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Franz Liszt (Die Gartenlaube 1880/34)

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Textdaten
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Autor: Marie Lipsius
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Titel: Franz Liszt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 552–554
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[552]
Franz Liszt.
Ein musikalisches Charakterbild.
Von La Mara.


Der Musikhistoriker, der es unternimmt, Wesen und Charakter der einzelnen Perioden in der Entwickelung der Tonkunst darzulegen, wird die gegenwärtige, wie die ganze Nach-Beethoven’sche Epoche überhaupt, als eine von poetischer Tendenz erfüllte bezeichnen dürfen. Seit Beethoven in der Riesenthat seiner neunten Symphonie die Schranken der absoluten Musik durchbrach und im instrumentalen Kunstwerk die Hülfe des dichterischen Wortes in Anspruch nahm, hiermit eine neue Phase seiner Kunst einleitend, einigten sich die Schwesterkünste Poesie und Musik zu immer innigerem Bunde. Ein Blick auf die musikalische Dramatik Weber’s und Wagner’s, auf die instrumentale und vocale Lyrik der letzten fünf oder sechs Jahrzehnte belehrt uns darüber zur Genüge. Die letzten, mehr im declamatorischen Stil gehaltenen Lieder Schubert’s, die Concertouvertüren und Lieder ohne Worte Mendelssohn’s, die Symphonien Berlioz’, die Clavier- und Liederpoesie Schumann’s, Chopin’s, Franz’, die Orchester- und Kirchenwerke Liszt’s veranschaulichen auf das Deutlichste den Weg, den die Tonkunst nach dieser Richtung eingeschlagen, und zeigen die Consequenzen dieses poetischen Princips am schärfsten in den Schöpfungen Liszt’s entwickelt. Die gleichen Bestrebungen, die sein Freund und Kunstgenosse Wagner auf der Bühne verfolgte, brachte er in Concertsaal und Kirche zur Geltung. Es war ihm nicht genug, der größte Virtuos zu sein, den die Welt gesehen, auch in einer lange Reihe schöpferischer Thaten sollte sich sein Genius bezeugen, während er zugleich als Dirigent und Lehrer für Verlebendigung seiner Ideale wirkte und ein Hauptvertreter der Schule ward, die sich die neudeutsche oder neuromantische nennt.

Wie er als Pianist auf seinem Instrument gleichsam eine neue Welt entdeckte, die in ihm schlummernden orchestralen Kräfte erweckte und dessen eigentlichste Glanzzeit herbeiführte, mußte er auch als Componist neue selbstständige Bahnen wandeln. Wenn auch nicht so rasch wie dem vom ganzen musikliebenden Europa gefeierten Clavierbeherrscher, so wandte sich doch auch dem schaffenden Meister Liszt die Gunst des Erfolges zu. Die Musikgeschichte erzählt kaum von einem Künstlerdasein, das sich an Glanz und Erfolg mit dem seinen zu messen vermöchte. –

Im Kometenjahr 1811 ward Franz Liszt am 22. October in dem Dorfe Raiding bei Oedenburg in Ungarn geboren.[1] Sein Vater Adam Liszt, der Nachkomme einer adeligen Familie, die sich jedoch bei zurückgekommenen Vermögensverhältnissen ihres Adelsrechtes begeben hatte, war daselbst als Rechnungsführer des Fürsten Esterhazy angestellt. Als eifriger Musikfreund, der selbst mehrere Instrumente spielte, erkannte er die sich frühzeitig kundgebende Begabung seines Kindes und begann auf seine dringenden Bitten im sechsten Jahre mit ihm den Clavierunterricht. Drei Jahre später erspielte der kleine Franz sich bereits in Oedenburger und Preßburger Concerten die Bewunderung der Zuhörer in solchem Maße, daß einige ungarische Magnaten sich sofort erboten, durch ein Stipendium von tausend Gulden sechs Jahre hindurch die Kosten seiner Ausbildung zu tragen.

Dieselbe ward nun in Wien, wohin Vater und Sohn sich nach Aufgeben der Stellung des Ersteren wandten, unter Führung Czerny’s und Salieri’s in Clavierspiel und Composition energisch betrieben, und am 13. April 1823 hörte die musikliebende Kaiserstadt Franz Liszt zum ersten Male. Das äußerst günstige Resultat dieses ersten Concerts, das dem genialen Knaben eine Umarmung des ihm zu Ehren anwesenden Beethoven als höchsten Lohn eintrug, lieferte in Verbindung mit einem zweiten die Mittel, seine künstlerische Ausrüstung in Paris zu vollenden. Auf dem Wege dahin ward er bei seinem Auftreten in Stuttgart und München als „ein zweiter Mozart“ begrüßt. Die sehnlich gehoffte Aufnahme in das Pariser Conservatorium zwar blieb ihm, als einem Ausländer, trotz eines glänzend bestandenen Examens, von Cherubini versagt, doch fand er in Paer und Reicha thätige Förderer und Leiter seiner jugendlichen Bestrebungen. Bald war er der gefeierte Held des Tages, der Liebling der musikalischen Aristokratie, und die Pariser Blätter ergingen sich in Lobpreisungen des phänomenalen Talentes, das „keinen Nebenbuhler mehr kannte“. Auch als Componist, als welcher er bereits in Wien die Aufmerksamkeit Salieri’s erregt hatte, trat er nun an die Oeffentlichkeit, und eine einactige Oper: „Don Sancho, oder das Schloß der Liebe“, die er im Jahre 1825 in der Académie royale zur Aufführung brachte, ward so beifällig aufgenommen, daß Nourrit, der Repräsentant der Hauptrolle, den jugendlichen Componisten auf seinen Armen dem jauchzenden Publicum entgegentrug.

Reisen in die Provinzen, nach England und der Schweiz brachten ihm neue Triumphe. Da starb plötzlich sein treuer fürsorglicher Vater, und der sechszehnjährige Jüngling sah sich auf sich selbst gestellt. Schleunig rief er seine Mutter, an der er bis an ihr Ende mit der ganzen Innigkeit seines Herzens hing, zu sich nach Paris und legte ihr als Willkommengruß seine bisherigen Ersparnisse, 100,000 Franken zu Füßen, die ihren Lebensabend vor Sorgen sicher stellen sollten.

Religiöse Scrupel und innere Kämpfe, politische Prinzipien- und Parteifragen, philosophische und allgemeine Studien, welche letztere ihn die vielbewunderte Universalität seiner Geistesbildung gewannen, beschäftigten ihn während der nächsten Jahre. Nicht nur eine künstlerische Begabung und Entwickelung, sondern mit ihr gemeinsam eine allgemeine Ausbildung des Geistes und Charakters sind ja nach seiner Ansicht Träger und Bedingniß wahren Künstlerthums. Alle Virtuosität wollte er „nur als Mittel, nicht als Endzweck“ betrachtet wissen. War das Virtuosenthum vor ihm auf nicht viel mehr als bloße Fingerfertigkeit hinausgelaufen, so erschien er, laut Dehn’s, des berühmten Harmonikers, Zeugniß, als „der Erste, welcher der ganz vorzugsweise durch ihn ausgebildeten Technik eine innere Bedeutung gab, der sie zu einem höheren Zwecke benutzte“. Die hohe Ueberlegenheit seiner Künstlerschaft [553] bezeugte sich auch alsbald, als er sich, durch Thalberg’s Erscheinen in Paris veranlaßt, in einen Wettkampf mit ihm einließ, der mit seinem Siege endete. „Thalberg ist der Erste, Liszt aber der Einzige“, lautete die Entscheidung der Gesellschaft, der sich die Kritik ohne Zögern anschloß. Und der Einzige ist er geblieben bis auf den heutigen Tag.

Vor seinem Wettstreite mit Thalberg hatte Liszt längere Zeit zurückgezogen in Genf gelebt, wozu seine freundschaftliche Verbindung mit der unter dem Schriftstellernamen Daniel Stern bekannten Gräfin d’Agoult – der Mutter von Richard Wagner’s Gattin – die Veranlassung gab. Dann verweilte er zwei volle Jahre (1837 bis 1839) concertirend und studirend in Italien. Glanzvolle Erfolge in Wien stellten hierauf auch in Deutschland seinen Künstlerruf fest und leiteten die Virtuosenreisen ein, die ihn nun vom Norden bis zum Süden, vom Osten bis zum Westen Europas, durch alle Lande und alle musikpflegenden Städte führten. Aller Orten begeistert gefeiert, erlebte er zumal in Ungarn und Deutschland die größten Huldigungen. Fürsten schmückten ihn mit Titeln und Orden; der österreichische Kaiser stellte seinen Adel wieder her, wie er ihn später zum kaiserlichen Rath mit einem Ehrensold und zum Präsidenten der Pester Musikakademie ernannte; Städte erhoben ihn zu ihrem Ehrenbürger; Pest überreichte dem Meister den Ehrensäbel, und die Universität Königsberg verlieh ihm den Doctortitel. Ein Begeisterungsrausch folgte allenthalben seinen Spuren. Da – die Welt sah es staunend – hielt er plötzlich ein in seinem Siegeslaufe und schloß, auf der Sonnenhöhe seines Ruhmes stehend, seine Laufbahn als Virtuos, um sie mit dem dornenvolleren Berufe des Componisten zu vertauschen.

Siegesmüde, sich nach einem Heim, einem concentrirteren Wirkungskreise sehnend, der ihm die nöthige Muße zum Schaffen bot, ließ er sich in dem kleinen Weimar fesseln und nahm dort, einem Rufe des Großherzogs als Hofcapellmeister folgend, im November 1847 bleibend seinen Wohnsitz. Auf der „Altenburg“ ließ er sich in Verbindung mit der ihm aus Rußland gefolgten Fürstin Caroline Sayn-Wittgenstein, einer Frau von hoher geistiger Bedeutung, nieder und versammelte mit ihr bald einen Kreis vornehmer Geister um sich. Eine neue Kunstblüthe rief er hier auf dem alten classischen Boden hervor und entfaltete eine Wirksamkeit, die für das gesammte Musikleben der Gegenwart von weittragender Bedeutung wurde. Wie sein Erscheinen als Virtuos ein epochemachendes gewesen, so war es auch sein Auftreten als Dirigent, als Lehrer und als Componist. Dort wie hier, in allen Richtungen seiner Thätigkeit, war es ein kühner, kraftbewußter Geist des Fortschritts, der aus seinen künstlerischen Leistungen sprach und der Kunst neue Bahnen eröffnete. Neben der Pflege classischer Werke ließ er sich vor Allem die Förderung der aufstrebenden musikalischen Generation angelegen sein. Unberechenbare Verdienste erwarb er sich um Wagner, dessen Opern er, während Niemand des in der Verbannung lebenden Meisters und seiner Kunst gedachte, auf der Weimarer Bühne eine Heimath gründete; er brach ihnen so durch sein energisches Vorgehen Bahn. Keine neue musikalische Erscheinung irgend welcher Bedeutung blieb von ihm unberücksichtigt, und die allsonntäglich in seinem Hause veranstalteten Matinéen übten bis in die weite Ferne ihre Anziehungskraft.

War es sein Grundsatz als Dirigent, daß „die Aufgabe eines Capellmeisters darin bestehe, sich thunlichst überflüssig zu machen und mit seiner Function möglichst zu verschwinden“, so ließ er auch in seiner Thätigkeit als Lehrer der Individualität die größte Freiheit in der Entwickelung. Da war und ist von keiner Schablone die Rede; die volle Eigenthümlichkeit und Selbstständigkeit blieb jedem Einzelnen gewahrt, dem er die unschätzbaren Reichthümer seiner Erfahrung in der Technik seiner Kunst erschloß. Läßt sich der individuelle seelische Zauber seines Spiels auch auf keinen Anderen übertragen, seine Schule geht, längst in alle Welttheile verbreitet, nicht mehr verloren. Aus ihr gingen die berühmtesten Namen der jüngeren Pianisten, an ihrer Spitze Rubinstein, Hans von Bülow, von Bronsart, Tausig, Sophie Menter, Anna Mehlig, Ingeborg von Bronsart, Laura Rappoldi, hervor, denen sich ein weiterer Kreis von Capellmitgliedern und Musikern, wie Joachim, Laub, Singer, Coßmann, Cornelius, Lassen, anschloß.

Schon während seines Wander- und Virtuosenlebens hatte Liszt eine ansehnliche Reihe von Werken geschaffen, die, für das Clavier geschrieben, zunächst seiner Virtuosität dienen sollten; gleichzeitig mit der neuen, im Vergleich zu dem bisher Vorhandenen unerhört vervollkommneten Technik, die sie begründeten, brachten sie meist ein poetisches Element zum Ausdruck. So seine Studien und Transscriptionen (namentlich Schubert’scher Lieder), seine Paraphrasen, Phantasien und Polonaisen, seine „ungarischen Rhapsodien, die „Consolations“, „Années de pélerinage“, „Harmonies poétiques et religieuses“, die Clavierpartituren und Bearbeitungen der Beethoven’schen Symphonien und der phantastischen Symphonie von Berlioz, wie Wagner’scher, Rossini’scher, Weber’scher, Schubert’scher, Bach’scher und anderer Werke, in denen er Unnachahmliches leistete.

Größere, umfänglichere musikalische Thaten reiften nun während seines Weimarer Aufenthaltes. Als Beherrscher großer orchestraler Formen trat Liszt jetzt hervor und überraschte die musikalische Welt mit seinen zwölf „Symphonischen Dichtungen“. Völlig neue Erscheinungen ihrer Art, waren sie der Idee wie der Form nach seine eigensten Geschöpfe. Irgend einen poetischen Gegenstand, eine Dichtung, einen dichterischen Charakter oder Vorgang nimmt er zum Grundgedanken und bringt ihn, indem er ihm seine musikalische Seiten abgewinnt, zu tonkünstlerischer Darstellung. Die äußere Gestalt wächst aus dem Inhalte heraus; sie ist so mannigfaltig, wie dieser Inhalt selbst und eher der Ouverture als der Symphonie verwandt. Der Sonatensatz, auf dem die Letztere beruht, erwies sich als nicht elastisch genug zur Aufnahme eines neuen poetischen, einen fortlaufenden Ideengang repräsentirenden Inhaltes, und so griff Liszt zur freien Variationenform, wie sie Beethoven im Vocalsatz seiner neunten Symphonie – dem Ausgangspunkte für Liszt’s gesammtes instrumentales Schaffen – anwandte. Aus einem oder zwei gegensätzlichen Themen – oder Leitmotiven, wenn man will – heraus entwickelt er eine ganze Folge verschiedenartigster Stimmungen, die durch rhythmische und harmonische Veränderungen in immer neuer Gestalt erscheinen, dem Gesetze des Wechsels, des Gegensatzes und der Steigerung entsprechend.

Das auf diesem Gesetz beruhende Princip des Sonatenbaus ist also trotz der thematischen Einheit und der eine freiere Periodengliederung aufweisenden einsätzigen Form auch hier wirksam, ja die Umrisse der herkömmlichen vier Sätze blicken, freilich zusammengedrängt, mehr oder minder kenntlich noch immer hervor. Bei seinen beiden umfangreichsten und großartigsten Instrumental-Dichtungen „Dante“ und „Faust“, die er als Symphonien bezeichnete, behielt Liszt auch die selbstständige Theilung der Sätze bei, aber er schaltet innerhalb derselben auf seine eigene Weise. In beiden, welche die tiefsinnigsten Dichterwerke, die wir besitzen, „Die göttliche Komödie“ und Goethe’s „Faust“, in Tönen verlebendigen, brachte er, wiederum nach dem Vorbild der neunten Symphonie, im Schlußsatz Chöre in Anwendung. Den einzelnen Sätzen fügte er erläuternde Titel (z. B. Faust, Gretchen, Mephistopheles) bei, wie er auch seinen symphonischen Dichtungen, um Genuß und Verständniß derselben zu erleichtern und uns über den Gedankengang, den er beim Schaffen im Wesentlichen verfolgte, aufzuklären, Programme beifügte. Er giebt uns in denselben entweder selbstständige kleine Dichtungen, wie die Verse Victor Hugo’s und Lamartine’s zur „Bergsymphonie“, zu „Mazeppa“ und den „Préludes“, oder den Hinweis auf bekannte größere Dichterwerke, wie im „Tasso“ und „Prometheus“, oder er führt uns im „Orpheus“ eine vertrauliche mythische Gestalt entgegen und läßt uns in der „Heldenklage“ das große historische Ereigniß ahnen, das er darin feierte. Die „Festklänge“ und „Hungaria“, sowie „Hamlet“, die „Hunnenschlacht“ (nach Kaulbach) und „Die Ideale“ (nach Schiller) hat er ohne Programm gelassen, da er durch die Titel die ihn leitenden Ideen genugsam bezeichnet zu haben glaubte.

Eben diese ihre poetisch-musikalische Doppelnatur in Verbindung mit der Neuheit der Form, die doch lediglich das Resultat dieses Inhalts ist, war dem Verständniß der großen Orchesterschöpfungen Liszt’s besonders ungünstig und hat durch ihre ungewöhnlich hohen Anforderungen an das Publicum die Verbreitung derselben erschwert. An sie heftete sich trotz ihres instrumentalen Glanzes und der in ihnen zu Tage tretenden harmonischen und contrapunktischen Kunst die erbitterte Opposition, von der die seinem Virtuosenthum dienenden Claviercompositionen nichts erfahren hatten. Aber diese Opposition konnte nicht hindern, daß die von Liszt vertretene poetische Richtung in allen Gattungen [554] der Musik zur Herrschaft gelangte und daß sich in der Popularisirung seiner Werke ein stetiger Fortschritt geltend macht. Dringen namentlich die eingänglichsten seiner symphonischen Dichtungen, wie die „Préludes“, „Tasso“, „Orpheus“ etc., und andere seiner Instrumentalwerke, wie seine auf das gleiche thematische Einheitsprincip basirten Clavierconcerte, nicht schon in alle Concertsäle ein? Und werden nicht auch seine Lieder und Kirchencompositionen mit wachsender Vorliebe gehört?

Im Liede vertritt Liszt die Durchführung des poetischen Princips bis zu seinen äußersten Consequenzen. Dem Dichter ordnet sich der Musiker völlig unter; ein freies declamatorisches Element waltet vor, das Wagner’s „Sprechgesang“ ähnlich sieht. Es sei hier nur an das schöne „Ich liebe Dich“ (von Rückert) erinnert; wogegen sich das populärste von allen Liszt’schen Liedern „Es muß ein Wunderbares sein“ der älteren Liedform am meisten nähert.

Das poetische charakterisirende Princip, das Liszt im Liede und in seinem Schaffen überhaupt, das thematische Einheitsprincip, das er in seinen Instrumentalschöpfungen verfolgte, gelangt auch in seinen Kirchenwerken zu vollem Rechte. Die Leitmotive, aus denen Wagner das Gewebe seines musikalischen Dramas spinnt, bringt Liszt nun zuerst auch in Messe und Oratorium zur Geltung. Alle modernen Errungenschaften der Instrumentation und des freien Formenspiels läßt er ihnen zu Gute kommen.

Auch hier schafft er, den Bedürfnissen seiner Natur gemäß, Neues, Großes. Wie überall, gab er auch hier, wo es ihm um nichts weniger als um die Regeneration der katholischen Kirchenmusik zu thun ist, mit vollen Händen. Wir können bei der Fülle des Gegebenen hier nur der Graner Festmesse, der für die Krönung des österreichischen Kaiserpaares in Pest geschriebenen ungarischen Krönungsmesse, der Missa choralis, der Messe und des Requiems für Männerstimmen, der Psalmen und Hymnen und der Oratorien: „Die heilige Elisabeth“ und „Christus“ gedenken. Dies letztere Werk, eine Schöpfung voll unvergleichlicher Originalität und Geistestiefe, ist Liszt’s gewaltigste That im Gebiete der kirchlichen Kunst.

Weitaus die Mehrzahl seiner geistlichen Compositionen aber entkeimte nicht mehr dem weimarischen, sondern dem römischen Boden. Als im December 1859 die Oper „Der Barbier von Bagdad“ von Cornelius, einem Schüler des Meisters, als Opfer einer Coterie, die sich gegen Liszt gebildet hatte, durchfiel, trat der Letztere für immer von der Direction zurück. Ohnedies war seit Dingelstedt’s Eintritt in die Intendantur des Weimarischen Theaters das Hauptgewicht der dortigen Bühnenleitung auf das Drama gelegt worden, während andererseits die Gründung der Malerschule zu viel Mittel in Anspruch nahm, um bei dem beschränkten Hofbudget noch für Oper und Orchester Ersprießliches so fördern zu können, wie es eines Liszt würdig war. Genug, im September 1861 verließ er Weimar und begab sich nach Rom. Dort empfing er am 22. April 1865 von Cardinal Hohenlohe in der vaticanischen Capelle die Weihen, die ihm den Rang eines Abbate verliehen, zu dem man neuerdings noch die Würde eines Canonicus fügte.

Seinem künstlerischen Beruf aber blieb der Liebling Pio Nono’s dennoch getreu. Seit 1869 kehrte er auch alljährlich für mehrere Monate wieder in Weimar und zwar in der „Hofgärtnerei“ daselbst ein. Seither lebt er abwechselnd in Rom, Weimar und Pest, wo er sein Amt als Präsident der Musikakademie im Februar 1876 officiell antrat.

Wir müssen es als zu den schönsten Verdiensten Liszt’s gehörig hier hervorheben, daß er Unzähligen den Weg in die Oeffentlichkeit gebahnt hat, wie er allen künstlerischen Bestrebungen immerdar ein offenes Herz und offene Hände zeigt. Er ist der erste und thätigste Förderer des Bayreuther Unternehmens, der Hauptbegründer des „Allgemeinen deutschen Musikvereins“. Und für wie viele humanitäre Zwecke setzte er von je seine Künstlerschaft ein! Machte er schon während seiner Virtuosenlaufbahn seinen Genius ungleich mehr dem Vortheil Anderer als seinem eigenen dienstbar – denn von den Millionen, die er erspielte, erübrigte er für sich selbst nur eine bescheidene Summe, während er allein für den Ausbau des Kölner Doms, das Bonner Beethoven-Denkmal und die Hamburger Abgebrannten viele Tausende opferte – so war nach Abschluß seiner Pianistencarrière seine öffentliche künstlerische Thätigkeit ausschließlich dem Besten Anderer, sei es künstlerischen Bestrebungen, oder mildthätigen Zwecken oder dergleichen, geweiht. Seit Ende 1847 floß weder durch Clavierspielen und Dirigiren, noch durch Unterrichten ein Heller in seine eigene Tasche. Dies Alles, was Andern reiche Capitalien und Zinsen eintrug, kostete ihm selbst nur Opfer an Zeit und Geld.

Auch in seiner schriftstellerischen Wirksamkeit, in seinen berühmten Arbeiten „Lohengrin“ und „Tannhäuser“, „F. Chopin“, „Robert Franz“ und seinen zerstreuten Aufsätzen, bekundete er, von dem Glanz der Darstellung, der Fülle geistreicher Gesichtspunkte und Ideen abgesehen, den schönen Zug seiner Natur: für das unverstanden gebliebene Schöne und Große mit seiner Autorität einzutreten und ihm, kraft derselben, zu besserem Verständniß zu verhelfen. Darum, von welcher Seite wir dieses thatenreiche Künstlerleben auch betrachten – es zeigt uns das erhebende Bild nicht nur eines großen, sondern auch eines der edelsten Menschen.

  1. Eingehenderes über Liszt’s Leben und Schaffen siehe in: La Mara, „Musikalische Studienköpfe“, 1. Band, 5. Auflage. (Leipzig, Schmidt und Günther.)