscht wird.“
„Sie sind also von Familie?“
„Selbstverständlich! Jeder Mensch muß doch eine Familie haben.“
„Ich meine – von Adel?“
„Natürlich! Aber jetzt wachen Sie endlich auf!“
„Warten Sie – ich komme!“ klang es verheißungsvoll von oben; gleich darauf wurde das Fenster geschlossen und der Lichtschein verschwand.
„Man scheint hier erst auf den Stammbaum geprüft zu werden, ehe man eingelassen wird!“ sagte Hans, indem er sich in die Thürnische drückte, um dem Regen zu entgehen. „Meinetwegen! Mir kommt es gar nicht darauf an, mir nöthigenfalls eine Grafenkrone beizulegen, wenn sie mir nur ein trockenes Nachtlager verschafft. Gott sei Dank, da wird endlich geöffnet!“
In der That wurde drinnen ein Schlüssel umgedreht und ein Riegel zurückgeschoben; dann öffnete sich die Thür und vor dem Eintretenden stand ein alter Mann, der sich mit der Rechten auf einen Stock stützte und mit der Linken eine Lampe emporhielt.
Es war eine hagere, gebeugte Gestalt, die einst wohl stattlich gewesen sein mochte. Die pergamentfarbene Haut und die tausend Runzeln und Falten gaben dem Gesicht etwas Mumienhaftes, die Augen waren trübe, und unter dem schwarzen Käppchen stahl sich spärliches weißes Haar hervor. Der kurze Gang schien den alten Herrn angegriffen zu haben, denn er stützte sich hüstelnd fester auf seinen Stock, während er zugleich den Gast beleuchtete.
„Ich bitte um Verzeihung wegen meines ungestümen Eindringens, aber ich war wirklich im Begriff, fortgeschwemmt zu werden,“ sagte Hans, mit einer Verbeugung, die nach allen Seiten hin Nässe sprühte. „Habe ich die Ehre, den Herrn des Hauses vor mir zu sehen?“
„Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau auf Ebersburg,“ versetzte dieser mit großer Feierlichkeit. „Und Sie, mein Herr?“
„Hans Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein,“ war die ebenso feierliche Antwort.
Der Name schien dem alten Freiherrn zu gefallen, er neigte das Haupt und sagte würdevoll: „Sie sind mir willkommen, Herr Hans Wehlau Wehlenberg, folgen Sie mir!“
Er verschloß sorgfältig wieder die Thür und ging dann voran, um seinem Gaste den Weg zu zeigen. Sie schritten zunächst durch eine Vorhalle, deren Dach nicht mehr fest zu sein schien, denn der Regen hatte seine Spuren überall auf dem Fußboden hinterlassen. Dann ging es eine enge, steil gewundene Treppe mit ausgetretenen steinernen Stufen hinauf, dann durch einen endlosen Gang, wo jeder Schritt auf den Steinfliesen widerhallte, und in der tiefen Dunkelheit ringsum war die Lampe, die der Schloßherr trug, die einzige Beleuchtung. Endlich öffnete er eine Thür und trat mit seinem Begleiter ein.
„Verfügen Sie über dies Gemach,“ sagte er, die Lampe auf den Tisch niedersetzend. „Das Wetter hat Sie allerdings übel zugerichtet, wie ich sehe. Ich will Sie jetzt beim Umkleiden nicht stören, erwarte Sie aber bei Tische. Auf Wiedersehen, Herr von Wehlau Wehlenberg.“
Er grüßte mit einer Handbewegung, die wirklich etwas Vornehmes und Ritterliches hatte, und ging. Hans musterte zunächst die Umgebung: es war ein kleines, düsteres und sehr dürftig ausgestattetes Gemach, nur das große Himmelbett, das an der Hauptwand stand, schien ein ehemaliges Prachtstück gewesen zu sein, aber die kunstvolle Schnitzerei war beschädigt und zerbrochen, die Seidenvorhänge verblichen und zerrissen und das Bettzeug vom gröbsten, bäuerischen Leinen.
„Das Beste wäre es, schleunigst zu Bette zu gehen,“ sagte Hans, indem er in der Nähe des Ofens eine Trockenanstalt einrichtete. „Da mich jedoch dieser Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau zur Tafel geladen hat, so muß ich nothgedrungen erscheinen; aber woher ein trockenes Kostüm schaffen? Vielleicht findet sich irgendwo eine alte Ritterrüstung oder sonst ein mittelalterliches Gerümpel, das ich anlegen kann. Ich glaube, es würde hier großen Eindruck machen, wenn ich eisenklirrend in den Ahnensaal träte. Suchen wir also!“
Er begann wirklich zu suchen und fand auch bald einen Wandschrank, in dem der Schlüssel steckte und der die ganze, sehr bescheidene Garderobe des Schloßherrn zu enthalten schien. Hans nahm ohne Besinnen das beste Stück derselben, einen Pelzrock, und war kaum mit dem Umkleiden fertig, als eine schon bejahrte Frau erschien, die ein Kopftuch trug und im unverfälschten Gebirgsdialekt den Herrn „Baron“ einlud, zu Tische zu kommen.
„Nur Baron – ich hätte mich mindestens zum Grafen gemacht!“ sagte Hans geringschätzig, indem er der Aufforderung nachkam. Die alte Magd führte ihn wieder eine Strecke den Gang hinauf und dann in ein Gemach, das augenscheinlich als Wohn-, Speise- und Empfangszimmer diente.
Es hatte auf den ersten Blick ein ganz stattliches Ansehen, aber ehemalige Pracht und jetziger Verfall mischten sich seltsam darin. Die Wände zeigten noch kunstvolle Täfelung, die Decke dagegen war ganz einfach weiß getüncht und der Kachelofen in der Ecke von der gewöhnlichsten Art. Derselbe Kontrast zeigte sich auch in der Einrichtung: hochlehnige Eichenstühle standen um einen Tisch von grob gezimmertem Tannenholz; auf einem reich geschnitzten alterthümlichen Kredenzschranke machte sich ganz gemeines irdenes Geschirr breit, und das schöne alte Spitzbogenfenster, wahrscheinlich dasselbe, dessen Lichtschein den Wanderer vorhin geleitet hatte, trug Vorhänge von geblümtem Kattun.
„Ich bitte um Entschuldigung wegen meiner Eigenmächtigkeit,“ sagte der junge Mann, indem er sich dem Schloßherrn näherte, der in einem Armstuhle saß. „Meine Toilette war in einem so wenig salonfähigen Zustande, daß ich mir im Vertrauen auf Ihre Güte auch diesen Raub erlaubte.“
Er nahm sich allerdings etwas wunderlich aus in dem Pelzrock, sah aber trotzdem mit dem jugendlichen Gesicht, mit den vom scharfen Bergwinde gerötheten Wangen und den noch regenfeuchten Locken so bildhübsch aus, daß um die welken Lippen des alten Freiherrn ein Lächeln spielte und er freundlich erwiderte:
„Es freut mich, wenn Sie in meiner Garderobe das Nöthige fanden. Nehmen Sie Platz, ich möchte noch eine Frage an Sie richten.“
„Jetzt kommt die Ahnenprobe!“ dachte Hans, und er hatte sich nicht getäuscht, sein Wirth steuerte geradewegs auf dies Ziel los.
„Hans Wehlau Wehlenberg – das hat einen guten Klang!“ fuhr er fort. „Dagegen ist der Name Ihres Stammsitzes etwas ungewöhnlich. Wo liegt eigentlich der Forschungstein?“
„In Norddeutschland, Herr Baron,“ versetzte Hans, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Das dachte ich mir, da ich ihn nicht kenne. Die süddeutschen Adelsgeschlechter und ihre Stammsitze kenne ich sämmtlich, [575] gehört doch mein Geschlecht zu den allerältesten. Es stammt aus dem zehnten Jahrhundert, das ist historisch beglaubigt, aber die Ueberlieferung reicht noch viel weiter zurück. In Norddeutschland giebt es wohl kaum eine so alte Familie?“
Er machte sich augenscheinlich bereit, nun auch den Stammbaum seines Gastes zu prüfen, aber dieser, der das Unheil kommen sah, parirte geschickt und fuhr mit einer Frage dazwischen.
„Darf ich fragen, wen dies Bild darstellt? Es fiel mir schon beim Eintritte auf,“ sagte er, auf ein Gemälde deutend, das ihm gerade gegenüber an der Wand hing. Es war das lebensgroße Brustbild eines Mannes von etwa vierzig Jahren, mit dunklem Haar, lebhaften dunklen Augen und edlen regelmäßigen Zügen, in denen allerdings keine besondere Intelligenz lag. Die Kleidung, die eine Uniform zu sein schien, wurde größtentheils durch einen Mantel verhüllt. Das Portrait war jedenfalls neueren Datums. Der Schloßherr richtete die Augen gleichfalls dorthin, er vergaß auf einmal Stammbaum und Jahrhunderte und fragte angelegentlich:
„Gefällt Ihnen das Bild?“
„Außerordentlich! Welch ein schöner Kopf! und auch vortrefflich gemalt. Jedenfalls auch ein Eberstein?“
Der alte Herr sah halb geschmeichelt, halb gekränkt aus, als er langsam entgegnete:
„Ja, ein Eberstein! Sie erkennen ihn also nicht wieder?“
Hans stutzte, er warf wieder einen Blick auf das Bild und dann auf die zusammengesunkene Gestalt mit den trüben Augen und den welken Zügen.
„Es kann doch nicht – sollte es etwa Ihr eigenes Portrait sein, Herr Baron?“
„Das war es einst – und es soll vor dreißig Jahren sehr ähnlich gewesen sein. Ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie keinen Zug mehr darin wiederfinden, bin ich doch nur noch eine Ruine, wie meine Ebersburg!“
Die Worte klangen so tief schmerzlich, daß Hans sofort einlenkte und sich bemühte, den alten Mann zu trösten.
„Doch, ich erkenne die Züge deutlich wieder,“ versicherte er. „Das Bild hatte ja schon im ersten Augenblick etwas Bekanntes für mich, aber ich rieth auf einen Ihrer Söhne.“
„Ich habe keine Söhne,“ versetzte Eberstein wehmüthig. „Mein Geschlecht geht mit mir zu Grabe, denn meine erste Ehe ist kinderlos gewesen, und die zweite hat mir nur eine Tochter geschenkt. Ich begreife nicht, wo Gerlinde bleibt, ich werde sie wohl herbeirufen müssen.“ Er erhob sich mühsam und schritt nach dem Nebenzimmer, dessen Thür geschlossen war.
„Gerlinde von Eberstein – brr!“ rief Hans aus. „Das klingt ganz nach Söller und Burgverließ. Jedenfalls ein mittelalterliches Burgfräulein, denn da der Herr Papa in den Siebzigen steht, so muß die Tochter mindestens Vierzig zählen; nun, der Dame kann man sich allenfalls im Pelzrock vorstellen.“
Er blickte mit sehr mäßiger Neugierde nach der Thür, fuhr aber plötzlich wie elektrisirt in die Höhe, denn das, was jetzt auf der Schwelle erschien, entsprach keineswegs seinen Voraussetzungen.
Es war die zarte Gestalt eines noch sehr jungen Mädchens im schlichten, grauen Hauskleide, das dunkle Haar einfach zurückgestrichen und in Flechten am Hinterkopfe befestigt. Das noch ganz kindliche Gesichtchen erschien ein wenig bleich, war aber, wenn auch nicht eigentlich schön, doch von unsagbarer Lieblichkeit. Von den Augen sah man nichts als die tiefgesenkten, dunklen Wimpern. Der Freiherr mußte erst im späteren Alter zu der zweiten Ehe geschritten sein, denn sein Töchterlein zählte höchstens sechzehn Jahre.
„Hans Freiherr von Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein – meine Tochter Gerlinde!“ stellte der Schloßherr mit aller Feierlichkeit vor. Hans war so überrascht, daß er zwei Verbeugungen nach einander machte, welche die junge Dame ihrerseits mit einer unglaublich steifen Bewegung erwiderte, die zwischen Knix und Verneignng die Mitte hielt. Dann nahm sie, immer noch mit niedergeschlagenen Augen, ihren Platz am Tische ein, wo das kalte Abendessen bereits aufgetragen war, und die sehr bescheidene Mahlzeit nahm ihren Anfang.
Der alte Freiherr war sehr redselig und sprach unaufhörlich mit dem Gast, der durch die Bewunderung seines Bildes sein ganzes Herz gewonnen hatte; um so schweigsamer zeigte sich Fräulein Gerlinde. Sie besorgte still und aufmerksam all die kleinen Geschäfte der Hausfrau, hielt sich dabei aber steif wie ein Holzbild und setzte allen Unterhaltungsversuchen Hans Wehlau’s ein hartnäckiges Stillschweigen entgegen; der Vater nahm dann regelmäßig statt ihrer das Wort, und dabei blieb ihr Gesicht so unbeweglich, als höre sie gar nicht, was gesprochen wurde.
„Das arme Kind scheint taubstumm zu sein,“ dachte der junge Mann mitleidig. „Schade um das liebliche Gesichtchen! Wenn sie wenigstens nur einmal die Augen aufschlagen wollte!“
Er machte noch einen letzten Versuch, indem er sich direkt an sie wandte mit der Frage, ob das gnädige Fräulein schon lange auf der Ebersburg wohne, und ob es im Winter hier nicht sehr einsam sei. Gerlinde blieb auch jetzt stumm, und ihr Vater gab die Antwort.
„Wir leben jahraus, jahrein hier, und meine Tochter ist seit frühester Jugend an diese Einsamkeit gewöhnt. Ich habe ihr allerdings erlaubt, in der nächsten Woche auf einige Tage nach Steinrück zu gehen auf dringenden Wunsch der Gräfin, deren Pathenkind sie ist. Sie kennen doch die Grafen von Steinrück?“
„Gewiß, ich habe die Ehre.“
„Ein altes Geschlecht, aber volle zweihundert Jahre jünger als das meinige!“ sagte der Freiherr mit höchster Genugthuung. „Der Ahnherr der Steinrück wird erst in den Kreuzzügen genannt, und leider haben sie auch einen Flecken auf ihrem Stammbaum, eine Mißheirath der schlimmsten Art, die freilich erst aus der neuesten Zeit stammt. Sie geschah vor etwa dreißig Jahren, bis dahin war die Familie makellos.“
„Seit den Kreuzzügen! Und im neunzehnten Jahrhundert muß ihnen ein solches Unglück begegnen!“ rief Hans mit einer Entrüstung, die ihm ein beifälliges Kopfnicken seines Wirthes eintrug.
„Allerdings ein Unglück! Sie haben vollkommen Recht, Sie scheinen überhaupt ein sehr lebhaft entwickeltes Standesgefühl zu besitzen, ich liebe das außerordentlich. Ja, Graf Michael hat den Schlag überwunden, ich hätte es nicht gekonnt; mich hätte er zu Boden geworfen, denn mein Stammbaum ist rein bis auf diese Stunde, ganz rein!“
Damit begann er eine sehr weitläufige, historische Erörterung über besagten Stammbaum, in der er mit den Jahrhunderten nur so um sich warf und die um volle zweihundert Jahre jüngeren Grafen von Steinrück behandelte, als ob sie Wickelkinder seien. Hans achtete gar nicht darauf, er zerbrach sich noch immer den Kopf darüber, ob Fräulein Gerlinde von Eberstein wirklich taubstumm sei oder nicht, und das beschäftigte ihn so sehr, daß der Erzähler seine Zerstreutheit bemerkte und etwas empfindlich fragte, ob er auch zuhöre.
„Natürlich, ich bewundere den ganz reinen Stammbaum,“ versicherte der junge Mann. „Also die Eberstein-Ortenau –“
„Führen diesen Doppelnamen seit dem vierzehnten Jahrhundert,“ ergänzte der Freiherr. „Gerlinde, mein Kind, erzähle unserem Gaste, wie das geschah.“
Fräulein Gerlinde faltete die Hände auf dem Tische, sie hob auch jetzt das Auge nicht empor, und ihr Gesicht blieb unbeweglich, aber sie begann plötzlich zum Entsetzen des Gastes zu reden oder vielmehr zu plappern, in der Weise eines Kindes, das eine eingelernte Lektion aufsagt:
„Im Jahre dreizehnhundertundsiebzig war eine Fehde ausgebrochen zwischen Kunrad von Eberstein und Balduin von Ortenau, dieweil die Hand der Hildegund von Ortenau dem Ritter Kunrad von Eberstein versagt worden war, bei welcher Fehde sowohl die Ebersburg als die Veste Ortenau verschiedene Male berannt wurden, bis im Jahre dreizehnhundertundeinundsiebzig Ritter Balduin in die Gefangenschaft des Ebersteiners gerieth und in das Burgverließ geworfen wurde, allwo er endlich in die Vermählung Hildegund’s mit Kunrad willigte, welche Vermählung im Jahre dreizehnhundertundzweiundsiebzig mit großer Pracht gefeiert wurde, was zur Folge hatte, daß bei dem Tode des Ritters Balduin im Jahre dreizehnhnndertundsechsundachtzig die Veste Ortenau und deren sämmtliche Liegenschaften an die Herren von Eberstein kamen, die seitdem den Namen von Eberstein-Ortenau führen.“
„O – das ist erstaunlich!“ sagte Hans, der wirklich starr vor Staunen über diese Leistung der vermeintlich Taubstummen war. Er begriff nicht, wie sie beim Sprechen den Athem behielt, den er schon beim Zuhören verlor.
„Ja, meine Gerlinde weiß Bescheid in der Geschichte unseres Hauses,“ sagte der Freiherr triumphirend. „Sie hat sie sogar [576] besser im Kopfe als ich; denn mein Gedächtniß beginnt schon vom Alter zu leiden. Erst gestern machte sie mich auf einen Irrthum in der Jahreszahl aufmerksam, als ich von der Belehnung Udo’s von Eberstein sprach. Nicht wahr, mein Kind?“
Als habe man den Pendel einer Uhr angestoßen, so legte Fräulein Gerlinde auf diese Frage hin von Neuem los und erzählte eine noch weit längere Geschichte, diesmal aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in dem irgend ein Eberstein, in irgend einer Schlacht, dem Kaiser das Leben gerettet hatte und dafür mit irgend einer Burg belehnt worden war. All diese schwierigen Daten und Namen kamen mit einer unfehlbaren Geläufigkeit und Sicherheit, zugleich aber auch mit einer Eintönigkeit von ihren Lippen, die an das Klappern eines Mühlenwerkes erinnerte, und am Ende verstummte sie ebenso plötzlich, wie sie angefangen hatte. Hans rückte unwillkürlich seinen Stuhl um einige Schritte zurück, denn jetzt fing ihm die Sache an unheimlich zu werden; der Schloßherr aber, der das für eitel Bewunderung hielt, schien sehr geneigt, ihm noch weitere Einblicke in die Chronik seines Hauses zu verstatten, als die alte Wanduhr mit lauten, langsamen Schlägen die neunte Stunde verkündete.
„Schon neun Uhr!“ sagte Eberstein, indem er sich erhob. „Wir leben sehr regelmäßig, Herr von Wehlau, und pflegen stets um diese Stunde zur Ruhe zu gehen. Ihnen wird das nach Ihrer anstrengenden Wald- und Bergpartie nur angenehm sein. Ich wünsche Ihnen eine ruhige und angenehme Nacht in der Ebersburg.“
Die letzten Tage Friedrich’s des Großen .
Der Kriegslärm, welcher die Regierungszeit Friedrich’s des Großen erfüllte, war endlich verstummt, Preußens Genius aus hundert blutigen Schlachten siegreich hervorgegangen, und der große König durfte sich am Abend seines Lebens den Werken des Friedens widmen, mit gleicher Ausdauer, mit welcher er einst den Feind verfolgte, auch für das Wohl des Volkes sorgen. – Er war bereits in das siebzigste Lebensjahr geschritten, und seine gebückte Gestalt verrieth deutlich die Folgen früherer Anstrengungen und Spuren des Alters. Aber sein Geist war ungebrochen, und trotz immer wiederkehrender Krankheitsfälle besorgte der König mit unermüdlicher Pflichttreue die Staatsgeschäfte, unternahm Reisen in die Provinzen seines Reiches und hielt nach wie vor militärische Revuen ab, damit die Kriegstüchtigkeit seines vielbewährten Heeres durch eiserne Zucht aufrecht erhalten würde. Noch im Spätsommer des Jahres 1785 saß er in Breslau vor seinen Truppen sechs Stunden lang zu Pferde, obwohl ein kalter und heftiger Regen niederströmte. Aber solchen Mühen und Anstrengungen schien der Körper nicht mehr gewachsen zu sein.
Unter großen Beschwerden hatte der König den kommenden Winter zugebracht. In seinem Zimmer saß er als ein gebrochener Mann unter Schmerzen durch die Gicht und Wassersucht, durch Kolik und Bluthusten, von Morgens bis Abends vornübergebeugt auf seinem Sessel. Bald verließ er diesen, auch Nachts nicht mehr, weil er es im Bett nicht aushalten konnte. Mit dem Eintritt der wärmeren Jahreszeit sehnte er sich nach dem erquickenden Strahl der Sonne und ließ sich auf die grüne Treppe vor dem Potsdamer Schlosse hinaustragen und ruhte dort stundenlang. Zuweilen freilich schnellte ihn seine Willenskraft und die ungeschwächte geistige Rührigkeit auch jetzt noch in die Höhe; er wollte gehen, und dann mußte ihn einer seiner Kammerhusaren aus dem Sessel in die Höhe heben und unter dem Arm angefaßt führen. Mit seinen stark geschwollenen Beinen ging es so meist nur Schritt um Schritt vorwärts, und er kam dabei ganz außer Athem. Oder er wollte gar reiten; man mußte ihn auf sein Pferd heben, und er konnte dann selbst im Galopp noch seinen Ritt durch die Anlagen von Sanssouci und Potsdam machen.
In den letzten Monaten seines vierundsiebzigjährigen Lebens kam er im wahren Sinne, wie sonst auf seinen Feldzügen, nicht mehr aus den Kleidern und den Stiefeln heraus. Immer bot er derartig das Bild, wie es die Welt von ihm kennt: den dreieckigen Hut auf dem Kopf, die schlaffen, weiten Stiefel an den Beinen, eine alte Uniform, oder zu Hause einen hellblauen Atlasrock auf dem Leibe, den Krückstock in der Hand. Nachlässig der ganze Anzug, der Hut mit alten weißen Federn abgetragen, die Stiefel ungewichst, der Rock vorn von spanischem Tabak, den er in zwei Dosen bei sich führte, gelb und braun gefärbt. Das Gesicht war mager, faltig und schon von weißgelber Blässe; die welken Hände zitterten; an der linken derselben blitzten zwei sehr große Diamanten, an der rechten ein Ring mit großem schlesischen Chrysopras. Die Stimme war leise und rauh; aber er konnte sie bis zuletzt zu dem hellen gebieterischen Ton heben, welcher Jeden, der ihn vernahm, in Ehrfurcht setzte, ebenso wie seine Augen noch immer wunderbar groß, klar und umfassend in die Welt hinausschauten und ihr gütiger oder strenger Blick niemals die zauberhafte Wirkung auf Jeden verlor, den er traf. Der Geist Friedrich’s, einer der begnadetsten im Menschengeschlecht, lebte in dem so hinfällig werdenden Körper noch in der alten Gesundheit und arbeitete fort und fort. Die strenge Ordnung, die sich der König für seine Pflichten und Geschäfte vorgeschrieben, die er sich für seine Mußestunden angewöhnt, wurde unter dieser geistigen Thatkraft kaum von der Krankheit beeinträchtigt. Tag um Tag liefen die Berichte der Behörden an ihn ein, Eingaben, Bittschriften und Privatbriefe, und pünktlich fanden sie in der frühesten Morgenzeit ihre Erledigung. Die zitternde Hand schrieb dann auch dutzendweise den großen Namen, der einem Regierungsakt Gültigkeit verlieh, manchen jener liebenswürdigen französischen Briefe an befreundete Fürsten, Gelehrte und Kriegskameraden, wie sie die herausgegebene Korrespondenz des Königs aufweist, und immer auch noch jene „Resolutionen“, die so mannigfaltig den König als obersten Richter und den Selbstherrscher charakterisiren, der gerecht und klug, gütig oder strafend seine Entscheidung zu fällen
[577][578] suchte. Ein General z. B. erbittet Geld gegen leidliche Zinsen zur Aufbesserung seines Gutes. – „Ich bin kein Banquier,“ weist ihn der König ab. Ein Graf beschwert sich über einen Ausspruch der Justiz und will im Besitz der Lehnsgüter erhalten bleiben. – „Er kann keine Gewaltthätigkeit von mir fordern; meine Schuldigkeit ist, die Gesetze zu unterstützen, aber nicht, sie umzuwerfen.“ Ein Geheimrath schlägt vor, die Staatseinkünfte durch Gehaltsabzüge bei den Unterbeamten zu vermehren. Friedrich antwortet darauf (4. Juni 1786), daß die armen Leute jener Klasse ohnehin schon so kümmerlich leben müssen, da die Lebensmittel und Alles jetzt so theuer sei, und sie eher eine Verbesserung als Abzug haben müssen. „Indessen will ich doch Seinen Plan und die darin liegende gute Gesinnung annehmen, und Seinen Vorschlag an Ihm selbst zur Ausführung bringen und Ihm jährlich 1000 Thaler mit dem Vorbehalte an dem Tractamente abziehen, daß Er sich übers Jahr wieder melden und Mir berichten kann, ob dieser Etat Seinen eigenen häuslichen Einrichtungen vortheilhaft oder schädlich sei. Im ersten Fall will ich Ihn von seinem so großen als unverdienten Gehalte von 4000 Thaler auf die Hälfte heruntersetzen und bei seiner Beruhigung seine ökonomische Gesinnungen loben.“
Um sechs Uhr früh war der König oft schon mit diesen Geschäften fertig, und dann ließ er Graf Lucchesini rufen, damit er ihm vorlese, wobei auch über litterarische und philosophische Dinge geplaudert wurde. Es meldeten sich darauf die Minister, Generale oder die Besuche vornehmer Fremder[1]. Mit jenen verhandelte der König amtsmäßig, mit diesen als geistreicher Mann, der immer mit scharfen Urtheilen kurz und bestimmt die Unterhaltung würzte. Allemal mit einem Lüften seines Hutes, der nicht mehr von seinem Haupte kam, gab er das Zeichen zur Entlassung. Nach Tische ward er mehr und mehr in diesen Leidenstagen des Schlummers bedürftig; aber derselbe war meist unruhig, leise und von gichtischem Zucken gestört. Dann wieder befohlene Besuche, Vorträge, Briefschreiben, Abends eine kleine Gesellschaft seiner Günstlinge und Hausbeamten, endlich wieder Vorlesen oder eigenes Lesen. Qninctilian, den großen römischen Rhetor, wählte Friedrich mit Vorliebe noch in der letzten Zeit, auch den alten Liebling Voltaire. Meist las er laut, zumal Poetisches. Und dann schlummerte er wieder, geschwächt von der Anstrengung, der er doch nicht mehr gewachsen war. Die Tafelfreuden, wenn man von solchen in Beziehung zu einem so schwer kranken Greis reden kann, nahmen ihn viel mehr in Anspruch, als man denken sollte. Friedrich aß bis zuletzt nicht nur gern und viel, sondern auch leidenschaftlich übermäßig gewürzte und siedend heiße Speisen. Die schwerst verdaulichen, wie Erbsen und Pasteten, waren ihm die liebsten. Jeden Morgen mußte ihm sein Koch die Speisekarte für den Tag vorlegen, dann strich er darin, was ihm mißfiel, und setzte hinzu, was er wünschte. Wiewohl er immer mehr Beschwerden von diesem Essen hatte, so fand der sonst so philosophische Mann niemals die Selbstüberwindung, sich auf den Genuß leicht verdaulicher Gerichte zu beschränken. Wenn ihm die Aerzte deßwegen Vorstellungen zu machen wagten, nahm er es sehr übel und schickte sie ungnädig fort, „zum Teufel“, wie er gern sagte. Ebenso wollte er nicht hören, daß er die Wassersucht habe; er bestritt dies sogar heftig, und erst als seine Beine ungeheuerlich aufschwollen, widersprach seine Eigensinnigkeit nicht mehr den Thatsachen.
Da wurde er denn immer mürrischer und dachte oft an sein Ende, indem er Worte ausstieß, wie: „Ach, sprechen Sie mir nichts mehr von Hoffnung!“ Er wollte auch nur ohne Schmerzen sterben, glaubte aber trübsinnig nicht mehr daran, daß er noch Erleichterung seiner körperlichen Leiden finden werde. Er fühlte sich einsam und freudlos. Der alten Freunde, die schon der Tod geholt, gedachte er oft. „Ja, ja, man lebt nur, um sterben zu sehen!“ pflegte er dann zu sagen. Solche und andere Reden entfuhren ihm in dieser gedrückten Stimmung. Wenn er noch, wie sonst, hätte die Flöte spielen können! Aber mit diesen zitternden Händen! Nun, der Tod sollte ihn denn doch noch in der Arbeit finden; er führte das „Im-Stehen-Sterben“ Vespasian’s gern im Munde. Am 15. August ordnete der König noch die Ausführung eines Manövers der Potsdamer Garnison für den nächsten Tag an, diktirte Depeschen und unterzeichnete die im Kabinett gefertigten Schreiben. Am 16. Morgens war er bewußtlos, erholte sich dann und ließ den General von Rohdich zwischen sieben und acht Uhr wegen der Parole eintreten. Aber er konnte nicht mehr sprechen. „Es geht zu Ende!“ flog jetzt die Botschaft aus Sanssouci nach Potsdam an den Thronfolger, Prinzen Friedrich Wilhelm, an den Minister von Herzberg, an den abgedankten Leibarzt Selle. Die beiden Letzteren eilten in der Nacht zum sterbenden König. Er schlummerte sanft, nur manchmal vernahm man aus seinem eingefallenen Munde halbverständliche Phantasien. Wohin richteten sie noch ihren letzten Flug? Sechsundvierzig Jahre König, und welch ein Reich hatte er sich in dieser Zeit geschaffen, welche Stellung ohne Gleichen in der Welt! Zog seine letzte Geisteskraft noch einmal die große „Summe seines Lebens“?
[579] Als es elf Uhr schlug, fragte Friedrich mit vernehmlicher Stimme, wie spät es sei? Man sagte es ihm, und er erwiderte darauf: „Um vier Uhr will ich aufstehen.“ Er wollte weiter sprechen, aber ein trockener Husten beklemmte seinen Athem. Da kniete einer der anwesenden Diener, der Kammerlakai Strützky, nieder, faßte den König unter den Arm und hielt ihn aufrecht, um ihm Erleichterung zu verschaffen.
Es tönte das Mitternachtsglockenspiel von der Potsdamer Garnisonkirche herüber. „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren.“ Friedrich’s Auge öffnete sich noch einmal, und das wunderbare Himmelsfeuer des Genius leuchtete noch darin. Sein Blick haftete auf dem Bruststück des Marc Aurel aus weißem Marmor und vielfarbigem Achat, das neben ihm auf dem Kamin stand; das Auge schweifte noch hinüber nach dem Bilde Josef’s II. vor ihm im offenen Vorzimmer. Dann senkten sich die müden Lider des Königs, sein Röcheln nahm zu. Um zwei Uhr zwanzig Minuten Morgens am 17. August neigte sich sein Haupt zum ewigen Schlummer; er starb in den Armen Strützky’s. Niemand war noch da, als die Kammerhusaren Schöning und Neumann, Minister von Herzberg, General Graf von Görtz und Dr. Selle. Eine Stunde später kam Friedrich Wilhelm II., der neue König von Preußen. Während dieses Tages lag der Leichnam Friedrich’s in der Uniform des ersten Gardebataillons auf einer schwarzbehängten Feldbettstelle. Erst Abends um acht Uhr setzte sich der achtspännige Leichenwagen nach Potsdam in Bewegung. Schluchzen und Seufzer der herbeigeströmten Veteranen und Klagen des Volkes drangen durch die stille Nacht.
Friedrich der Große selbst hatte die Terrassengruft von Sanssouci zu seiner letzten Ruhestätte bestimmt, aber den Ueberlebenden schien sie eines so großen Mannes nicht würdig zu sein, und so wurden seine sterblichen Ueberreste am 8. September unter der Kanzel in der Garnisonkirche zu Potsdam neben der Gruft Friedrich Wilhelm’s I. beigesetzt. Gleich nach dem Tode des Königs erließ der Minister eine Todesanzeige in den Zeitungen, deren folgende Schlußworte noch heute, nach hundert Jahren, im deutschen Volke einen ergreifenden Widerklang wecken: „Wenn die allergerechteste Bewunderung reden will, so macht der allergerechteste Schmerz verstummen. Sein Volk betete Ihn an, Europa suchte Ihn nachzuahmen, die Welt bewunderte Ihn, und die Nachwelt wird erstaunt die Geschichte Seiner Thaten kaum glaublich finden. Wenige Könige waren so groß wie Er, noch wenigere so gut wie Er; kaum Einer so groß und gut zugleich wie Er! Wer Gefühl für Geistesgröße und für Thätigkeit zur Beförderung für Menschenglück hat, wird Seinen Namen nie anders als segnend aussprechen.“
Friedrich der Große in Kamenz.
Hell tönten die Glocken des Cisterzienserklosters von Kamenz in die klare Winterluft – die sonst im duftigen Blau verschwimmenden Berge des schönen Glatzer Landes hingen jetzt mit ihren Schneerücken wie weißes Gewölke am Horizont – und auf dem nahen Kamme der Eule schien die Bergfestung Silberberg, deren Bastionen sich sonst scharf abzeichnen, im Schnee der Winterlandschaft verschüttet zu sein.
Doch es war nicht jener winterliche Frieden der Natur, den sonst nur der Schrei der Schnee-Amsel zu unterbrechen pflegt. Wer aus der Vogelschau auf die Berge und Thäler des Schlesier Landes herabgesehen hätte, der würde viele bunte Punkte und Linien bemerkt haben, die sich durch den Schnee dahinschlängelten – die Uniformen der Kaiserlichen und der Königlichen, Patrouillen und Heereszüge hüben und drüben und Geschütze, die von keuchenden Rossen durch den Schnee geschleppt wurden. Der Preuße war ins Land gebrochen, seine Fahnen wehten den Bergen zu; Breslau hatte dem jungen König gehuldigt und jene stolze schöne Fürstin, zu welcher der Prinz einst flüchten, welcher er Hand und Herz bieten wollte, sandte ihre besten Feldherren und Truppen dem kühnen Eindringling entgegen.
Die Glocken von Kloster Kamenz läuteten, es war eine feierliche Messe, welche der würdige Abt, Tobias Stusche, celebrirte. Anlaß dazu gab die Anwesenheit eines anderen Abtes des Cisterzienserordens, der von einer französischen Abtei herübergekommen; wohl im Auftrage des hohen Rathes, welcher in diesem Orden das Regiment führte. Neben der kräftigen Gestalt des Tobias Stusche, der ein vierschrötiger Mann war und um Haupteslänge hervorragte über die andern Mönche, die unter seiner Botmäßigkeit standen, machte der französische Abbé einen fast unscheinbaren Eindruck; seine Gestalt erschien klein und schmächtig in dem weißen Ordenskleide mit schwarzem Skapulier; aber seine Züge hatten etwas Feines und Vornehmes – und es mußte ein vornehmer Herr sein, der schon in so jungen Jahren die Würde eines Abtes erlangt hatte. Den Namen des französischen Grafen sprachen die Mönche verschieden aus: Tobias Stusche hatte sich keiner besonderen Deutlichkeit beflissen, als er den fremden Gast den Klosterherren vorstellte.
Nach der Messe führte er denselben in seine Zelle; während die andern Mönche im Refektorium sich gütlich thaten nach des Tages Last und Mühen, hatte der Abt für ein kleines köstliches Mahl gesorgt, das er in seiner Zelle rüsten ließ, der Bruder Kellermeister aber schleppte die seltensten Weine herbei, und der feurigste Tokaier funkelte in den werthvollen Krystallgefäßen des Klosters.
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[581] Kaum hatte der Kellermeister die Zelle verlassen, als die mächtige Gestalt des Tobias Stusche auf einmal alle gebieterische und imposante Würde einbüßte, sein ganzes Wesen einen sehr unterthänigen und dienstbereiten Ausdruck annahm, so schwer es ihm wurde, seinen Stiernacken zu beugen und den ungelenken Gliedern die Geschmeidigkeit zu geben, deren ein unterwürfiger Sinn bedarf, wenn er dem Höherstehenden huldigen will.
War es ein vornehmer Kirchenfürst, der den wackeren Tobias in diese unbequeme Lage versetzt hatte? Mindestens nahm der Fremde diese Huldigungen so gelassen hin, als ob sie ihm zukämen – und doch wird die hohe kirchliche Würde niemals der Jugend zu Theil. Grau und verwittert muß sein, was zum Felsen Petri gehört.
Der französische Abt war einer jener Männer, über welche ein flüchtiger Blick leicht achtlos hinwegstreifen kann, aber nähere Betrachtung fühlte sich gefesselt und angezogen. Und wenn man anfangs nicht recht wußte, worin dieser Zauber beruhte – man blieb nicht lange darüber im Unklaren. Es war die Macht dieses großen sonnenhaften Auges, der sich Niemand entziehen konnte: es sprach daraus ein überlegener, beherrschender Geist. Bald war es ein feuriger Adlerblick, welcher die Herzen zündend traf; bald hatte dies Auge einen sanften, tiefen, schwärmerischen Ausdruck, der überaus sympathisch wirkte.
Es war das Auge des Genius! Mag wer da will an ein Genie mit nichtssagenden grauen Augen oder funkelnden Katzenaugen glauben – ohne den tiefen Blick, der in die Seelen hineinleuchtet, giebt es kein Genie.
„Ich danke Ihm,“ sagte der Gast, indem er mit dem Wirthe anstieß; „Er hat mir einen großen Dienst geleistet, und das soll Ihm unvergessen bleiben.“
„Stets Eurer Majestät getreuer Diener,“ versetzte der Abt mit einem etwas ungeschickten Bückling, „ich leere dies Glas auf Euer Wohl, Sire!“
Friedrich blieb eine Zeitlang in Gedanken versunken.
„Habe zu sehr diese Panduren mißachtet ... ganz unerwartet kamen sie hervorgeschwärmt aus den Glätzer Bergen – ein wahrer Heuschreckenschwarm. Ich hatte mich zu weit entfernt von den Schulenburger Dragonern. Diese geriethen in einen Hinterhalt, setzten sich tapfer zur Wehr … ich hörte das Musketenfeuer … da tauchten zur Rechten und zur Linken von mir an den Waldrändern die Panduren auf. Es galt Eile … ich war mit meinem Adjutanten allein … wir jagten auf Waldwegen thalwärts … überall hinter den schneebelasteten Bäumen sahen wir die glitzernden Musketen. Daß Er mir so rasch und ohne Bedenken auf Anfrage und Wunsch die Pforten des Klosters öffnen ließ, insgeheim, ohne daß außer dem Bruder Pförtner irgend Jemand etwas davon erfuhr: das war meine Rettung; denn in den Gehöften der Hörigen ringsum tummeln sich die Rothhosen, man hört ja die Musketenschüsse selbst hier im Kloster, und bei Gott, Meister Tobias, es war Hilfe in der Noth! Ob Er damit ein gutes Werk gethan hat, weiß ich nicht, aber die Welt hätte ein anderes Aussehen erhalten, wenn ein Musketenschuß jener Räuberbande mir den Garaus gemacht hätte!“
„Wir sind noch immer nicht sicher,“ versetzte der Abt, „daß sie ins Kloster dringen. Der Bruder Pförtner plaudert zwar nicht; ihm hab’ ich’s auf die Seele gebunden – und sonst weiß Niemand im Kloster von der Anwesenheit Eurer Majestät. Mein Vorgänger im Amt war von Eurer Statur – so konnte ich rasch aus der Nachbarzelle, wo der Schrank mit den Klostergewändern steht, das seinige entnehmen und Eurer Majestät übergeben. Hier sind Eure Majestät in sicherer Obhut und außer Gefahr, entdeckt zu werden; doch ich kann nicht dafür einstehen, daß uns die Panduren noch einen Besuch machen; ich werde Erkundigungen einziehen lassen, Tag für Tag, wo sie umherschwärmen, wo sie sich hingewendet.“
„Tag für Tag,“ rief Friedrich aus, „o nein, der König von Preußen darf nicht auf Tage verloren gehen. Sie harren meiner Befehle … vor Glogau, vor Neiße … ich erwarte Nachrichten von Winterfeld aus Petersburg – vom Grafen von Rothenburg aus Paris: hier oder dort kann im Spiele der Diplomatie eine Karte aufschlagen zu meinen Gunsten! Und ich hier im Kloster – ich habe nicht Zeit und Muße, Uhren zu stellen wie Kaiser Karl im Kloster von St. Just: ich hab’s gewagt, den Zeiger zu stellen auf der Uhr der Geschichte, und muß angstvoll lauschen auf ihren Schlag!“
Ungeduldig sprang der König auf, des weiten Gewandes ungewohnt warf er anstreifend das Weinglas um, und der feurige Tokaier wurde verschüttet.
„Ich hoffe, die Reiterscharen werden sich bis morgen zerstreuen,“ versetzte der Abt; „jedenfalls sollen mir die Laienbrüder draußen genaue Auskunft erstatten.“
„Dank, Meister Tobias! Wie sorglos kann Er seine Herde lenken mit dem frommen Stäbe. O neid’ Er nicht eines Königs Scepter. Allzuschwer oft ist seine Wucht, und auch die starke Hand beginnt zu zittern und wird kraftlos, doch nur auf Augenblicke! Auch Könige sind Menschen, aber der Staat, dem wir dienen mit Leib und Seele, duldet kein langes Ermatten; er setzt uns rasch wieder in den Sattel zum Sieges- oder Todesritte!“
Es schien dem Abt, als wolle der König sich zur Ruhe begeben; er nahm die Kerze zur Hand und geleitete ihn ehrfurchtsvoll in die Zelle gegenüber, die für den hohen Gast bestimmt und eingerichtet war. Mit tiefer Verbeugung wünschte er ihm eine ruhige Nacht.
Doch den König quälte die innere Unruhe, sorgenvolle Gedanken waren in ihm wachgerufen worden; er ging in seiner Zelle hin und her.
„Ein braver Mann, der Abt Tobias,“ sagte er sich, „was wagt er nicht Alles für den fremden, den ketzerischen König … und wie kann ich’s ihm lohnen? Und warum wagt er dies? Bin ich seines Gleichen nicht ein Gräuel? Was er gethan, er that’s aus Menschlichkeit; er sah mich in Gefahr und wollte mich erretten. Aller Ordensregeln spottet ein redlich Gefühl, das nur sich selbst gehorchen will.“
Der Vollmond stand hell am Himmel – das Fenster von Friedrich’s Zelle ging auf den Klosterhof. Da war Alles so still und friedlich … die winterlichen Skelette der Kastanien und Ulmen waren mit Schnee bedeckt … die Pfeiler der offenen Halle, die sich im Viereck hinzog um das im Sommer so freundliche, jetzt so öde Plätzchen Erde, warfen ihre Schatten auf die Schneefläche … ein leichtes, weißes Gewölk stob vom Wipfelgeäst einer Kastanie herunter … eine Krähe scharrte dort den Schnee und flog dann krächzend in den kalten Winterhimmel empor.
So freudlos das Alles war: einen Augenblick überkam’s den König, als könne er glücklich sein in solcher von der Welt abgeschlossenen Einsamkeit. Er würde hier nicht fromm in den Tag hineinleben wie die Andern … er würde denken und dichten ungestört. Nicht um die Kronen Europas brauchte er sich zu kümmern, nicht um die tugendstolzen oder verworfenen Frauen, die offen oder geheim das Scepter führten, nicht um die Heere seiner Feinde … kein Kriegsplan, kein Schlachtplan brauchte ihn zu beschäftigen … nie würde ihn der Jammer quälen, daß das kühn Entworfene scheitert an der Ungunst des Glückes und an thörichter Ausführung. Wieder kam ihm der spanische Karl in den Sinn … doch hatte dieser nicht ein reiches Leben hinter sich, als er an die Pforten des Klosters klopfte? Er war mächtig und groß gewesen, und der Glanz vieler Kronen hatte seine Stirn geschmückt. Wie durfte sich ein junger Fürst dem lebensmüden Weltbeherrscher vergleichen! Es galt ja erst Ruhm und Macht zu erringen, ein schönes Land im Sturm zu erobern und dann siegreich zu behaupten, der Welt zu zeigen, was das gute Preußenschwert vermag und welch hohen Flugs der Aar der Hohenzollern fähig sei.
Alles war noch auf die Zukunft gestellt … auf ein rastloses Streben. Hier fühlte er sich eingeengt, gefangen. Es duldete ihn nicht länger in der Zelle, er schritt die langen Korridore hindurch; sie waren taghell durch den Vollmond erleuchtet. Er gelangte wieder in die Klosterkirche … durch das Hauptschiff ging er dahin, dem Hochaltar zu; er stieg die Stufen empor zum goldfunkelnden Krucifix, verloren in Gedanken, die fern abschweiften von den heiligen Räumen, die er durchwandelte. Die bunten Glasmalereien der hohen Kirchenfenster strömten ein träumerisches Licht aus im Mondenschein; aber nicht auf die Heiligen und Märtyrer, deren Gestalten in so lichten Regenbogenfarben schimmerten, blickte der junge Fürst … in dem phantastisch bunten Schein, der sein Haupt umwob, zogen glänzende Zukunftsträume durch seine Seele. Da, am Hochaltar stehend, besann er sich plötzlich darauf, wo er sich befand … er mußte lächeln, als er sein weißes Mönchskleid betrachtete; was würde er dazu sagen, sein Freund, der größte Mann des Jahrhunderts?
[582] Und er sah ihn wieder vor sich, wie er ihn vor Kurzem in den Niederlanden gesehen, den dürren gespenstigen Voltaire mit seinem böswilligen Grinsen auf den Lippen und den Karfunkelaugen … welche Pasquille würde er ausschütten über den Mönchkönig, den Antimacchiavell im Gewand der Cisterzienser … den Ungläubigen, der sich in die fromme Herde gedrängt! Friedrich sah sich auf einmal selbst in dieser Beleuchtung … und der Geist des kecken Spötters kam über ihn. Könnte er nicht jetzt als legendarischer Heiliger der Pucelle von Orleans auf ihren Esel helfen? Oder selbst auf einen Esel steigen, wie der Mönch, der den heiligen Kreuzzug predigte? Fürwahr, ein wunderlicher Heiliger, mit dem schwarzen Skapulier um die Lenden und in der Seele die schwarzen ketzerischen Gedanken!
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Die Ankunft des tief in den Mantel gehüllten Officiers im Kloster war nicht unbemerkt geblieben; ein Späherauge hatte sie belauscht. Dore Schloßmann, des Klosterbauern Tochter, träumte Tag und Nacht von preußischen Uniformen und harrte auf allen Wegen, ob ihr Geliebter, der sie im Zorn verlassen, nicht wieder zu ihr zurückkehren werde. Es war ein tapferer Schulenburger Dragoner, nicht dieses Landes Kind, sondern vom Kriegssturm hergeweht, von der Ostsee-Insel, an deren Kreidefelsen sich die lärmende Brandung bricht. Martin Sture hatte bei flüchtiger Einquartierung ihr Herz erobert: er war ein stattlicher Pommer, die schmucke blaue Uniform hob seine kräftige Gestalt, seine grauen Augen konnten recht siegesgewiß funkeln, wenn er einer Schönen gegenüber stand. Auch waren alle Soldaten des jungen Königs verwegen wie er, und wie er zögerten sie nicht zuzugreifen, wo sie vermeinten, sie hätten ein Recht dazu. Und solche Meinung hat jeder tapfere Kriegsmann, wenn ihm auf seinen Fahrten ein hübsches Mädchen begegnet. Dore war ein echtes Schlesier Kind, nicht drall und prall, wie die Dirnen aus den Hochgebirgen, ein wenig weich und schmachtend und empfänglichen Gemüthes; sie hatte ein paar fragende Augen, die mit jeder Antwort zufrieden waren; denn die Schlesier sind ein träumerisches Völklein, weßhalb auch so viele Dichter in ihrer Mitte erstanden; schroffe Kernnaturen giebt es nicht unter ihnen, und auch die Töchter des Landes haben ein versöhnlich Gemüth und zürnen dem Fremdling nicht, der um sie freit.
So begab es sich denn, daß der Schulenburger Dragoner schon bei seinem ersten Vormarsch Dorens Herz eroberte; sie saßen zusammen auf der Bank am Kachelofen; Martin verzehrte mit Andacht den Sträußelkuchen, den Dore für ihn gebacken, und erquickte sich an einem köstlichen Kirschbranntwein, den auch die Klosterherren nicht verschmähten. Dann patrouillirten Beide zusammen die Dorfgassen hindurch, und so vertraulich war bereits ihr Verkehr geworden, daß sie sich mit Schneebällen warfen und daß Dore mit einem süßen Schauer den kalten Wurf empfing, mit dem Martin den Nacken der Enteilenden traf; denn auch wenn Liebe sich so feindlich gebärdet und wehe thut, strömt sie doch immer ihren geheimen Zauber aus.
So ging es Tag für Tag; an einem Ruhetag der Schwadron widmete Martin alle Zeit, welche die Reveille und Parade, das Striegeln und Putzen des Pferdes übrig ließ, seiner anmuthigen Wirthstochter. Da begab es sich, daß das friedliche Glück in grausamer Weise gestört wurde; Dore erhielt den Besuch einer Muhme, die ihr sonst eine theure Freundin war; doch jetzt war ihr jede Dritte unwillkommen. Das sollte aber noch schlimmer werden; denn die Muhme war ein sehr stattliches Mädchen, hoch und schlank von Gestalt, mit feurigem Blick und bei Weitem nicht so entgegenkommend wie Dore; sie hatte etwas Zurückhaltendes, etwas Ablehnendes in ihrem Wesen. Ihre Mutter stammte aus nördlichen Gegenden, wo so schroffes Wesen zu Hause ist, und die Tochter hatte es von ihr geerbt. Das reizte aber den Schulenburger; er entwickelte alle seine Liebenswürdigkeit, um der schönen Susanne zu gefallen – und für Dore blieb sehr wenig übrig. Je spröder die Muhme war, desto eifriger warb Martin um ihre Gunst. Am Nachmittag war er ganz verschwunden; über Dore kam eine bange Ahnung; sie empfand einen grausamen Schmerz. Und doch war sie zu stolz, Susanne zu besuchen, um nachzusehen, ob er bei ihr sei; sie war schon einmal unterwegs, doch sie kehrte wieder um: lieber sich vergrämen, als sich so fortwerfen an den Ungetreuen. Abends war Tanz in der Scheune; die Schulenburger Trompeter spielten auf: es war viel Lust, Gejauchze und Sporenklang. Doch Martin mied jetzt absichtlich Dore, deren verdrossenes Gesicht ihm mißfiel; immer walzte er mit Susanne, und diese war nicht mehr so abweisend spröde; ihre Augen flammten, ihre Züge bedeckte eine feurige Röthe; sie hing in Martin’s Arm, als gehöre sie für immer dorthin; ja es geschah das Unglaubliche: nach einer wilden Tour drückte Martin sie an sich und küßte sie, und sie ließ sich das ruhig gefallen. Da brach alles verhaltene Weh in Dorens Herzen los; das stille Mädchen stürzte zornentbrannt auf den Dragoner los und warf ihm seine Untreue in den heftigsten Worten vor, leider ohne den gewünschten Eindruck auf den Frevler zu machen. In seinen grauen Katzenaugen leuchtete eine heimliche Schadenfreude auf, und als Dore ihren Sermon geendet, winkte er seinen Kameraden von der Trompete, einen Tusch zu blasen; unter lärmendem Gelächter und schmetterndem Halloh erfüllten diese seinen Wunsch, und laut weinend verließ Dore die Scheune, außer sich über diese Demüthigung, und im Herzen von bitterem Haß erfüllt gegen die Schulenburger und alle Preußen, in denen sie auf einmal nichts sah als freche Ruhestörer, Plünderer und Beutemacher und Verwüster des schönen Schlesiens.
Am nächsten Morgen brachen die Dragoner in aller Frühe nach Wartha auf, dem Städtchen, welches am Eingang des Hauptthals liegt, das ins Herz des Glatzer Gebirgslandes und zur starken Festung Glatz führt. Dort, hieß es, sei der König selbst, um die feindliche Stellung auszukundschaften. Dore hatte von Martin, obschon er bei ihrem Vater im Quartier lag, keinen Abschied genommen; im Laufe des Tages machte sie die unangenehme Entdeckung, daß Susanne verschwunden und, wie sie erfuhr, auch nach Wartha gefahren war. Sehr erklärlich – sie wollte dem Geliebten nahe sein, und da eine Tante von ihr, bei der sie öfters zum Besuche war, in Wartha lebte, so benutzte sie eine Fahrgelegenheit, die sich ihr darbot, um durch die Schneelandschaft nach dem Bergstädtchen zu fahren.
Dore saß mehrere Tage lang verzweifelt in ihrem Kämmerlein … auch am Altar hatte sie gebetet und der heiligen Jungfrau ihr Leid geklagt; doch sie konnte den Schimpf nicht verwinden, den man ihr angethan. Da klopfte es bei ihr, und als sie öffnete, stand Susanne vor ihr. Drohte ihr ein neuer Schimpf? Sie hatte nicht übel Lust über sie herzufallen und ihr ein Leides anzuthun; denn diese war ja die Ursache von all dem Schlimmen, das ihr widerfahren, doch Susanne sah durchaus nicht triumphirend aus; sie kam nicht, um ihre Muhme zu verhöhnen; sie hatte etwas Niedergeschlagenes in ihrem Wesen und streckte ihr zur Versöhnung die Hand entgegen. Dore zögerte, sie anzunehmen, und betrachtete Susanne mit mißtrauischen Blicken; doch diese offenbarte sich bald als eine Leidens- und Gesinnungsgenossin. Martin Sture hatte auch sie nicht im Geringsten beachtet; es schien ihm unbequem, als sie in Wartha auftauchte; ein vornehmes Mädchen, des Apothekers Tochter, hatte dem schmucken Dragoner ihre Gunst zugewendet; er hatte es kaum bemerkt, als er alle möglichen Avantagen davon zu ziehen wußte und den Kameraden gegenüber fast eine hoffährtige Miene annahm. In stürmischen Zeiten kommt Liebesglück im Fluge wie Kriegsglück. Wie lästig mußte es Martin Sture sein, als ihm von Kamenz die Dirne nachgelaufen kam! Er machte kein Hehl daraus und gab’s ihr rundweg zu verstehen, so daß sie in ihrem Stolz sich tödlich gekränkt fühlte. Sogleich trat sie den Heimweg an, zu Fuß, trotz des Schneesturms, der ringsum das Land in seinen Wirbeln zu begraben schien. Gleiches Leid machte die beiden Muhmen wieder zu Freundinnen, sie küßten sich und drückten sich die Hände und gestanden sich, daß sie gleichen Groll gegen den verrätherischen Fremdling im Herzen hegten.
Doch so seltsam ist das menschliche Herz … kaum hatte Dore erfahren, daß Martin auch Susanne im Stich gelassen; als etwas in ihr auftauchte, wie eine leise Hoffnung: er könne wieder zu ihr zurückkehren. Das Kriegsgetümmel ging herüber und hinüber; warum sollte der Schulenburger Vortrab nicht wieder nach Kamenz versprengt werden?
Sie liebte ihn und haßte ihn zugleich … o, sie hätte ihn strafen, sich an ihm rächen, aber ihn dann wieder versöhnt ans Herz schließen mögen. Nur den Andern, den Schulenburgern gegenüber, die sie verspottet, wollte sie nichts von Versöhnung wissen. Susanne wohnte abseits vom Dorf mit ihrer Mutter in einem einsam gelegenen Häuschen. Dore hatte sie besucht, um [583] wieder ihr Herz vor ihr ausschütten zu können. Der Rückweg führte sie dicht am Kloster vorbei: da sah sie auf dem Feldweg in der winterlichen Dämmerung mitten im Schneegestöber zwei Reiter nahen … war es ein Traum? Waren dies nicht preußische Uniformen? Sie hielten an der Klostermauer. Dore lauschte hinter einem Mauervorsprung: der eine Reiter sprang vom Pferd und klopfte an die Klosterpforte. Der Bruder Pförtner öffnete, ein kurzes Gespräch – sie konnte zu ihrem Bedauern nicht die Worte verstehen, der Wind mit dem Schneegewölk verwehte sie – sie konnte nur sehen mit angestrengter Sehkraft. Der Pförtner verschwand … Alles war still ... die Reiter schüttelten den Schnee von ihren Mänteln. Die Pforte vor ihnen hatte sich wieder geschlossen; doch sie verließen ihren Posten nicht. Eine geraume Zeit verging so … ungeduldig stampften die Pferde. Da wurde wieder geöffnet – der eine Reiter, der sich fester in den Mantel hüllte, trat ein – der andere sprengte querfeldein mit den Pferden des Weges, welchen sie gekommen waren.
Dore eilte ins Dorf, um die wichtige Nachricht dort zu verbreiten. Da fand sie Alles in Unruhe und Aufregung … durch die Dorfgassen sprengten die Pandurhusaren, fremdartige Gestalten mit riesigen Schnauzbärten auf flüchtigen Rossen. Daneben zogen Trupps Panduren zu Fuß mit türkischen Pluderhosen und gewaltigen Musketen. Wenn sie sich nur mit ihnen hätte verständigen können, wenn sie’s nur gewagt hätte, sie anzureden, ihnen ein Zeichen zu geben: das waren ja die ersehnten Rächer; doch die grimmen Gesichter und die feurigen Augen schreckten das Mädchen zurück. Und gar die schnaubenden Rosse … sie trat geängstigt bei Seite. Und das flog an ihr vorüber wie Geisterspuk, wie es schien, wieder zum Dorfe hinaus. Dore theilte ihrem Vater mit, was sie gesehen – die Kunde kam zu spät. Die Panduren suchten die versprengten Schulenburger, sie wußten, daß der König unter ihnen sei; doch da die Bauern meldeten, daß sich kein preußischer Reiter im Dorf gezeigt, brausten sie weiter in wilder Hast. Hätte Dore früher das Abenteuer an der Klosterpforte erzählt – die Maus wäre in der Falle gefangen worden. Ja, wenn die Bauern nur gewagt hätten, den würdigen Mönchen Verlegenheit zu bereiten! Es gab im Dorf einen Schmied, der war lange in Ungarn gewesen und hatte, wie böse Zungen sagten, bei den Zigeunern seine Kunst gelernt. Er konnte sich mit den Panduren verständigen und kümmerte sich wenig um des Klosters Botmäßigkeit. Als um Mitternacht der wilde Schwarm zurückkam, weil der Hauptmann sich überzeugt, daß sie eine falsche Richtung eingeschlagen hatten, als das ganze Dorf in Unruhe und Aufregung versetzt worden, da eilte Dore zu diesem Schmied, er möge den Oesterreichern die Kunde bringen, daß ein preußischer Officier im Kloster versteckt sei. Der Hauptmann strich sich seinen Schnauzbart mit einem gewissen Behagen; doch da seine Truppe übermüdet war, begnügte er sich damit, vor das Hauptthor des Klosters und eine Seitenpforte desselben eine Reiterwache zu stellen und wachsame Patrouillen um die Mauern wandern zu lassen; er wollte sich den guten Fang zum Frühstück aufheben. Behaglich streckte er sich auf seinem Lager aus. Es mußte ja ein hoher Officier sein, vielleicht der König selbst, den sie im Kloster aufgenommen; denn einem gemeinen Reitersmann hätten die Mönche nimmer ihre Pforten geöffnet. Ein Ehrensäbel funkelte ihm vor den Augen, als er einschlief.
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Ein fast undurchsichtiger Schneenebel hing über der Landschaft, als die Trompeter am nächsten Morgen die Reveille bliesen. Die Pferde wurden geputzt und gestriegelt, aber sie blieben im Stall; denn die Reiter schlossen sich mit ihren Musketen den Fußsoldaten an; Alles strömte dem Kloster zu, und während dumpfer Trommelwirbel dem bunten Kriegsvolke den Marschtakt angab, läuteten die Glocken vom hohen Klosterthurm, und feierlich ertönte der Orgel Klang aus der Kirche. Musketen klopften an die äußere Pforte der Ringmauer, und als sie geöffnet wurde, da stürmte der Schwarm herein, ohne viel zu fragen. Der Hauptmann ließ dem Abt vermelden, er müsse das Kloster durchsuchen, da er erfahren, daß ein feindlicher Officier sich hier versteckt habe. Und so gingen sie ans Werk ohne Zögern. Zelle für Zelle wurde abgesucht, alle Betten aufgewühlt. Ein Trupp mit dem tapfersten Korporal begab sich in den Keller, der Bruder Kellermeister mußte öffnen; die gewaltigen Stückfässer imponirten den Panduren so, daß sie fast versäumten, in den Verstecken dahinter nachzusuchen, und als sie gar von dem gastfreien Klosterbruder eingeladen wurden, an einem Holztisch Platz zu nehmen, der dicht vor den Riesenfässern zusammengezimmert war, und als aus dem geöffneten Spund derselben der feurige Trank hervorquoll und als ihre Gläser sich füllten mit dem ehrwürdig alten Wein, der so viele Jahrzehnte hindurch in dieser Tiefe geschlummert: da waren die Preußen und der ganze Krieg und das ganze Kloster vergessen; mit den Musketen wurde auf den Tisch getrommelt, und beim Säbelklirren erklangen wilde Kriegslieder, denen wilde Liebeslieder folgten, wie sie das Volk der Berge und der Steppen singt, das der Kaiserin Gebot von fernher unter Oesterreichs Fahnen gerufen.
Anderer Art war das Bild, das sich droben in der Kirche darbot. Der Gottesdienst nahm dort seinen ungestörten Fortgang, als die fremden Krieger lärmend eingetreten; doch der Gesang der Priester, der Klang der Orgel, das Licht der Kerzen auf dem Altar, die aufsteigenden Weihrauchwolken: das mußte doch das wilde Feuer des Hauptmanns und der Seinigen mäßigen. Andächtig schlug er ein Kreuz, und Alle folgten seinem Beispiel – und indem sie den beiden Aebten – es standen zwei am Hochaltar im kirchlichen Ornat – die schuldige Reverenz bewiesen und vor jedem Heiligenbild und Krucifix sich ehrfurchtsvoll verneigten, durchsuchten sie alle Winkel der Kirche mit militärischer Pünktlichkeit. Es war ein eigenthümlicher Anblick, diese Krieger zu sehen, wie sie zwischen der soldatischen und kirchlichen Disciplin hin- und herschwankten, in fortwährender Angst, gegen die eine oder die andere zu verstoßen.
Der eine der beiden Aebte sah mit feinem Lächeln dem Gebahren der rauhen Krieger zu, die Mischung von Frömmigkeit und rauhem, kriegerischem Wesen erheiterte ihn. Das aber wußte er, daß seine pommerschen Grenadiere mit den Weißröcken weniger Federlesens gemacht hätten; denn sie kannten nur Trommelschlag und Kanonendonner und den Befehl ihres Kriegsherrn.
Die Durchsuchung des Klosters war vergeblich gewesen, kein feindlicher Officier entdeckt worden. Die Panduren verließen mißvergnügt die heilige Stätte – in rosiger Stimmung waren nur die Wenigen, welche in den Kellerräumen ihres Amtes gewaltet. Der Pandurenhauptmann war in böser Laune über die verlorene Zeit und Mühe. Dore, als die Anstifterin dieses Unheils, als falsche Angeberin, wurde in ihrer Behausung ergriffen und dem Profoß übergeben. Auf einem Bagagewagen wurde sie gebunden mit fortgeschleppt; sie ahnte, daß ihr etwas Grausames und Beschämendes bevorstehe, und sie sah mit geheimem Grauen auf den Stock des militärischen Gerichtsvollziehers. Doch ihre bangen Ahnungen sollten sich nicht erfüllen, auf der nach Wartha führenden Heerstraße wurden die Panduren von mehreren Schwadronen der Schulenburger Dragoner überfallen, nach tapferer Gegenwehr in die Flucht geschlagen, die Begleitung des Bagagewagens niedergemacht, und als Dore vor Schreck über die Schüsse und den Kampf in Ohnmacht gefallen war und wieder zum Leben erwachte, neigte sich über sie das Antlitz des wackeren Martin Sture, blutend von einem feindlichen Säbelhieb, aber mit dem wohlwollenden Lächeln, mit dem man eine alte Bekannte begrüßt, und als er sie ihrer Banden entledigt hatte, da fühlte sie nichts mehr von Haß und Zorn und Grimm, sondern nur inniges Dankgefühl, dessen Ausdruck Martin Sture mit liebenswürdiger Herablassung entgegennahm. Die Schulenburger rückten wieder in Kamenz ein. Er beschloß, sich mit Dore nicht mehr auf den Kriegsfuß zu stellen und statt des Schneeballenwerfens ein minder erkältendes Spiel zu wählen.
Von der Ankunft der treuen Truppen unterrichtet, konnte der König wieder seine Uniform anziehen. Erstaunt erfuhren die Mönche, welchen Gast sie in ihren Mauern bewirthet hatten. Friedrich dankte herzlich dem wackeren Abt; Tobias Stusche aber sprach die Hoffnung aus, daß der königliche Herr dieses Landes, wenn er es ganz seinem Scepter unterworfen, auch den Katholiken ein gnädiger Herrscher sein und ihren Glauben schützen möge.
„Fürchte Er nichts,“ sagte Friedrich, „in meinen Landen soll Jeder nach seiner Façon selig werden.“
Er sprengte von dannen – und bald verkündete der Kanonendonner von Mollwitz der erstaunten Welt, daß der junge Fürst zu siegen verstand und das schöne Juwel Schlesien von jetzt ab unentreißbar leuchte im Diadem der preußischen Könige.
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Franz Liszt.
Seit mehr denn sechs Jahrzehnten erfüllt Franz Liszt’s Ruhm die musikalische Welt. Die Triumphe ohne Gleichen, die der Knabe, der Jüngling und Mann als Virtuos feierte, fanden ein Echo in den geräuschvollen Siegen, welche der Greis zuletzt als Komponist erlebte. Unermüdlich war sein Wirken und Schaffen. Vor wenigen Monaten noch erntete er in Brüssel, Paris, London zu dem alten Lorbeer frische Ruhmeskränze, und noch wenige Tage vor seinem Tode ließ er sich in das Wagner-Theater in Baireuth zu der ersten „Tristan“-Aufführung hinauftragen, um durch seine Gegenwart für den Künstler zu zeugen, dessen treuester Freund und Gesinnungsgenosse er von je gewesen war. Und in Baireuth starb er am 31. Juli wie ein Feldherr auf dem Schlachtfelde.[2]
Die wahre Kunst kennt keine Landesgrenzen, und ihre Meister wie Franz Liszt führen die höchste Würde des Weltbürgerthums. Kein Wunder also, daß an Liszt’s Grabe Vertreter fast aller civilisirten Völker Trauerkränze niederlegten. Aber noch aus einem andern Grunde müssen sich in den Schmerz um seinen Verlust die Völker theilen: wie kein anderer Musiker der Gegenwart war Liszt Kosmopolit. Magyarisches und deutsches Blut vererbten ihm die Eltern, und in Frankreich holte er sich ein gut Theil seiner umfassenden Bildung, die er in Italien erweiterte und vollendete. Als Abkömmling eines alten ungarischen Adelsgeschlechts, wurde Franz Liszt am 22. Oktober 1811 in dem Dorfe Raiding bei Oedenburg in Ungarn geboren, Ohne Vermögen, auf frühzeitige Selbständigkeit angewiesen, hatte sein Vater Adam Liszt als Rechnungsbeamter des Fürsten Esterhazy daselbst mit Anna Lager aus Krems in Niederösterreich seinen bescheidenen Hausstand begründet. Seine beste Lebensfreude aber bildete die Beschäftigung mit Musik und der Verkehr mit der von Haydn und Hummel geleiteten Kapelle seines Fürsten in dem benachbarten Eisenstadt, bei der seine auf mehreren Instrumenten erworbene Fertigkeit häufig Verwendung fand.
Die Hausmusik des Vaters, die sonntägigen Meßgesänge in der Kirche, die wild-phantastischen Weisen der oft im Dorfe rastenden Zigeuner warfen die ersten musikalischen Eindrücke in die Seele des kleinen Franz. „So Einer will ich auch werden!“ rief er, auf das Bild Beethoven’s deutend, aus, das neben andern Musikerbildern das Wohnzimmer schmückte. Nachdem aber der Vater auf inständiges Bitten des Sechsjährigen den Klavierunterricht mit ihm begonnen hatte, spielte er mit solcher Leidenschaft, suchte – eher Noten als Buchstaben schreibend – mit so fieberhaftem Eifer nach eigenen Klängen, daß eine monatelange Krankheit in Folge der Ueberanstreygung sein Leben in Gefahr brachte. Aber der Knabe erholte sich rasch und erblühte in neuer Kraft. Neun Jahre alt, erntete er in Oedenburg und Preßburg öffentlich den ersten Lorbeer, und einige ungarische Magnaten erboten sich sofort, durch eim Stipendium von 6OO Gulden sechs Jahre hindurch die Kosten seiner Ausbildung zu tragen.
Er betrieb dieselbe zunächst in Wien unter Czerny’s und Salieri’s Führung und erwarb sich dank dem glänzenden Erfolg zweier daselbst veranstalteter Koncerte die Mittel, seine Studien in Paris fortzusetzen. Dem letzten Wiener Koncerte wohnte auch Beethoven bei, welcher dabei den genialen, ihm in glühender Verehrung anhangenden Knaben durch einen Kuß hoch beglückte. Zwar verschloß das berühmte Pariser Konservatorium vor Liszt, dem Ausländer, hartnäckig seine Thore; doch mit Hilfe seiner Kompositionslehrer Paer und Reicha machte er dessen ungeachtet seinen Weg. Im Umsehen war „le petit Litz“, wie man ihn nannte, der Protégé der Herzogin von Berry und des Herzogs von Orleans – des nachmaligen Königs Louis Philippe – der Liebling der Aristokratie, der Künstler und Gelehrten, der Held des Tages in Paris. Als „dem ersten Klavierspieler Europas“ huldigten die Blätter nach seinem ersten öffentlichen Auftreten (März 1824) dem „unvergleichlichen Kind“, und als dieses im Oktober 1825 mit einer Oper „Don Sancho, oder das Liebesschloß“ in der Académie royale als Komponist debütirte, trug Nourrit, der Sänger der Hauptrolle, den Vierzehnjährigen auf seinen Armen dem jauchzenden Publikum entgegen.
Die in Wien und Paris, wie auf dem Wege dahin in Stuttgart und München gefeierten Triumphe setzten sich in England, in den französischen Provinzen und der Schweiz fort. Da steckte der plötzliche Tod Adam Liszt’s (1827) den Reisen seines Sohnes fürs Erste ein Ziel. Mit seiner Mutter gemeinsam ließ Franz sich in Paris nieder, um durch Klavierunterricht ihre und seine Existenz zu sichern. Jahre tiefster Zurückgezogenheit und innerer Kämpfe folgten. Einem ersten beseligenden Liebestraum mußte er entsagen; der Wunsch, sich ganz der Kirche zu weihen, bei der sein religiöses Gemüth einzig Trost fand, scheiterte an dem Widerstand der Mutter. Erst die Julirevolution erweckte ihn zu neuer Thatkraft, und die mit ihr auf künstlerischem Gebiet zum Durchbruch kommende romantische Bewegung sah ihn neben Berlioz, Chopin, Victor Hugo, Alfred de Musset, George Sand, Delacroix u. A. in ihrer Mitte. Einen entscheidenden Impuls empfing er weiterhin durch Paganini’s Erscheinen in Paris. Am Genie des Italieners reifte das seine. Dessen Meisterschaft in seiner Weise zu erreichen, ja zu überbieten, dahin ging sein Trachten, und so in stiller unermüdlicher Arbeit gewann er die Höhe seines unerreichten pianistischen Meisterthums.
Ein Neuer für die Pariser, betrat Liszt 1834 wieder den Koncertsaal, der zwei Jahre später der Schauplatz seines Sieges im Wettkampf mit Thalberg war. Durch seine Verbindung mit der unter dem Schriftstellernamen Daniel Stern bekannten Gräfin d’Agoult – der Mutter von Richard Wagner’s Wittwe Cosima – veranlaßt, lebte er sodann mehrere Jahre zurückgezogen in Genf und Italien, bis er 1839 jene Virtuosenreisen begann, die ihn in einem Triumphzug ohne Beispiel durch alle Lande und alle musikpflegenden Städte Europas führten. Nie dagewesene Huldigungen wurden ihm zu Theil; wohin er kam, empfing ihn ein Begeisterungsrausch, ein Regen von Gold, von Titeln und Orden. Da schloß er plötzlich seine Siegeslaufbahn als Virtuos – der verwöhnte Liebling Europas nahm, einem Ruf des Großherzogs von Weimar folgend, 1847 als dessen Hofkapellmeister in der kleinen Residenz seinen Wohnsitz. Vereint mit der Herrin der „Altenburg“, der russischen Fürstin Karoline Sayn-Wittgenstein, einer Frau von hervorragenden geistigen Fähigkeiten, versammelte er einen Musenhof um sich und entfaltete als Dirigent, als Lehrer, als Schriftsteller und Komponist eine Wirksamkeit, die für das Musikleben der Gegenwart von weittragender Bedeutung wurde. So ist beispielsweise die Verbreitung der Werke Wagner’s, die Begründung einer neuen Klaviertechnik und einer neuen großen Pianistenschule, die Einführung neuer symphonischer und kirchlicher Formen sein Verdienst.
Leider war seines Bleibens in Weimar nicht allzulange. Der von einer Liszt feindlichen Partei in Scene gesetzte Durchfall der Oper „Der Barbier von Bagdad“ von seinem Schüler Cornelius gab Liszt im December 1859 den Anlaß, die Operndirektion niederzulegen. Im September 1861 kehrte er Weimar den Rücken und ging nach Rom. Den Wunsch, den er als Jüngling um seiner Eltern willen aufgegeben, brachte er dort zur Erfüllung: am 22. April 1865 empfing er vom Kardinal Hohenlohe in der vatikanischen Kapelle die Weihen. Er ward Abbate und später noch Kanonikus.
Gleich den weltlichen Fürsten beschenkte ihn auch der Papst Pius IX. mit seiner Gunst. Ja er erwies ihm sogar die „unvergleichliche Ehre“, ihn in seiner Wohnung auf dem Monte Mario zu besuchen und daselbst seinem Spiele zu lauschen, worauf er ihn, wie Liszt selbst erzählt, „ermahnte, dem Himmlischen im Irdischen nachzustreben und sich durch seine vorüberhallenden Harmonien auf die ewig bleibenden vorzubereiten.“
Seit 1869 kehrte Liszt wieder mit jedem Frühjahr für mehrere Monate in Weimar und zwar in der „Hofgärtnerei“ daselbst ein, von Scharen Kunstbeflissener, die von ihm zu lernen begehrten, von Freunden und Verehrern umdrängt, die sein Genie nicht minder als der Zauber seiner Persönlichkeit an ihn kettete, wie denn die Freundschaft der Männer und die Liebe der Frauen seinem Leben nie fehlten.
[585]
[586] Um künstlerischer Zwecke willen nebenher noch vielfach reisend, theilte er jahraus jahrein seinen Aufenthalt zwischen Weimar, Rom und Pest, wo er seit 1876 das Amt eines Präsidenten der Musikakademie bekleidete. Allüberall wirkte er zu Nutz und Frommen der Kunst und Künstler. Neid, Mißgunst, Selbstsucht, die Schwächen und Gebrechen kleiner Geister, kannte der großmüthige Menschenfreund nicht, der von den Millionen, die ihm sein Virtuosenthum eintrug, für sich selbst nur ein bescheidenes Kapital zurücklegte, aber für künstlerische oder mildthätige Zwecke königliche Summen spendete. Seit seiner Niederlassung in Weimar kam jede öffentliche Ausübung seiner Kunst ausschließlich Anderen zu Gute. Mit seinem Unterricht, dem er auch in der allerletzten Zeit mehrere Tage der Woche widmete, machte er seinen zahlreichen Schülern ausnahmslos ein Geschenk. So oft er spielte und dirigirte – es brachte nur Anderen Gewinn. Der Wahlspruch seines Alters wie seiner Jugend blieb eben sein schönes Wort „Génie oblige.“
Aus den Schlössern König Ludwig’s II.
(Schluß.)
Der übermüthigste Monarch der neueren Geschichte, Ludwig XIV. von Frankreich, war es, der jenen berühmten Prachtbau zu Versailles schuf, welcher von dem Königsschlosse zu Herrenchiemsee nicht bloß erreicht, sondern übertroffen werden sollte und in mancher Einzelnheit auch wirklich übertroffen ist. Nur die tiefe geistige Umnachtung König Ludwig’s II. läßt es erklären, wie derselbe aus der Schwärmerei für frühmittelalterliche Romantik, welche ihn in besseren Tagen die schöne Burg Neuschwanstein schaffen ließ, in die entartete Kunstperiode Ludwig’s XIV. gerathen konnte. Denn wenn auch heut zu Tage wieder vielfach Sinn für den Barockstil sich regt, der ja in der That höchst Anmuthiges zu gestalten weiß: in dem Punkte ist wohl die ganze Kunstgeschichte einig, daß in keiner Periode mit so großen Mitteln so Werthloses geschaffen ward, als in der Zeit Ludwig’s XIV. und seines Nachfolgers. Und groß waren die Mittel dieses Despoten; denn der Bau von Versailles soll eine Milliarde Franken und 15 000 Menschenleben gekostet haben. Der Baumeister J. H. Mansard, der den Prachtbau leitete, war nicht ohne Talent, aber er folgte willenlos der Geschmacksrichtung seines Königs und seiner Zeit, indem er jenen Palast herstellte, der trotz seines Umfangs nicht imponirend, trotz seiner Pracht nicht wahrhaft edel wirkt. Eitle Repräsentation ist der Grundzug des Versailler Schlosses; er drängt sich immer wieder auf, sobald man sich an einem der vielen reizenden Details erfreuen möchte.
Die Insel Herrenwörth hatte im Besitze der elsässischen Grafen Hunolstein gute Tage gehabt; der aristokratische Besitzer hatte den Wald fröhlich aufwachsen lassen, daß er fast zum Urwalde geworden wäre. Als aber das prächtige Besitzthum an eine Gesellschaft von spekulativen Holzhändlern übergegangen war, drohte dem Walde rasche Zerstörung; die öffentliche Meinuug sprach sich eifrig dagegen aus, und König Ludwig II. kaufte die Insel, um sie vor der gänzlichen Entwaldung zu retten. Er ließ sich in der Abtei einige Zimmer einrichten und hätte aus dem alten soliden Bau mit wenigen Hunderttausenden eine wahrhaft fürstliche Landresidenz herstellen können. Leider aber fiel er bald anf den Gedanken, hier eine Nachbildung von Versailles zu erbauen. Und dieser Gedanke ward auch sofort mit größtem Nachdruck ins Werk gesetzt. Wenige Jahre reichten hin, um das zu schaffen, was jetzt vor uns steht; aber viele Jahre und viele Millionen wären noch erforderlich gewesen, um es so zu vollenden, wie es der königliche Bauherr beabsichtigt hatte.
Wenn die meisten Schlösser des Barock- und Rokokostils in dürre unfruchtbare Gegenden gesetzt wurden und gerade dadurch, daß [587] öde Sandfelder in blühende Gärten verwandelt wurden, an sich schon einen gewissen Eindruck machen, so ist hier bei dem Schlosse Herrenchiemsee das Gegentheil der Fall. In diesem deutschen Fichtenwald, am Fuße dieser schöngeformten ewigen Berge macht der französische Prachtbau einen fremdartigen und frostigen Eindruck. Von seinem verkünstelten Prunke schweift der Blick immer und immer wieder, wie Erlösung suchend, über die Wälder hinaus nach der edlen Einfachheit der Natur. Diese meilenweite glitzernde Seefläche, diese schimmernden Felswände zeigen zu sehr, was wirklich schön und groß ist. Das vergißt man wohl auf Augenblicke, aber nicht völlig.
Nähern wir uns dem Schlosse von der Ostseite her, so finden wir hier das Meiste noch unfertig. Ueber einen öden, von Gestrüpp überwucherten Bauplatz, wo allenthalben noch Gerüstbalken und zerbrochene Ziegel umherliegen, kommt man zu dem breiten offenen Hofe, der nach Osten schaut. Schweigend, wie verwunschen, umstarren die weißen Mauern den spiegelblank gepflasterten Raum. Unter einem Säulengange ist der verschlossene Eingang zum Treppenhause, welches ohne Zweifel das Schönste, Befriedigendste an dem ganzen Schlosse ist. Denn selbst dem an einem trüben Regentage hier Eintretenden strömt eine solche Fluth von Licht und sprühender Farbenpracht entgegen, daß man meint, in ein sonniges Märchen einzutreten. Und hier wirken auch diese marmornen Säulen und Geländer, diese Stuckfriese, diese glühenden bunten Fresken, diese glitzernden Krystallleuchter und spiegelblanken Stufen nicht störend, nicht einschüchternd. Von einem Treppenhause verlangt man ja nicht, daß es wohnlich sei; da freut man sich im Vorübergehen der üppigen Pracht.
Von der Treppe aus gelangen wir in den „Saal der Garden“, wo die aufgepflanzten Hellebarden daran erinnern, daß hier die schweigenden Gestalten pflichttreuer Leibwachen ihren Platz haben sollten; an den Wänden stehen Büsten französischer Marschälle! Dann folgen zwei Vorzimmer, mit steigendem Luxus ausgestattet. Das zweite derselben führt den Namen „Ochsenauge“ („Oeil de Boeuf“) von einem elliptischen Fenster. An den Wänden finden sich hier wie in allen Sälen Freskobilder, die Großthaten Ludwig’s XIV. verherrlichend. Sie sind genaue Kopien der Bilder zu Versailles; auch die Reihenfolge der Säle ist derjenigen des französischen Vorbildes nachgeahmt. Von Raum zu Raum wird die Pracht der Ausstattung reicher und reicher – durchschnittlich soll die Ausstattung eines jeden der fertigen Säle zweieinhalb Millionen Mark gekostet haben – bis sie in der „Salle de parade“ einen Höhepunkt erreicht, welcher nicht mehr überboten werden kann. Hier fühlt man sich wie erdrückt vom Golde. An der Wand steht ein im Halbrund von goldenem Geländer umgebenes Paradebett, mit der schwersten goldgestickten Decke überhängt. Den rothen Sammt der Vorhänge und der Polstermöbel überkleidet fingerdicke Goldstickerei; ja stellenweise empfängt man den Eindruck, als wüchse hier das Gold aus den Wänden heraus und aus dem Boden empor in gespenstiger Pracht, als wolle es den ganzen Raum mit seinen Arabesken durchdringen und schließlich zu den Fenstern hinausranken, um den ganzen Bau in seiner metallenen Umarmung zu ersticken. Dazu füllt glühendrothes Licht das ganze Prunkzimmer, dessen Plafond zwischen reicher Vergoldung einen ganzen Olymp von Göttern und Göttinnen zeigt. Drei Jahre ward an diesem Saale gearbeitet; Millionen sind von seinen reichthumstrotzenden Wänden aufgenommen worden. Es giebt wohl keinen Raum in der Welt, in welchem der Luxus mit solcher geradezu dämonischen, sinnberückenden Gewalt aufträte, wie hier.
Es folgt der Berathungssaal; himmelblauer Sammt mit fingerdick aufgestickten Goldlilien bildet den Stoff der Polstersitze und Vorhänge. Und dann treten wir in die berühmte Spiegelgalerie. Mit ihren beiden der Verherrlichung des Krieges und des Friedens geweihten Seitensälen, dem Salle de la Guerre und Salle de la Paix, zusammen nimmt sie die ganze Westseite des Schlosses in Anspruch. Gegenüber den zwanzig hohen Bogenfenstern sind ebenso viele Spiegelscheiben von gleicher Größe angebracht; auch die Thüren sind zolldicke Spiegel. In den Fensternischen stehen ungeheure Bronzevasen mit meterbreiten Höhlungen und versilberte Tafelaufsätze, an den Pfeilern Büsten der römischen Kaiser aus den verschiedensten Marmorsorten zusammengesetzt, wunderbare italienische Arbeit. Ueber den Eingängen zu den Nachbarsälen schweben Genien in bunten Gewändern plastisch aus dem Mauerwerke heraus; zwischen den Spiegelscheiben und dem Plafond erstreckt sich durch den ganzen Saal ein funkelndes Gewirr von lebensgroßen vergoldeten Relieffiguren. Wer aber den Sinn all dieses verschwenderischen Prunkes erfaßt, wird innerlich verletzt durch die Verherrlichung jenes übermüthigen Franzosenkönigs, die aus den Deckengemälden allerwärts niederschaut.
Und mit der gleichen Empfindung durchwandert man die übrigen Säle. Immer frostiger und lebloser erscheint der ungeheuerliche Prunk. Da kommt noch das eigentliche Schlafgemach des Königs, mit Vorhängen und Polsterwerk aus blauem goldgestickten Atlas; dann das Arbeitszimmer, grün mit Gold. In diesen wie in den folgenden Räumen finden sich bewundernswerthe Kunstgegenstände an den Wänden und auf den Kamingesimsen; namentlich die merkwürdigsten Uhren und Vasen – Gegenstände, die ungeheure Summen verschlangen. Durch einen blauen Salon gelangt man dann in das Speisezimmer des Königs. Hier ist wieder Alles rothe Seide mit Gold. Ein Riesenlüster aus Meißner Porcellan mit Tausenden von Blumen besäet hängt über dem Eßtische; letzterer steht auf einer Versenkung, um völlig gedeckt und mit Speisen besetzt aus dem Boden auftauchen zu können, als hätten ihn Geister emporgetragen. Es folgt ein Rauchzimmer, welches Vorhänge und Polstermöbel aus buntgestickter weißer Seide enthält. Daran schließt sich die „kleine Galerie“, welche als Promenadenraum verwendet werden sollte. Vier köstliche Mohrengestalten in bunten goldgestickten Gewändern dienen hier als Leuchterträger.
Man wandelt wie durch ein Traumreich. Aber seltsam – je länger man durch diese unvergleichliche Pracht hingeht, um so
[588][589] frostiger und freudloser wirkt das Ganze. Den unzähligen interessanten und meisterhaften Einzelnheiten gegenüber drängt sich immer mächtiger der Gedanke auf, daß ja doch das Ganze nur eine Nachahmung eines fremden und unsympathischen Vorbildes sei. Die fleißigen Künstlerhände, die hier schafften, sie durften nichts erfinden, nichts aus dem Eigenen gestalten, sie hatten nur das nachzubilden, was die Laune des herzlosen Despoten zu Versailles hatte entstehen lassen.
Und wofür dies Alles? Der vierzehnte Ludwig von Frankreich versammelte wenigstens zu Versailles einen glänzenden Hof, in den glitzernden Scheiben seiner Galerie spiegelten sich die goldbetreßten Staatskleider seiner Herzoge und Marsch alle; in den Laubgängen seiner Gärten leuchteten buntfarbige Frauengewänder. Ludwig II. von Bayern aber blieb in seinem Jnselschlosse ein einsamer Mann. Da weilte kein Gast, diese Pracht zu bewundern, da rauschte kein Hofleben. Wohl strahlte die Spiegelgalerie – ein paarmal im Jahre – zur Mitternachtszeit von zweitausend Kerzen zugleich, welche vierzehn Diener in einer Viertelstunde anzünden mußten; aber die Kerzen brannten nur für Einen, und die mächtigen Spiegelscheiben gaben nur eine Gestalt zurück, die unheimlich und unnahbar, in freudlosem Spiel, in seelenlosem Prunke die lange Flucht des Saales auf- und niederschritt. Niemand sah dem einsamen König zu, als der starre Marmorblick der römischen Cäsaren an den Wänden. Und wenn ein menschliches Ohr die Sprache des Marmors verstehen könnte, so hätte der unglückliche Monarch von den steinernen Lippen eines jener Männer, etwa Trajan’s oder Vespasian’s, die erbarmungslosen Worte vernehmen müssen: „Lösche Deine Lichter aus und laß Dein Schloß in den Erdboden versinken! Denn was ist all Deine Pracht? Weglos irrende Laune eines tief umwölkten Geistes; glücklos träumende Sehnsucht eines unheilbaren Gemüthes; ein ungeheures, entgeistertes, goldstrotzendes Spielzeug des Verderbens!“
Diese Worte rauschen geisterhaft durch den Prachtbau hin; sie rauschen in uns nach, wenn wir die schimmernden farbensprühenden Räume verlassen und hart nebenan in den unvollendeten Rohbau eintreten, wo uns Stein, Mörtel und Balken häßlich und rauh entgegenstarren. Da dehnen sich noch in unendlicher Flucht Zimmer und Säle entlang, die wohl keine kommende Zeit je vollenden wird. Und an der Südseite des Baues, wo ein gleich großer Flügel wie an der Nordseite entstehen sollte, steigen zwar die Grundmauern mehr als klafterdick aus dem Boden empor, aber keine Hand ist mehr daran thätig. Stumm liegt der ungeheure Bau da, von den Strahlen der Spätnachmittagssonne voll beleuchtet. Terrassenförmig ziehen sich die Gartenanlagen zum See hinab. Ein Paar mächtiger Marmorbecken fällt uns zunächst ins Auge. In ihnen sind Felshügel aufgebaut, welche mythologische Figuren und barockes Gethier aus gegossenem Zink tragen. Auf einem dieser Felshügel steht die siegreiche Göttin Fortuna; er heißt der Fortuna-Brunnen. Um die Marmorbecken stehen Bildwerke, zum Theil aus weißem Marmor, zum Theil aus vergoldetem Metallgusse; darunter hübsche Jagdgruppen. In diese Marmorbecken und über die Felshügel herab sollten Fontainen rauschen. Dreimal sprangen die Wasser während der Anwesenheit des Königs; jetzt liegen die breiten Becken trocken da. Ueber eine breite Freitreppe steigen wir hinab zum „Latona-Brunnen“. Hier sitzt zu Füßen der Göttin Latona, die als Marmorbild inmitten des Brunnens steht, eine Schar goldschimmernder Krokodile, Frösche und Schildkröten. Es sind gegen fünfzig solcher Thiere, jedes drei bis fünf Fuß lang. Der Sage nach hatte einst die Göttin Latona eine Horde lykischen Landvolks zur Strafe in solche Amphibien verwandelt; jetzt sitzen sie um die Göttin her und sollten alle aus ihrem Rachen Wasser speien. Aber auch hier ist die belebende Fluth versiegt. Still steht die 70 Pferdekräfte starke Dampfmaschine, welche die Wasserspiele treiben sollte, und die kunstvollen Mundstücke laufen Gefahr, durch den Rost zerfressen zu werden.
Nur weiter unten, wo der „Latona-Kanal“ vom See her gegen die Gartenanlagen sich zieht und der Blick weit hinaus in die Ferne wie durch eine grüne Straße schweift, zeigt sich lebendiges Wasser, das goldene Licht des Abendhimmels spiegelnd. Es ist ein Bild voll großartiger Melancholie – hier [590] der unvollendete Prachtbau, dort die ewig junge Natur im letzten Schimmer des scheidenden Tages. Und wer den Bau und seine Umgebung mit aufmerksamem Blicke beschaut, bemerkt leicht, wie das Mauerwerk da und dort die Spuren des Winterfrostes und der Regenfluthen zu zeigen anfängt, wie die Betoneinfassungen der Brunnenbecken zerbröckeln, wie zarte Moosfasern zwischen den Marmorstufen hervorwachsen wollen und wie da, wo die Anfänge des südlichen Flügels stehen, fröhliches Unkraut um die Mauern zu wuchern beginnt. Der Wald, der hier einst stand, will wieder emporwachsen und mit den grünen Armen seiner Kinder das rasche Menschenwerk umklammern.
Und wie viel Jahrzehnte wird es dauern, bis dieser stolze Bau, den Niemand fertig bauen kann und mag, wie Dornröschens Zauberschloß von grünendem Gerank umsponnen sein wird, unter dem der Marmor verwittert und die Quadern sich lockern? Da wird Niemand mehr kommen, das Entschlafene zu wecken; denn der Bann, der über dem Inselschloß zu Herrenchiemsee liegt, ist stärker als der Zauber von Dornröschens Märchenburg.
Was will das werden?
Es waren meine schönsten Stunden, wenn ich des Abends bei dem Schein der zwei großen Lampen mit den grünen Schirmen an dem mächtigen Arbeitstisch dem Oberst in seinem Studirzimmer gegenübersaß, je zuweilen von meiner Schreiberei oder Lektüre zu ihm hinüberblickend, nur, um mich an der herrlichen Klarheit seiner Stirn zu erquicken, aus dem gesammelten Ernst seiner klassisch schönen Züge neue Freudigkeit für meine Arbeit zu schöpfen.
Die alte Zeit schien dann zurückgekehrt, die liebe alte Jugendzeit. War es doch wieder eine Werkstatt, in der mich Alles wundersam anheimelte und ich unter Anleitung des Meisters und mit seinem freundlichen Zuspruch schüchterne Versuche in seinem Metier machte, nur daß der Meister keine Särge baute, in die er seine todten Künstlerentwürfe legte, sondern Gedankenpaläste, durch deren weite Marmorhallen die Geister der Jahrhunderte majestätischen Schrittes wandelten.
Aber auf wie verschiedenen Höhen menschlichen Wissens ich diese Beiden auch sah – den Einen wie auf Geierflügeln über der Breite des Lebens schwebend, in das der Andere nur aus seinem Lerchennest wundernde Blicke hatte werfen können, den Einen mit Feuerdrachen kämpfend auf demselben Plan, welcher dem Anderen nur eine blumige Wiese gewesen war, in Einem glichen sie sich doch: in der keuschen Reinheit ihrer Herzen, die, wie das Gletschereis alles wüste Gestein und Geröll ausscheidet, so jeden niedrigen Gedanken, jede gemeine Regung fern von sich wies.
Und noch in einem Anderen.
Daß sich zuweilen, ohne daß sie sich dessen bewußt wurden, ihr Auge verdüsterte und ihre Stirn umwölkte bei dem Gedanken eines Theuersten, das lebte, nur nicht für sie. Und wenn dem Einen dieses Theuerste, Lebendig-Todte eine Gattin gewesen, dem Anderen eine Tochter war – ein Herz, das verlieren und dem Verlorenen nachtrauern kann, hat der Mensch doch nur, und die Größe des Verlustes ist allein zu messen an der Leidensfähigkeit des Herzens.
Diese Beiden aber konnten leiden, wie sie lieben konnten – grenzenlos.
Auch das waren schöne Stunden, die der Vormittage, wenn der Oberst auf seinem Ministerium war und ich allein in unserem Studirzimmer arbeitete, das nicht alle Bücher faßte, so daß noch ein zweites Bibliothekzimmer hatte eingerichtet werden müssen, gerade über dem ersteren, aber ohne mit demselben in Verbindung zu stehen. Wir hatten schon davon gesprochen, die Decke durchbrechen zu lassen und ein eisernes Wendeltreppchen hinaufzuleiten; aber die Unsicherheit der Stellung des Obersten und die Möglichkeit eines späteren vielleicht wünschenswerthen Wohnungswechsels waren der Ausführung des Planes hinderlich gewesen. So hatte ich denn oft den Weg nach oben zu machen, wo ich auch manchmal längere Zeit blieb, um in den zum Theil unhandlich großen Bänden gleich an Ort und Stelle nachzuschlagen.
Bis jetzt hatte ich noch alle Vormittage so in tiefster arbeitsfroher Ruhe und Abgeschiedenheit zugebracht. Heute, schien es, sollte es mir nicht so gut werden. Hinter einander kamen mehrere häusliche Anfragen, die ich, da mir der Oberst Alles anvertraut hatte, beantworten konnte und mußte. Jetzt war ich etwa seit einer Stunde oben, wo es mehrere umfanggreiche Auszüge zu machen gab, ungestört gewesen, als abermals der Bursche erschien: ich hätte zwar befohlen, nicht wieder gerufen zu werden, und der Herr habe auch gesagt, daß er gern warten wolle. Derselbe warte nun etwa bereits seit einer halben Stunde und er (Johann) habe gemeint –
„Wer ist der Herr?“
„Er hat seinen Namen nicht genannt.“
„Wo wartet er denn?“
„Ich habe ihn in des Herrn Obersten sein Zimmer geführt.“
„In das Studirzimmer?“
„Zu Befehl.“
„Gar nicht zu Befehl. Sie wissen, daß Sie Niemand dort einzulassen haben, wenn der Herr Oberst oder ich nicht zugegen sind.“
„In dem Salon war noch nicht geheizt.“
Johann war ein neuer Bursche, dessen Mangel an Anstelligkeit mir schon viel zu schaffen gemacht hatte. Aergerlich eilte ich hinab, verwundert, wer denn wohl der aufdringliche Besucher sein könne.
Aber ich erschrak, als ich, hastig öffnend, Weißfisch mir gegenüber sah. Er stand ein paar Schritte von der Thür, bis an den Hals in einen langen schweren Paletot geknöpft (es war ein bitter kalter Tag), den Hut in der herabhängenden Rechten, unter dem linken Arm ein in blaues Papier geschlagenes Packet. Hatte er sich seit einer halben Stunde nicht aus dieser Stellung gerührt? Hatte er sie eben eingenommen, als er mich über den Flur kommen hörte? Ich hatte später Veranlassung, mich zu erinnern, daß ich mich das in der That bei seinem Anblick fragte; für den Augenblick blieb mir nicht die Muße, weiter daran zu denken. Mit rauher Stimme fragte ich ihn, was ihn zu mir geführt. Ich hätte gemeint, daß die Verbindung zwischen uns ein- für allemal abgebrochen sei.
Er hatte sich tief verbeugt und sagte, jetzt den Kopf hebend, mit seiner gewohnten Ruhe, die mich diesmal zugleich beschämte und empörte: „Auch würde ich sicher aus freien Stücken diese Belästigung nicht gewagt haben. Ich komme von Herrn Lamarque.“
„Das macht die Sache nicht anders.“
„Doch, gnädiger Herr, wenn Sie nur gütigst den Boten von der Botschaft trennen wollen und weiter bedenken, daß ein armer Mensch, wie ich, sich oft zu Diensten hergeben muß, die ihm selbst peinlich sind. Seitdem mich der gnädige Herr weggejagt – mit Fug und Recht: ich hatte mich in meiner Verzweiflung wie ein Verrückter gebärdet, der ich ja auch in dem Augenblicke war – ist es mir kümmerlich ergangen, da ich nun auch nicht mehr bei Herrn Lamarque vorzusprechen wagte, bis mich vor einigen Tagen die Noth denn doch wieder dazu zwang. Glücklicherweise hatten der Herr Oberregisseur gleich für mich zu thun, und etwas, das mich besonders freute: die Rollen vom ,Thomas Münzer‘ auszuschreiben.“
Er warf aus den gesenkten Augen einen flüchtigen Blick auf mich und fuhr fort:
„Es war mir eine liebe und leichte Arbeit – kenne ich doch wenigstens die beiden ersten Akte so gut wie auswendig. Vom dritten Akt an sind große Veränderungen vorgenommen. Der fünfte Akt ist ganz neu. Ich halte ihn für außerordentlich gelungen und bühnenwirksam, im Gegensatz zu dem Herrn Oberregisseur, der in der großen Scene zwischen Münzer und dem Herzog eine Abschwächung der Wirkung sieht. Der Herzog, meint [591] er, könne so nicht sprechen. Ich glaube, Sie, gnädiger Herr, und ich haben in diesem Fall ein kompetenteres Urtheil. Auf jeden Fall wollte ich mir verstatten, Sie persönlich und dringend zu bitten, auf die Vorschläge, welche der Herr Oberregisseur in einem längeren Begleitschreiben beigefügt hat, nicht einzugehen; und diese Bitte vorzubringen, war der Grund, weßhalb ich Herrn Lamarque – der in der That gerade jetzt übermäßig in Anspruch genommen ist – ersuchte, mich mit der Mission zu betrauen.“
Er hatte während der letzten Worte das blaue Packet geöffnet, mir mein Manuskript und Lamarque’s Brief überreichen wollen und, da ich mich nicht rührte, beides auf den Rand des großen Arbeitstisches gelegt, worauf er wieder in seine Stellung zurücktrat, leicht geneigten Hauptes, mit niedergeschlagenen Augen meiner Antwort gewärtig.
„Ich werde Herrn Lamarque schriftlich erwidern,“ sagte ich; „im Uebrigen danke ich Ihnen.“
„Der Dank, gnädiger Herr, ist diesmal wie immer auf meiner Seite.“
Er hatte sich abermals tief verbeugt und war, ohne mich noch einmal anzublicken, zum Zimmer hinaus.
Ich hörte die Flurthür gehen und rief den Burschen.
„Sie lassen diesen Herrn nicht wieder herein – unter keinem Vorwande!“
„Zu Befehl!“
Ich ging mit ungleichmäßigen Schritten im Zimmer hin und wieder, trotz meiner Aufregung sorgfältig die Stelle vermeidend, wo die breiten platten Füße des Mannes gestanden. Wie hatte er es nach dem, was zwischen uns vorgefallen, wagen können, sich wieder vor mir sehen zu lassen? Wie hatte ich ihn mit dieser Lammesgeduld anhören mögen, ihn, der mich wie ein böser Dämon durch das Leben verfolgte? Hatte ich noch immer nicht genug von ihm? War das nicht wieder eine Teufelei – das dicke Manuskript da und der dicke Brief? Die Scene zwischen Münzer und dem Herzog streichen? Eine Scene, die für das Stück war, was für ein Portrait der Lichtpunkt im Auge? Sah denn Lamarque nicht, daß das Stück eigentlich für diese Scene geschrieben war? Aber freilich die Scene schien den Schluß aufzuhalten, die schon zum Klatschen bereiten Hände des Publikums zu lahmen, den Hervorruf des Helden in Frage zu stellen – also: weg damit! Nein, verehrter Herr Oberregisseur! die Scene bleibt! Kein Wort, kein Buchstabe davon wird geopfert! Oder das Stück wird nicht aufgeführt, mögen Sie denn, so gut Sie können, vor Apoll und den neun Musen verantworten, was Ihr Unverstand –
Ich schlug mich vor die Stirn.
Das war denn doch die ausbündigste Narrheit, mich über Dinge zu ereifern, die tausend Meilen weit hinter mir lagen, wenigstens liegen sollten. Mein väterlicher Freund würde die schönen Augen seltsam weit aufmachen über diese Bescherung da auf seinem Arbeitstisch zwischen den gelehrten Folianten und Karten und Plänen. Und doch, wenn Einer im Stande war, die Frage zu entscheiden – es war ja keine Frage für mich – aber doch von ihm zu hören, daß ich Recht habe, daß Lamarque ein Esel, und Weißfisch, trotzdem er im Grunde nur ein ungebildeter Kerl – was giebt’s schon wieder?
Diesmal war es Jemand, den Johann nicht wohl hatte abweisen können: ein Postbote mit einem eingeschriebenen Briefe. Sollte es Lamarque so eilig – aber das war nicht Lamarque’s Hand. Und doch kannte ich die Hand, nur mußte es schon längere Zeit her sein, daß ich sie nicht gesehen.
Ich hielt den uneröffneten Brief noch immer so vor mich hin, auf die Adresse starrend, und sagte plötzlich laut: „Ich will Hans heißen, wenn das nicht von Emil Israel ist!“
Das Lächeln, mit welchem ich die Worte begleitet, erstarb mir auf den Lippen. Ich hatte auch jetzt, obgleich ich es wohl gekonnt hätte, den alten Freund nicht aufgesucht, auch seine Mutter und Schwester nicht, trotzdem ich gegen die beiden Letzteren eine schwere Schuld der Dankbarkeit abzutragen hatte; womit ich um so weniger hätte zögern dürfen, als ich von Maria, die noch immer mit den beiden Frauen in einiger Verbindung stand, erfahren, daß Jettchen schon seit längerer Zeit schwer an der Auszehrung leide und wohl kaum das Frühjahr erleben werde. Hatte Maria, wie ich annehmen mußte, in jenem Lager meine Adresse mitgetheilt? Kündigte mir Emil den Tod der Schwester an? War die Gute aus dem Leben geschieden, ohne daß ich ihr noch einmal in die sanften braunen Augen geblickt, ihr die zarte wohlthätige Hand gedrückt hatte?
Indessen, was half die zu späte Reue! Es mußte ja sein, und ich erbrach den Brief.
Aber aus dem heimlichen Beben wurde ein krampfhaftes Zittern, als ich den Inhalt las:
„Lieber alter Freund!
Durch Fräulein Maria von Werin, welche meiner armen Schwester noch von damals her eine gnädige Freundin geblieben ist, hatte sie – und wir, Mutter und ich, durch sie – bereits von Deiner Anwesenheit hier gehört. Wenn wir dennoch gezögert haben, Dir uns in Erinnerung zu bringen, so wolle es, bitte, einzig dem Umstände zuschreiben, daß wir nicht wußten, ob Dir diese Erinnerung eine angenehme sein möchte. Heute bin ich nun in der Lage, diesen Zweifel hintanstellen zu müssen, da ich Dir die geschäftliche Mittheilung schuldig bin, daß Dir von der New-Yorker Kommandite unseres Hauses ein vorläufig unbeschränkter Kredit bei uns eröffnet ist, zu welchem aufrichtig Glück zu wünschen ich mir erlaube, ohne Bezugnahme auf den näheren Zusammenhang, der Dir natürlich geläufig ist, eventuell in dem beigeschlossenen, uns zur sofortigen Besorgung anvertrauten Briefe aus New-York mitgetheilt werden dürfte.
Ich darf wohl, ohne zu kühn zu sein, annehmen, daß ich bald das Vergnügen haben werde, Dich auf unserem Komptoir persönlich zu begrüßen. Von einer Einladung in unser Haus müssen meine Frau, die sich Dir unbekannterweise bestens empfiehlt, und ich wohl vorläufig leider Abstand nehmen. Andernfalls bedarf es wohl nicht der Versicherung, wie hoch Du uns willkommen wärest, und wie sehr sich Mutter und Schwester durch das Wiedersehen eines alten lieben Freundes beglückt fühlen würden.
Um eine Empfangsbestätigung des New-Yorker Briefes bittend mit hochachtungsvoller Empfehlung seitens meines Kompagnons und Schwagers und besten Grüßen meinerseits
Großer Gott, was hieß das? Ein Kredit, eröffnet von einem New-Yorker Hause, von dessen Bestehen ich keine Ahnung hatte und für das doch ich dasein mußte? Es konnte ja nicht sein. Es konnte doch nur ein Scherz von Adele gewesen sein, die Drohung, sich für mich an meine Mutter wenden und – wie ich es genannt hatte – einen Bettelbrief schreiben zu wollen, auf welchen – der da die Antwort war! Beim Himmel, lieb wie ich Adele hatte, das konnte ich ihr nimmer verzeihen! Ob man den Bittsteller mit einer Hand voll Geld oder einer Tonne Goldes abgefunden – oder abfinden wollte, das blieb sich gleich. Von dieser Hand nahm ich nichts – von dieser Hand, deren Schrift – o grausame Ironie! – der Verstoßene zum ersten Male in seinem Leben sah!
Nur auf dem Umschlag. Den Brief selbst würde ich nicht lesen. Er sollte so an den Absender zurückgehen. Von dem Kredit würde ich keinen Gebrauch machen und betrachtete denselben als für mich nicht vorhanden.
Das hatte ich in wenigen Zeilen an Emil geschrieben und hinzugefügt, ich würde in den nächsten Tagen bei ihm und seinen Damen, die ich vorläufig bestens von mir zu grüßen bitte, vorsprechen. Und ich hatte es so eilig mit der Antwort, daß ich Johann beauftragte, dieselbe sofort direkt in das Komptoir des Herrn Israel zu tragen.
Ich hatte auch alsbald an Adele schreiben und sie zur Rede stellen wollen. Aber ich überlegte, es möchte jetzt härter herauskommen, als es die Gute verdiente. Ich wollte es ihr mündlich sagen. Ich wußte, daß ich nicht hart sein konnte, wenn ich ihr in die Augen sah.
Ich war mit mir zufrieden, und erhobenen Hauptes ging ich in dem großen Gemache auf und nieder, als draußen an der Flurthür geschellt wurde. Der Oberst konnte es nicht wohl sein, aber, wer es auch war, ich konnte ihn da nicht zum dritten Male schellen lassen, wie er es zum zweiten bereits gethan. So ging ich zu öffnen. Es war eine Dame, wie ich durch die ziemlich dichte Gardine der Fensterthür bemerkte, ohne die Harrende erkennen zu können. Zweifellos Adele – wer sonst? Ich öffnete schnell.
Ellinor stand vor mir.
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Blätter und Blüthen.
Die Statue Friedrich’s des Großen in der Jubiläums-Kunstausstellung in Berlin. (Mit Illustration Seite 573.) Charakteristischer und packender konnte die kurze Spanne Zeit, auf welche die Jubilarin Berlins, die Kunstausstellung, in diesem Jahre zurückblickt, nicht dargestellt, schöner und trefflicher der Dank einem Könige, der als Pathe einst an ihrer Wiege stand, nicht ausgesprochen werden, als es in der Wanddekoration des Schlußsaales des großen Ausstellungspalastes von Meisterhänden mit ungewöhnlichem Geschick und Geschmack geschehen ist. Wenn die Huldigung in dem prächtigen ersten Saale, welcher an den festlichen Kuppelraum am Eingange grenzt, dem Wiederaufrichten des Deutschen Reiches und seinem Hause gilt, unter dessen glorreicher Regierung Kunst und Industrie einen ungeahnten Aufschwung nahmen, so feiert der Schlußsaal fast allein das Angedenken des Philosophen von Sanssouci, der, in Waffen- und Geisteskämpfen gleich groß als Held, einst den Grundstein zur Berliner Kunstakademie legte, und der, obwohl selbst in Kunst und Poesie dem deutschen Wesen scheinbar abgewandt, dennoch in seiner charaktervollen Gestalt, seinen unsterblichen Thaten und der Zeit, welcher er seinen Stempel aufdrückte, allen Künsten Stoff und neues Leben lieh und dadurch der Wiedererwecker deutscher Kunst geworden ist. Das haben die Künstler unserer Tage in edler Huldigung ausgesprochen.
An der Schlußwand der langen Flucht der buntschillernden Räume baut sich in einem sonnendurchflutheten, weiten Lichthofe, zwischen dessen Bosketts und Blumenteppichen Fontainen rauschen und Polstersitze zum Verweilen einladen, eine von einem architektonisch gegliederten Rundbogen umrahmte hohe Nische auf, durch deren malerisch geraffte Vorhänge, zwischen Blättergezweig, das Tusculum des königlichen Philosophen, Sanssouci, mit seinen mächtigen Freitreppen, Marmorbildern und Orangenkübeln herüber grüßt.
Im Vordergrunde der Nische ragt aus Blattpflanzen mannigfacher Art die Büste des Kaisers Wilhelm und dahinter die von Schadow meisterlich entworfene Statue Friedrich’s des Großen empor, über dessen Haupte eine der Wand scheinbar entschwebende Göttin den Lorbeer krönend hält. Scharf und wahr tritt uns das Bild des genialen Herrschers entgegen.
So sahen ihn seine Zeitgenossen, so lebt er noch heute in der dankbaren Erinnerung des preußischen Volkes. Dort oben auf der Terrasse seines Sanssouci saß er oft am Abend, einsam, stumm, das große Auge sinnend hinaus in die dämmernde Ferne gerichtet, das Schicksal seines Volkes wägend. Zurückgezogen von dem lauten Treiben dieser Welt, die Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens durchmessend, war er sich selbst genug in dem Bewußtsein, als erster Bürger des Staates seine Pflicht voll und ganz gethan und kommenden Geschlechtern noch für Jahrhunderte ein bewundertes Vorbild gegeben zu haben. A. T.
Friedrich der Große. (Mit Illustration S. 577.) Welch ein reiches Leben, das hier in flüchtigen Bilderskizzen sich vor unseren Augen entrollt! In der Mitte des Bildes der siegreiche König in der Fülle des Geistes und der Macht, mit dem geistvollen, scharfgeschnittenen Gesichte, dem gebieterischen, flammenden Auge, der in jedem Zuge ausgeprägten Ueberlegenheit des großen Denkers und des energischen Mannes der That; links der junge, vielverheißende Schüler, der auf die Worte des Lehrers lauscht: rechts der alte Fritz im Garten, schlachten- und lebensmüde, aber sich erfreuend wie ein Weiser aus Hindostan an dem stillen Gedeihen der Blumen; unten das ruhige Antlitz des Todten, vom Scheine der Unsterblichkeit verklärt. †
Friedrich der Große unter seinen Grenadieren. (Mit Illustration S. 580.) „Guten Tag, Kinder!“ – „Guten Tag, Fritz!“ das war der Morgengruß, der in Kriegszeiten zwischen Friedrich dem Großen und seinen Truppen gewechselt wurde. Er allein würde schon genügen, um die Leutseligkeit des Königs im Verkehr mit seinen Untergebenen zu charakterisiren. „Fritz“ oder auch später der „Alte Fritz“ hieß der siegreiche Feldherr bei seinen Soldaten, und dieser Beiname hat sich im Volksmunde bis auf den heutigen Tag erhalten. Das Kriegsglück und das Feldherrntalent wecken Begeisterung und Bewunderung, aber sie allein hätten Friedrich gewiß nicht die Herzen der Soldaten in so hohem Maße gewonnen. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, und auch hier waren es oft kleine Zeichen der königlichen Huld, welche die Stimmung des Heeres hoben und das Verhältniß zwischen dem König und seinen Truppen immer inniger gestalteten. Der Soldat verehrt den Führer, der alle Mühen des Feldzugs mit ihm redlich theilt, er vergöttert ihn aber, wenn derselbe sich zu ihm herabläßt und im gegebenen Augenblick zu scherzen versteht. Und Friedrich kannte nur zu gut diese schwache Seite der menschlichen Natur. Zogen die Truppen während des Marsches an ihm vorüber und rief er, bei den Ermüdeten eine nachlässige Haltung bemerkend, ihnen ermunternd zu: „Gerade, Kinder, gerade!“, so nahm er es keineswegs übel, wenn aus den Reihen die übermüthige Antwort kam: „Fritz auch gerade! und die Stiefeln in die Höhe gezogen!“ Im Lager bei knisterndem Feuer trieb der Soldatenwitz seine schönsten Blüthen, und Friedrich war der Letzte, der ihn zu dämmen versucht hätte. Je tapferer ein Regiment war, desto lustiger durfte, mußte es sein.
Diese Leutseligkeit des Königs giebt die Illustration R. Warthmüller’s „Friedrich der Große unter seinen Grenadieren“ in gelungener Weise wieder: es ist die heitere Seite des Kriegslebens, die uns in derselben in ihrem schönen Glanze entgegentritt. *
Das Leichenhemd Friedrich’s des Großen. Es ist hinlänglich bekannt, daß Friedrich der Große ein vorzüglicher Haushalter gewesen und, die Kriegsjahre ausgenommen, immer Ueberschüsse nicht nur in der Hauptstaatskasse, sondern auch in der Hofstaatskasse zu vergeben hatte.
Sein Hofstaat war klein und nicht prächtig, seine Tafel mäßig. Nach seinem Tode machte der Geheime Staats- und Kabinetsminister Graf von Herzberg in seinen Dissertations académiques bekannt, daß der große König allein in den Jahren 1763 bis 1786 an die Provinzen seines Reiches 24399838 Thaler schenkungsweise vertheilt habe, besonders an die vom siebenjährigen Kriege heimgesuchten Provinzen. In seinem Testamente macht er die Bemerkung, daß er die Legate von seinen Ersparnissen und nicht aus seinem Schatze nehme, denn „mein Schatz gehört nicht mir, sondern dem Staat“. Und so sagte Friedrich mit Recht: „Der Staat ist reich, ich aber bin arm.“ Obgleich er den von Friedrich I. 1706 eingeführten Grand-Maitre de Garderobe beibehielt, kleidete er sich, wie bekannt, außerordentlich einfach, ging in einem alten, abgetragenen und geflickten Kleide, mit kahlem, abgeschabtem Hute, und ein scharf beobachtendes Auge konnte öfter in seinen Beinkleidern ein Loch entdecken. Auch störte es den großen König nicht, wenn Hemd und Taschentuch zerrissen waren. Ein Jude zahlte nach Friedrich’s Tod für seine sämmtliche nachgelassene Kleidung und Wäsche 400 Thaler, die unter seine Kammerbedienten vertheilt wurden.
Als Friedrich II. das Zeitliche gesegnet hatte, fand man unter seiner Leibwäsche kein ganzes Hemd, das man seinem Leichnam hätte anziehen können, und da man sich nicht Zeit nehmen konnte, ein neues machen zu lassen, gab der Geheime Kriegsrath Schöning eines von seinen noch nicht gebrauchten Hemden her, die ihm seine Braut geschenkt hatte, und in diesem ist der Leichnam begraben worden. Es ist uns dies von einem Zeitgenossen Friedrich’s, von dem königl. preuß. Oberkonsistorialrath Dr. Büsching, überliefert worden. Derselbe versichert außerdem, daß er diesen ihm glaubwürdig erzählten Umstand für wahr befunden, als er ihn „sofort untersuchte“. Z.
Der „Gartenlaube-Kalender“ für das Jahr 1887 bietet wiederum den ganzen Reichthum an mannigfachem Inhalt, wie sein Vorgänger: neben lehrreichen Aufsätzen, Uebersichten, Anleitungen ist auch der unterhaltenden Litteratur ausreichender Raum vergönnt. Ein reichhaltiges Kalendarium, eine chronologische Charakteristik des Jahres 1887, eine Genealogie der deutschen Regentenhäuser, Volkszählung, Post- und Telegraphennachrichten, Zeitunterschiede zwischen Berlin und anderen Orten, Vergleiche der Grade aus den Thermometerskalen, über Hausmittel und deren Anwendung bei Kindern von Sanitätsrath Dr. Fürst: das ist eine Auswahl der praktischen Artikel, welche dem unmittelbaren Nutzen der Leser dienen. Hierzu kommt eine polytechnische Umschau, Notizen mit Illustrationen. „Ein Liebling des deutschen Volkes“ ist ein Charakterbild Scheffel’s; „Ein Königsleben“ charakterisirt König Ludwig II. von Bayern; „Ein litterarisches Brustbild von Leopold Ranke“ hat Ernst Hellmuth entworfen. Die Säkularfeier Friedrich’s des Großen behandelt der Aufsatz von Schmidt-Weißenfels „Der alte Fritz“, während Emil Peschkau in einem schwungvollen Artikel an das Jubiläum der Universität Heidelberg anknüpft. Wie man sieht, ist der Kalender stets darauf bedacht, den wichtigsten Ereignissen der jüngsten Zeit Rechnung zu tragen. Erzählungen von W. Heimburg, Ludovika Hesekiel, B. Renz, Oscar Justinus u. A., Skizzen, Gedichte, Blätter und Blüthen scherzhaften und ernsteren Inhalts gewähren eine ansprechende Unterhaltung. So sei der „Gartenlaube-Kalender“, in welchem unsere Leser den beliebtesten Mitarbeitern unseres Blattes wieder begegnen, Allen aufs Beste empfohlen als willkommener Berather und Hausfreund.
Wiederum müssen wir darauf aufmerksam machen, daß von einem sogenannten „Gartenlauben-Kalender“, der mit dem unsrigen den Namen gemein hat, aber sonst in keiner Beziehung zur „Gartenlaube“ steht, ebenfalls ein neuer Jahrgang erschienen ist. Um das Publikum vor Täuschung zu bewahren, bitten wir, ausdrücklich beim Kaufe des Kalenders den richtigen, vom Verlag der „Gartenlaube“ (Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig) herausgegebenen, Preis in elegantem Einband 1 Mark, bestellen zu wollen. Es ist ein Mangel in unserer bestehenden Gesetzgebung, auf den wir bei diesem Anlaß hinweisen möchten, daß die Büchertitel nicht gesetzlich geschützt sind und so ein berechtigter Erfolg, der auf dem Grund jahrelanger Leistungen ruht, durch fremde Aneignung verkümmert werden darf. †
Kleiner Briefkasten.
B. G. Der Meerschaum besteht im Wesentlichen aus kieselsaurer Magnesia und wird hauptsächlich in der Umgegend der anatolischen Stadt Eski Scheïr gewonnen, wo sich schon im Alterthum Meerschaumgruben vorfanden. Das Schnitzen von Rauchinstrumenten aus diesem Material datirt seit der Besitznahme des Landes durch die Türken. Die erste Fabrik dieser Art in Deutschland entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Ruhla in Thüringen. Hier stellte man auch zuerst den künstlichen Meerschaum her, wobei fein gemahlene Meerschaumabfälle mit Pfeifenthon und Alaun gekocht, dann getrocknet und in Leinöl und Stearin gesotten werden. – Nach Mittheilungen K v. Scherzer’s in seinem Werke „Das wirthschaftliche Leben der Völker“ finden sich weniger ergiebige Meerschaumlager noch in Griechenland (bei Theben), Bosnien (im Lyubicer Gebirge), Mähren (in Grubschitz und Neudorf). Spanien (in Valesca bei Madrid) und Portugal (bei Pinheiro).
G. L. L. in Chicago. Lesen Sie gefl. den Artikel „Jahrhundert“ in einem Ihnen zu Gebote stehenden Konversations-Lexikon.
Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 573. – Die letzten Tage Friedrich’s des Großen. Von Schmidt-Weißenfels. S. 576. Mit Illustrationen S. 576, 578 und 579. – Friedrich der Große in Kamenz. Eine Skizze von Rudolf von Gottschall. S. 579. – Franz Liszt. Von La Mara. S. 584. Mit Portrait S. 585. – Aus den Schlössern König Ludwig’s II. I. Das Inselschloß zu Herrenchiemsee. (Schluß.) S. 586. Mit Illustrationen S. 586, 587, 588 und 589. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 590. – Blätter und Blüthen: Die Statue Friedrich’s des Großen in der Jubiläums-Kunstausstellung in Berlin. S. 592. Mit Illustration S. 573. – Friedrich der Große. S. 592. Mit Jllustration S. 577. – Friedrich der Große unter seinen Grenadieren. S. 592. Mit Illustration S. 580. – Das Leichenhemd Friedrich’s dss Großen. – Der „Gartenlaube-Kalender“ für das Jahr 1887. – Kleiner Briefkasten. S. 592.
- ↑ Die Anfangsvignette unseres Artikels stellt eine dieser Audienzen dar. Der Minister Herzberg, der vor dem König steht, ist nach einem Portrait aus der damaligen Zeit gezeichnet. Die Vignetten zu diesem Artikel sind dem Werke „Geschichte Friedrich’s des Großen. Geschrieben von Franz Kugler. Mit 400 Illustrationen von Adolf Menzel“ entnommen.
- ↑ Eine ausführliche Würdigung der musikalischen Bedeutung Franz Liszt’s ist in dem Artikel „Franz Liszt. Ein musikalisches Charakterbild“ Von La Mara im Jahrg. 1880, S. 552 der „Gartenlaube“ enthalten.