Die Gartenlaube (1886)/Heft 39
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No. 39. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sankt Michael.
Das Reval’sche Haus bildete eine Art Mittelpunkt für die Geselligkeit der Hauptstadt, der gern und vielfach aufgesucht wurde. Man fand dort stets einen auserlesenen Kreis, in welchem neben dem Geburtsadel auch die Geistesaristokratie zahlreich vertreten war. Der Oberst und seine Gemahlin setzten ihren Stolz darein, die bedeutendsten Persönlichkeiten der Kunst und Wissenschaft zu den Freunden ihres Hauses zu zählen, und ihr Reichthum erlaubte ihnen, die Gastfreundschaft in großartigem Maßstabe zu üben.
Am heutigen Abend versammelte eine größere Festlichkeit noch einmal am Schluß des Winters den ganzen Freundes- und Bekanntenkreis. Sie gestaltete sich hier, in den weitläufigen, prachtvollen Räumen um vieles glänzender, als in dem verhältnißmäßig einfachen Sommersitze zu Elmsdorf, und auch die Gäste waren weit zahlreicher. Die Gesellschaft wogte durch die lichterfüllten Zimmer und Säle; man begrüßte sich; man lachte und plauderte. Auf den Festlichkeiten des Reval’schen Hauses lag immer eine besonders heitere, angeregte Stimmung. Das zeigte sich auch heute, und unter all den unbedeutenden und gleichgültigen Erscheinungen, die jede größere Versammlung aufweist, erblickte man auch manche schöne Frauengestalt, manchen ernsten bedeutenden Männerkopf. Es hatte sich in der That Alles zusammengefunden, was irgendwie auf Bedeutung Anspruch machen konnte.
General Steinrück, den eine langjährige Freundschaft mit dem Oberst verband, war mit seiner ganzen Familie erschienen, und man hatte auch die Aufmerksamkeit gehabt, den Bruder der Gräfin Hortense, den Marquis von Montigny einzuladen.
Selbst Professor Wehlau, der sonst die großen Gesellschaften nicht liebte und sich ihnen soviel wie möglich entzog, hatte diesmal eine Ausnahme gemacht und war mit seinen beiden Söhnen gekommen. Hans blieb jedoch vorläufig noch unsichtbar, er stellte die lebenden Bilder, die einen Theil des Festes ausmachten, und hatte die Regie der Vorstellung übernommen, während Michael seine Theilnahme daran bestimmt verweigert hatte und nur als einfacher Gast erschien.
„Auf ein Wort, lieber Rodenberg!“ sagte der Oberst halblaut, indem er den Hauptmann auf einen Augenblick bei Seite zog. „Haben Sie
[686] sich dem General gegenüber irgend etwas zu Schulden kommen lassen?“
„Nein, Herr Oberst,“ entgegnete Michael mit vollkommener Ruhe.
„Nicht? Es fiel mir auf, daß er an Ihnen vorüber ging, ohne auch nur ein einziges Wort an Sie zu richten, mit einer sehr kühlen Erwiderung Ihres allerdings sehr gemessenen Grußes. Es ist also wirklich nichts vorgefallen?“
„Durchaus nichts. Ich habe den General ja überhaupt nur einmal gesprochen, als ich mich bei ihm meldete, und ihn dann nur hin und wieder bei dienstlichen Veranlassungen gesehen; weßhalb sollte er mir besondere Rücksicht erweisen?“
„Weil er Sie und Ihre Leistungen kennt. Er sprach sich lobend darüber aus, noch ehe er Sie persönlich kannte, und überdies weiß ich, daß meine Empfehlung bei ihm ins Gewicht fällt. Trotzdem hat er während des ganzen Winters so gut wie gar keine Notiz von Ihnen genommen, sogar die Einladung, mit der er sonst die ihm vorgestellten Officiere beehrt, ist unterblieben, und wenn ich das Gespräch auf Sie bringe, sucht er entschieden abzulenken – mir ist das unerklärlich!“
„Die Erklärung wird wohl darin liegen, daß ich nicht das Glück habe, Seiner Excellenz zu gefallen,“ sagte Michael achselzuckend, doch der Oberst schüttelte den Kopf.
„Der General hat keine Launen, und es wäre auch das erste Mal, daß er sich ungerecht zeigte gegen einen Officier, von dessen Tüchtigkeit er überzeugt ist. Sie müssen durchaus etwas versehen haben.“
Rodenberg schwieg; er wollte lieber einen derartigen Vorwurf tragen, als noch länger dieser peinlichen Erörterung Stand halten; zum Glück wurde der Oberst jetzt von anderer Seite in Anspruch genommen und gab ihn frei.
Inzwischen begrüßte Professor Wehlau die Gräfin Steinrück, die er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, und wurde von ihr mit großer Freundlichkeit empfangen. Sie vergaß es nicht, daß er sich damals, bei dem Tode ihres Gatten, mitten aus einer wichtigen und dringenden Arbeit gerissen hatte, um an das Sterbebett des Grafen zu eilen. Auf seine Erkundigung nach ihrem Befinden klagte sie über ihre zunehmende Kränklichkeit und ließ den Wunsch durchblicken, seinen Rath in Anspruch zu nehmen, obwohl sie wußte, daß er sich längst von der ärztlichen Thätigkeit zurückgezogen hatte. Der Professor kam ihr artig entgegen mit der Erklärung, daß er ihr gegenüber stets eine Ausnahme mache und ganz zu ihrer Verfügung stehe, und Beide waren im besten Einvernehmen, als die Dame unglücklicher Weise ein verfängliches Thema berührte.
„Ich habe mich für morgen bei Ihrem Sohne angemeldet,“ sagte sie. „Wie ich von ihm höre, ist sein großes Bild fast ganz vollendet und soll in der nächsten Woche ausgestellt werden. Ich möchte es aber vorher noch einmal allein im Atelier sehen, da es doch bereits mein Eigenthum ist. Sie wissen das vermuthlich?“
„Ja,“ entgegnete lakonisch der Professor, dessen gute Laune sofort dahin war. Hans hatte ihm bereits triumphirend verkündigt, daß sein Werk noch auf der Staffelei verkauft sei, und zwar an die Gräfin Steinrück, die jetzt unbefangen fragte:
„Nun, und was sagen Sie denn zu diesem Werke unseres jungen Künstlers?“
„Gar nichts! Ich habe es noch nicht angesehen,“ gab Wehlau schroff zur Antwort.
„Wie? Das Atelier liegt ja doch im Garten Ihres Hauses.“
„Leider! Aber ich habe noch keinen Fuß hineingesetzt und werde es auch nicht thun.“
„Noch immer so unversöhnlich?“ fragte die Gräfin vorwurfsvoll. „Ich gebe ja zu, daß der Streich, den Ihr Sohn Ihnen gespielt hat, ein wenig arg und übermüthig war; aber Sie müssen sich doch nun wohl selbst überzeugt haben, daß eine derartig begabte und veranlagte Natur für die kalte, ernste Wissenschaft nicht geschaffen ist.“
„Da haben Sie Recht, Frau Gräfin!“ fiel der Professor mit einem sehr herben Tone ein. „Der Junge taugt zu nichts Ernstem und Vernünftigem, so mag er denn meinetwegen Maler werden!“
„Denken Sie so niedrig von der Kunst? Ich dächte, sie wäre der Wissenschaft ebenbürtig.“
Wehlau zuckte die Achseln mit dem ganzen Hochmuth des Gelehrten, der überhaupt keinen Beruf dem seinen ebenbürtig hält, und dem die Kunst mehr oder minder für eine Spielerei gilt.
„Nun ja, es ist recht hübsch, Bilder in seinen Salons zu haben, das leugne ich gar nicht, und Sie haben ja in Berkheim eine ganze Galerie davon. Da wird wohl auch diese neueste Errungenschaft noch Platz finden.“
Die Gräfin sah ihn befremdet an.
„Sie scheinen den Gegenstand des Gemäldes nicht zu kennen, es ist ja für die Kirche in Sankt Michael bestimmt.“
„Für die Kirche?“ fragte Wehlau befremdet.
„Gewiß, da es ein Heiligenbild ist.“
Jetzt fuhr der Professor in die Höhe.
„Was? Mein Sohn malt Heiligenbilder?“
„Allerdings! Hat er Ihnen denn nie davon gesprochen?“
„Er wird sich hüten! Und Michael hat mir auch keine Silbe davon gesagt, trotzdem er zweifellos um die Geschichte weiß.“
„Das ist wohl nicht anders möglich, denn Hauptmann Rodenberg hat Modell dazu gestanden.“
„Nun, das mag ein schöner Heiliger geworden sein!“ brach der Professor mit grimmigem Lachen aus. „Der Michael paßt auch gerade dazu! Sind die Jungen denn alle Beide verrückt geworden? – Entschuldigen Sie, Frau Gräfin, ich fühle, daß ich grob werde, aber das übersteigt alle Begriffe, das ist – darüber muß ich mir Gewißheit holen!“
Er machte eine kurze Verbeugung und schoß davon, so eilig, daß er fast eine junge Dame streifte, die halb verborgen in der Fensternische, hinter dem Sitze der Gräfin stand und ihm ganz erschrocken nachblickte.
„Kommst Du endlich zum Vorschein, Gerlinde?“ fragte die Gräfin, sich umwendend. „Kind, was soll daraus werden, wenn Du Dich beim Eintritt in die Gesellschaft sofort hinter die Fenstervorhänge flüchtest! Du hättest eine der Berühmtheiten der Residenz kennen gelernt, wenn Du Dich nur gezeigt hättest.“
Das junge Mädchen war in der That erst in diesem Augenblick hervorgetreten und fragte nun schüchtern:
„Dieser grimmige Herr, der die Heiligenbilder nicht leiden kann –?“
„Ist einer der ersten Forscher der Gegenwart, eine gefeierte Größe der Wissenschaft, und deßhalb muß man ihm schon einige Schroffheit hingehen lassen; er ist überhaupt eine etwas cholerische Natur.“
Gerlinde blickte noch immer ängstlich dem Professor nach. In der Unterredung, die sie mit angehört hatte, war kein Name genannt worden, der sie hätte aufklären können, und es kam auch jetzt nicht dazu; denn soeben wurde das Zeichen zum Beginn der Vorstellung gegeben, und die ganze Gesellschaft fluthete nach dem Saale, wo sich die Bühne befand.
Hans Wehlau bedeckte sich an dem heutigen Abende mit Ruhm. Die Bilder, die er, nicht nach vorhandenen Gemälden, sondern nach seinen eigenen Ideen, an allbekannte Sagen oder Dichtungen anknüpfend, gestellt hatte, machten seinem Künstlertalent alle Ehre. Jedes einzelne war eine Schöpfung an sich, und so oft sich der Vorhang hob, gab es eine neue Ueberraschung.
Der eigentliche Triumph des Abends fiel jedoch der Gräfin Hertha Steinrück zu, die im reichsten phantastischen Kostüm als Loreley auf einem Felsen thronte. Hans wußte sehr gut, warum er dies Bild als letztes gewählt hatte und die junge Gräfin allein in dem Rahmen erscheinen ließ, ohne ihr irgend einen Gefährten zu geben. Ein Ah! der Bewunderung ging wie ein Rauschen durch die Zuschauermenge bei diesem Anblick, der Alles, was man bisher gesehen hatte, in den Schatten stellte. Es war in der That, als sei die Gestalt der Sage lebendig geworden mit ihrem ganzen berückenden Zauber.
Sogar Professor Wehlau vergaß für einige Minuten seinen Aerger, den er während der ganzen Vorstellung hatte aufsparen müssen, und war nur Anschauen und Bewunderung; als aber nun der Vorhang gefallen war und der jugendliche Regisseur mit sämmtlichen Mitwirkenden im Saale erschien, da wallte ihm die Galle wieder auf, und er versuchte seines Sprößlings habhaft zu werden. Das war jedoch nicht so leicht; denn Hans war der allgemein Gesuchte, Unentbehrliche; Hans wurde von allen Seiten mit Lob und Schmeicheleien überhäuft; er theilte den Triumph [687] des Abends mit der Gräfin Hertha. Es verging fast eine Viertelstunde, ehe es dem Professor gelang, sich seiner zu bemächtigen.
„Ich habe mit Dir zu sprechen,“ sagte er mit unheilverkündender Miene und schleppte den jungen Mann in dieselbe Fensternische, wo vorhin Fräulein Gerlinde von Eberstein gestanden hatte.
„Mit Vergnügen, Papa,“ versetzte Hans, der selbst vor Vergnügen strahlte. Das erhöhte noch den Aerger des Professors, der sich nicht lange mit der Vorrede aufhielt, sondern sofort auf das Ziel losging.
„Ist es wahr, was die Gräfin mir soeben mittheilt, daß das Bild, welches Du gemalt hast, ein Heiligenbild ist?“
„Ja wohl, Papa,“ bestätigte der junge Künstler harmlos.
„Und es ist auch wahr, daß Michael Dir dazu Modell gestanden hat?“
„Ja wohl, Papa!“
„Also doch! Habt Ihr denn alle Beide den Verstand verloren? Michael als Heiliger! Das wird eine schöne Karikatur geworden sein.“
„Im Gegentheil, er nimmt sich höchst imponirend aus als zürnender Erzengel. Das Bild stellt nämlich Sankt Michael dar –-“
„Meinetwegen den Satan!“ unterbrach ihn Wehlau ingrimmig.
„Der ist auch dabei, sogar in Lebensgröße. Aber was geht Dich denn eigentlich der Gegenstand meines Bildes an?“
„Was es mich angeht?“ fuhr der Professor auf, der Mühe hatte, den gedämpften Ton beizubehalten, den die Rücksicht auf die Gesellschaft erforderte. „Du kennst doch meine Stellung der kirchlichen Partei gegenüber. Du weißt, daß ich deßwegen von den Priestern in Acht und Bann gethan bin, und jetzt malst Du Heiligenbilder für ihre Kirchen? Das leide ich nicht; das dulde ich nicht, ich verbiete es Dir!“
„Das kannst Du nicht, Papa,“ sagte Hans kaltblütig. „Das Bild ist Eigenthum der Gräfin und überdies schon in Sankt Michael angekündigt.“
„Wo es natürlich mit allem nur möglichen kirchlichen Pomp installirt wird.“
„Ja wohl, Papa, am Sankt Michaelsfeste.“
„Hans, Du bringst mich um mit Deinem: Ja wohl, Papa! Am Michaelsfeste also, wo das ganze Gebirgsvolk zusammenströmt – das wird ja immer schöner! Die klerikalen Zeitungen werden sich natürlich der Sache bemächtigen; sie werden spaltenlange Berichte bringen über die Procession, die Messe, die Andächtigen, und mitten darin fortwährend den Namen Hans Wehlau, meinen Namen.“
„Bitte, das ist mein Name,“ entgegnete der junge Künstler mit Nachdruck.
„Ich wollte, ich hätte Dich Pankratius oder Blasius taufen lassen, damit die Welt doch einen Unterschied machte!“ rief der Professor verzweiflungsvoll.
„Papa, warum bist Du eigentlich so wüthend?“ fragte Hans mit Seelenruhe. „Im Grunde müßtest Du mir doch dankbar sein, wenn ich mich der schönen Aufgabe widme, Dich mit Deinen Gegnern zu versöhnen, und überdies ist das Bild gar kein Heiligenbild im gewöhnlichen Sinne. Es ist der Kampf des Lichtes mit der Finsterniß. Ich habe mir unter dem Erzengel natürlich die Aufklärung, die Wissenschaft gedacht, und unter dem Satan den Aberglauben. Das ist ganz Dein Fall, Papa, das ist eigentlich nur die Verherrlichung Deiner Lehre. Ich könnte das Bild in der Universität, in Deinem Auditorium aufhängen; denn es ist Dir so recht aus der Seele gemalt. Ich hoffe, Du bist mir dankbar dafür und –“
„Junge, hör’ auf, Du bringst mich noch ins Grab!“ stöhnte der Professor, dem ganz schwül wurde bei dieser wunderbaren Beweisführung.
„Bewahre! Wir werden noch höchst vergnügt mit einander leben. Aber jetzt entschuldige mich, ich muß wieder in den Saal.“
Und damit kehrte der junge Mann ganz unbekümmert wieder in die Gesellschaft zurück und schickte sich an, Michael aufzusuchen. –
In einem kleinen Kabinett, das unmittelbar an den Saal grenzte, aber augenblicklich völlig leer war, saß Fräulein von Eberstein ganz einsam und verlassen. Als der Vorhang gefallen war und die Gesellschaft wieder durch einander wogte, wurde die Gräfin Steinrück von allen Seiten in Anspruch genommen. Jeder hatte ihr ein Kompliment oder eine Schmeichelei über ihre schöne Tochter zu sagen, und dabei wurde Gerlinde von ihrer Beschützerin getrennt. Zaghaft und völlig fremd in diesem Kreise, hatte sie sich in das Nebenzimmer geflüchtet und wartete nun hier geduldig, bis man sich ihrer erinnerte.
Das junge Mädchen befand sich erst seit acht Tagen in der Stadt. Der Freiherr hatte endlich dem Wunsche der Gräfin und ihrer wiederholten Vorstellung nachgegeben, daß man Gerlinde doch einmal in die Welt einführen, ihr doch wenigstens die Möglichkeit geben müsse, eine standesmäßige Partie zu machen. Die letztere Rücksicht trug denn auch endlich den Sieg davon über die Hartnäckigkeit des Vaters, dem sein leidender Zustand doch öfter den Gedanken an den Tod nahe legte. Er wußte sehr gut, daß in diesem Falle Berkheim die einzige Zuflucht seines verlassenen Kindes war, und so gütig und liebevoll die Gräfin es auch ausgesprochen hatte, daß sie nach der Vermählung ihrer Tochter Gerlinde als einen Ersatz dafür betrachten würde, so sträubte sich doch der Stolz des alten Eberstein gegen diese, wenn auch in zartester Form angebotene Gnade.
Aus diesem Grunde wäre ihm eine standesmäßige Partie für seine Tochter sehr erwünscht gewesen. Der Begriff „standesgemäß“ lag für ihn natürlich einzig in einer möglichst langen und möglichst glänzenden Ahnentafel des künftigen Schwiegersohnes, und die streng aristokratischen Grundsätze der Steinrück’schen Familie beruhigten ihn in dieser Hinsicht vollkommen. Er ließ Gerlinde daher noch einmal den ganzen Stammbaum und die gesammte Hauschronik aufsagen, ermahnte sie, nie zu vergessen, daß sie aus dem zehnten Jahrhundert stamme, und ließ sie mit der Kammerfrau, welche die Gräfin gesandt hatte, nach der Hauptstadt abreisen, wo sie noch einige Wochen mit der gräflichen Familie verweilen und dann dieselbe nach Berkheim begleiten sollte.
Das kleine Burgfräulein hatte natürlich keine Ahnung von diesen Zukunftsplänen und war nur halb widerstrebend dem Rufe gefolgt. Das glänzende Wogen und Treiben der Gesellschaft, in welches sie schon damals bei dem kurzen Besuche in Steinrück einen Blick gethan hatte, und das ihr hier nun vollends aufging, beängstigte sie mehr, als es sie erfreute. So saß sie denn auch jetzt scheu und ängstlich, wie ein verscheuchtes Vögelchen, auf dem Eckdivan und war froh, einige Minuten allein zu sein.
Da wurde die Portière, die den Eingang halb verhüllte, rasch zurückgeschoben, ein junger Mann, der Jemand zu suchen schien, warf einen flüchtigen Blick in das Kabinett, blieb aber plötzlich wie angewurzelt stehen.
„Fräulein von Eberstein!“
Gerlinde schrak zusammen beim Klange dieser Stimme; jetzt erkannte auch sie den Eintretenden.
„Herr von Wehlau Wehlenberg!“
Hans war bereits an ihrer Seite. Er hatte keine Ahnung von ihrem Hiersein, von ihrer Anwesenheit in der Stadt überhaupt; seine Regiepflichten hielten ihn auf der Bühne fest, und als er den Saal betrat, hatte Gerlinde ihn bereits verlassen. Das Wiedersehen war eine Ueberraschung für beide Theile, aber keine unangenehme: das verriethen die leuchtenden Augen des jungen Mannes und das rosig erglühende Gesicht des kleinen Burgfräuleins.
„Ich glaubte Sie fern von hier, in Ihren heimischen Bergen,“ sagte Hans, während er schleunigst an ihrer Seite Platz nahm. „Wie geht es Ihrem Herrn Vater?“
„Der arme Papa ist in diesem Winter sehr leidend gewesen,“ berichtete Gerlinde. „Aber als das Frühjahr nahte, hat er sich wieder erholt, so daß ich ohne Besorgniß reisen konnte.“
„Und Muckerl? Wie befindet sich Muckerl?“
Die Nachrichten über Muckerl’s Befinden lauteten durchaus günstig; Muckerl war lustig und übermüthig wie damals im Herbst, und seine junge Herrin verlor bei der Erzählung etwas von der anfänglichen Befangenheit; sie war so froh, von der Heimat sprechen zu können, und Hans störte sie darin nicht, seine Augen hafteten unverwandt auf ihrem Antlitz.
Er hatte soeben erst Gräfin Hertha gesehen im vollsten, siegreichen Glanze ihrer Schönheit, und sein Künstlerauge hatte sich förmlich berauscht an diesem Anblick. Hier sah er nur ein zartes, kindliches Wesen, das sich nicht entfernt mit jener Schönheit messen konnte, und dessen sanfte, braune Rehaugen halb scheu, [688] halb zutraulich zu ihm empor blickten. Trotzdem erschien ihm das kleine Dornröschen heute unsagbar lieblich in dem Anzuge von leichtem, zartrosigem Stoff, der nur mit einzelnen Gewinden von Heckenrosen geschmückt war und wie eine duftige Wolke die zierliche Gestalt umfloß. Dieselben rosigen Blüthen schimmerten auch in dem dunklen Haar, das eben so einfach geordnet war wie früher. Auf der ganzen Erscheinung lag etwas von der thauigen Frische einer Rosenknospe, die eben erst anfängt, sich dem Lichte zu erschließen.
„Und wie gefällt es Ihnen bei uns?“ fragte Hans jetzt, als das junge Mädchen schwieg. „Nicht wahr, das Leben der Großstadt hat etwas Berauschendes, Blendendes für Jeden, der es zum ersten Male kennen lernt?“
Gerlinde schüttelte das Köpfchen und sah vor sich nieder.
„Es gefällt mir gar nicht,“ gestand sie. „Ich wäre weit lieber daheim bei meinem Papa und bei meinem Muckerl. Hier bin ich so fremd und verlassen unter all den fremden Menschen; sie verstehen mich gar nicht, und ich verstehe sie auch nicht.“
„Das werden Sie schon lernen,“ tröstete der junge Mann.
Aber sie blieb bei ihrem Kopfschütteln. Das arme Kind hatte doch jetzt ein dunkles Bewußtsein seiner Lächerlichkeit und klagte in beweglichem Tone:
„Hier kümmern sie sich so wenig um ihre Stammbäume; Niemand weiß, daß wir aus dem zehnten Jahrhundert stammen und unser Geschlecht das allerälteste ist. Wenn ich davon spreche, dann sagt Hertha: Gerlinde, hör’ auf, Du machst Dich lächerlich! und die Tante sagt: Mein Kind, das paßt nicht hierher! und Graf Raoul lächelt in einer so verletzenden Weise! Ich weiß es jetzt, er macht sich nur lustig über mich. Herr von Wehlau Wehlenberg, nicht wahr, Sie finden das nicht lächerlich? Sie haben ja ein so lebhaft entwickeltes Standesgefühl, wie mein Papa sagt.“
Dem Ritter von Forschungstein wurde es doch etwas heiß bei diesem Appell an sein Standesgefühl. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er jetzt seinen Uebermuth werde büßen müssen, denn sobald man in die Gesellschaft zurückkehrte und Gerlinde seinen Namen nannte, wurde sie aufgeklärt. Es gab nur ein Mittel, dem zuvorzukommen: er mußte es selbst thun.
„Wir haben in allen Adelsbüchern nachgeschlagen und haben auch endlich Ihr Geschlecht gefunden,“ fuhr die junge Dame wichtig fort, und urplötzlich wieder in den Chronistenstil verfallend, begann sie die betreffende Stelle aufzusagen:
„Die Herren von Wehlenberg, ein altes reichsfreiherrliches Geschlecht, seit dem Jahre sechszehnhundertunddreiundvierzig ansäßig in der Mark und reich begütert in den verschiedenen Provinzen, das derzeitige Haupt der Familie Freiherr Friedrich von Wehlenberg auf Bernewitz“ – hier brach sie ebenso urplötzlich ab und setzte betrübt hinzu: „Den Forschungstein haben wir aber nicht gefunden.“
„Den konnten Sie auch nicht finden, denn er existirt nicht,“ sagte Hans, der jetzt seinen Entschluß gefaßt hatte. „Sie und Ihr Herr Vater sind in einem Irrthum befangen, den ich allerdings verschuldet habe. Ich theilte Ihnen schon bei unserem ersten Zusammentreffen mit, daß ich ein Künstler sei.“
Gerlinde nickte ernsthaft.
„Ich habe es meinem Papa erzählt; er meint aber, das sei sehr unpassend für einen Mann von altem Adel.“
„Ich bin aber gar nicht von altem Adel, nicht einmal von neuem.“
Gerlinde sah ganz erschrocken aus und rückte eiligst seitwärts. Der junge Mann bemerkte das, und seine Stimme gewann einen Anflug von Bitterkeit, als er weiter sprach:
„Ich habe Ihnen eine Beichte abzulegen, gnädiges Fräulein, und um Verzeihung für eine Täuschung zu bitten, die eigentlich nur der Nothwehr entsprang. Ich kam an jenem Abende verirrt und durchnäßt nach der Ebersburg; es war weit und breit kein anderes Obdach aufzufinden; die Dunkelheit brach herein und der Herr Baron versagte mir den Einlaß, weil ich nicht ‚von Familie‘ war, wie er sich ausdrückte. Mir blieb nur die Wahl, wieder in das Unwetter hinauszugehen oder mich selbst in den Adelsstand zu erheben, und ich wählte das Letztere. Jetzt aber bin ich Ihnen die Wahrheit schuldig: ich heiße einfach Hans Wehlau, ohne jedes mittelalterliche Beiwerk, und bin meines Zeichens Maler; mein Vater ist Professor an der hiesigen Universität, und wir sind Beide bürgerlich vom Scheitel bis zur Sohle.“
Die Wirkung dieser Worte war eine niederschmetternde; das kleine Burgfräulein saß starr und steif da, wie gelähmt vor Entsetzen, und blickte den bürgerlichen Hans Wehlau an, der ihr so Fürchterliches berichtete. Endlich gewann sie die Sprache wieder, sie faltete die Hände und sagte mit einem tiefen Seufzer:
„Das ist schrecklich!“
Hans erhob sich und machte ihr eine sehr gemessene Verbeugung.
„Ich bekenne mich im vollsten Maße schuldig, aber ich glaubte doch nicht, daß die Wahrheit Sie so erschrecken würde. Jedenfalls habe ich nunmehr in Ihren Augen jede Bedeutung verloren und komme wohl Ihrem Wunsche zuvor, wenn ich Sie verlasse. Leben Sie wohl, Fräulein von Eberstein!“
Er wandte sich zum Gehen; jetzt aber fuhr Gerlinde auf und machte eine Bewegung, als wolle sie ihn zurückhalten.
„Herr Wehlau!“
Er blieb stehen. „Gnädiges Fräulein?“
„Sind Sie nicht ein ganz klein wenig verwandt mit dem Freiherrn Friedrich Wehlenberg auf Bernewitz? Ich meine – nur eine ganz entfernte Verwandtschaft?“
„Auch nicht die allerentfernteste. Ich erfand in der Eile einen Namen, der ähnlich wie der meinige klang, und wußte nicht einmal, daß er in Wirklichkeit existirte.“
„Dann vergiebt es Ihnen mein Papa niemals!“ brach Gerlinde verzweiflungsvoll aus. „Sie dürfen nie wieder nach der Ebersburg kommen.“
„Wünschen Sie denn jetzt noch, daß ich dahin komme?“ fragte Hans.
Sie schwieg, aber die hellen Thränen standen in ihren Augen, und das entwaffnete die Gereiztheit des jungen Mannes. Was konnte denn das arme Kind dafür, daß man es mit diesen Lächerlichkeiten genährt und erzogen hatte? Er kam langsam wieder näher und fragte halblaut:
„Sind Sie mir auch so böse wegen des tollen Streiches? Er war nicht so schlimm gemeint.“
Gerlinde antwortete nicht, aber sie ließ es geschehen, daß er leise ihre herabhängende Hand faßte, und sie hörte auch zu, als er in dem gleichen Tone fortfuhr:
„Herr von Eberstein hängt noch fest an den Traditionen seines Hauses, ich weiß es, und von ihm kann man auch nicht verlangen, daß er im Alter das aufgiebt, was ihm der Inhalt seines Lebens gewesen ist; er gehört nun einmal mit Leib und Seele der Vergangenheit. Aber Sie, mein Fräulein, sollen erst in dies Leben eintreten, und im neunzehnten Jahrhundert muß man mit dem Zeitgeist rechnen und die Dinge nehmen, wie sie sind. Erinnern Sie sich dessen, was ich Ihnen damals auf der Burgterrasse sagte?“
„Ja,“ war die kaum hörbare Antwort.
Hans beugte sich zu ihr nieder; seine Stimme hatte wieder den warmen, innigen Klang, den Gerlinde noch von jener sonnigen Morgenstunde her kannte.
„Auch um Sie haben Vorurtheile und Traditionen eine Dornenhecke gezogen, die riesengroß aufgewachsen ist. Wollen Sie das ganze Leben darin verträumen? Vielleicht kommt bald die Zeit, wo Sie wählen müssen zwischen einer todten Vergangenheit und der hellen, sonnigen Zukunft – wählen Sie recht!“
Er zog die kleine bebende Hand, die noch immer in der seinigen lag, an seine Lippen, und es dauerte ziemlich lange, ehe er sie wieder frei gab; dann verneigte er sich und verließ das Gemach.
Die Gräfin Steinrück befand sich im Gespräch mit Herrn von Montigny, als Gerlinde endlich wieder an ihrer Seite erschien. Der Marquis sprach seine Freude über die Verlobung seines Neffen aus, und es schien ihm Ernst damit zu sein, eben so wie mit der Bewunderung der jungen Braut, deren Anblick ihn heute wie jeden Anderen hingerissen hatte. Er wußte dieser Bewunderung den schmeichelhaftesten Ausdruck zu leihen. Als er sich endlich verabschiedete, um seine Schwester aufzusuchen, wandte sich die Gräfin zu dem jungen Mädchen:
„Wo bist Du denn so lange gewesen, mein Kind?“ fragte sie. „Ich hatte Dich ganz aus den Augen verloren; vermuthlich hast Du wieder einsam in irgend einem Winkel gesessen. Wirst Du es denn nie lernen, Dich in der Gesellschaft zu bewegen wie die anderen jungen Mädchen?“
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[690] Sie blickte mitleidig auf ihre Schutzbefohlene, die sonst dergleichen Vorwürfe schüchtern und schweigsam hinzunehmen pflegte; heute aber öffnete Fräulein Gerlinde die Lippen und that zur Verwunderung der Gräfin den weisheitsvollen Ausspruch:
„Ja, liebe Tante, ich werde es lernen, denn im neunzehnten Jahrhundert muß man dem Zeitgeist Rechnung tragen und die Dinge nehmen, wie sie sind!“ –
Der Marquis von Montigny hatte inzwischen seine Schwester gesucht und gefunden. Sie saß in einem der Nebenzimmer und war in lebhaftem Geplauder mit Frau von Nérac begriffen, während Henri von Clermont eben so lebhaft daran theilnahm. Er schien die beiden Damen vortrefflich zu unterhalten, und sie lachten eben über eine seiner Bemerkungen, als Montigny herantrat.
„Da bist Du ja, Leon!“ rief ihm die Gräfin heiter entgegen. „Ich brauche Dir wohl unsere Landsleute nicht erst vorzustellen, Du kennst sie jedenfalls schon von der Gesandtschaft her.“
Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Clermont’s Auge sprühte einen Moment lang im wildesten Hasse, dann aber verneigte er sich höflich; Montigny bewahrte seine kühle vornehme Ruhe, als er den Gruß zurückgab und gelassen sagte:
„Jawohl – wir kennen einander!“
Er wandte sich zu Frau von Nérac, um auch sie zu begrüßen; es geschah mit vollendeter Artigkeit, aber trotzdem mußte etwas darin liegen, was die junge Frau verletzte, denn auch ihr Auge flammte auf, obwohl zugleich das liebenswürdigste Lächeln um ihre Lippen spielte.
„Gewiß kennen wir uns,“ wiederholte sie. „Wir hatten sogar vorgestern das Vergnügen, den Herrn Marquis bei uns zu sehen.“
„Wie, Leon, das hast Du ja gar nicht erwähnt, als ich gestern von Frau von Nérac sprach,“ sagte Hortense unbefangen.
„Ich hatte nicht das Glück, die gnädige Frau zu sehen,“ versetzte Montigny mit einer Kälte, die sogar seiner Schwester auffiel. „Allerdings galt mein Besuch ihrem Bruder, mit dem ich mich über eine Angelegenheit von Wichtigkeit zu verständigen wünschte. Sie haben meine Bitte doch nicht vergessen, Herr von Clermont?“
Die Hand Henri’s vergrub sich krampfhaft in die Polster des Sessels, an dem er stand, aber er erwiderte anscheinend ruhig:
„Nein, Herr Marquis – solche Dinge vergißt man nicht.“
„Das ist mir lieb. Ich darf also darauf rechnen, daß die Sache in der besprochenen Weise erledigt wird. – Darf ich Dich bitten, Hortense? Man geht soeben zum Büffett.“
Er bot seiner Schwester den Arm, verneigte sich leicht gegen Frau von Nérac und führte die Gräfin fort. Als sie das Zimmer verließen, beugte sich Henri zu der jungen Frau nieder und sagte in einem Flüstertöne, dem man die heftige Erregung anhörte:
„Was fällt Dir ein, Heloise? Du weißt es ja, weßhalb Montigny kam, Du hast ja im Nebenzimmer die ganze Unterredung mit angehört; wie konntest Du es wagen, das zu erwähnen!“
Die Lippen Heloisen’s kräuselten sich verächtlich, aber auch ihre Stimme sank zum Flüstern herab, als sie erwiderte:
„Du scheinst diesen Montigny sehr zu fürchten.“
„Und Du bist tollkühn genug, ihn zu reizen. Ich dächte, Du hättest seine Worte so gut verstanden wie ich, und Du kennst seine Drohungen –“
„Die er nicht ausführen wird.“
Henri warf einen Blick umher, das Zimmer war leer geworden, Alles brach zum Büffett auf. Trotzdem behielt er den gedämpften Ton bei, als er weiter sprach:
„Vergißt Du, daß wir in seinen Händen sind? Er braucht in der That nur ein Wort zu sprechen –“
„Er darf es aber nicht sprechen; es könnte ihm theuer zu stehen kommen. Wenn man uns preisgiebt, giebt man sich selber preis und enthüllt Dinge, die geheim zu halten man alle Ursache hat. Du bist ein Thor, Henri, Dich durch solche Drohungen schrecken zu lassen. Montigny muß schweigen, er setzt seine eigene Stellung aufs Spiel, wenn er die unserige angreift. Man würde ihm eine derartige Enthüllung nie vergeben.“
„Gleichviel, so kann er uns beim Gesandten gefährlich werden und dort unsere Stellung untergraben, sie ist ohnehin unsicher genug. Wir müssen wenigstens scheinbar nachgeben und vorläufig auf die Besuche Raoul’s verzichten.“
„Glaubst Du, daß er darauf verzichten wird?“ fragte Heloise mit leisem Hohne.
„Das steht bei Dir. Du brauchst nur eine Scene herbeizuführen, die ihn auf einige Zeit fern hält, und Du wirst das thun.“
„Auf Befehl des Herrn von Montigny – nein!“
„Heloise, nimm Vernunft an! Du mußt hier Deine persönliche Empfindlichkeit unterordnen, ich gebe Dir das Beispiel dazu.“
„Ja, nur allzusehr! Ich hätte mir trotz alledem das nicht sagen lassen, was Montigny Dir sagte und was Du – hinnahmst.“
„Glaubst Du, daß es ihm geschenkt ist?“ fragte Clermont finster. „Ich warte meine Zeit ab. Wir werden noch abrechnen mit einander. – Doch jetzt komm zur Gesellschaft; es fällt auf, wenn wir uns so isoliren. Und noch eins! Der junge Wehlau wird Dir seinen Adoptivbruder vorstellen, den Hauptmann Rodenberg.“
„So?“ sagte Heloise gleichgültig, indem sie sich erhob und den Arm ihres Bruders nahm, der mit Betonung hinzusetzte:
„Vom Generalstab!“
„Ah so!“
„Sieh zu, daß Du ihn bestimmst, Wehlau zu begleiten, wenn dieser zu uns kommt – ich rechne auf Dich, Heloise.“
Die Geschwister traten Arm in Arm in den Büffettsaal, wo jetzt die ganze Gesellschaft versammelt war.
Blutarmuth und Bleichsucht.
Bleiche Hautfarbe, blasse Lippen, eingesunkene, oft blaugeränderte Augen, schlaffe Haltung und meist kraftlose, immer wenig ausdauernde Bewegungen, die bald von Herzklopfen und Kurzathmigkeit begleitet oder gefolgt sind – diese Erscheinungen gelten mit Recht als Zeichen, daß das Blut, jener „besondere Saft“, der Wangen und Lippen färbt, entweder nicht in genügender Menge oder nicht in guter Beschaffenheit vorhanden ist.
Schon weniger Geübte vermögen vielfach an dem aus der Ader gelassenen Blute die gute oder mangelhafte Zusammensetzung desselben zu erkennen. Das Blut besteht bekanntlich aus einer Auflösung eiweißartiger Stoffe in Salzwasser, in welcher zahlreiche weiße Kügelchen und noch viel größere Mengen von rothen Scheibchen schwimmen. In dem aus der Ader gelassenen Blut werden diese Körperchen von einem gerinnenden Stoffe (dem Faserstoff) eingeschlossen und bilden mit ihm den Blutkuchen, der in dem gelblichen Blutwasser schwimmt.
Bei blutarmen Menschen ist nun der Blutkuchen kleiner, das Blutwasser dünner und weniger klebrig als bei gesunden, und was der Augenschein lehrt, das bestätigt die chemische und mikroskopische Untersuchung, daß nämlich in der That die eiweißartigen gelösten Stoffe und die rothen Blutkörperchen eine mehr oder weniger große Verminderung erfahren haben. Dieser fehlerhafte Zustand des Blutes ist von großer Bedeutung für den ganzen Körper und sein Wohlbefinden. Denn aus den Eiweißstoffen des Blutwassers beziehen alle Körpertheile das Material für ihre Ernährung, für ihr Wachsthum und ihre Leistungsfähigkeit im Körperhaushalte; die rothen Blutkörperchen aber bringen ihnen den in den Lungen aufgenommenen Sauerstoff, der für ihre Ernährung, ihr Wachsthum, ihre Kraftleistungen sowie für die Wärmebildung ganz unentbehrlich ist. Endlich ist die normale Füllung der Adern mit Blut nothwendig, um die verbrauchten Stoffe aus den Organen wegzuführen und zu den Ausscheidungswerkzeugen hinzutragen.
Der Bleichsucht liegen ähnliche Mängel zu Grunde, wie der Blutarmuth. Auch hier ist in der Regel die Menge des Blutes, stets aber und ganz besonders die Zahl der rothen Blutkörperchen vermindert; auch führen die letzteren weniger von dem rothen Stoffe, welcher den Sauerstoff aus den Lungen in die Organe trägt. Die Eiweißstoffe des Blutwassers finden sich dagegen in normaler Menge, manchmal sogar vermehrt.
[691] Aus diesen feststehenden Thatsachen erklären sich alle Erscheinungen der Blutarmuth und der Bleichsucht. Mangelhaftes Wachsthum und schwache Körperkräfte neben geringer Ausdauer kommen beiden zu: Blutarme sind oder werden in kurzer Zeit mager; Bleichsüchtige können, entsprechend dem reicheren Eiweißgehalt ihres Blutes, ziemlich wohlgenährt und sogar fettreich sein – beide aber entwickeln wenig Wärme und sind deßhalb zum Frieren geneigt und sehr empfindlich gegen Wärmeverluste. Ihre Muskelkräfte sind schwach und von geringer Ausdauer; werden die Kranken durch irgend eine Erregung (Angst, Zorn, Freude, Tanzlust) zu stärkeren Leistungen angespornt, so folgt auf dieselbe um so größere Ermattung und oft langdauernde Erschöpfung. Die geringe Füllung der Adern und die schwächere Färbung ihres Inhalts bedingen die blasse oder bleiche Färbung der Haut und der sichtbaren Schleimhäute. Treibt eine stärkere Erregung durch raschere und kräftigere Herzschläge stärkere Blutwellen in die Adern, so kehren Farbe und Glanz zurück und können bei zarter Haut und während der Dauer der Erregung einen trügerischen Schein blühender Gesundheit erwecken. Aber dieser Schein geht allemal rasch vorüber; Herzklopfen und Athemnoth mahnen die Kranken, daß die Anstrengungen ihre Kräfte übersteigen; wieder eingetretene Blässe, Erschlaffung und selbst Ohnmachten zeigen, daß die im Blute und den Organen vorräthigen Spannkräfte schnell verbraucht sind.
Auch das Gehirn und die Nerven sind bei diesen Kranken wohl für kurze Zeit ziemlicher Leistungen fähig, ermüden aber schnell und erholen sich langsam. Beim Lernen, beim Anhören und Ausüben der Musik, bei scharfem Denken und anderer Geistesarbeit stellt sich nach kurzer Erregung große Abspannung ein, die sich bald durch aufgeregte oder weinerliche Stimmung, bald durch Schlaflosigkeit, oft durch Kopfschmerzen und Todesmattigkeit zu erkennen giebt. Die auf dem Blutmangel beruhende schlechte Ernährung des gesammten Nervensystems äußert sich oft durch Schmerzen in den verschiedensten Körpertheilen, durch Ohrensausen, Verdunkelung des Gesichts, durch traumartige Ideenflucht und sogar Delirien, durch unstäte Muskelzuckungen und Krämpfe, wie Veitstanz und Hysterie mit fallsuchtartigen Zufällen, durch Verstimmungen des Gemüths und der Seelenthätigkeit, die zu förmlichen Geistesstörungen führen können.
Zu diesen Symptomen gesellen sich ferner Störungen der Verdauung. Die Kranken empfinden einen förmlichen Heißhunger, der sich plötzlich einstellt und ein gesteigertes Nahrungsbedürfniß anzeigt. Aber dieses kann in der Regel nicht befriedigt werden, denn bald darauf tritt das Gefühl der Uebersättigung ein. Verdauungsbeschwerden, Appetitlosigkeit, Widerwillen gegen kräftige Nahrung und sonderbare Gelüste nach sauren, scharfen, pikanten Speisen verrathen eine krankhafte Schwäche der Verdauungsorgane. Der Mangel an rothen Blutkörperchen verhindert endlich die genügende Aufnahme des belebenden Sauerstoffs.
Aus diesen Gründen ist die Stärkung der Kranken durch zweckmäßige Ernährung mit großen Schwierigkeiten verbunden und die Aussicht, auf natürlichem Wege zur Genesung zu gelangen, äußerst gering. Die Krankheit erschöpft sich nicht wie manche andere, sondern trägt in sich selbst die Ursachen ihrer Verschlimmerung. Außerdem sind die Blutarmen und Bleichsüchtigen wegen ihrer geringeren Widerstandskraft gegen schädliche Einflüsse vielen andern Krankheiten häufiger und mit größerer Gefahr ausgesetzt, als rüstige Menschen; und endlich verstecken sich oft unter dem Bilde der Blutarmuth und Bleichsucht die ersten Anfänge verderblicher Krankheiten.
Wir sehen ein Kind im ersten oder zweiten Lebensjahr vor uns, das vielleicht von Geburt an etwas schwächlich war, weil es von einer blutarmen Mutter herstammt, oder das erst schwächlich geworden ist, weil es aus der Mutterbrust keine kräftige Nahrung bekommen hat oder mit eiweißarmen Nahrungsmitteln gefüttert ist. Die Mehlsuppen, auch die aus den besten Kindermehlen bereiteten, die mit Zucker eingedickte Milch und sogar gute Kuhmilch liefern sämmtlich viel weniger Eiweißstoffe als gute Muttermilch. Kein Wunder also, daß Säuglinge, die aus diesen Nahrungsmitteln ihr Blut bilden und ihren Körper aufbauen sollen, schwächlich werden, daß Blässe und Magerkeit so wie geringes Wachsthum diese Kinder kennzeichnen. Die schwachen und spärlichen Verdauungssäfte sind nicht im Stande, die gebotenen Nahrungsstoffe ordentlich zu verdauen: theils gehen dieselben als weiße Klumpen unverdaut ab, theils bilden sich aus ihnen ungehörige Zersetzungen, die den Darm reizen und nur eines geringen Anstoßes, etwa beginnender Säurebildung in der Nahrung, bedürfen, um in verderbliche Durchfälle, oft mit Erbrechen verbunden, überzugehen. Rasche, bis zu den äußersten Graden zunehmende Blässe und Abmagernng kennzeichnen die Blutarmuth, welche nun ihrerseits wieder Unruhe, Geschrei, Schlaflosigkeit, Zuckungen und Krämpfe herbeiführt, bis der Tod den Leiden ein Ende macht. Viele von diesen schlechtgenährten Kindern erliegen nicht gerade der Blutarmuth und erschöpfenden Durchfällen, sondern einer andern Krankheit, namentlich einer Lungenentzündung, deren Ursachen und Wirkungen sie weniger zu widerstehen vermögen, als blutreiche, kräftige Kinder.
Oder ein Kind in den Schuljahren wird blaß und schlaff. Die Lehrer klagen über Unaufmerksamkeit; die häuslichen Arbeiten gerathen nicht so gut wie früher, obgleich der Schüler länger darüber hockt; auch zu häuslichen Beschäftigungen, zur Bewegung im Freien, zum Turnen und Spielen schwindet die Neigung. Das Kind sitzt oder liegt müßig umher, oder holt längst vergessene Spiele und Geschichten wieder hervor, mit denen es ohne Körper- und Geistesanstrengung die Zeit verbringt. Auch dieses Kind ist blutarm, und die Gründe seiner Erkrankung sind leicht zu finden. Das viele Sitzen in eingeschlossener, oft recht schlechter Luft in der Schule und zu Hause und die Anstrengungen der Schule, womöglich durch Privatstunden und vorzeitigen Musikunterricht gesteigert, kommen zunächst in Betracht. Oft auch untergraben die Gesundheit der Schuljugend gesellige Vergnügungen und Zerstreuungen, wie Tanzgesellschaften, Theater und Koncerte, wodurch Nerven und Hirn vollends erschöpft werden; endlich gesellt sich zu diesen schädlichen Einflüssen Mangel an Schlaf durch Spätzubettgehen, dumpfe ungelüftete Schlafstuben!
Mehr oder weniger rasch sich entwickelnde Blutarmuth, in den Entwickelungsjahren bei jungen Mädchen auch die eigentliche Bleichsucht, sind die nächsten Folgen dieser verkehrten Lebensweise, aus denen dann weiter mancherlei schon oben angedeutete krankhafte Zustände und Krankheiten sich herausbilden können. Diese Gefahren sind besonders groß in den ersten Schuljahren, vorzüglich wenn die Kinder zu früh, mit noch unkräftigem Körper und Geist in die Schule geschickt werden; ferner in den Jahren des raschen Wachsthums, wo die gesteigerten Anforderungen der Schule mit den ebenfalls gesteigerten Ansprüchen des Körpers in verhängnißvollen Widerstreit gerathen; und endlich in den Zeiten der Schulprüfungen, wo die Vorbereitungsarbeiten in Verbindung mit Angst und Sorge oder mit aufreibendem Ehrgeiz auf Kosten der Erholung durch Bewegung und Spiele im Freien, und nur zu oft auch auf Kosten des Schlafes, die Kräfte verzehren.
Zu den häufigsten Folgen dieser Blutarmuth der Heranwachsenden gehören mangelhafte Entwicklung der Knochen und Muskeln, wodurch Haltungsfehler, Verbiegungen des Rückgrats und der Rippen (Schiefheit, hohe Schulter und Hüfte) und Verkümmerung der Brustweitung entstehen. Und diese Erscheinungen sind nicht bloß Schönheitsfehler, sondern oft verderblich für die ganze körperliche und geistige Entwickelung, denn durch sie wird die Ausbildung zur Vollkraft gehemmt oder ausgeschlossen und sehr häufig der Lungenschwindsucht die Stätte bereitet. In dem durch schwaches Wachsthum der Rippen, besonders der oberen, flach und eng bleibenden Brustkasten können die Lungen sich nicht gehörig entwickeln und durch freie und tiefe Athemzüge sich ordentlich ausdehnen; die Lungenspitzen bleiben oder werden vor Allem schwach und welk und gewähren den Tuberkelbacillen, jenen zerstörenden Keimen der Schwindsucht, Sitz und Boden für ihr verderbliches Werk. Verfallen in Folge irgend einer äußern Ursache solche blutarme Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen in eine heftige Krankheit, so nehmen jene Schwächen und Fehler in der Regel einen rascheren und schlechteren Verlauf, und auch die Krankheiten selbst pflegen schlimmer und gefährlicher zu werden, als bei vollkräftigen, blutreichen Personen.
Eine recht häufige und böse Folge der Blutarmuth und Bleichsucht ist ferner das aus mangelhafter Bewegung des Blutes in kleinen Aederchen der Magenschleimhaut hervorgehende runde Magengeschwür, welches wegen seiner anfangs unbedeutenden oder wechselnden Erscheinungen nur zu oft für Magenkatarrh oder Magenkrampf gehalten wird, bis plötzlich eine lebensgefährliche Blutung den wahren Stand der Dinge enthüllt. Aehnliche Stockungen kommen bei Blutarmen wegen der Herzschwäche, die das Blut nicht überall in Fluß zu halten vermag, zuweilen auch in anderen Organen [692] vor, z. B. im Gehirn. Die Folgen derselben können manchmal so schlimm werden, daß benachbarte Gefäße bersten und hierdurch die als Schlagfluß bekannten Lähmungen und Bewußtseinsstörungen hervorgerufen werden.
Die Blutarmuth und noch mehr die Bleichsucht ist allerdings vorzugsweise eine Krankheit der jüngeren Jahre, besonders der Jahre des Wachsthums und der Entwickelung, aber sie verschont kein Lebensalter, kraft der mannigfaltigen Ursachen, welche ihre Entstehung begünstigen.
Die Blutarmuth kann angeerbt und angeboren, in mangelhafter Ausstattung des Kindes an Blut und blutbildenden Organen begründet sein. Oder sie ist Folge mangelhafter Nahrung und zu reichlicher Säfteverluste, übermäßiger Anstrengung des Körpers und Geistes, fieberhafter und anderer säfteverzehrender Krankheiten.
Mängel der Nahrung sind besonders für die Kindheit und Jugend von Bedeutung, wo ja der Körper nicht bloß auf seinem Bestande erhalten werden, sondern auch wachsen soll; und da das Wachsthum nur durch Anlagerung eiweißartiger Stoffe geschieht, die aus dem Blute entnommen werden, so ist Mangel der Nahrung an leicht verdaulichem Eiweiß für die Jahre des Wachsthums besonders verderblich. Mehlbrei und Mehlsuppen, Kartoffeln und selbst Brot können dem Bedarfe nicht genügen: dafür sind in den ersten Jahren hauptsächlich gute Milch, später Eier und Fleischspeisen unentbehrlich. Daneben sind allerdings auch leichtverdauliche Fette (Rahm, Butter) und Kohlehydrate (Zucker und Mehlstoffe) zur Bildung von Wärme und Bewegungskräften nothwendig.
Für eine gute Ernährung genügt es aber nicht, daß dem Magen gute und reichliche Nahrung zugeführt werde: die Nahrungsstoffe müssen auch verdaut, in Blut und Organbestandtheile verwandelt werden. Dazu sind Hautpflege und Körperbewegung unerläßlich, denn nur die thätigen Organe ziehen Nahrungsstoffe an und verleiben sie sich ein. Nur muß das Maß der Bewegung den Kräften und der Ernährung entsprechen. Mäßige Arbeit und genügende Ruhe, um die Ermüdung wieder auszugleichen, sind förderlich; Uebermaß der Arbeit und Mangel an Ruhe verzehren die Kräfte, das Blut und die Organe. Das ist wieder vorzugsweise für die heranwachsende Jugend und andererseits für das höhere Alter zu beachten.
Luft und Licht sind zum Gedeihen des Menschen nicht weniger nothwendig, als für die höheren Pflanzen und Thiere. Keller- und Hofwohnungen, enge Straßen, dumpfige Wohn- und Schlafzimmer (Alkoven) hindern die normale Bildung von Blut und Organen, und ebenso förderlich für Blutarmuth sind hohe Hitze- und Kältegrade: eine Mahnung, auch in Wohnung und Kleidung beides zu meiden, besonders für zarte Körper in früher Jugend und im höheren Greisenalter.
Die Verhütung sowohl wie die Heilung der Blutarmuth und Bleichsucht fordert demnach zunächst die Vermeidung ihrer Ursachen: also Vermeidung und rasche Stillung aller Blut- und Säfteverluste, frühzeitig richtige Behandlung und Pflege in Krankheiten, Schonung der Kräfte, Vermeidung schlechter Luft, sowie großer Wärme und Kälte; sodann Beförderung der Blutbildung durch gute, den Verdauungskräften angepaßte Nahrung, durch Luft und Licht, durch Aufenthalt und genügende Bewegung im Freien. Körperliche und geistige Arbeiten müssen den Kräften angepaßt werden; für Ruhe und Erholungspausen, zweckmäßige Verwendung der Sonntage und Ferien (Sommerfrischen) muß gesorgt werden. Waschen des Körpers, warme oder kühle Abreibungen und Bäder, Gymnastik und Massage sind sehr förderlich für die Blutbereitung und die Ausscheidung der verbrauchten Körperbestandtheile, müssen aber genau dem Kräftezustande angemessen und deßhalb ärztlich angeordnet und überwacht werden. Ebenso sind Arzneimittel nur vom Arzte zu verordnen, was namentlich auch für die Stahl- und Eisenmittel gilt, deren unpassende Verwendung oft Schaden stiftet, statt zu nützen. Ohnehin wird jeder, der die mannigfachen Ursachen und Erscheinungsformen dieser Krankheiten sich vergegenwärtigt, auch für deren diätetische Behandlung sorgsamen ärztlichen Beirathes nicht entbehren wollen.
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Die Firma H. Gruson in Buckau-Magdeburg, deren Panzerthürme sich eines Weltrufes erfreuen, beschenkte die militärische Welt soeben mit einem ganz eigenartigen Vertheidigungmittel, von welchem die nachstehenden Abbildungen eine klare Anschauung geben. Wie unseren Lesern bekannt, beruht die Kampfesweise der Neuzeit zum guten Theil auf dem raschen Aufwerfen von Schützengräben, von welchen aus die angreifende oder sich vertheidigende Infanterie möglichst gedeckt ihr Feuer auf den Feind richtet. Die fahrbare Panzerlafette soll nun dieses Gewehrfeuer, wenn nicht ganz ersetzen, so doch wesentlich unterstützen. Diese besteht (Abbildung 1) aus einem eisernen Cylinder, welcher von einer drehbaren flachen Kuppel gekrönt ist. Die Kuppel aber hat eine Schießscharte, aus welcher die Mündung eines Revolvergeschützes hervorragt, das heißt eines Geschützes, welches sich selbst immer wieder von Neuem ladet und mit unglaublicher Geschwindigkeit einen Hagel von ziemlich großen Kugeln abfeuert. In der Kuppel sitzt ein Mann, dem eine kleine, auf Abbildung 2 sichtbare Thür den Eintritt in die freilich sehr enge und unbequeme Behausung gewährt. Die Kuppel und das Geschütz lassen sich nach allen Richtungen hin drehen.
Das Eigenartigste an der Sache ist jedoch, daß der ganze Thurm,
der äußerlich an eine Wassertonne erinnert, auf zwei Rädern ruht und
somit in den Schützengraben gefahren werden kann, wo er in die Erdaufschüttung
eingelassen wird, damit er möglichst unsichtbar bleibt und dem
Feuer des Feindes eine möglichst geringe Fläche bietet. Erweist sich die
Stellung als unhaltbar, oder will man die Schützenlinie vorschieben, so
werden die Panzerthürme einfach weiter gefahren.
G. van Muyden.
[693]
Was will das werden?
(Schluß.)
Theure Freundin!“ lautete der unvollständige Brief Maria’s, welchen mir meine Mutter soeben am Bahnhof übergeben hatte. „Ich schreibe zwei Stunden nach meiner Ankunft hier in aller Eile, damit Ihr morgen in X. die versprochene Nachricht erhaltet. Auch muß ich, schreibend, mir die Qual der Ungewißheit zu erleichtern suchen, zu der ich verurtheilt bin. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Gerade, als ich ankam, sollte zu einem letzten entscheidenden Versuch geschritten werden, die Kugel zu finden.
Die Operation hat eine Stunde gedauert.
Sie haben die Kugel gefunden, aber seine Schwäche ist zu groß; ich darf nicht zu ihm – wohl nicht vor morgen früh, wenn er es überlebt – noch ist nicht alle Hoffnung verloren – im anderen Falle will man mich rufen – man hat es mir versprochen. Eben ging sein Freund, der junge Assistenzarzt, von mir. Er war bei der Operation und hat mir auch sonst Alles erzählt, wie sie hierher gekommen sind. Ihr werdet es wissen wollen. Ich will es niederzuschreiben versuchen.
Das Duell hat in der Nähe von Berlin, in E … stattfinden sollen. Aber sie sind gestört worden – ein Gendarm, glaube ich, der Verdacht geschöpft und sie nicht aus den Augen gelassen hat. Sie sind ein paar Stationen weiter gefahren; darüber ist die Nacht hereingebrochen. In der Nacht ist einer der beiden Zeugen – Ulrich’s – telegraphisch an das Krankenbett seiner Mutter gerufen worden; auch der Arzt, der sie begleitet, hat zurückgemußt.
Man hat beschlossen, weiter zu fahren, und dann gleich bis hierher, wo Ulrich alte Freunde hatte, und es auch an ärztlichem Beistande nicht fehlen würde. Der Andere ist es zufrieden gewesen; es scheint, die Entfernung von Berlin hat auch sonst in seine Pläne gepaßt. An einen schlimmen Ausgang für sich selbst scheint der Mann nicht gedacht zu haben, während Ulrich voller Unruhe gewesen ist und gegen seine Gewohnheit düster und in sich gekehrt. Doktor Born – eben der junge Arzt – sagt freilich, er habe solche Anfälle von Schwermuth auch schon als Student gehabt; er sei bei aller oft wilden Lustigkeit eigentlich immer unzufrieden mit sich selbst gewesen und voll Bitterkeit, so oft er auf seine Familienverhältnisse zu sprechen gekommen ist. Jetzt hat er wiederholt von mir gesprochen, aber immer als von einer Verstorbenen; erst aus dem Telegramm an mich hat Doktor Born zu seinem Erstaunen erfahren, daß ich noch lebe. Er hat es mir nicht ausdrücklich gesagt, aber ich habe es aus seinen Worten herausgehört: Ulrich ist mit sich selbst aufs Tiefste zerfallen gewesen und ist in das Duell gegangen, wie Jemand, der aus einem Labyrinth einen Ausweg sucht.
Es hat auch hier noch ein paar Tage gewährt – ich weiß nicht recht weßhalb – bis das Duell zu Stande kam. Sie haben zu gleicher Zeit geschossen; Doktor Born sagt: Ulrich absichtlich vorbei, während der Andere – nun ja, er war in seinem Recht, wenn man bei dieser mittelalterlichen Verruchtheit von einem Recht sprechen kann – und doch! es ist gräßlich – es schreit zum Himmel! Ein Leben, wie dies, hingeopfert – wofür!
Ich schaudere, zu denken, daß Ulrich, wäre ich nicht in sein Leben getreten – aber ich darf das nicht denken: es ist nicht die Wahrheit. Wenn man sich denn einmal zu diesem Fetischdienst bekennt, wie er es gethan, er, der mindestens ein halbes Dutzend Duelle gehabt hat, sagt Doktor Born, bei denen sein Leben nicht weniger auf dem Spiele stand – nein! ich brauche mich nicht anzuklagen, wenn er sterben sollte. Und bleibt er am Leben – was würde ich ihm sein! Wenn man nur ein Herz hätte! Mein Herz – könnte ich ihn damit retten, erhalten – ich müßt’ es ihm geben; ich würd’ es ihm geben – er hat es ja, hat es immer gehabt – mein Herz! Ich gehöre nicht zu den Frauen, die nur mit ihrem Herzen leben.
Wie die Minuten schleichen! Eine halbe Stunde ist erst vergangen. Der Brief muß fort. Sie sehen, liebste Freundin, es ist nicht meine Schuld, wenn ich Sie in dieser Ungewißheit –“
Es war das letzte Wort auf der vierten Seite des Bogens. Was hatte auf der folgenden gestanden?
Bereits seit einer halben Stunde rollten wir in der Hofequipage, welche meine Mutter nicht ohne ein inneres Widerstreben schließlich angenommen hatte, auf der glatten Straße nach Schloß Bellevue.
Es war ein wundervoller Tag. Der Frühling hatte während der letzten Woche sein buntes Panier siegreich entfaltet, hier, wo in dem von bewaldeten Bergen umschlossenen Thale Alles so gern seiner milden Herrschaft huldigte. Die Hecken an den Wegseiten waren zubelaubt, die Riesenblätterknospen der Kastanien wollten sich bereits öffnen; auf den Feldern nickte fröhlich die junge grüne Saat, über der aus dem blauen, nur mit einzelnen weißen Wölkchen betupften Himmel unsichtbare Lerchen sangen. Zwischen den im Sonnenlicht wie Bronze glänzenden Stämmen des Buchenwaldes, dem wir entgegenfuhren, schimmerte unter den noch braunen Kronen das Unterholz im lichten Grün wie flatternde Mädchenkleider.
Ein wundervoller Tag – einer jener Tage, an welchen es dem Menschen – dem jungen zumal – so schwer wird, durch all den Glanz und Schimmer in die dunklen Tiefen zu blicken, aus denen das Leben steigt, in die es wieder versinken wird. Die dunklen Tiefen, in die ich eben noch hatte schauen müssen, als ich den Brief Maria’s las, den ich zu mir gesteckt hatte.
„Du hast mich in Deiner zarten Weise nicht fragen wollen,“ begann meine Mutter, „was mich denn eigentlich zu diesem Besuch veranlaßt hat. Möchtest Du es nicht wissen?“
„Aber, Mutter,“ erwiderte ich, „was kann das Anderes sein, als der so begreifliche Wunsch des Herzogs, Dich wenigstens noch einmal zu sehen: ein Wunsch, den auszusprechen er jetzt den Muth hatte, nachdem er für unsere lieben Gefangenen, die ja in diesem Augenblicke schon auf freien Füßen sind, mit solchem Eifer, mit so rückhaltloser Großmuth eingetreten ist? Ein Wunsch, den zu gewähren Du jetzt nicht umhin konntest, da es die einzige Form war, in welcher er unsern Dank entgegennehmen wollte? Das ist ja Alles so klar. Es bedarf keines Kommentars, wenigstens nicht für mich.“
„Und Du findest keinerlei Widersprüche in dem Text?“
„Wie meinst Du das? Ich darf es jetzt wohl sagen: es hat mich ein wenig gekränkt, daß Du in dieser ganzen Angelegenheit meiner Mitwirkung so völlig entrathen mochtest.“
„Nicht so völlig,“ sagte meine Mutter. „Denn das Beste, die Hauptsache, auf die eigentlich Alles ankam, verdanken wir doch Dir: die Sicherheit, mit der Du die Vermuthung aussprachst, daß Weißfisch das Aktenstück gestohlen habe. Stand dies einmal fest, so ergab sich der Plan, den ich darauf hin entwarf und den ich mit so viel Glück bis zu Ende verfolgt habe, von selbst. Wir haben uns, wie Du Dich erinnerst, den Kopf zerbrochen, was den Menschen zu dem Diebstahl bewogen haben könnte. Das Räthsel wird einfach durch die Thatsache gelöst, daß er, ohne jemals aufgehört zu haben, ein Agent des Herzogs zu sein, zugleich ein viel beschäftigter und gut bezahlter Spion unsrer Polizei gewesen ist.“
Ich fühlte, daß ich bei dieser Enthüllung, die meinem Mangel an Menschenkenntniß ein so niederdrückendes Zeugniß ausstellte, ein klägliches Gesicht machte. Aber die gütige Mutter schien es nicht zu bemerken, sondern fuhr ruhig fort:
„Du begreifst, wie bequem er es in Folge dessen hatte, Dir gegenüber zuerst den Bettler, dann den uneigennützigen Diener zu spielen. Für ihn nun fielen seine beiden Aufgaben: die öffentliche und die private, gewissermaßen zusammen von dem Augenblicke an, als Du zu dem Oberst gezogen warst. Ueberwachte [694] er Dich auf eigene Hand, so hatte er amtlich den Oberst zu bewachen, den man hartnäckig für den Verfasser jener ersten Broschüre Adalbert’s hielt, ohne natürlich den Beweis dafür liefern zu können. Dem Menschen nun, während er in dem Studirzimmer auf Dich wartete, kam der Gedanke, ob jener Schrank wohl das Beweismaterial, womöglich in Form des Originalmanuskriptes der Broschüre, enthalten möchte. Diebsinstrumente führte er immer bei sich. Er fand nicht, was er suchte, nahm aber in Ermanglung dessen das Aktenstück, das mit ,geheim‘ bezeichnet war, schon damals eingestandenermaßen in der Absicht, dasselbe an einem anderen Orte auftauchen zu lassen, um den Oberst, den er als Deinen Freund und Beschützer grimmig haßte, zu verderben, oder ihm doch einfach durch das Fehlen eines wichtigen Papiers eine schwerste Verlegenheit zu bereiten. Das Letztere trat ja nun zu des Schurken Freude alsbald ein; zu dem Hauptschlag haben aber wir ihm erst die rechte Gelegenheit geboten.“
„Ich verstehe Dich nicht,“ sagte ich.
„Es ist auch nicht so einfach,“ entgegnete meine Mutter, „und nur verständlich, wenn Du im Auge behältst, daß der entsetzliche Mensch zweien Herren zu dienen hatte, deren Angelegenheiten ursprünglich weit voneinander lagen und nur in dem Kopfe des in seiner Weise genialen Schurken zu einer zusammenwuchsen. Das geschah aber, als er – Dank unserer Unvorsichtigkeit – den von ihm längst vermutheten Aufenthalt Pahlen’s und Adele’s in Berlin endlich entdeckt hatte. Dennoch zögerte er auch jetzt noch mit der Ausführung des Bubenstücks in der Hoffnung, wir – Du und ich – würden uns besinnen, das heißt: uns mit dem Herzog versöhnen, in welche Versöhnung dann auch Pahlen und Adele eingeschlossen sein sollten. Als nun wir und ebenso Dein Schwager, dem er sich gleicherweise als Vermittler aufgedrängt, seine Dienste hartnäckig zurückwiesen, und auch die letzte achttägige Frist, die er uns gestellt hatte, abgelaufen war, ging er ans Werk. Indem er Pahlen von Stund an auf Schritt und Tritt heimlich folgte, konnten ihm die Zusammenkünfte desselben mit dem Onkel und mit Adalbert nicht verborgen bleiben. Es handelte sich da um eine Verschwörung, oder es brauchte doch nur der Behörde der Beweis geführt zu werden, daß es sich um eine solche handle, welcher Beweis geführt war, sobald man das vermißte, viel gesuchte Aktenstück bei – Pahlen fand. Natürlich mußte dann die Behörde einschreiten und die Verschwörer verhaften. Der Schlag mußte uns ins Herz treffen, zumal Adele, die dann, von ihrem Gatten getrennt, wohl Vernunft annehmen würde. Wie aber das Aktenstück unter Pahlen’s Papiere schmuggeln? Das vermochte der Mann bei aller seiner Gewandtheit nicht ohne einen Helfershelfer, den er dann schließlich an – August fand.“
„Um Himmelswillen!“ rief ich.
„Du siehst,“ sagte meine Mutter, „ich konnte Dich wirklich nicht in dies traurig schmutzige Spiel blicken lassen; überdies hatte ich August feierlich versprochen, ihm Dir gegenüber die tiefe Beschämung zu ersparen. Es scheint unbegreiflich, wie der sonst so Kluge sich von dem Schurken so nasführen ließ, wenn man vergißt, daß Fanatikern seines Gleichen jedes Mittel recht ist, durch welches sie ihre Sache zu fördern hoffen. Weißfisch hatte ihm aber eingeredet, daß er im Interesse der guten Sache dem Oberst gewisse Papiere entwendet habe, welche von diesem bei seinem Abgange dem Kriegsministerium unterschlagen und, aus Feigheit, unbenutzt gelassen worden seien, während sie in den Händen des entschlossenen Pahlen ein unschätzbares Material abgeben würden. Es handle sich nur darum, die Papiere dem Grafen, der von Allem unterrichtet und mit Allem einverstanden sei, heimlich in die Hände zu spielen. Er selbst könne das nicht, wohl aber August, der ja so zu sagen freien Zutritt zu demselben hatte. August ging in die plumpe Falle. Es war an dem Tage, als Pahlen seit dem frühesten Morgen bei dem Oberst mit Dir arbeitete, Adele draußen bei mir war. August wußte sich durch das Dienstmädchen, das ihn längst kannte, Eingang in Pahlen’s Wohnung und Arbeitszimmer zu verschaffen und das Bündel dort unter die anderen Papiere zu bringen. Am Nachmittage meldete Weißfisch, daß er den Verbleib des famosen Aktenstückes in Erfahrung gebracht habe. Natürlich förderte eine sofort angeordnete Haussuchung das Unglücksstück zu Tage. Dann – am Abend – erfolgte die Verhaftung.“
„Aber wie bist Du zur Kenntniß von dem Allen gekommen, die Du doch nur von August haben kannst?“ fragte ich.
„Allerdings von ihm,“ erwiderte meine Mutter. „Die Verhaftung Pahlen’s, der Tod Adalbert’s, die beide seine vergötterten Helden waren, hatten ihn in die äußerste Bestürzung versetzt. Gemeinschaftliche Noth führt ja die Menschen zusammen. So kam er zu mir, ob ich das ihm Unfaßbare vielleicht erklären, ob ich Rath, Hilfe schaffen könne. Er gerieth in furchtbare Wuth, als ihm aus unserem zuerst vorsichtigen, dann immer offeneren Hin- und Widerreden zuletzt völlig klar wurde, daß Weißfisch, den er für den Treuesten der Treuen gehalten, zum scheußlichsten Verräther an der Partei geworden sei und er selbst, ohne es zu ahnen, an der Büberei den schlimmsten Antheil genommen. Ich weiß nicht, welche Mittel er und seine Partei anwandten, den Schurken zu zwingen, eine vollständige Beichte seines Verrathes abzulegen und schriftlich aufzusetzen. Das Messer mag ihm dabei wohl sehr nahe an der Kehle gestanden haben – genug: zwei Tage später war das Schriftstück in meinen Händen. Ich ließ, während ich das Original behielt, zwei Kopien davon machen, deren eine ich an den Herzog schickte, die andere an den Minister.“
„Aber,“ rief ich, „es ist doch ganz unmöglich, daß der Herzog von den Schurkenstreichen des Menschen unterrichtet gewesen ist!“
„Ich habe das nicht behauptet,“ erwiderte meine Mutter. „Nur, daß leider geheime Agenten von Fürsten in solchen Fällen Instruktionen zu haben pflegen, die man – je nachdem – so oder so auslegen kann. Worauf es mir ankam, war, den Herzog zu der Erklärung, dem Minister gegenüber, zu bestimmen, daß Weißfisch allerdings noch immer eine Pension von ihm bezogen habe und er den Menschen wohl für fähig halte, dergleichen Gräuelthaten zu verüben, in mißverständlichem Eifer, seinem Herrn zu dienen.“
„Aber,“ sagte ich, „dabei mußten doch Dinge zur Sprache kommen, die der Herzog um keinen Preis in die Oeffentlichkeit gelangen lassen durfte.“
„Eben darauf rechnete ich,“ entgegnete meine Mutter. „Aber auch der Regierung war viel daran gelegen, daß die Angelegenheit, bei der sie sich – zu ihrer Ehre muß ich es sagen – von einem Schurken auf das Gröblichste hatte düpiren lassen, geheim blieb. Der Minister, mit dem ich wiederholte Besprechungen über die Angelegenheit gehabt habe, war völlig meiner Meinung. Die Sache müsse durchaus im Kabinetswege ihre Erledigung finden. Er sei sicher, dabei auf keinerlei Hinderniß zu stoßen, vorausgesetzt, daß der Herzog seinen Antrag befürworte.“
„Nun, und er?“ fragte ich gespannt. „Er kann sich doch unmöglich dessen geweigert haben?“
„Du vergißt,“ erwiderte meine Mutter, „daß er durch den Widerstand, auf den er bei uns gestoßen, schwer verletzt und gekränkt war. Dazu die Aussicht, wie sie seiner sanguinischen Phantasie wenigstens erschienen sein mag, jetzt Pahlen und Adelen die Bedingungen diktiren zu können, unter denen sie fortan zu leben hatten. So erkläre ich mir wenigstens den sonst unbegreiflichen Widerstand, auf welchen ich bei ihm stieß, und den zu brechen, ich gestehe es, mir – nicht ganz leicht geworden ist.“
Die Mutter schwieg. Ein unheimliches Licht war in meiner Seele aufgedämmert, das ich gern zur vollen Klarheit gebracht hätte. Aber wie die Mutter in dieser ganzen Angelegenheit aus Gründen, die ich jetzt wohl verstand, allein gehandelt hatte – mit jener Klugheit, Umsicht, Energie und jenem vor nichts zurückschreckenden Muth, die ihre bewundernswerthen Eigenschaften waren – so ziemte es mir, nicht mehr wissen zu wollen, als sie mir mitzutheilen für gut fand. Einiges deutete ich mir freilich jetzt ohne Schwierigkeit: die plötzliche Rückkehr meines Bruders August nach Amerika, durch die mir eine rechte Last von der Seele genommen war; die hartnäckige Weigerung Adele’s, mit uns der Einladung des Herzogs, die auch an sie ergangen war, zu folgen. War die Intervention desselben zu Pahlen’s Gunsten nicht freie Güte gewesen; hatte er zu derselben, wie ich doch jetzt aus den Andeutungen der Mutter entnahm, gezwungen werden müssen: so konnte die Zusammenkunft zwischen Vater und Tochter nur eine peinliche sein, die sie sich besser gegenseitig ersparten. Aber dann, wenn die Sache zu meinem Kummer so lag, so war ja auch meine Annahme, daß die Mutter diese Reise mit mir unternommen hatte, dem Herzog den ihm schuldigen Dankestribut darzubringen, hinfällig. Man braucht denn doch nicht Jemand zu danken für etwas, was er freiwillig nie gethan haben würde! [695] Und schließlich, welches Mittel hatte meine Mutter gehabt, seinen Willen unter ihren Willen zu beugen?
Und wieder hatte sie in meiner stummen Seele gelesen. Sie begann von Neuem:
„Wenn Jemand den Göttern des Lichts zum Guten nicht folgen will, darf er sich nicht wundern, wenn man, ihn vom Bösen abzuschrecken, Gespenster heraufbeschwört – die Gespenster seiner Vergangenheit. Das mag grausam sein, unedel ist es nicht. Was unedel daran erscheint, fällt auf ihn zurück, der sich freiwillig zum Edlen nicht bekennt. Vielleicht, daß ich Dir später auch dieses Räthsel lösen kann. Für jetzt, denke ich, habe ich meine Absicht erreicht: Dich in eine Stimmung zu bringen, in der Du das letzte Blatt des traurigsten Kapitels Deines Lebens, lesen kannst, ohne eine Rührung, die es nicht verdient.“
Las ich für diesmal in ihrer Seele? Wollte sie, indem sie mich stark machte, sich selbst stark machen zu der Scene, die uns bevorstand in dem Schlosse dort, das jetzt, nachdem wir die Höhen überschritten hatten, in dem breiten Thale vor uns zwischen den noch unbelaubten Massen seiner Parkbäume auftauchte? In dem Schlosse, von dessen höchster Zinne die seidene Fahne wehte, wie an jenem Abend, der die letzte grausige Scene des Dramas meines Hoflebens sah, als ich von der Marmorschwelle floh, nimmer denkend, daß ich dieselbe jemals wieder betreten würde, noch dazu an der Hand meiner Mutter?
Und ich ergriff ihre Hand, die ich mit stürmischen Küssen bedeckte und noch in der meinen hielt, als wir die Rampe hinauffuhren und der Wagen vor dem Portale hielt.
Meine Mutter hatte dem Herzog geschrieben, daß sie vorerst allein von ihm empfangen zu werden wünsche. Ich wußte also, warum der uns durch die Halle voranschreitende Hausmeister, die Thür zu einem der Kabinette öffnend, nur mich mit einer Verbeugung zum Eintreten aufforderte, während er mit einer zweiten Verbeugung zu meiner Mutter sagte: „Hoheit erwartet die gnädige Frau im Marmorsaal.“
In dem Marmorsaal! So hatte er also meine Mutter in demselben Raum empfangen wollen, in welchem sie sich damals zum letzten Mal gesehen hatten! Es war das eine seltsame Wahl, däuchte mir, die eine freundlich ruhige Begegnung von vornherein unmöglich zu machen schien. Oder war das eben die Absicht gewesen? Hatte er gerade an die Vergangenheit anknüpfen und Erinnerungen wecken wollen, von denen er hoffte, daß er sie zu seinen Gunsten verwerthen könne – trotz alledem? Nun, wenn ich es noch nicht gewußt hätte, ich wußte es jetzt: meine Mutter stand seinen Hoffnungen und Wünschen, welche dieselben nun sein mochten, zu hoch; und, wie sie mich zu dieser Begegnung, deren letzter Zweck mir jetzt völlig räthselhaft geworden war, gewappnet hatte, so war sie gewappnet.
Dennoch schritt ich unruhig, ungeduldig in dem langgestreckten Gemach auf und ab, durch dessen einzige große Fensterthür der letzte Abendschein fiel. Es war dieselbe Tageszeit, in welcher ich damals aus dem Walde gekommen, als ich ihm und Adele dort im Park begegnet war. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, war dies sogar dasselbe Gemach, in das Adele, als sie den Herzog und mich auf der Rampe verließ, gegangen, und aus welchem sie hernach herbeieilte, als die Scene zwischen ihm und mir jene lächerliche Wendung nahm, die in so fürchterlicher Tragik enden sollte. Dann aber war der Raum nebenan der Marmorsaal!
Ich kehrte vom Fenster wieder um nach der einzigen Thür, welche die beiden Räume verband. Die weiße vergoldete Thür mußte während der zwei Jahrhunderte, die sie in den Angeln hing, ihre Dichtigkeit eingebüßt haben – ich hörte deutlich nebenan sprechen: die tiefe Stimme des Herzogs, jetzt die wohltönende, klare der Mutter; dann wieder die seine mit einer mühsam unterdrückten Heftigkeit, wie mir schien, die mir das Blut zum Herzen trieb und mich an die Thür bannte, entschlossen, für meine Mutter einzutreten, mochte es dann kommen, wie es wollte. Sie hatte wieder das Wort:
„Noch einmal: Adele ist schuldlos. Mich und mich allein trifft die Verantwortung. Ich habe ihren widerstrebenden Händen diese Waffe entrissen. Ob ich es mußte? Mag Ihr Gewissen Ihnen darauf die Antwort geben! Hier sind die Papiere. Sie sind durch Niemandes Hände sonst gegangen; Hoheit sind und bleiben der patriotische Fürst, auf den auch nicht der Schatten des Verdachtes einer schwachen unpatriotischen Stunde fallen kann. Und nun, Hoheit, da ich mein Versprechen in der von Ihnen ausbedungenen Weise erfüllt habe –“
Der Herzog fiel hier ein mit leiseren Worten, aus denen ich nur meinen Namen herauszuhören glaubte, bevor ich die Thür, an der ich – der Himmel weiß es! – zum unfreiwilligen Lauscher geworden war, verließ und nun wieder nach dem Fenster eilte, gegen das ich die glühende Stirn drückte.
Ich weiß nicht, wie lange ich so gestanden bin. Dann vernahm ich einen Schritt hinter mir. Ich wandte mich – es war der Herzog.
„Noch immer der alte Träumer?“
Seine Stimme hatte dabei leicht gebebt, und so bebte seine Hand, die er mir jetzt reichte. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich erst deutlich sein Gesicht. Es schien mir sehr gealtert; oder hatte nur die Erregung, in welcher er sich so sichtlich befand, ihm diese tiefen Furchen in Stirn und Wangen gezogen und die Augen mit so dunklen Rändern umgeben? Auch mußte ich noch gewachsen sein, oder war seine Haltung nicht mehr die straffe von sonst: ich hatte, als wir einander jetzt mit unsicheren Blicken in die Augen sahen, seine volle Höhe. Er bemerkte es ebenfalls und sagte mit einer bezeichnenden Handbewegung, gezwungen lächelnd: „Sie haben sich dazu gehalten, wahrhaftig! – Der Kaiser ist“ – dabei berührte er leise meinen Arm – „um einen stattlichen Gardisten gekommen. Aber lassen Sie uns zu Ihrer Frau Mutter gehen! Sie erwartet uns.“
Er schritt mir voran – auch sein Schritt war schwerer und doch nicht mehr der alte kräftige – durch die nun offen stehende Thür in den Marmorsaal, wo meine Mutter in der Nähe des großen Tisches mit der prächtigen Mosaikplatte, der ziemlich die Mitte des Raumes einnahm, in einem Fauteuil saß. Ich warf einen hastig prüfenden Blick in ihr Gesicht: es war sehr ernst, fast traurig; aber ohne den leisesten Zug von Befangenheit oder Erregung. Gott sei Dank!
Der Herzog hatte ihr gegenüber wieder seinen Platz eingenommen, während ich zwischen Beiden, aber näher an meiner Mutter, zu sitzen kam. Es schien sich eine gleichgültige Unterhaltung anspinnen zu wollen, wie ich das bei dem Herzoge gewohnt war, bevor er an sein eigentliches Thema kam. Denn das konnte doch wohl schwerlich mein „Thomas Münzer“ sein, von welchem er jetzt zu sprechen begann. Ich hatte auf Lamarque’s Rath das Stück „den Bühnen gegenüber als Manuskript“ drucken lassen; es war dem Herzoge von seinem Intendanten vorgelegt worden. – „Natürlich! wie würde ich denn ein Stück nicht lesen, das zum guten Theil mir gehört – ohne damit der Originalität des Autors zu nahe treten zu wollen, gnädige Frau! Ich weiß nicht, ob Ihnen Lothar erzählt hat, wie wir seiner Zeit das Ganze und jede einzelne Scene durchgesprochen haben, worauf sich denn allerdings meine Mitarbeiterschaft beschränkt. Was freilich nicht ausschließt, daß ich eben Alles selbst geschrieben zu haben glaube, besonders den fünften Akt.“
Ich verbeugte mich, innerlich auf das Peinlichste berührt von dem gesellschaftlich glatten Ton, in welchem er sprach, offenbar nur, um zu sprechen, noch dazu so haltlos unwahre Dinge. Das Stück war ganz nach meinem alten, von ihm völlig verworfenen Plan wiederhergestellt worden, und gerade der fünfte Akt das genaue Gegentheil von dem, worauf er hinausgewollt hatte. Ich wagte nicht, meine Mutter anzusehen, die den Sachverhalt genau kannte.
„Haben Sie etwas Neues unter der Feder?“
Ich nannte den Titel eines Trauerspiels, an welchem ich, während Lamarque den „Münzer“ inscenirte, zu arbeiten begonnen hatte.
„Das ist brav! Nur sich nicht durch die Herren Kritiker abschrecken lassen, von denen neun unter zehn gar keine Meinung haben – man müßte denn die pure Böswilligkeit so nennen, und der Zehnte, der sich etwa einer erfreut, hat wieder nicht den Muth seiner Meinung. Da ist denn freilich unser junger Freund hier von anderem Schlage, und er hat es mir bewiesen!“
[696] Er hatte sich dabei zu meiner Mutter gewandt, über deren ernstes Gesicht der flüchtige Schimmer eines höflichen Lächelns flog.
„In der That!“ sagte sie.
„In der That!“ rief der Herzog. „Sie müssen nämlich wissen, gnädige Frau, daß ich die kleinen lyrischen Allotria, mit denen ich, wie Sie sich vielleicht erinnern, meine paar müßigen Stunden zu vertreiben pflege, habe zusammendrucken lassen – in usum Delphini! Will sagen: um unserem jungen Freunde Gelegenheit zu geben, das kritische Richteramt, welches ich so oft mit freundlicher Grausamkeit gegen ihn übte, auch einmal gegen mich in Anwendung bringen zu können. Ich versichere Sie, daß ich meinen Zweck vollkommen erreichte und er mir darob eine Lektion ertheilte, die ich natürlich mit dem Stirnrunzeln der gekränkten Dichtereitelkeit entgegennahm – wahrlich ein Triumph mimischer Kunst in Anbetracht der herzlichen Freude, die ich empfand, ihn als Kritiker so brav zu finden wie als Dichter. Erinnern Sie sich, Lothar?“
„Wie könnte ich es vergessen haben, Hoheit!“ murmelte ich.
„Die kleine Scene spielte sogar hier in diesem Zimmer,“ fuhr er fort, „das damit zu den gemeinschaftlichen Erinnerungen, welche mir mit Ihrer Frau Mutter auszutauschen vergönnt war, eine weitere hinzugefügt hat.“
Seine Stimme hatte bei dem letzten Worte wieder den erregten Klang von vorhin; ich wußte, daß er jetzt in sein wirkliches Thema eingetreten war.
„Es ist mir ein wahrer Schmerz gewesen,“ fuhr er fort, in demselben Tone, der vergeblich nach Sicherheit rang, „daß gerade diese Erinnerung für Ihre Frau Mutter keine erfreuliche war und sein konnte. Ich gestehe, ich wußte das zum Voraus. Aber es war mir ein Herzensbedürfniß, Ihrer Frau Mutter gerade an dieser Stelle noch einmal zu danken für den Sonnenschein, welchen ihre Freundschaft in das Leben eines einsamen glücklosen Mannes gebracht hat; ihr zu sagen, daß ich auf diese Freundschaft stolz war und bin und immer sein werde, hoffend und bittend, sie möge mir dieselbe nimmer entziehen. Es hat Ihrer Frau Mutter nicht gefallen, die Vorschläge zu genehmigen, welche ich ihr vor einiger Zeit unterbreitete, und deren Tendenz wesentlich dahin ging, mir die Abtragung einer alten Schuld zu ermöglichen; Ihnen aber und mir, lieber Lothar, eine Wiederanknüpfung der herzlichen Beziehungen, die einst zwischen uns bestanden, und die ich ebenfalls zu den wenigen Lichtblicken meines Lebens zähle. Ihre Frau Mutter wird mir nicht zürnen, wenn ich ausspreche, daß die Gründe, welche sie gegen meine Vorschläge geltend gemacht, mich nicht überzeugt haben. Aber Ihre Frau Mutter hat hier zu entscheiden, nicht ich; und ich bescheide mich, wenngleich trauernden Herzens. Müssen wir, die wir das Unglück haben, Fürsten zu sein, uns doch von früh auf bescheiden lernen! Ich hatte Ihre Frau Mutter gebeten, diesen Empfindungen in Ihrer Gegenwart, lieber Lothar, Worte leihen zu dürfen. Indem sie mir die Erlaubniß dazu gewährte, hat sie mir freilich in erster Linie eine Wohlthat erwiesen; aber, ich sollte meinen, auch sich selbst und Ihnen, lieber Lothar – uns Allen eine Stunde bereitet, welche das Geschehene nicht ungeschehen macht, aber uns doch die Kraft giebt, fortan ohne Bitterkeit desselben zu gedenken. Noch einmal, gnädige Frau, ich danke Ihnen!“
Er hatte, sich weit überbeugend, die Hand meiner Mutter ergriffen und an seine Lippen gezogen. Mein Herz krampfte sich zusammen. Wie gut, wie rührend hatte das geklungen! Und doch – fürchterlich, es zu denken! grauenvoll, es sich sagen zu müssen: es waren Worte, Worte – Worte!
Meine Mutter hatte sich erhoben; wir uns mit ihr. Sie war sehr bleich, und während der Herzog nun auch mir zum Abschiede die Hand gab, ruhten ihre schönen Augen auf uns mit einem Ausdruck, der mir durch die Seele schnitt. Es mußte ja sein; aber – mein Gott, sie wäre kein Weib gewesen, wenn sie das entsetzlich Herbe dieser Scheidung für immer nicht grausam empfunden hätte!
Im nächsten Augenblick hatte sie aber auch bereits die volle Herrschaft über sich wieder erlangt.
„Ich habe Hoheit gebeten,“ sagte sie, sich halb zu mir wendend, „uns zu erlauben, die Gastfreundschaft, welche er uns anzubieten die Güte hatte, ausschlagen und sofort zurückkehren zu dürfen. Der kurze Spaziergang durch den Park nach der Mühle, wo der Wagen uns erwartet, wird uns eben nicht aufhalten. Ich habe Hoheit ersucht, uns diesen kleinen Umweg zu verstatten, um ein paar alte Freunde begrüßen zu können, die es mit Recht schwer empfinden würden, gingen wir scheinbar theilnahmlos an ihnen vorüber.“
Auf eine Bewegung, die sie machte, hatte ihr der Herzog den Arm gereicht und führte sie so über den Marmorboden der mittleren der drei mächtigen Fensterthüren zu. Indem ich ihnen langsam folgte, schweiften meine Blicke unwillkürlich durch das weite Gemach, das ganz wie damals vom letzten Abendschein und von dem Licht der Lampen, welche erst jetzt bei tiefer herabsinkender Dämmerung zu wirken begannen, erfüllt war. Die röthlich blitzenden Reflexe von den Kanten der breiten goldenen Rahmen, die Gesichter bärtiger Männer und schöner Frauen, die aus dem dunklen Hintergrunde auf mich herab und mir nachzublicken schienen, als gehörte ich zu ihnen, und sie wollten mich zurückrufen; die hohen Gestalten, die eben noch grau und gleichgültig auf ihren hohen Piedestalen gestanden hatten und jetzt zu gleißen anfingen wie schöne lockende Gespenster – Traum meiner Kindheit, muß ich Dich noch einmal träumen? zum letzten Male? Laß es das letzte Mal sein! Es ist ein schwermüthiger Traum, und wenn ich ihn träume, werden mir die Augen feucht.
Und so durch den Flor, der über meinen Augen hing, sah ich ihn, als er am Fuße der Treppe meiner Mutter noch einmal die Hand geküßt hatte und nun die Stufen wieder hinaufstieg, langsam, vornübergebeugt, als trüge er eine Last, die selbst für seine mächtigen Schultern zu schwer war.
Und ich wußte, die Ahnung täuschte mich nicht: es sollte das letzte Mal sein – ich würde ihn nicht wieder sehen!
Wie wir dahin gekommen sind – ich weiß es nicht. Aber da ist der dunkle Wasserberg, über den weiße Streifen rinnen, und in welchem Etwas, was noch dunkler ist als er, sich unaufhörlich dreht. Und unter uns weg schießt der wirbelnde, schäumende Schwall so mächtig, daß der Steg, auf dem wir stehen, zittert – der schmale Steg, welcher nur eine an den beiden Enden und einmal in der Mitte gestützte Stange zum Geländer hat, über die man sich nur zu lehnen braucht, um mit ihr hinabzustürzen in den siedenden Schwall.
Und wieder halten mich zwei weiche Arme umschlungen, aber nur, um mich an ein klopfendes Herz zu drücken, aus dem ein Weinen bricht, das die mühsam zurückgehaltene Thränenfluth auch in mir entfesselt.
„Hast Du mir wirklich verziehen?“
„Mutter!“
„Auch was ich in meiner Verblendung an dem guten Mann gethan, der Dir tausendfach den Vater ersetzte, der Dich und mich da hinabstieß?“
„Geliebte Mutter!“
Als wir uns Eines aus des Anderen Armen lösten, schien uns eine lichte Klarheit zu umfließen von dem letzten Sonnengolde, das eben am Horizonte machtvoll erglänzte.
Und Hand in Hand schritten wir den beiden alten Leuten entgegen, die einst die Mutter mit ihrem Kinde gerettet hatten und in bescheidener Entfernung, dort am Mühlsteg, der Freunde harrten.
„Ich konnte es Dir gestern nicht sagen. Ich wußte, wie hart es Dich treffen würde, und Du mußtest stark sein. Er würde sich Deine gerötheten Augen anders gedeutet haben; ich gönnte ihm den Triumph nicht. Adieu, lieber Junge! Schäm Dich Deiner Thränen nicht! Aber dann: Kopf in die Höhe und dem Leben muthig die Stirn geboten! Wer weiß, auf welche Proben es uns noch stellt! Ich hoffe, daß ich morgen Abend mit Maria wieder in Berlin bin, falls Adele so lange warten kann. Kann sie es nicht, so telegraphirst Du mir noch heute, und ich komme morgen früh. Noch einmal, adieu!“
Sie hatte mir es in das Fenster hineingesagt; der Zug setzte sich in Bewegung; ich sank in die Ecke des Wagens, den ich, dank der Vermittlung des Bahnhofsinspektors, für mich allein hatte. So konnte ich mich, von Niemand gesehen, ausweinen.
Dann nahm ich das Blatt – jenes letzte fehlende von Maria’s Brief, das mir die Fürsorge der Mutter gestern unterschlagen hatte. Wie voll mußte mein Gemüth gewesen sein von heimlicher
[697][698] Sorge um das, was mir die nächste Stunde bringen werde, daß ich den frommen Betrug nicht sofort durchschaute! Nicht einmal hinterher aus dem Benehmen und den Reden der Mutter merkte, daß da unten Alles entschieden war! Von den beiden Herzen, die ich durchaus hatte vereinigen wollen und schlagen lassen in unlösbarem Liebesbunde, stand das eine still für immer!
Und das andere?
Was es verloren, das wußte wohl Keiner so gut wie ich, und welche götterhafte Seelenstärke sie erfüllte, deren Hand nicht einmal gezittert hatte, als sie diese Zeilen schrieb:
„Ich hatte keine Zeit, eine neue Seite anzufangen. Ich wurde gerufen –
Liebste Freundin, das Schicksal will mich durchaus zur barmherzigen Schwester machen – Ulrich ist seinen Wunden erlegen – das ist der dritte geliebte Todte nun binnen vierzehn Tagen! Nur daß ich ihm doch noch in die brechenden Augen sehen, von seinen erbleichenden Lippen ein letztes Lebewohl vernehmen konnte. Lebe wohl! Das heißt für mich: lebe weiter in Erfüllung der Pflichten, denen Du Dich geweiht hast; bei deren Erfüllung Keiner von Dir verlangen darf, daß Du auch lachen könntest. Eine Gattin muß es können, eine Mutter – die Natur hat mich zu beiden nicht gewollt. Man hat schon Ursache, ihr dankbar zu sein, wenn sie ausnahmsweise einem Menschen mit so sicherer Hand den Weg deutet, den er gehen soll. –
Ich erwarte Sie übermorgen. Sie werden mir gern in diesen schweren Stunden zur Seite stehen. Lothar muß Sie mir so lange lassen. Wählen Sie vorsichtig die Stunde, in welcher Sie es ihm sagen zu dürfen glauben. Ihn wird der Schlag noch härter treffen als mich, weil er ihn so viel weniger vorbereitet trifft als mich, und Hoffnungen in seinem liebevollen Herzen zerstört werden, die ich nie getheilt habe. Möchte es doch die letzte dieser Art von Enttäuschungen sein, die seine weiche Seele zu der Stahlhärte hämmern müssen, welche das Leben von uns fordert! – Auf Wiedersehen übermorgen! {{zr|Maria.“
Ich hatte das Blatt auf die Kniee sinken lassen und saß so, zum Fenster hinausstarrend, an welchem die liebliche Landschaft in bunten Bildern vorüberzog, die ich doch nur mechanisch sah – mit dem äußeren Auge, während vor dem inneren andere Bilder aufstiegen – Bilder längst vergangener Tage, als ich noch nicht wußte, was Frauenliebe war und mein Herz an ihm gehangen hatte mit ach! welcher Zärtlichkeit, welcher Ausschließlichkeit! Mein Gott, wie deutlich ich ihn sah, den stolzen Knaben mit der gelben Löwenmähne und den rollenden blauen Augen, die doch wieder so gut, so treuherzig, so liebevoll blicken konnten! War je ein Mensch geboren, in dem Alles beisammen war, was Einer haben muß, der als ein Ritter ohne Furcht und Tadel durch das Leben gehen soll – so schien er es gewesen zu sein. Und die Furcht war ihm ja auch fremd geblieben, und was von Tadel an ihm haftete, für mich hatte es jetzt des Todes dunkle Welle fortgespült. Und er stand vor mir als das Urbild einer Zeit, deren Ideale faßlicher und deßhalb auch poetischer sind als die der unseren – und von denen wir uns deßhalb so ungern und so mühsam losringen und doch losringen müssen – wie ja auch ich mich blutenden Herzens von dem Zauber, mit dem der Prachtmensch einstmal mein Herz und meine Phantasie gefesselt hielt, losringen mußte und losgerungen hatte.“
Aber war denn nicht mein Leben von frühester Jugend auf ein solches Losringen gewesen: von diesem Wahn? von jener Illusion? hier von einer göttlichen Hoheit? da von einer irdischen Majestät? Hatte ich nicht der Wahrheit – dem, was ich für Wahrheit hielt – jedes Opfer gebracht – früher und später und noch gestern? Wahrlich gestern nicht das kleinste! Und war ich nicht – wenn kein Urbild, wie jener Kraftmensch von der seinen – so doch ein Abbild und Kind meiner Zeit? Einer von den Tausenden, welche die Kühle geweckt hat, die vor der aufgehenden Sonne herwittert und die, ergriffen von Ahnungsschauern, nach Osten starren, wo am Horizonte ein röthlicher Streifen sich über den anderen legt, den Tag verkündend, der da kommen will und wird? Hatten sie, die wahren Gefährten meines Lebens – den einen Adalbert ausgenommen, der, ein völlig Freier, geboren und so gestorben war – nicht alle ringen müssen, wie ich: die Mutter, der Onkel, Maria, Pahlen? Hatte meine herzige Adele sich nicht den rauhesten Weg über die zertrümmerten tausend Kostbarkeiten eines aristokratisch ausnahmsweisen Lebens, wenn nicht von ihrem Kopf, der durchaus nicht mitthun wollte, so doch von ihrem Herzen vorschreiben lassen, dem kein Opfer zu schwer gewesen war für den geliebten Mann? War meine geliebte Ellinor nicht in demselben Fall, ja in einem viel kritischeren, da sie durchaus nicht nur ein liebebedürftiges, liebeseliges Herz war, wie Adele, sondern ihr kluger Kopf auch mitsprach und Ja und Amen sagen mußte zu dem, was das Herz wollte?
Und, den Schmerz und die Trauer um den todten Freund jäh durchbrechend, überfiel mich eine unendliche Sehnsucht nach der Geliebten und zugleich eine herzbeklemmende Angst und Sorge, ich möchte sie nicht so wiederfinden, wie ich sie vor zwei Tagen verlassen: zärtlich, liebevoll – mein, wie sie mir zugeschworen mit soviel heißen Küssen; mein für immer, mochte die Zukunft bringen, was sie wollte! Vergebens, daß ich mich einen ihrer Liebe Unwürdigen, einen Verräther unserer Liebe schalt – die Grauengestalt der Sorge, die sich so plötzlich zu mir gedrängt, wollte nicht weichen. Immer starrer blickten die hohlen Augen, immer eisiger wehte mich ihr Grabesathem an.
Was konnte ihr an meiner Seite werden als unendliche Mühsal? Meine Mutter würde, auch wenn die Abwicklung ihrer Vermögensangelegenheiten den ungünstigsten Verlauf nahm, nach deutschen Begriffen noch immer eine wohlhabende, vielleicht reiche Frau bleiben; aber es war zwischen uns abgemacht, daß sie das ganze Kapital in einem bedeutenden Institute anlegen werde, welches der Erziehung verwahrloster Kinder dienen solle nach den ein wenig abgemilderten Principien der Frau von Werin. Meine Mutter würde an der Spitze dieses Institutes stehen, dem sie ihre ganze Kraft und Zeit widmen wollte, wie ich jetzt nicht mehr zweifeln durfte, zusammen mit Maria. Ich war für die Zukunft auf meine Kraft, meinen Fleiß, mein Wissen, mein Talent angewiesen. Ich glaubte, daß ich mich auf meine Kraft, ich wußte, daß ich mich auf meinen Fleiß verlassen könne; ich hatte, Dank der Anleitung des Onkels, bereits mein Wissen ansehnlich vermehrt, würde es in seinem Dienst, an seiner Seite weiter vermehren; von meinem Talente hoffte ich nichts mehr. Ich hatte im „Thomas Münzer“ mein Bestes gegeben und eine schauerliche Niederlage erlitten – in den Augen der Welt, die denn doch in dieser Sache thatsächlich den Ausschlag gab. Noch einen Versuch wollte ich machen – freilich: ich glaubte das mir selbst und meinen Freunden schuldig zu sein. Aber, was sie mir auch Ermuthigendes sagen, in welchen Hoffnungen sie sich für mich wiegen mochten – ich selbst sah in diesem letzten Versuch nur einen ehrenvollen Rückzug aus der Provinz der Dichtung, die ich so wenig hatte erobern können wie die der Schauspielkunst. Das heißt, ich war zum Handlanger eines Gelehrten bestimmt, zu einem gelehrten Handwerker im besten Falle; und wer mochte wissen, ob ich nicht endlich doch zu dem wirklichen Handwerk würde zurückkehren müssen?
Das Alles hatte ich mir ja längst völlig klar gemacht, es der Geliebten klar zu machen gesucht. Sie hatte ja auch geduldig zugehört, und wenn einmal ein ungläubiges Lächeln ihre Lippen schürzte, hatte ich es ihr weggeküßt und am Ende gar gemeint, daß Küsse überzeugende Gründe seien. In der trübseligen Stimmung von heute wollte mir das nicht so erscheinen; wollte mir scheinen, als sei diese meine Liebe nur ein schönes Irrlicht, mich aus meinem Wege zu locken. Ich würde der Lockung widerstehen; aber welche Zukunft öffnete sich da für mich, der ich mich in meinem Streben und Schaffen von der Geliebten nicht verstanden sah? für sie, die schwerlich Adele’s köstliche Selbstlosigkeit besaß und das Genie der Liebe, das sich sein Gesetz nur aus dem Herzen holt und in seiner völligen Sicherheit der Einwendungen spotten darf, die der Verstand etwa macht?
Eine fürchterliche Unruhe hatte mich gepackt, die ich auf keine Weise meistern konnte, und in der meine zwiespältigen Gedanken durch einander geschleudert wurden, wie in einem wüthenden Meer die Trümmer eines zerschellten Wracks.
O der schrecklichen Fahrt, die kein Ende nehmen zu wollen schien! in dem engen Gefängniß, das ich immer noch für mich allein hatte, um mich bald in diesen, bald in jenen Sitz zu werfen und dann wieder aufzuspringen und die paar Schritte zwischen den Polsterbänken zu Hunderten von Malen auf- und abzumessen. Das einförmige Rasseln des Zuges wurde mir zur [699] Marter: ich vernahm zuletzt jedes Aufschlagen der Räder bei dem Ueberrollen von einem Schienenstück zum anderen und fing an zu zählen in die Tausende während bereits der Abend hereinbrach und der Regen, welcher schon bei meiner Abfahrt am Mittag gedroht, erst leiser, dann immer heftiger gegen die Scheiben pochte, in deren engem Rahmen die so schon traurige Gegend vollends trostlos erschien. Ich verwünschte meine Bitte an den Inspektor, mir, wenn es anging, ein Koupé zu verschaffen, in welchem ich allein bleiben könnte, und den Eifer der Bediensteten, die von Station zu Station dem erhaltenen Auftrage willige Folge leisteten, ja Sorge getragen hatten, daß ihrem Schutzbefohlenen auf der anderen Abtheilung der Bahn dieselbe Vergünstigung zu Theil werde.
Wieder eine Station – Gott sei Dank, die letzte! Der Schaffner hat sich das Billett erbeten und die Thür wieder geschlossen. Ich stehe am entgegengesetzten Fenster und starre in das Dunkel. Die Thür wird abermals geöffnet; es scheint, daß der Schaffner Jemand den Eintritt verwehren, der oder die Betreffende – es muß eine Dame sein – sich denselben erzwingen will. Mögen sie es unter sich ausmachen! Sie hat offenbar ihren Willen durchgesetzt, die Thür wird mit heftiger Hand wieder ins Schloß geschlagen, hinter mir das Rauschen von Frauengewändern. Meine sieben Sachen sind durch das ganze Koupé zerstreut; es ist wohl schicklich, der Dame Platz zu schaffen. Ich wende mich und stehe der schlanken, hochgewachsenen gegenüber, die jetzt den schwarzen Schleier zurückschlägt und die Arme ausbreitet.
Ein Jubelschrei bricht aus meiner Kehle, und ich halte sie in meinen Armen, an meiner Brust, mein geliebtes, hochherziges, tapferes Mädchen.
„Der Vater ist seit dem Mittag wieder bei uns, ich habe ihn aus dem Gefängnisse abgeholt. Dann kam die Depesche der Mama, daß Ulrich todt sei und Du die Rückfahrt allein machen würdest. Allein mit Deinem armen zerrissenen Herzen! Wie mochte die Mama das zugeben! Mich litt es nicht zu Hause; ich mußte Dir entgegen; ich wußte, daß Du Dich nach mir sehntest. Ich konnte nur bis hierher kommen, wo ich zwei Stunden gewartet habe. Aber es war noch immer besser als nichts. Und Du bist mit mir zufrieden und hast mich noch lieb, nachdem Dir Ulrich gestorben ist? Nun erst recht lieb, doppelt, dreifach lieb; ich muß ihn Dir ja zu ersetzen suchen! Und ich werde es! Nicht wahr, Geliebter, ich werde es? Du vertraust Deiner Ellinor? Du glaubst an Deine Ellinor? und Du liebst sie, wie sie Dich?“
O des Glücks! o der Wonne!
So möchte der Gemarterte empfinden, der den Qualen erlegen ist, und dessen unsterbliche Seele von Engelshänden empor- und hinaufgetragen wird zu den himmlischen Gefilden.
Zwei Stunden später sah das Wohnzimmer des Onkels eine kleine Gesellschaft beisammen. Adele und Pahlen waren soeben gekommen. Die Gefangenschaft des Letzteren hatte etwas länger gedauert als die des Onkels, in Folge eines Meinungsaustausches zwischen der russischen Gesandtschaft und der diesseitigen Behörde, welcher damit endete, daß jene erklärte, an den weiteren Schicksalen des Grafen keinerlei Interesse zu haben, und dieser überlasse, ihre Maßnahmen bezüglich desselben nach eigenem Ermessen zu treffen. Das Ermessen hatte dann in seiner sofortigen Ausweisung bestanden. Mit Mühe hatte er, seine Angelegenheiten zu ordnen, Ausstand bis morgen früh erhalten, wo er dann mit dem ersten Zuge Berlin verlassen sollte, um sich vorläufig in die Schweiz zu begeben.
„Bis an die Grenze mit einer Begleitung,“ fügte er lächelnd hinzu, „die nicht ganz so unterhaltend ist wie die Deine, liebe Adele, aber so sicher über mich wachen wird, wie Du es nur immer könntest.“
Davon wollte Adele nichts wissen; sie traue nach dieser Seite Niemand als sich selbst. Ihre paar Sachen seien längst gepackt; die Sorge für die Kinder werde bis zur Rückkehr der Mama Ellinor übernehmen. Es sei Alles zwischen ihnen abgemacht.
Ellinor bestätigte es. Sie habe das Bedürfniß, zu zeigen, daß auch sie sich nützlich machen könne, wie die anderen Damen, von denen sie eigentlich noch immer wie ein halbes Kind behandelt werde. Ueberhaupt nehme Niemand sie für voll mit Ausnahme des Einen, an dessen guter Meinung ihr freilich Alles gelegen sei.
Sie hatte sich dabei ihrem Vater in die Arme geworfen, der sie zärtlich an sich drückte.
Wir wollten uns eben zu dem bescheidenen Abendbrot setzen, als Professor von Hunnius gemeldet wurde. Der eifrige Mann kam, nach seinem Lieblingsworte, „wie Nikodemus in der Nacht“; aber er hätte nicht schlafen können, ohne vorher den Opfern polizeilicher Willkürherrschaft zu dem glücklichen Entrinnen aus der Löwengrube herzlichen Glückwunsch zu bieten.
Der wackere Herr hatte durch mich erst unlängst die Bekanntschaft des Obersten gemacht und sofort, wie das ja auch nicht anders sein konnte, eine herzliche Neigung zu dem herrlichen Mann gefaßt. Als dann bei der letzten tragischen Wendung, welche das Schicksal desselben nehmen zu wollen schien, auch sonst wohlgesinnte Blätter ihn fallen ließen und sich feierlich vor jeder Gemeinschaft mit einer „maß- und vaterlandslosen Demagogie“ verwahrten, hatte er fest zu ihm gestanden und in seiner Zeitung gesagt, man wolle doch erst einmal abwarten, ob es sich nicht wieder einmal um „ein Bubenstück“ handle, „ersonnen, einen ehrlichen Mann zu verderben“. So waren wir Alle ihm zu Dank verpflichtet; aber auch sonst war uns seine Gesellschaft willkommen. All das Traurige und Schreckliche, was uns in den letzten Wochen betroffen – jetzt wieder der Tod Ulrich’s, die bevorstehende Trennung von Adele und Pahlen auf vorläufig unabsehbare Zeit – es lastete auf uns schwerer, als wir uns in dieser Abschiedsstunde eingestehen mochten, in der wir uns so gern, wenn nicht frohe, so doch gefaßte, hoffnungsgetroste Mienen gezeigt hätten. Uns diesen Alb von den Seelen zu wälzen, dazu war der streitbare, sanguinische, immer in der Zukunft lebende Professor der rechte Mann.
Nach der ersten Begrüßung zog er mich in die Ecke, um mir verschiedenes Neues mitzutheilen, was mich interessiren würde. Zuerst aus einer Zeitung, die er mitgebracht hatte. Der Artikel lautete: „Endlich wieder unser! Denn man wird sich erinnern, daß er sich die ersten Sporen auf unserer Bühne geholt hat, er, von dem wir damals schon behaupteten, daß in ihm ein Künstler allerersten Ranges stecke: Joseph Lamarque! Darüber ist seit heute Abend – wir schreiben diese Zeilen nach der Vorstellung, uns für morgen eine ausführlichere Besprechung vorbehaltend – nur eine Stimme. Vielleicht nicht ebenso über das Stück, in welchem der große Meister – man darf wohl sagen: die Kühnheit hatte, bei uns zu debütiren, nachdem dasselbe, wie man weiß, in Berlin einen so durchschlagenden Mißerfolg erlebt. Aber sagen wir es frei heraus: wir beneiden die hauptstädtische Kritik nicht um ihren Scharfsinn und bedauern ein Publikum, das sich von einer solchen Kritik ins Schlepptau nehmen lassen konnte. Das Stück hat seine Mängel – und wir werden dieselben morgen nicht bemänteln – aber wir behaupten und werden es beweisen, daß eine Tragödie wie der ,Thomas Münzer‘, welche nicht bloß dem Darsteller der Titelrolle, sondern fast allen Betheiligten solche Gelegenheit bietet, ihre beste Kunst zu entfalten, kein Meisterwerk zu sein braucht, aber unmöglich invita Minerva geschrieben sein kann.“ –
„Was sagen Sie?“ krähte der kleine Mann leise. „Er hält’s durch, glauben Sie mir! ich meine, Ihr Stück, an dessen endlichem Erfolge ich nie gezweifelt habe. Erinnern Sie sich? auf Ihrem Giebelstübchen? – Was habe ich da gesagt? Wahrlich, Ihr alter Lehrer war Ihr erster Prophet. Freilich, Jettchen Israel – guter Gott, wie würde sich das liebe Kind gefreut haben, hätte sie das noch erlebt! A propos Israel – ich meine Emil. Wissen Sie, daß er entschlossen ist, in unsere gute, dumme, alte Stadt zurückzukehren, mit der Mutter natürlich und ohne seine Lea selbstverständlich, die sich von ihm scheiden lassen und als Missis Alfred Simmen, ein Stern ersten Ranges, durch den Londoner Nebel glänzen wird? Habeat sibi! – Uebrigens findet jetzt eine vollständige Aus-, vielmehr Rückwanderung statt nach unserem Krähwinkel – es könnte wirklich so heißen – erinnern Sie sich der schwarzen Schwärme um den Nikolaithurm ? – Auch die Hopps! – Der Alte ist todt – vorgestern in der Charité – Delirium – es ging sehr schnell – man darf wohl sagen: Gott sei Dank! – um der Familie willen, die jetzt an dem braven Brinkmann, der treuen Seele, erst die rechte Stütze haben wird. Auch Christine wird bei der Karavane sein. Sie [700] wollte anfangs nicht; aber ich habe ihr kräftig ins Gewissen geredet – sie hat nämlich eines, das arme Ding, wenn es auch zuletzt ein bischen sehr verwildert war. Ein Strandvögelchen, das durchaus aufs hohe Meer wollte, wo es nichts zu suchen hatte und elend umgekommen wäre! Nun, ich denke, wir retten es noch. Habe auch schon eine Partie für sie in petto – der junge Papendiek aus der Schmiede in der Hafengasse – kreuzbraver Junge, der sie immer gern gemocht – aber ich halte Sie auf, Sie wollen zu Tisch gehen. Ich soll bleiben? – Unmöglich! habe noch für die halbe Nacht zu arbeiten! J nun, Sie werden mich ja nicht die ganze hier behalten, und das Schlafen habe ich mir, Gott sei Dank, so gut wie abgewöhnt. Wo soll ich sitzen? Zwischen den Damen! Die Perle im Golde! A propos Perle! Unsere von Meppen glänzte heute einmal wieder in ihrem reinsten ultramontanen Lichte. Wenn das unseren Kirchenpolitikern nicht die Augen beizt, so müssen sie staarblind sein, was denn freilich leider mit meiner Prognose stimmen würde.“
Es konnte nicht anders sein, als daß in unserem kleinen Kreise, in welchem unter den Männern drei fachmäßige Politiker waren und der vierte die politischen Dinge zu verstehen sich wenigstens emsig bemühte, die Rede fast ausschließlich über diese ging und immer wieder auf dieselbe zurückkam, so oft und so ernstlich man sich auch im Interesse unserer beiden Damen bemühte, das Gespräch in andere, glattere Bahnen zu lenken. Denn es ging bei den Debatten, in welchen Pahlen und der Professor meistens das Wort führten, nicht immer friedlich ab; der Schwerpunkt der Ueberzeugungen des russischen Nihilisten und derjenige des deutschen Fortschrittsmannes lagen eben zu weit aus einander – eine Differenz, die, wie der Professor uns belehrte, ihre völlige Erklärung fände, wenn man die Grundverschiedenheit der socialen und staatlichen Verhältnisse hüben und drüben in Betracht ziehe und dazu den Einfluß erwäge, den das gesellschaftliche Milieu, in welchem ein Mensch aufwachse, auf seine Denkungsart, seinen Charakter ausübe.
„Und da sollte ich meinen,“ rief er, „daß Sie, Herr Graf, und ich freilich sehr ungleiche Brüder werden mußten, die in Folge dessen unmöglich gleiche Kappen tragen können. Sie, der Abkömmling einer der vornehmsten Adelsgeschlechter, erzogen in der unmittelbaren Sphäre des Hofes – und was für eines! – ist es ein Wunder, wenn Ihr nur an sociale und moralische Extreme gewöhntes Auge auch in der Politik die Zwischenstufen nicht sieht? wenn der immer gewaltsam erregte, von Gewaltsamkeiten träumende Geist von den vermittelnden Elementen nichts weiß, oder doch nichts hält, nichts hofft? wenn er immer wieder auf ein Wunder hofft, an ein Wunder glaubt, welches allein in dieses Chaos Ordnung bringen soll? Unsereiner glaubt an kein Wunder; Unsereiner glaubt, daß in der großen und kleinen, äußeren und inneren Politik gerade so Alles mit Wasser gekocht wird wie in der Küche. Nur daß in meiner elterlichen Schmalhans Meister war und gar oft das Fleisch in die Suppe zu thun vergaß, wie ich ihm denn das im Dienst eines völlig abgehausten deutschböhmischen kleinen Landedelmannes just nicht groß verdenken kann. Da war denn die Noth groß, die mich armen Jungen zuerst beten und, als ich sah, daß dabei nicht viel herauskam, arbeiten lehrte. Bis zum vierzehnten Jahre mit der Fiedel und der Kehle – lachen Sie nicht, meine Damen: ich spielte eine ganz wackere Geige und hatte als Junge eine süße Stimme – sagten die Weiber – wenn dieselbe auch, wie ich vermuthe, seitdem in dem Staub der Schule, dem Qualm der Volksversammlungen und der Trockenheit unserer Parlamentsdebatten kläglich zu Grunde gegangen ist. Aber was ich sagen wollte, lieber Graf, wir Beide – Sie und ich – wir können eben nicht an demselben Strang ziehen; aber – um in dem Bilde zu bleiben – den Wagen nach derselben Seite ziehen, das können wir doch und wollen wir doch, und darauf wollen wir, wenn es Ihnen recht ist, mit einander anstoßen.“
Anmuthig-höflich, wie immer, kam Pahlen der Aufforderung nach; aber, wenn auch ein Lächeln seine Lippen umspielte, in seinen schönen Augen war finstere Nacht, und so hatte er denn kaum das Punschglas wieder niedergesetzt, als er mit vor Erregung bebender Stimme begann:
„Ich muß mir den Vorwurf unseres Freundes schon gefallen lassen: überall in der Welt wird mit Wasser gekocht, nur Wir Russen möchten mit Feuerwasser kochen. Auch hat er ja einsichtsvoll angedeutet, wie das so kommt. Aber, verehrter Herr Professor, Sie kennen unsere Verhältnisse doch nur aus der Lektüre und vom Hörensagen; ich aber, ich habe in dem Pandämonium gelebt, wenn man leben nennen kann, woran man nicht zurückdenken darf, ohne daß Einem das Blut in den Adern gerinnt, um im nächsten Moment –“
Er hatte das Gesicht mit beiden Händen verdeckt. Es war, als er es uns abermals zuwandte, noch sehr bleich – wie eines Menschen, der einen fürchterlichen Schmerz zu ertragen hatte – aber sein Mund versuchte doch schon wieder zu lächeln, und er sprach jetzt, Adele’s Hand ergreifend und an seine Lippen ziehend:
„Verzeih, Geliebte, ich weiß, wie Deine holde Seele leidet, wenn ich mich so hinreißen lasse! Verzeihen auch Sie, liebe Freunde, den schwachen Augenblick, der mir ja, Gott sei Dank, selten kommt! Möchte ich doch fast behaupten, daß ich von uns Allen sogar der größte Optimist bin. Oder wer wäre optimistischer als der Wunderglänbige, zu welchem mich unser ehrwürdiger Freund hier gestempelt? Nun denn: ich acceptire es, ich, der ich mein Volk als einen Leichnam gesehen habe und doch an seine Wiederauferstehung glaube! Nicht bloß meines Volkes! Krank, todtkrank ist ja die ganze moderne Menschheit. Ob Ihr die Aufgabe, sie zu heilen, lösen werdet? Wir müssen es ja hoffen, aber für jetzt liegt die Sache nicht gut. Mit der Emancipation der Handwerker und Arbeiter, wie sie auch bei Euch jetzt von oben beliebt wird, ist es ja selbstverständlich nichts. Aber mit der, welche jene Stände aus sich selbst heraus versuchen, wird es freilich ein anderes, kein besseres, wohl aber schrecklicheres Ende nehmen, so lange sie auf sich selbst angewiesen bleiben, ihr Licht aus sich selbst schöpfen sollen, während die Gebildeten dem Treiben zusehen, mißtrauisch, ängstlich die einen, gleichgültig, stumpf die anderen, müßig die einen wie die anderen. Wer möchte Euren Stolz auf Eure Denker- und Dichterheroen nicht begreiflich finden! Und dennoch meine ich, neben diesem Glanz liegt ein schwärzester Schatten: die tiefe Kluft, welche gerissen ist und klafft zwischen dem kleinen Theil der Gebildeten unter Euch, welche den Heroen auf ihrer steilen Bahn zu folgen vermochten, und der großen Menge, der das nicht möglich war. Diese Kluft zu füllen, ist die Aufgabe Eurer Zukunft, und ich wiederhole es: für jetzt scheint mir dieselbe kaum in Angriff genommen. So lange man in einem großen Volke, wie das Eure, die gebildeten hochstehenden und einflußreichen Männer zählen kann, welche leben und wirken in der Erkenntniß, daß in der grundmäßigen Umgestaltung der socialen Verhältnisse die moderne Menschheit einzig und allein ihre Rettung zu finden vermag, glaube ich nicht an diese Umgestaltung und nicht an die Rettung.“
Mir schwebte auf den Lippen eine lebhafte Antwort, zu der mich Ellinor’s Blicke aufzufordern schienen. Als eine eben erst für die Freiheit Gerettete mußte sie den Zweifel des Grafen an unserer Zukunft besonders übel empfinden. Aber auch ihr Vater hatte den Blick verstanden und, mir zuvorkommend, sagte er, sich zu Pahlen wendend, in seiner gütigen Weise:
„Wer war es doch gleich, lieber Graf, der noch vor wenigen Wochen – an dem Abend, der unserm unvergeßlichen Freunde die ersehnte Freiheit und uns die traurige Gefangenschaft brachte – mit prophetischen Worten der europäischen Menschheit ihre Zukunft deutete – und dabei einem gewissen Volke, das er heute im Hintertreffen sieht, die Führerrolle zuwies? Erinnern Sie sich nicht?“
Pahlen nickte lächelnd, und in seinen glänzenden Augen, die er unverwandt auf den verehrten Mann gerichtet hielt, lag die Bitte, daß er fortfahren möge.
Er that es, jetzt das Wort an uns Alle richtend:
„Dennoch kann ich unserem Freunde in dem Vorwurf, den er uns heute macht, nicht so ganz Unrecht geben. Kann es uns aber Wunder nehmen, wenn unsere augenblicklichen Zustände ein so fratzenhaft verzerrtes Bild gewähren? Auf allen Gebieten wimmelt es von Leuteu, die in dem Lande des Nachdenkens, oft mit saurer Mühe, Ueberzeugungen eingesammelt haben, welche sie, an der Grenze der That angelangt, verstecken, verleugnen, als ob sie allein solche Kontrebande führten! Als ob nicht, wenn nur Jeder seine heimliche Waare deklarirte, dieselbe frei durchgehen müßte, da die Zollwächter nicht mehr wüßten, wohin mit den Beschlagnahmten! In den Augen unserer sogenannten guten Gesellschaft ist jeder Socialdemokrat officiell ein Lump. Vergangenen Winter hörte ich einen unserer ersten Geister in einer [701] Vorlesung vor der besten Gesellschaft mit klassischer Ruhe den Ausspruch thun: wir mögen es nun zugeben oder nicht, in jedem von uns steckt ein Stück von einem Socialdemokraten. Ich möchte, daß dieser tapfere Mann, oder ein anderer, der, wie er, die nöthige Einsicht in unsere Verhältnisse hätte und dem es, wie ihm, an der Gabe der Darstellung nicht gebräche, uns, vielleicht in einem Dichtwerk oder wie immer, ein Bild unserer Gesellschaft vorführte, welches jenes Wort nach allen Richtungen illustrirte. Ich möchte fast sagen: nur nach der einen Richtung, der nach oben, in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft. Denn wie es in den unteren und untersten aussieht, das wissen wir alle, oder können es doch aus tausend mehr oder weniger gelungenen Darstellungen unschwer erfahren, besser noch: aus dem Studium der Wirklichkeit, die sich ja wahrlich nicht versteckt, sondern sich traurig, und zur Zeit trostlos genug, überall offen um uns breitet. Aber da oben! bei den zehn- und hunderttausend Privilegirten der Geburt, des Standes, der Wissenschaft und Kunst, des ererbten und erworbenen Reichthums, bei den Fürsten und Herren, den Großwürdenträgern in Militär und Civil, bei den Männern des Katheders und der Kanzel, den Dichtern mit der Feder, dem Pinsel und dem Meißel, den Allmächtigen der Börse und des Hauptbuches laßt uns prüfen, ob ihr Denken mit ihrem Reden, ihr Herzschlag mit ihrem Thun stimmt. Und wenn, woran ich nicht zweifle, es unter ihnen gar viele giebt, die das Joch der Heuchelei, welches ihnen die ehernen Formen der Gesellschaft, der scheinbar unbesiegliche Zwang der Verhältnisse auferlegen, nicht abzuschütteln wagen, laßt sie den Muth ihrer wahren Gesinnung schöpfen aus dem Beispiel der wenigen unter ihnen – und es sind ihrer vielleicht so wenige nicht – die sich unter schweren Kämpfen zu diesem Muthe durchgerungen und die Welt der Lüge überwunden haben und vor Kaiser und Reichstag mit dem Mönche von Wittenberg sprechen: ‚Hier stehe ich; ich kann nicht anders; Gott helfe mir!‘ Mögen sie dann immer da drinnen im Saal, die Höchst-, Hoch- und Hochwohlgebornen, ihre Stirnen in Falten ziehen und auf der Gasse das leichtbewegliche Volk die Köpfe zusammenstecken und munkeln und raunen: was will das werden? Wir trauern um den Einen unter uns, der auf die Frage keine andere Antwort fand, als die trostlose: nichts will es werden; und ein Leben von sich warf, das fürder keinen Werth und keine Würde für ihn hatte. Wir Anderen aber, wir stehen zum Leben, in der festen Ueberzeugung, daß, was da werden will, werden wird; und ein Hohes und Herrliches werden wird, und eine neue glorreiche Phase der ewig strebenden Menschheit, so sie der Zeichen achtet, die da geschehen mit erschreckender Deutlichkeit in ihren Tiefen und wahrlich auch klar genug auf ihren Höhen für den, der Augen hat, um zu sehen, und Ohren, um zu hören.“
Der Herrliche schwieg; die Augen der Lieben um ihn erglänzten im heiligen Feuer des Muthes und der Zuversicht, die er in ihre Seelen gegossen hatte; mir aber erzitterte das Herz in der Brust. Er hatte, während er die Aufgabe zeichnete, deren Lösung er von einem Dichter der Zukunft heischte, von Keinem sonst bemerkt, seine Hand auf meine Hand gelegt.
Und ich hatte ihn wohl verstanden und mir geschworen, ich wolle, wenn die Himmlischen mir gnädig seien, an diese Arbeit gehen, nach meiner besten Einsicht, mit meinen besten Kräften, mich im Voraus gern bescheidend, so es mir auch nur gelänge, ein paar Bausteine herbeizuschaffen für den Meister, der nach mir kommen wird.
Hinter den Koulissen des Berliner Opernhauses.
Aber pünktlich, meine Herren, pünktlich um sechs Uhr melden Sie sich morgen Abend beim Kastellan; er wird Sie dann hinaufweisen. Drei Treppen links ist die Garderobe; Sie finden Alles dort, was Sie gebrauchen. Sie sind natürlich ‚Volk‘, einfache Tunika, Beinkleider, Schuhe, na, es wird sich schon Alles machen. Herr S., die Herren hier melden sich also morgen bei Ihnen. Sie sorgen für sie! Adieu, meine Herren – wollen Sie etwa noch der Probe beiwohnen? Nicht, na dann auf morgen, aber pünktlich um sechs Uhr!“
So lautete die kurze Ansprache, welche uns jungen Leuten der in Dienst und Eifer ergraute, stets unermüdliche und stets freundliche Statisten-Inspicient des Opernhauses gehalten, allerdings nicht ohne vielfache Störungen; denn jeden Augenblick stürmten auf ihn die verschiedensten Anfragen der verschiedensten Menschen ein, und Jedem gab er eine präcise, trotz der Kürze erschöpfende Antwort. So waren wir denn entlassen, wir „königlich preußische Statisten“! Einen flüchtigen Blick warfen wir noch auf den mächtigen, trotz des hellen Vormittags durch hundert und aber hundert Gasflammen erleuchteten Bühnenraum, auf welchem gerade die Generalprobe zu der letzten neuen Oper in vollem Gange war, stießen dann beim Fortgehen den eifrig dahineilenden, noch jugendlich-lebhaften Direktor der Oper fast um, stolperten über einige Koulissen-„Beine“, klopften den im Vorraume stehenden, für die heroische Oper gebrauchten Pferden des königlichen Marstalls kollegialisch-vertraulich den Rücken und verließen stolz im Gefühl der neuen Würde die kleine Pforte des Musentempels, wohl bemerkend, daß „uns Schauspielern“ einige halbwüchsige Straßenjungen mit neidischen Blicken nachsahen.
Die Frühlingssonne beschien noch warm und klar den Opernhausplatz, auf dem Kinder und Spatzen um die Wette lärmten, als wir uns den nächsten Abend Punkt sechs Uhr wiederum an der für so Viele mit geheimnißvollem Zauber umsponnenen schmalen Pforte einfanden. Für uns war ja dieser Zauber gebrochen; wir gehörten für heute zu den Berufenen – wenn auch nicht, wie wir uns trotz aller Künstlereitelkeit nicht verhehlten, zu den „Gerufenen“ – uns scholl nicht das energische „Zurück!“ des Portiers entgegen, der an seinem Glasguckfenster saß und uns, als wir uns bei ihm zum spesen- und steuerfreien Amte meldeten, lakonisch zurief: „Drei Treppen links!“
Die Bühne, deren Rücksaum wir passirten, lag noch in mystisches Dunkel gehüllt: wenige Flämmchen verbreiteten einen schwachen Schein, welcher die Schatten einiger verfrühter Ritter und Mönche in gewaltigen dunklen Umrissen an die Koulissenwände zeichnete. Desto heller beleuchtet waren die in den unteren Räumlichkeiten gelegenen Garderoben der Solokräfte, und da bereits durch eine Thürspalte die in ein blaues Sammetwams gehüllte Figur des Herrn Betz sichtbar ward, eilten auch wir, um – wir drückten uns bereits ganz theatralisch aus – „in unser Kostüm zu schlüpfen!“ Wahrlich, wir sollten es gleich am Anfang unserer neuen Karriere merken, daß der Pfad zum Bühnenruhme schwer zu erklimmen ist. Drei steile, ausgetretene Treppen ging es empor; vorbei an mehreren nach rechts und links abzweigenden Gängen mit den Ueberschriften „Damen-Garderoben“, aus welchen wir das lustige Kichern und Plaudern fröhlicher Mädchenstimmen vernahmen, bis uns endlich eine brunnentiefe Baßstimme entgegenscholl: „Aha, neues ‚Volk‘, hier herein! – Da, in der Ecke, können Sie sich ausziehen! Hier sind Ihre Kostüme! Die Schuhe holen Sie sich nebenan!“
Das war kurz und bündig, und im selben Augenblick hatte auch bereits Jeder von uns ein Kleiderpacket im Arm, bestehend aus Rock, Trikots und Gürtel, und wir bezogen unser Quartier dicht am mächtigen Kachelofen, der für diesen Raum gewiß seinen Beruf verfehlt hatte; denn die Gasflammen sorgten wohl auch im strengsten Winter allein für die allen Künstlern angemessene hohe Temperatur. Flimmernd und flirrend flackerten die unruhigen Flämmchen unter der niederen Decke und beleuchteten mit zitternden Lichtern die Wände, an denen sich die reichhaltigsten Kleiderlager des gesammten Mühlendammes ein gemüthliches Rendezvous gegeben zu haben schienen. Lieber Himmel, was war hier nicht Alles aufgespeichert! Die wahre Kostümchronik der gesammten Geschichte vom grauen Heidenthume an bis zur letzten Razzia im Thiergarten, und scheinbar Alles in unentwirrbarem Knäuel durch einander, aber nur scheinbar; denn mit sicherem Blicke griffen die Garderobiers in die Rock- und Hosenknäuel hinein und theilten ihre Gaben für die „Herren Statisten“ aus. Von diesen war bereits eine stattliche Anzahl vorhanden, welche sich aber noch immer vergrößerte und in beständiger Bewegung war: Jedem sollte beim Anziehen geholfen werden, Jeder wollte sich vor den Spiegel drängen, Jeder noch immer „schöner“ werden, und das rief und fragte und suchte und probirte durch einander, daß man nur stets von Neuem die Geduld und Ruhe der Garderobiers bewundern mußte. Es war eine buntgemischte Gesellschaft hier oben, schwer im Einzelnen zu definiren, im Ganzen jedoch vollständig demokratisch, denn mit den an den Nagel gehängten Civilkleidern wurden auch zugleich die Standesunterschiede an denselben Riegel gehängt. Dort der schlanke Student, mit dem sorgsam gescheitelten Haare und dem aufgewirbelten blonden Schnurrbarte, unterhielt sich gemächlich mit seinem Nachbar, der vielleicht den Tag über muthig das Rasirmesser geschwungen hatte und jetzt am Abend dem „dunklen Drang in seiner Brust“ Folge leistete, und unser Nachbar, von unseren Begleitern als Graf D. erkannt und begrüßt, plauderte beim Anziehen vertraulich mit seinem Vis-à-vis, einem ehrbaren Tischlergesellen, der erstens die Kunst liebte und zweitens auch die 40 Pfennig Statistengeld. Selbst an Stammgästen hier oben fehlte es nicht; sie waren mit den Garderobiers befreundet, kamen bequem angeschlendert, suchten sich ihre Kostüme selbst aus und nahmen beim Ankleiden keinerlei fremde Hilfe in Anspruch. In dieser ihrer Stellung konnten sie sich denn auch mancherlei prophetische Aussprüche erlauben: „’s wird heut’ ein volles Haus!“ – „Die Partie ist für die Beeth wie geschrieben!“ – „Fricke wird famos sein!“ – [„]Passen Sie auf, die kleine Ghilany singt ihr Röllchen sehr hübsch!“ – „Der Chor im ersten Akt wirkt ausgezeichnet!“ – „Nein, mir gefällt das Spinnerlied im zweiten am besten!“ – „Aber der dritte Akt ist viel zu lang!“
So schwirrten die Stimmen der Habitués durch einander, und einer der letzteren erzählte uns, daß er seit drei Jahren Abend für Abend zu seinem Vergnügen hier mitwirke. Eine seltsame Begeisterung von ihm! Wir waren froh, als wir endlich fertig waren, oder es wenigstens zu sein glaubten; gerade als wir aber den heißen Raum verlassen wollten, musterte uns einer der Garderobiers. „In dem Zustand wollen Sie [702] runter? Da werden Sie ooch keene Lichter ausstecken.“ Und nun ging es an ein Zupfen und Zerren, Ziehen und Spannen, bis der Brave sich endlich befriedigt erklärte. Aber nun schnell! Das erste elektrische Signal ertönte schrill durch alle Räume; rasch wollten wir das Zimmer verlassen, aber ein energisches „Halt!“ scholl uns am Ausgang entgegen. Da stand zwar kein Erzengel Gabriel mit dem feurigen Schwert vor der Thür, aber an seiner Stelle ein wohlgenährter Mann, in der Linken einen offenen, mit rothem Puder gefüllten Cigarrenkasten, in der Rechten eine Hasenpfote. Ritsch, ratsch ging’s mit derselben in die Kiste und dann über unser Gesicht; „damit Sie nich das Lampenfieber bekommen,“ meinte der Herr mit der Hasenpfote vertraulich.
Nun waren wir ja endlich für unseren Beruf glücklich vorbereitet! Auf der Treppe wimmelte es von buntfarbigen Gestalten; Edelleute mit wehenden Mänteln, Pagen in enganschließenden Wämsern, Knappen mit klirrendem Schild, Kapuziner mit flatterndem Skapulier, Bauernmädchen mit bunten, weitschichtigen Röcken, Edeldamen mit rauschenden Schleppen, lockere Stadtmusikanten und ernsthafte Bürger, und dazwischen „wir Volk“: all dies drängte wie zum Jahrmarkt nach Plundersweilern hinunter zur Bühne. Dieselbe strahlte bereits in hellem Licht, denn das zweite Signal war soeben ertönt, und die Ouverture mußte sofort beginnen. Auf der Bühne und hinter den Koulissen herrschte noch lebhaftes Getümmel: ein Chor von Bürgermädchen stand eifrig plaudernd zusammen; einige „Ratten“, kleine vier- bis fünfjährige Mädchen, zeigten sich gegenseitig ihre neuesten, in der letzten Ballettstunde gelernten Pas; mehrere Kriegsknechte setzten die Tische und Stühle für ihr späteres Gelage zurecht und klapperten vernehmlich mit den, leider leeren, Humpen; Mönche, Edelfrauen, Ritter und Pagen drängten sich um die winzigen Ausschaulöcher im Vorhang. Rrrrr – das dritte Signal erklang, und zu gleicher Zeit setzte schmetternd das Orchester ein; auf der Bühne fügten sich die Gruppen zu den ersten Scenen zusammen; in fliegender Hast eilte der Direktor überall umher, hier selbst ordnend, dort befehlend, da wünschend und bittend, dann immer von Neuem prüfend, unermüdlich und rastlos in seinem schwierigen Amte. Noch ein letzter Blick – Alles in Ordnung! Es konnte losgehen! Gleich darauf rauschte auch der Vorhang in die Höhe, und der Chor der Bürger und Bürgerinnen, den Frühling begrüßend, erscholl.
Hinter und neben den Koulissen ging unterdessen das lebhafte Treiben weiter; immer andere Gestalten tauchten auf. Theaterarbeiter liefen eilends hin und her, die für den zweiten Akt bestimmten Koulissen wurden zurechtgestellt, und nun raschelte und flatterte es auch heran, wie eine weiße, duftige Woge: die ersten Ballett-Tänzerinnen erschienen und stellten sich hinter den Koulissen auf, immer wieder das Kleidchen zurechtzupfend und immer von Neuem prüfende Blicke auf die Kolleginnen werfend; die Solisten und Solistinnen wandelten auf und nieder, halblaut diesen und jenen Ton anschlagend oder sich noch einmal über diese und jene Scene, die sie mit einander zu spielen hatten, verständigend; die Garderobenmütter spähten umher, ob nicht noch im letzten Augenblick etwas an den Kleidungen ihrer Schutzbefohlenen zu ändern wäre, und die nie pausirenden Inspicienten eilten von der einen Seite der Bühne zur anderen.
„Wir Volk“ standen in unseres Nichts durchbohrendem Gefühle hinter den ersten Koulissen, von denen aus man die hohe Gestalt des Kaisers in seiner kleinen Loge erblicken konnte. „Lampenfieber“ hatten wir nicht, aber „Lampenhitze“, denn die kleinen Gasflammen, in deren unmittelbarer Nähe wir uns befanden, strömten eine afrikanische Wärme aus. Doch wir sollten bald in Bewegung kommen, unser Debüt stand bevor. „Wenn ich sage ‚raus!‘, gehen Sie auf die Bühne und räumen die Tische und Stühle fort; aber um Gotteswillen drehen Sie doch die Siegelringe um, nehmen Sie die Klemmer ab! Sie sind ja altes lothringisches Volk!“ lautete der Zuruf des Statistenführers. Und gleich hinterher erscholl sein: „Raus!“ und unmittelbar darauf: „Donnerwetter, die Klemmer ab!“ – Glühend vor schauspielerischem Thatendrang stürzten wir wie die Wölfe auf die Bühne, ergriffen mit nerviger Faust den nächstbesten Stuhl oder Tisch, so fest, als ob wir den schlimmsten Theaterbösewicht an der Kehle packten, und schleppten den Gegenstand unserer ersten künstlerischen Leistung hinter die Koulissen, um dann schnell von Neuem auf die Bühne eilen zu können. O trügerischer Wahn! „Hinter mit den Sachen!“ schrie uns einer der „Obertheaterarbeiter“ an, „vorwärts, nicht lange zögern!“ Und wir stolzen Kunstjünger mußten wie prosaische Lastträger keuchend und schwitzend die Tische und Stühle bis zum letzten Bühnenraum tragen. Als wir zurückkehrten, hatten natürlich Andere unsere Erfolge eingeheimst; das Publikum applaudirte, und der Vorhang rasselte herunter!
„Das ist das Los des Mimen auf der Erde,“ trösteten wir uns, und da unsere erste künstlerische Leistung immerhin eine Belohnung verdiente, der Intendant sie uns aber vielleicht doch nicht gewährt hätte, belästigten wir ihn nicht erst, sondern belohnten uns selbst durch einen kühlen Trunk der [703] im Kellergeschoß liegenden Theaterkneipe. Sicherlich eine der originellsten Kneipen unter den zahlreichen originellen in Berlin! Ein enger gefängnißartiger Raum, mit kahlen Wänden und kahler Decke, mit wenigen Bänken und Stühlen, vollgepfropft mit einigen Dutzenden immer wieder anders kostümirter Menschen, mit schmalem Bierausschank und eben so schmalem Frühstückstischchen, Alles in Allem aber – überaus gemüthlich! Ein Maler würde hier Stoff zu manch hübschem Bildchen finden: dort der baumlange Herold, den gestickten kaiserlichen Doppeladler auf der Brust, liebäugelt mit einer schlanken „Jauer’schen“ in seiner Hand; ein Kreuzfahrer gebraucht den Knauf seines Schwertes, um ein „hartgekochtes“ Ei aufzuklopfen; dem behäbigen Bettelmönche hier scheint die „kühle Blonde“ vorzüglich zu munden, und der stolze lothringische Ritter da verzehrt mit sichtlichem Behagen eine tüchtige „Schinkenstulle“. Auch das „ewig Weibliche“ fehlt nicht; ein kleines Edelfräulein, das goldbordirte Gewand kokett aufnehmend, trippelt zum Büffet und verlangt „einen Seidel“, und der schmucke, die Füßchen graziös setzende Page holt sich „’ne Semmel, mit Cervelatwurst belegt, aber recht dichte!“
Bim bim bim bim – das elektrische Signal ertönt, der zweite Akt beginnt sogleich; hinauf also wieder zum Felde unseres Ehrgeizes! Ach, den letzteren schienen nicht Alle zu theilen – da lagen sie lang hingestreckt hinter den äußersten Koulissen, die tapferen Kämpen des Kaisers Rudolf, Schwert und Speer war ihren sehnigen Fäusten entsunken, der mit wehendem Federbusch geschmückte Helm war zur Seite geschoben, und der löwenverzierte Schild ruhte achtlos am Boden. Eine weiche Lagerstatt war es nicht, harte Bohlen und Bretter; aber für diese kühnen Helden mußten sie besser als zarte Daunenbetten sein, denn nichts störte sie in ihrem Schlaf und nichts unterbrach ihr Schnarchkoncert. Sie hatten sich diese Ruhe redlich verdient – auf dem Exercirfelde des Kaiser-Alexander-Regiments, und ihr Unterofficier paßte sorgsam auf die ihm untergebenen, braven pommerschen Grenadiere!
„Wir Volk“ wollten aber thätiger sein, wollten nun einmal auf den weltbedeutenden Brettern Ehre einlegen, wollten zeigen, daß wir Künstlerblut in unseren Adern hatten! Da kam uns auch bereits der Statisteninspicient entgegen, wahrscheinlich suchte er uns schon. „Hier sind wir, kommen wir jetzt wieder vor?“ Ein etwas mitleidiger Augenaufschlag traf uns, dann zog der Gefragte einen Zettel hervor, sah auf diesen und dann auf uns. „Sie sind ja ‚Volk‘,“ rief er, „hatten nur im ersten Akt zu thun, können jetzt gehen!“
Ein unter uns ausgetauschter Blick sagte mehr als lange Reden. Still und in uns gekehrt wendeten wir dem undankbaren Reiche der Koulissen den Rücken – wir in unserem glühendsten Thatendrange gestörtes „altes lothringisches Volk“! Paul Lindenberg.
Blätter und Blüthen.
Ein greiser Gelehrter. Wer hat nicht die ungebrochene Kraft bewundert, mit welcher Kaiser Wilhelm I., der demnächst das neunzigste Lebensjahr erreicht, allen Regierungsgeschäften obliegt? Vor Kurzem erst ist der große Geschichtschreiber Leopold von Ranke gestorben, der noch über das neunzigste Jahr hinaus als Forscher und Schriftsteller thätig war und aus dem Leben abberufen wurde, als er mitten in der Arbeit war und seine an großen Gesichtspunkten reiche „Weltgeschichte“ mit dem Fleiße eines Jünglings von Band zu Band weiter führte. Auch ein anderer Historiker, der sich besonders durch seine „Geschichte der Hohenstaufen“ einen Namen gemacht, Friedrich von Raumer, war über neunzig Jahre alt geworden.
Paris hat neuerdings den hundertsten Geburtstag eines Gelehrten gefeiert, welcher noch immer mit wunderbarer Rüstigkeit sich in dem Kreise einer Fachwissenschaft bewegt, der er bereits in jungen Jahren seine Thätigkeit zugewendet hat. Das französische Institut, die Gelehrten und Industriellen von ganz Frankreich haben seinen Geburtstag gefeiert; eine Festvorstellung in der Großen Oper, Bankette, Fackelzüge, Feuerwerke fanden ihm zu Ehren statt. Chevreul, der schon im Jahre 1815 Professor war, wie er es heute noch ist, der seit siebzig Jahren als Mitdirektor der berühmten Gobelins-Manufaktur, als einer der Vorstände des naturhistorischen Museums im Amt geblieben, war gewiß in weiten Kreisen bekannt, aber der Held einer volksthümlichen Feier konnte er doch nur werden, als er bei lebendigem Leibe sich auf das Piedestal eines Säkularhelden stellte. So kann das Alter schon um seiner selbst willen hohe Ehren einbringen. Wer erinnert sich nicht an die großartige Wiener „Grillparzer-Feier“? Wäre der Dichter der „Sappho“, der stille Tischgast des Matschacker Hofs, der in seinem vierten Stockwerke hypochondrisch über dem Undanke der Mitwelt brütete, gestorben, ehe er das achtzigste Lebensjahr erreicht: er wäre immerhin ein halb vergessener Mann geblieben, niemals der Held jenes von Laube inscenirten, von der Theilnahme der Aristokratie und der Begeisterung des Volkes getragenen Festes geworden.
Chevreul hat als Chemiker anerkannte Verdienste. Seine Untersuchungen über „Thierische Fettstoffe“ betrafen ein Gebiet, auf welchem die Modemedicin jetzt große Erfolge feiert. Ueber die optischen Effekte der Seidenstoffe, über Farbenkontraste und Farbenzusammenstellungen hat er Schriften verfaßt, welche für die Hauptstadt der Mode nicht verloren gehen konnten. Doch solche Verdienste bleiben meistens im Stillen, wie groß auch die Wirkungen derartiger wissenschaftlicher Forschungen auf die Praxis der Heilkunst und des Gewerbes sein mögen. Erst durch die elektrische Beleuchtung, welche die Feier eines hundertsten Geburtstages ausströmt, treten sie in ein Licht, das sie auch den ferner Stehenden sichtbar macht.
Der greise Chevreul hat nichts von seinem Gedächtniß eingebüßt, wird nicht von den Schwächen des Alters geplagt; ein rüstiges, gleichmäßiges Leben, eine Diät, die sich auf zwei tägliche Mahlzeiten beschränkt, vor Allem aber eine Konstitution, welche von Hause aus die Bürgschaft einer langen Lebensdauer erhält, da sein Vater ein Alter von 95 Jahren erreichte, seine Mutter 92 Jahre alt wurde: das war das Lebenselixir, welches so wunderthätige Wirkungen ausübte. Großes Gleichmaß des Charakters und des Empfindens trug wesentlich dazu bei, den Sturm der Jahre machtlos vorübergleiten zu lassen. Nur einmal verließ den greisen Gelehrten die Ruhe, die er sonst immer bewahrte: als die Deutschen seinen jardin des plantes im Jahre 1870 bombardirten, protestirte er gegen diese Barbarei, wie Archimedes, der den eindringenden Soldaten zurief: „Stört meine Cirkel nicht!“ Und dieser Protest verlieh dem Gelehrten den Glorienschein eines Patrioten. So konnte auch Boulanger, der Kriegsminister, der sich sonst wenig um die Farbenkontraste der Gobelins kümmert, obschon er selbst in seinem Leben mehrfach die Farbe gewechselt hat, eine Handhabe finden, um dem Gelehrten bei seinem Feste zu huldigen. †
Der Luisen-Tempel im Schloßgarten zu Hohenzieritz. (Mit Illustration S. 685.) Wen überkommt nicht ein Gefühl stillen Friedens, wenn er diesen Tempel in seiner lieblichen Umgebung von Baum und Strauch liegen sieht? Er ist auch ein Friedenstempel, dem Andenken der gelobtesten deutschen Fürstin geweiht. Auf der Stelle, wo er steht, hat die Königin Luise, die Mutter unseres Kaisers, nach vielen Leiden und Demüthigungen in freundlicher Abgeschiedenheit die letzte irdische Ruhe genossen, die nur zu bald durch die verhängnißvolle Krankheit unterbrochen werden sollte.
Am 25. Juni 1810 war sie mit dem König Friedrich Wilhelm III. in Neustrelitz eingetroffen. „Als wir uns der mecklenburgischen Grenze näherten,“ schreibt die Gräfin Voß in ihren „Erinnerungen“, „überkam sie plötzlich eine räthselhafte Traurigkeit. Einige Augenblicke war sie ganz von derselben übermannt, aber sie faßte sich rasch wieder und es ging vorüber.“
Sie fühlte sich ja auch unaussprechlich glücklich in der Nähe des geliebten Gemahls, des Vaters, der alten „engelsguten“ Großmama, die sie und alle ihre Geschwister erzogen. In Neustrelitz blieb der Hof nur einige Tage, um dann nach Hohenzieritz, etwa anderthalb Meile von der freundlichen Residenz entfernt, überzusiedeln, wo auch die Königin, damals noch Kronprinzessin, schon im Juli 1796 einige Zeit zugebracht hatte und das sie sehr liebte. In Neustrelitz gab ihr der herzogliche Vater noch ein Fest im Schloßkoppelpark; auf seinem Zimmer schrieb sie auch am Abende des Tages, 29. Juni 1810, die bekannten Worte nieder: „Lieber Vater! Ich bin heute sehr glücklich als Ihre Tochter und als die Frau des besten der Gatten.“
Dann folgten einige Tage glücklichen Beisammenseins und anheimelnden Lebens in Hohenzieritz, bis die tückische Krankheit ganz plötzlich auftrat, die so verhängnißvoll für die erst vierunddreißigjährige Königin werden sollte. Der König hatte sie am 3. Juli verlassen; am 4. wachte schon die Schwester Friederike, die nachherige Königin von Hannover, die ganze Nacht bei ihr. Dann nahm die Krankheit den schnellsten Verlauf, und schon am 19. Juli, Morgens gegen neun Uhr, hatte die Königin ausgelitten, ihre Hände in denen des Königs, ihre Augen auf ihre beiden knieenden Kinder gerichtet. „Ich sterbe, o Jesu, mach’ es leicht!“ waren ihre letzten Worte.
Ihre Söhne, der König Friedrich Wilhelm IV. und der Kaiser Wilhelm späterer Zeiten, setzten sich an dem traurigen Morgen auf die Lieblingsbank der Mutter und wanden ihr einen Todtenkranz. Die Bank ist noch erhalten und steht im Vorzimmer des Sterbegemachs der Königin. Den Platz selbst, den sie so liebte, wünschte der König bald nach ihrem Tode durch die Errichtung eiues Erinnerungstempels geweiht zu sehen, und der Bau begann schon im Jahre 1811. Der Tempel steht auf einer kleinen Anhöhe, auf einigen Stufen; Sandsteinsäulen tragen die Kuppel, an der innen ein Fries von Genien herumläuft. Um den Tempel herum zieht sich ein eisernes Gitter, umrankt von der blassen „Mädchenröthe“, einer Rose, welche die Königin sehr liebte; auf den Beeten um den Tempel im Sommer stehen Hortensien, ebenfalls Lieblingsblumen der Königin. In unmittelbarer Nähe umgeben den Bau Cypressen, denen sich dann hohe Waldbäume anschließen. Alles äußerst friedvoll und ebenso poesie- wie erinnerungsreich. Im Tempel selbst steht auf einem hohen Postament, das eine kunstreich geschmiedete Schlange als Sinnbild der Treue umgiebt, die Büste der Königin in Marmor. Sie ist nach der Todtenmaske von Christian Philipp Wolff, dem Vater des berühmten Bildhauers Albert Wolff, gearbeitet und macht im ersten Augenblicke einen zu ernsten, matronenhaften Eindruck, da wir uns die Königin gern so jugendlich-lieblich und doch hoheitsvoll vorzustellen lieben, wie sie eins der bekanntesten ihrer Bilder, das von Georg Kannengießer, uns vorführt.
Allein dieses ernste, feierliche Antlitz stimmt zu der Umgebung. In der Säule oder dem Postamente, auf dem die Büste steht, ruht ein Wahrzeichen, das mit dem Namen des Königs, der Königin, des schweren Krieges, den sie mit Deutschland durchgekämpft, auf das Innigste verknüpft ist. Es ist das erste Eiserne Kreuz. König Friedrich Wilhelm III. hatte den Orden des Eisernen Kreuzes an ihrem Geburtstage, dem 10. März, gestiftet und das erste Eiserne Kreuz sollte ihrem Angedenken geweiht sein. H. K.
Nordamerikanische Sonderbarkeiten. Die Spekulation in New-York ist unermüdlich, wenn es gilt, neue Gegenstände zu finden, an denen sie sich bereichern kann. Der Gouverneur von Minnesota hat den Brief eines New-Yorkers erhalten, in welchem dieser um die Erlaubniß nachsucht, eine Aktiengesellschaft zu gründen, welche den Zweck hat, auf künstlichem Wege Regen aus den Wolken zu locken. Der Gouverneur hat es abgelehnt, sich an irgend einem Unternehmen zu betheiligen, durch welches der Natur Zwang angethan werden soll. Das „Kansas-City-Journal“ sagt: „Laßt den New-Yorker Herrn zu uns kommen und uns einen Proberegen [704] geben. Wenn uns derselbe paßt, dann werden wir den Erfinder auf das Freigebigste unterstützen.“
Wie andere amerikanische Blätter berichten, hat sich in New-York ein Jungfrauenklub gebildet, oder vielmehr ein Klub „später Mädchen“, ein „Alter-Jungfern-Klub“. Derselbe hielt neuerdings zu Glen Island sein erstes jährliches Picknick ab. Die Männer, die sich aus Neugierde eingefunden, wurden aus dem Kreise der Festtheilnehmer verbannt und Schildwachen aufgestellt, um allen Unberufenen den Zutritt zu wehren. Die Festlichkeiten wurden eröffnet durch Absingung des Liedes: „Ein freies Leben führen wir“, worauf der Chor, unter Begleitung einer ironischen Blechmusik, bei welcher Kasserole, Bratpfannen und Waschkessel mitwirkten, das Lied: „Wir winden dir den Jungfernkranz“ anstimmte. Bei einem Festmahl von Kuchen und Gelée nebst Thee und Limonade, die in unglaublicher Menge genossen wurden, präsidirte eine noch ziemlich junge Dame, welche, weil ihr Geliebter sie treulos verlassen, geschworen hatte, ewig dem Jungfernstande anzugehören: sie hielt die weihevolle Eröffnungsrede, durch welche das Herz aller „späten Mädchen“ gerührt wurde.
Gegenüber diesem neubegründeten Verein konnte sich die Männerwelt nicht thatlos verhalten: es wurde ein Klub gegründet, der, wenn auch nicht aus Junggesellen, doch aus Wittwern besteht. Nur „einfache Wittwer“
finden Zutritt, das heißt, nur solche, welche das Recht auf diesen stolzen Namen nicht durch eine zweite Ehe verscherzt haben. Bei der Aufnahme in den Klub muß der Kandidat die Leiden erzählen, die er als Ehemann durchgemacht. Die Ausstattung des Klublokals ist eine durchaus stimmungsvolle: die Wände sind mit schöngestickten Mottos versehen wie „Theures Weib, gebiete deinen Thränen“, „Ach, die Gattin ist’s, die theure“ etc.
Auf den Etagèren stehen Nippsachen, welche Wiegen, Kinderwagen, Kochöfen, Wassereimer darstellen, und das Muster der Tapeten besteht aus kunstvoll zusammengesetzten Rechnungen von Modistinnen und Schneiderinnen. †
Der Stammhalter. (Mit Illustration S. 689.) Durch das Leben der Hansestädte geht ein patriarchalischer Zug: in Kostüm und Sitte wird das Alte treulich gewahrt. Wir sehen auf diesem Bilde eine alte Kinderwärterin aus Bremen, die den Stammhalter und Sprößling einer vornehmen Patricierfamilie auf dem Arme trägt. Doch nicht mit pflichtgemäßer Gleichgültigkeit wartet sie ihres Amtes: der Ausdruck ihrer Züge beweist, daß schöne Erinnerungen aus der Jugendzeit in ihr auftauchen, denn sie hat schon den Vater des Kleinen als Kind auf ihren Armen gewiegt, und der Stolz über den neuen Stammhalter giebt ihr die Kraft, auch noch im höchsten Alter die Pflichten der Wärterin zu erfüllen. Das Kostüm der Wartfrau ist alte Bremer Tracht, wie sie früher Bürgerfrauen und Bürgermädchen trugen und wie man sie jetzt noch bei Kinderwärterinnen sieht. Auf der weißen Mullhaube, die der alten Holländer Mütze ähnlich ist, sitzt noch ein ganz kleines Häubchen aus golddurchwirktem Stoff, die sogenannte Kapsel, die sich dicht an den Kopf anschließt, und an deren unterem Ende ein bis auf die Waden herabfallendes Band befestigt ist.
Solche Mützen wurden sehr in Ehren gehalten, denn sie hatten oft bedeutenden Goldwerth.†
Weinlese an der Nahe. (Mit Illustration S. 697.)
„Jetzt schwingen wir den Hut,
Der Wein, der Wein ist gut!“
So hört man’s zur Zeit der Weinlese schallen in den deutschen Bergen, die durch das Wachsthum eines „Guten“ begnadet sind. In den herrlichen Weingegenden am Rhein, an der Mosel und der Nahe sind die Tage der Lese wahre Festtage, und bei Jung und Alt herrscht ungebundene Fröhlichkeit, die natürlich wächst mit der Güte „des Guten“, das heißt des Jahrgangs. Böllerschüsse knallen in der Runde, Raketen und Schwärmer sausen durch die Luft und überall, wie ein lustiges Frage- und Antwortspiel, erschallt von Berg zu Berg der fröhliche Juhschrei des glücklichen Winzervolkes. Des Abends aber, am Schluß der Lese, wird – wie dies L. Geibel’s treffliches Bild „Weinlese an der Nahe“ darstellt – für die Winzer und Winzerinnen ein einfaches ländliches Mahl improvisirt: Bütten werden umgestürzt, um, mit Linnen bedeckt, als Schenk- und Kredenztische zu dienen für Speisen und Getränke, die der Weinbergbesitzer spendirt, für prächtigen Käse, Butter und Brot nebst ungezählten Flaschen vom „Vorigsjährigen“, denn vom „Neuen“ giebt er grundsätzlich keinen Tropfen ab. Doch auch „der Alte“ ist trefflich und mit ihm stößt man an auf „den Jungen“, dann aber wird schleunigst ein freier Raum geschaffen, denn der Barbier, der so schöne Tänze zur begleitenden Guitarre zu pfeifen versteht, ist einer Einladung des Festgebers gefolgt und hat sein Instrument mitgebracht. Was Wunder, daß das junge Volk Essen und Trinken darüber vergißt und zum Tanze fliegt!
In Erinnerung versunken. (Mit Illustration S. 701.) Einen Korb mit lebendigem kleinen Hundevolk hat der junge Seefahrer, ehe er seine Heimat, den Strand von Scheveningen, verließ und in die See stach, seinem lieben Mädchen zurückgelassen. Träumend sitzt sie da und sieht beim Kartoffelschälen dem Spiele der kleinen Gesellschaft zu. Ob nicht der junge Seemann, wenn er zurückkehrt, sich selbst bei ihr auf Lebenszeit in Kost und Pflege geben wird, wie jetzt die lebendige Hinterlassenschaft? Das träumt sie mit offenen Augen! †
Weiß. Schwarz. | Weiß. Schwarz. | |
1. | e 3 – e 4 L d 8 - f 6;1. | . . . . . f 4 – f 3!|
2. | S g 5 – e 4! beliebig2. | S g 5 – h 3! beliebig|
3. | L oder S setzt matt.3. | L oder S setzt matt.|
1. . . . . e 5 – e 4! |
1. . . . . b 5 – c 4: |
Weiß droht mit 2. S e 4 oder S h 3. Schwarz vermag durch sein Gegenspiel obige Varianten zu erzwingen. Ein einfaches, aber doch höchst ansprechendes Stück.
Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 685. – Blutarmuth und Bleichsucht. Von Dr. Fr. Dornblüth in Rostock. S. 690. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Fahrbare Panzerthürme. Von G. van Muyden. Mit Abbildungen. S. 692. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Schluß). S. 693. – Hinter den Koulissen des Berliner Opernhauses. Von Paul Lindenberg. S. 701. – Blätter und Blüthen: Ein greiser Gelehrter. S. 703. – Der Luisen-Tempel im Schloßgarten zu Hohenzieritz. S. 703. Mit Illustration S. 685. – Nordamerikanische Sonderbarkeiten. S. 703. – Der Stammhalter. S. 704. Mit Illustration S. 689. – Weinlese an der Nahe. S. 704. Mit Illustration S. 697. – In Erinnerung versunken. S. 704. Mit Illustration S. 702. – Allerlei Kurzweil: Baumwurzeln. S. 704. – Auflösung der Schachaufgabe auf S. 684.
Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Außer der Fortsetzung des allgemein mit größtem Beifall aufgenommenen Romans
werden im nächsten Quartal noch folgende spannende Novellen zum Abdruck gelangen:
Ueber den Gartenzaun. Von A. Weber. |
Die Insel der Seligen. Von H. Pichler. |
Unser Männe. Von W. Heimburg.
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Aus der Reihe der belehrenden und unterhaltenden Artikel heben wir nur folgende hervor: Ein Friedhof ohne Gleichen und vierzig auferstandene Könige. Von Georg Ebers. Pflege des Gehörs. Von Dr. J. H. Baas. Die Bastille. Von Rudolf von Gottschall. Ihre erste Gesellschaft. Von H. Heiberg. Die deutschen Elemente in Paris. Von Marie Calm. Der Spion. Von Heinrich Noë. Aus den Zeiten des Brigantaggio. Von J. Kurz. Endlich wird auch im nächsten Quartal einer der stimmungsvollsten Vorträge Brehm’s unter dem Titel Der Urwald erscheinen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).
Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.