Die Gartenlaube (1886)/Heft 42

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[741]

No. 42.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ueber den Gartenzaun.
Erzählung von A. Weber.
(Fortsetzung.)


Als Terka den jungen Stefan in ihrem eigenen Hofe vor ihrer Riza erblickt hatte, fühlte sie ihr Herz klopfen. Sie war ihm öfter zwar in Feld und Gassen begegnet, aber Terka hatte bei Begegnungen mit den Nachbarleuten geflissentlich immer den Blick abgewandt; nun sah sie erst, daß Stefan des Janos’ leibhaftiges Ebenbild geworden war, nur daß er sich sogar in diesem Augenblick der Selbstvergessenheit straffer aufgerichtet hielt als sein Vater, daß sein Kinn energischer war und seine schwarzen Augen in einem Feuer leuchteten, welches denen des schönen Janos immer gefehlt hatte. Der Terka schlug das Herz in einem


Flissacken-Terzett.0 Originalzeichnung von R. Aßmus.

[742] schmerzlich heftigen Gefühl; was der Anblick seines Vaters, der ihr gleichgültig, ja verächtlich geworden war, nicht mehr vermochte, bewirkte der seines jungen Ebenbildes: die Tage der versunkenen Liebe, in der Erinnerung verschönt, stiegen vor Terka auf. Es kam ihr plötzlich der Gedanke, daß, so lieb und werth sie später auch ihren alten Pista in dankbarer Gattentreue gehalten, sie doch nie das Glück genossen hatte, dessen Vorgefühl sie damals an jenem Pfingstabende empfunden hatte, dessen Entbehrung ihr jetzt die Thränen aus tiefstem Herzen herauf brennend in die Augen trieb.

Und wer hatte Schuld daran, daß sie es nie genossen? Der Janos mit seiner schnöden Untreue, der Janos, dessen Sohn jetzt neben ihrer Tochter saß und sie mit Blicken anschaute – mit denen Janos die Terka eben nie angeschaut hatte.

Nun wußte Terka, was sie entbehrt hatte in ihrem Leben; die Jahre ihrer Ehe zogen in raschen Schattenbildern an ihr vorüber, in Bildern, worin sie nur den Schatten der Entbehrung sah, nicht das milde Licht, das ihre Pflichttreue und Liebe für Mann und Kind darüber gebreitet hatte.

Und dieser neue Janos dort sollte genießen, um was der alte sie gebracht, sollte durch ihre eigene schöne, liebe Tochter jenes Glück genießen? Nimmermehr!

Sie würde das schon zu verhindern wissen, sie, die Terka, welche noch in Allem die Hand oben behalten Hatte – außer in Sachen der Liebe.

Riza mußte fort, sogleich.

Wenn sie wiederkäme – die Terka lachte auf: wenn Riza zwei Jahre lang in einem Institut mit vornehmen Fräulein zusammen gewesen war, konnte ihr der Bauernbursche nicht mehr gefährlich werden. Dann besorgte ihr die Terka einen besseren Mann. Sie wollte schon jetzt Umschau unter den vornehmen Kavalieren halten.

So beruhigt, rief Terka ihrem Kinde, es sei Zeit, zu Bette zu gehen, und Stefan, von Anblick und Stimme der „bösen Nachbarin“ aus allen Himmeln gerissen, schlich nach Hause.

Terka hatte die Genugthuung, ihr Töchterlein, kaum daß es mit beiden Füßchen ins Bett gehüpft war, in ruhigem Schlafe athmen zu hören; sie selbst aber verbrachte die Nacht fast schlummerlos auf ihrem Lager.

Sie dankte Gott, als der Morgen kam und die gewohnte Arbeit die Ruhe einigermaßen wieder in ihr herstellte. Nachmittags aber legte sie ihren Feststaat an, das schwere grünseidene Kleid, die breite rosa Schürze, das Sammetmieder mit silbernen Schnuren und die niedrigen Atlasschuhe, ordnete ihr schwarzes Kopftuch in zierliche Falten, legte den weichen Seidenshawl um und ging nach dem Institut, in welchem sie vor siebzehn oder achtzehn Jahren als Köchin gedient hatte. In stolzer Genugthuung bedachte sie jetzt, daß sie diesem Institute heute eine Patronin und Gönnerin zu werden beabsichtige; denn sie wollte ihm ja eine neue Kostgängerin zuführen.

Ihr Herz schwoll, als ihre ehemalige Herrin, die der Anstalt noch immer ebenso klug wie energisch vorstand, die frühere Dienerin keineswegs herablassend, sondern wie eine alte, liebe Bekannte empfing und sie, da soeben das Vesperbrot aufgetragen wurde, auf den Ehrenplatz der langen Tafel nöthigte. Terka saß, stippte das Gebäck in den reichlich gesüßten Milchkaffee, prüfte es mit der Zunge und dachte, daß es zu ihren Zeiten weit besser gewesen sei. Dann wurde sie sich wieder des Umstandes bewußt, daß sie jetzt an demselben Tische als „Dame“ geehrt, ja umschmeichelt sitze, für den sie früher im Hinterhause gekocht und gebacken habe. Das ging der Terka wie flüssiger Honig die Zunge hinunter.

Sie verschaffte sich in der Folgezeit noch oft diese Genugthuung; denn Riza siedelte schon Tags darauf in das Institut über, und da das Mädchen in den zwei folgenden Jahren das Elternhaus nicht betreten sollte, so besuchte die Mutter allsonntäglich ihr Kind im Institute. Hier wurde sie immer mit offenen Armen und vielen Ehren empfangen, so daß sie in diesen zwei Jahren in ihren eigenen Augen an Ansehen und Weisheit gewaltig zunahm.

Was Riza betraf, so wurde sie der verhätschelte Liebling der Lehrerschaft, einestheils wegen ihres schelmischen Liebreizes, andererseits wegen der Viktualien und Papiergulden, mit welchen die Mutter der Tochter Reiz erhöhte. Da nun ihre Kameradinnen Riza „einen guten Kerl, eine wilde Hummel und einen durchtriebenen Strick“ nannten; so ist ersichtlich, daß sie auch bei diesen in gutem Ansehen stand. Unter so bewandten Umständen quälte sie sich mit dem Lernen nicht allzusehr ab: Mademoiselle Adèle drückte beide Augen darüber zu, daß sie noch nach zwei Jahren ihre Puppe mon poupée“ nannte; der Geschichtsprofessor fragte sie um so weniger nach den unbequemen Jahreszahlen und Schlachtennamen, als in ungarischen Töchterschulen Nam’ und Zahl überhaupt für „Schall und Rauch“ gelten – und so war das Resultat dieser zweijährigen milden Dressur, daß Riza, als sie eines schönen Märztages an der Hand der Mutter unter einer Sündfluth allseitig vergossener Thränen das Institut verließ, sich gar nicht viele Mühe zu geben brauchte, um möglichst rasch überflüssigen Wissenswust aus ihrem Köpfchen zu treiben. Indeß muß man, um gerecht zu sein, zugeben, daß sie von der Institutserziehung doch manchen Nutzen gezogen: sie fertigte, möglichst tief über den Rahmen gebückt, augenmörderische Stickereien; sie hatte z. B. für die gleich nach dem Osterfeste zu eröffnende Szegediner Gewerbe-Ausstellung einen Teppich mit neun Quadratmeter Aehrenbüscheln gestickt, allerdings mit „Beihilfe“ der Handarbeitslehrerin, welche unglückliche Person von Morgens vier Uhr an die Arbeiten der Zöglinge „vollendete“, das heißt in der Hauptsache selbst fertigte. Auch aß Riza mit der Gabel und trank zierlich, wußte, daß der Werth eines Menschen in erster Linie von seinen Nägeln bedingt sei, machte eine elegante Verbeugung, tanzte entzückend, schlug sittsam die Augen nieder, wenn sie einem Herrn begegnete – obwohl sie eigentlich nicht begriff, warum sie sich vor demselben zu schämen hätte – und beobachtete die Regel, daß sie nie anders als in Gegenwart einer Respektsperson auch nur eine Minute lang mit einem Manne allein sein oder gar mit ihm sprechen dürfe – obwohl sie sich eigentlich gar nicht so sehr vor den Männern fürchtete und nicht glaubte, daß sie ihr gleich etwas Schreckliches anthun könnten.

Ferner wußte Riza, daß sobald sie das Institut verließ, die Mutter sie verheirathen werde. Wie alle ihre klösterlich erzogenen Gefährtinnen dachte sie sich die Ehe als eine herrliche Mischung von gänzlicher Freiheit, zu thun und zu lassen was sie wollte, mit etwas ganz Unbekanntem, Geheimnißvollem, etwas Aengstigendem und Reizendem, dem sie mit erwartungsvoller Neugier entgegensah. Wenn ihr diese letztere Vorstellung kam, war damit immer die Wiederkehr derselben Erinnerung verknüpft: sie sah Stefan vor sich stehen und ihr zuschauen, wie sie sich den Rosenkranz auf den Kopf setzte. Die Scene und der Blick hatten damals gar keine Wirkung auf sie gehabt, und doch hatten sie sich ihrem Gedächtniß eingeprägt und kamen ihr immer in den Sinn, wenn sie an die geheimnißvolle Zukunft dachte. Doch geschah das nicht oft; denn sie tanzte wie ein Mücklein im Sonnenstrahl der fröhlichen Gegenwart.

Aber heut schritt Riza, das Herz noch unter dem Eindruck der thränenreichen Abschiedsscene, ziemlich nachdenklich die staubigen Gassen, die sie zwei Jahre lang nicht betreten, an der Hand der Mutter herab. Und weil Terka auch ernsthaft und schweigsam war und ab und zu des Dirnleins Hand drückte, welches ungewohnte Thun ihm fast ängstlich bedeutungsschwer vorkam, war’s ihm, als schreite es jetzt geradeswegs in die unbekannte Zukunft hinein. Da trat vor die ahnungsvoll gespannte Seele wieder das Bild des schwarzäugigen, schlanken Buben, und das Dirnlein seufzte beklommen in halber Furcht und halber Sehnsucht.

Und gerade in diesem Augenblick fast feierlicher Spannung. zuckte die Hand der Mutter heftig in der ihren; Riza erhob den gesenkten Blick, sah erst erstaunt, dann erschrocken aus und – lachte dann in vollem, tollem Uehermuth ohne Aufhören.

Vor ihr stand der Gegenstand ihrer Träume, aber - in jenen weißen, ausgefranzten Linnenhosen, die in ihrer ungeheuerlichen Weite den lächerlichen Eindruck machen, als ginge ihr Träger im Hemd. Nun hatte Riza ja schon viele Bauern in diesen weiten Hosen gesehen, und es war heute trotz der frühen Jahreszeit so heiß, daß die Tracht Stefan’s, der mit seinem Gespann vom Felde kam, sehr erklärlich war. Aber was helfen Erklärungen und Vernunftgründe, wenn man den Gegenstand seiner Träume, den man sich nur in den erhabensten oder schönsten oder geheinmißvollsten Situationen gedacht hat, plötzlich in solcher Tracht vor sich sieht!

[743] Riza lachte, lachte, lachte, und fortgeblasen von diesem Lachen war das Traumgespinnst aus ihrem Herzen; die Wirklichkeit trat ja in so lächerlichen Gegensatz zu ihrer feierlichen Stimmung.

Stefan war ein Bauer und trug weite Linnenhosen; also würde man nicht mehr an ihn denken; denn man war ein feines Fräulein mit französischer Bildung und großen Aussichten auf die Zukunft. Und dachte man einmal an ihn, so würde man immer lachen müssen. Wie aber könnte man zugleich lachen und träumen? Man würde also nicht mehr träumen, wenigstens nicht mehr von ihm.

Die Mutter verstand nicht den Grund dieses Umschlags von Riza’s Stimmung; doch begriff sie leicht, daß ein Verehrer, über den ein Dirnlein lacht, ihm nicht mehr gefährlich ist. So hatte sie denn vollkommen erreicht, was sie erstrebt; sie legte sich mit dem stolzen Bewußtsein ihrer erfolgreichen Weisheit zu Bette und träumte, daß der Sohn des Obergespans um ihre Riza freite und Janos oder Stefan, sie konnte nicht erkennen, wer von Beiden, in weißen Linnenhosen auf dem Maulbeerbaum säße und vor Staunen und Aerger immerfort die Hände über dem Kopf zusammenschlüge. Darüber mußte Terka so lachen, daß sie erwachte, und da die Uhr die fünfte Morgenstunde zeigte, so sprang sie aus dem Bett, blieb aber, ehe sie an ihre Arbeit ging, noch einen Augenblick vor ihrem schlafenden Töchterchen stehen. Das lag, ein Lächeln auf den rothen Lippen, in so holdselig erblühter Schönheit da, die goldenen, krausen Härchen auf der reinen Stirn, die weißen Händchen auf der Brust: der Terka kamen Thränen des Stolzes in die Augen, sie schlug andächtig ein Kreuz über die Schlafende und flüsterte:

„Einen Prinzen für Dich, Liebchen – aber wo ihn herkriegen? – Nun, schlaf’ ruhig, mein Täubchen, Deine Mutter besorgt Dir doch einen!“

Nun ist es aber eine alte Geschichte, daß selbst Sonnenschein und Mädchenlachen nicht allen Menschen erfreulich sind; und so hatte auch gestern die Person, welche dieses lustige Lachen verursacht, nämlich unser Freund Stefan, zuerst ein ganzes Weilchen stillgestanden und verdutzt der lachenden Riza nachgeschaut. Dann schlug er wüthend auf seine Pferde ein, daß sie im Galopp nach dem Hofe liefen; er selbst aber rannte hinauf in sein Giebelzimmer, warf sich auf einen Stuhl, sprang wieder auf, lief zum Tisch, auf dem ein halb Dutzend Bücher lagen, ergriff diese unschuldigen Herbarien menschlicher Weisheit und schleuderte sie, eins nach dem andern, mit Wucht auf die Erde. Nun warf er sich wieder auf einen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, vergrub das Gesicht in die Hände und heulte wie ein wüthender Schulbube. Dann ergriff er die unglücklichen Bücher, schleppte sie zum eisernen Ofen und stopfte sie ihm in den schwarzen Schlund. Als er sie eben in Brand setzen wollte, kam ihm der Gedanke, zusammenzurechnen, wie viel sie ihm gekostet hatten, um seiner Wuth durch die Einsicht in die unnütze Verschwendung neue Nahrung zu geben. Aber das Rechnen, welches seine schwächste Seite war, ernüchterte ihn; er ließ die Bücher vorläufig unverbrannt im Ofen und warf sich, ohne gegessen zu haben, angekleidet aufs Bett, als solle sein armer Leib die Wunde seiner Seele büßen.

Daß Stefan aber seine Wuth an den Büchern ausließ, hatte einen triftigen Grund. Was hatte er sich mit ihnen herumgequält und abgearbeitet! Als er vor zwei Jahren gehört, daß Riza plötzlich ins Institut gesteckt worden, war ihm nach Ueberwindung des Schreckens über die Trennung die Ahnung aufgegangen, daß sie, von dort zurückgekehrt, nichts von ihm halten werde, wenn er nicht Schritt halten könne mit der entsetzlichen Bildung, welche man ihr dort aufpfropfen würde. Da hatte der arme gute Junge in seiner Liebe und Angst den schweren Kampf mit seinem harten Kopf aufgenommen, beim Antiquar für schweres Geld eine lateinische Grammatik, ein paar Toussaint-Langenscheidt’sche Briefe, den zweiten Theil einer fünfbändigen ungarischen Geschichte, einen „ungarischen Staatsbürger“ eingekauft und deren Inhalt auswendig gelernt. Und wann hatte er das gethan? Wenn er spät Abends, todmüde von der schweren Feldarbeit, nach Hause gekommen war, ihm die Augen zufielen und der Verstand wie zugeklappt war. Bald nach Riza’s Entfernung war Stefan’s Mutter, die alte Martscha, gestorben, zur großen Erleichterung des Janos, der nun seinen Tag mit Essen, Trinken und Schlafen hinbrachte. Der fleißige Sohn mußte Vater und Mutter in Feld und Hof ersetzen. Das war dem Stefan eine selbstverständliche Sache; die Arbeit ging ihm leicht von der Hand, und das Anwesen blühte unter dem tüchtigen jungen Bauern; aber das Lernen – lieber zwölf Stunden pflügen, als eine Stunde lang Zahlen oder Regeln pauken! Und doch bekam er’s zuletzt in sich hinein, wann, wo und wie oft König Stefan die Türken schlug und wie die Geschichte mit den verflixten unregelmäßigen lateinischen Verben war; denn hinter all der Quälerei stand der Gedanke, daß Riza, wenn sie seine Gescheitheit merken würde, ihn freundlich und vielleicht mit einigem Respekt anschauen müßte. Und während ihm zu Anfang der Trennungszeit das liebliche Köpfchen nur als etwas allgemein Schönes vorgeschwebt hatte, das man gern immer hätte anschauen mögen, etwa wie vornehme Leute gar viel Wesens von den Rosen und dem Sonnenschein machten, so hatte er im Laufe der Jahre, da er seinen eigenen dicken Kopf gar sehr für dieses Köpfchen plagte, sich dasselbe sammt der knospenden Gestalt in Gedanken immer mehr zugeeignet. Er war schließlich zu dem Glauben gekommen, daß alle diese Holdseligkeit allein für ihn blühen müsse und werde. Und mitten in diesen festen und ehrbaren Heirathsgedanken wurde er plötzlich durch ein helles Lachen ernüchtert.

Was hatte Riza zu lachen über ihn, den saubern, kräftigen, tüchtigen Stefan, über ihn, der sie seit, er wußte nicht, wie vielen Jahren treu liebte, der auf die Kunde ihrer Heimkehr eine halbe Stunde zu früh vom Felde gekommen war, bloß um sie zu sehen? – über ihn, der eben so gescheit war wie sie?

Armer Stefan! es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß junge Mädchen allzu oft nicht danach fragen, was in einem Kopfe sei, der von außen häßlich aussieht, und wenig von einem treuen Herzen halten, das in einem ungeschlachten Körper oder auch nur in schlechten, lächerlichen Kleidern steckt.

Und weil Stefan das nicht verstand, wüthete er gegen Riza, gegen sich selbst und vor Allem gegen die Bücher, die Zeugen seiner aufopfernden Liebe. Doch entschloß er sich nach einer Nacht guten Schlafes – sein junger Liebeskummer schlug mehr nach außen um sich, als daß er sich nach innen hineinfraß – die Riza zu „stellen“ und von ihr selbst herauszubekommen, ob es nun für immer aus sein solle zwischen ihm und ihr. Er hatte sich mit der Zeit so in seine Heirathspläne hineingedacht, daß er die Riza nicht als passive, sondern als aktive Theilhaberin derselben ansah und ihr Betragen als Abfall und Untreue empfand.

Da aber ein Stelldichein vom Maulbeerbaum aus in so fern seine Schattenseiten hatte, als sich, wie dem Stefan trotz seiner Aufregung beifiel, eine Liebeszwiesprach’ am Ende nicht gut ausnehmen würde, wenn sie herauf- und hinuntergeschrieen werden müßte, und da er nach der gestrigen Enttäuschung doch nicht recht wagte, der Riza gleich wieder vom Himmel herab vor die Füße und zwar in den Garten ihrer bösen Mutter zu fallen, so beschloß er, vor allen Dingen sein Herz am Anblick der Geliebten zu ersättigen und dabei eine Gelegenheit abzupassen, ihr ein paar Worte zuzuraunen.

Da nun heute Karfreitag war, so that Stefan seinen schönsten Anzug an, und als er seine jungkräftige Gestalt, welche die reiche, knappe Kleidung vortheilhaft hervorhob, in dem großen Pfeilerspiegel betrachtete, durchlief ihn das frohe Gefühl, daß er ein schöner Bursch und der Riza werth wäre.

Er hatte auch wirklich das Glück, Riza in der Kirche neben ihrer Mutter in der Menge zu sehen, wenn es ihm auch nicht gelang, bis zu ihr zu dringen. Wie das zarte Dirnlein im lichtblauen Kleidchen da kniete, das reiche blonde Haar noch wie ein Institutsmädchen zum kindlichen Flechtenkrönchen aufgesteckt, die Händchen in demüthiger Bitte auf dem Busen gefaltet und die sonst so lachenden goldbraunen Augen in frommer Andacht zu dem celebrirenden Priester aufgehoben, erweckte sein Anblick in Stefan eine fromme Rührung und zarte Scheu, sich diese kindliche Holdseligkeit auch nur in Gedanken zuzueignen.

Leider wurde seine andächtige Verehrung bald getrübt, als er den Blicken der Terka folgte, die neben Riza kniete, aber ihre Augen oft verstohlen zur Seite wandte und dabei aufgeregt lächelte. Stefan wurde nun ebenfalls unruhig und spähte [744] umher, bis er gewahrte, daß unweit von Riza ein Herr ebenfalls in entzückte, aber keineswegs fromme Bewunderung Riza’s versunken war; denn seine kleinen, schwarzen Aeuglein funkelten unausgesetzt auf die Knieende herab und ein schmunzelndes Behagen verzog die dicken Lippen, welche ein dünner, rothblonder Bart, der in zwei langen Franzen über die Brust herabhing, nur wenig verdeckte.

Ueberhaupt war dieser Mann – mindestens in Stefan’s nicht ganz vorurtheilslosen Augen – ein unangenehmer Geselle. Er war schon „alt“, das heißt, er mochte am Ende der Dreißiger stehen, hatte eine Menge kleiner Fältchen um die Augen und auf den hervorstehenden Backenknochen; seine Figur war hochschultrig und hager, steckte aber in ausgesucht eleganter Kleidung, welche der unbillige Stefan geckenhaft schalt; seine Bewegungen waren geziert, und selbst seine augenscheinliche Bewunderung für Riza vermochte es nicht ganz, den Stolz auf seine Bartfranzen aus seinem Gemüth zu drängen; denn er fuhr oft mit der behandschuhten kleinen Hand sanft liebkosend darüber hin oder zauste sie zu größerer Breite aus einander, wobei jedesmal ein Zug von Hochmuth und Eitelkeit seine Nasenflügel blähte.

Mit klopfendem Herzen beobachtete Stefan, daß Riza freilich ihren Bewunderer nicht zu bemerken schien, daß aber ihre Mutter immer öfter zu ihm hinschaute und jedesmal immer stolzer lächelte und sich in die Höhe reckte.

Als nun das Hochamt beendet war und Riza sich erhob, setzten sich auch ihre beiden Verehrer in Bewegung. Stefan drängte sich rücksichtslos durch die murrende Menge dem Ausgang zu und wartete dort, um dicht hinter der Geliebten hergehen zu können. Dieses Vergnügen genoß er denn auch; aber es bekam einen unangenehmen Beigeschmack. Sein klügerer Nebenbuhler hatte sich, da er als Einer der Ersten im Freien anlangte, den besten Platz in jener Gasse erobert, welche die jungen Männer Szegedins an Sonn- und Festtagen zu beiden Seiten der Kirchthür bilden, um die Schönen Revue passiren zu lassen. Als nun Stefan dicht auf Riza’s Fersen in die Gasse hinaustrat, hatte er das Vergnügen, seinen Nebenbuhler die beiden Frauen in so tiefer Ehrerbietung grüßen zu sehen, daß ein Murmeln durch die lebendige Gasse lief.

Riza erröthete darüber so sehr, daß selbst der schmale Streifen des Nackens, welchen Stefan über der Halskrause erblicken konnte, sich purpurn färbte, und die Mutter schaute sich um, ob auch Viele die ihnen erwiesene Ehre bemerkt hätten. Als sie dabei gerade in Stefan’s grimmiges Gesicht blickte, lächelte sie ganz abscheulich spöttisch. Natürlich schauten nun alle Herren sehr interessirt auf das so auffallend ausgezeichnete Mädchen, und selbst ungenirte Ausrufe, wie „schön! bildsauber! aufbrechendes Rosenknöspchen!“ und dergleichen drangen zu Stefan’s Ohren, der alle diese frechen Menschen, welche seine Heilige anzustarren wagten, hätte umbringen mögen. Als er nachher Riza’s Weg absichtlich kreuzte und sie grüßte, blickte sie nur flüchtig auf, ohne durch irgend eine Bewegung tiefern Antheil an ihm zu verrathen; ihre Gedanken waren entschieden noch bei der ersten Huldigung, die ihrer Schönheit geworden – oder am Ende gar bei „diesem abscheulichen Gecken“, der an der ganzen Scene schuld war. Stefan ballte die Fäuste bei diesem Gedanken.

Terka aber that Besseres. Zuerst erkundigte sie sich nach den näheren Verhältnissen des Bewunderers ihrer Tochter und erfuhr, daß er Perfy Viktor heiße, Advokat sei und aus vornehmer, wenngleich verarmter Familie stamme. Da die Advokaten nun außer dem Obergespan, dem Oberbürgermeister und wenigen anderen Vornehmen den ersten Rang in Szegedin einnehmen, so schwoll Terka’s Herz in der noch zaghaften Hoffnung, eine unerhörte Ehre und ein überschwängliches Glück könne vielleicht ihrem Hause widerfahren.

Sie beschloß, Perfy Viktor Gelegenheit zur Annäherung zu geben, miethete sogleich eine Loge und führte schon am ersten Osterfeiertag ihr Kind ins Theater, wo sich sofort alle Operngläser auf die junge Schönheit richteten, die eine Bäuerin zur Mutter hatte, aber in einer Loge saß und sich wie eine Dame bewegte. Perfy Viktor stand während des ganzen ersten Aktes im Parquet, mit dem Rücken gegen die Bühne, das Opernglas nach Terka’s Loge gewandt, und kaum fiel der Vorhang, so betrat er dieselbe. Stefan war auch im Theater und folgte wie ein Schatten den Bewegungen Riza’s, ohne jedoch von ihr beachtet werden zu können, denn er saß in angeborenem Sparsamkeitsbedürfniß und weil es immer sein Schicksal war, der Riza auf den Kopf zu schauen, hoch oben im Olymp. Doch hatte er sich zu dem Platz durchgedrängt, welcher Terka’s Loge gerade gegenüberlag, und seine Falkenaugen gewahrten sehr wohl, wie tief Riza erglühte, und wie der Mutter Gesicht strahlte, als „der storchbeinige Advokat“ um die Ehre bat, sich „den Damen“ vorstellen zu dürfen. Und nun begann eine sehr lebhafte Unterhaltung – das heißt der Advvkat sprach, und Riza hörte mit gesenktem Köpfchen zu. Was er ihr nur Alles sagen mochte?

Nun, er sprach angelegentlich von seiner Tante, der Tochter des verstorbenen Obergespans, welche er ins Theater begleitet hatte, erzählte den Lebenslauf seiner Dido, des schönsten Pferdes, das je einen Szegediner Kavalier getragen, sprach von seiner Juno, dem famosen riesengroßen Bernhardiner, dem größten Hunde Szegedins – „Fräulein kennen das Thier wirklich noch nicht? Aber wie schade! Wollen Fräulein die Gnade haben, morgen um zwölf Uhr Mittags die schönen Augen auf den Platz vor Ihrem Fenster zu richten? Es würde mich glücklich machen, und Dido und Juno verdienen, daß die reizendste Dame Szegedins sie einen Moment ihrer Aufmerksamkeit würdige. Mein seliger Großonkel, der Obergespan Teleky Viktor, behauptete immer, kein Kavalier Ungarns habe einen so sicheren Blick und eine so glückliche Hand in Auswahl und Zucht von Rassepferden und -Hunden, wie ich – und in der That: Dido und Juno sind zu einiger Berühmtheit in Szegedin gelangt. Es ist so meine Gewohnheit, immer das Rarste zu haben. Daß Fräulein noch nichts von den Thieren gehört haben! Aber was will das sagen gegen die viel wunderbarere Thatsache, daß meinen scharfen Augen bis vorgestern die größte Schönheit Szegedins entgangen war. Gnädige sagen, Fräulein wären so lange im Institut gewesen? Ach, das erklärt Alles! Diese neidischen Mauern welche so lange solchen Liebreiz versteckten! Aber man holt nach. Spielen Fräulein vielleicht Pianoforte? Nur wenig? O, das thut nichts, wenn man einen guten Partner hat. Ich bin nämlich, wie man sagt, in Szegedin der beste, wie ich sage, ein ziemlich guter Musiker. Ich hoffe, in allernächster Zeit das Urtheil und den Rath des größten Klaviervirtuosen der Welt – doch st! das ist noch tiefstes Geheimniß! – Ja, die Musik ist meine Leidenschaft, Fräulein; sie narkotisirt so reizend die Sinne, und man erholt sich dabei vom Denken – mon dieu, man wird allmählich ein gesuchter Advokat, und das strengt an. Aber es ist fad, mit einer schönen Dame von solchen ernsthaften Dingen zu plauschen. Ja, was ich sagen wollte: Fräulein werden doch unsere Gewerbe-Ausstellung anschauen? Ich gehöre natürlich zum Komité – man hat die Pflicht, seinem Lande aufzuhelfen. Ich kann Fräulein ganz im Vertrauen verrathen, daß es meinen Anstrengungen vielleicht gelingen wird, einen illustren Gast –“

„Ruhe da unten in der Log’; Eins will im Theater die Schauspieler hören, nicht die Advokaten!“ schrie plötzlich von der Galerie herab eine wüthende Stimme, und der Advokat richtete seine Gestalt, welche er tief über Riza gebeugt hatte, auf und schaute mit einer Miene hochmüthigen Erstaunens auf den Schreier, welcher sich mit dem ganzen Oberkörper über die Brüstung herabbeugte.

„Mon dieu, wie frech jetzt die Bauernbuben werden!“ sagte er, gelassen seinen schönen Bart arrangirend; dann aber erschrak er ein wenig; denn Riza war dunkelroth geworden, und Perfy Viktor fiel es ein, daß hinter dem schönen Mädchen eine Bäuerin saß, welche dessen Mutter war. So gerieth er denn ein wenig in Verlegenheit über seinen Mißgriff und empfahl sich ziemlich eilig, zum großen Aerger der Terka, welche in Wonne über die Herablassung des Edelmanns schwamm und in einem fort sagte: „Jesus, wie schön der halt plauschen kann! Eins glaubt gar nicht, welchen Unterschied es macht, ob ein Kavalier von Hunden und Pferden plauscht, oder ein Bauer! Wär’ nur nicht der dalkete Lump, der Stefan, dazwischen gekommen, der Unverschämte –“

„Aber, Mutter, er hat doch eigentlich Recht,“ fiel Riza ein, noch immer roth wie eine Rose, denn in ihr stritten Aerger und eine Art freudigen Respekts über Stefan’s dreistes Eingreifen,

[745]

Ein schwieriger Brief.
Nach dem Oelgemälde von Professor B. Vautier.

[746] „es war doch im Grunde rücksichtslos von dem Herrn, so laut zu sprechen –“

„Laß mich aus, albernes Kind!“ schalt Terka. „Hast kein Einsehen, daß es ein Unterschied ist, ob ein Bauer frech ist oder ein Edelmann? Das heißt, der Edelmann ist eben nicht frech, sondern kühn, und das ist halt sein Recht und steht ihm gut.“

„Das kann ich nicht finden,“ sagte Riza und hob eigensinnig das Köpfchen. Aber am Mittage des nächsten Tages stand sie doch am Fenster und lächelte mit allen Grübchen, als Perfy Viktor seinen schönen Rappen vor ihrem Fenster kourbettiren ließ und dabei höflich vertraulich hineingrüßte, und sein großer Hund, als kenne und theile er die Gefühle seines Herrn, sie schweifwedelnd mit den klugen, braunen Augen anblickte.

„Er schaut im Sattel weit schöner aus als so auf der Erden,“ sagte sie zur Mutter, die unaufhörlich hinter ihr knixte. „Er ist halt doch recht fesch und nun erst sein Pferd und sein Hund – Jesus, sein die schön!“

„Der Prinz, von dem ich geträumt hab’, der Prinz ist ’kommen!“ jubelte Terka und knixte noch einmal in tiefer Ehrfurcht hinter dem Davonreitenden her. „Jetzt muß ich aber schaun, daß ich die zwei Beiden rasch zusammenbring’, jetzt ist’s Eisen warm!“ (Fortsetzung folgt.) 


Aus den Zeiten des „Brigantaggio“.

Von Isolde Kurz.
II.
(Schluß)


Es war an einem schneidend kalten Wintertage, als Kapitän Petriccioli mit seiner Mannschaft in dem Gebirgsort Soveria-Manelli im Kalabresischen zwischen Pizzo und Cosenza einrückte auf die Nachricht hin, daß sich dort der Brigant Chiodo versteckt halte. Sein Quartierzettel lautete auf das Haus des Syndikus, und diese ehrwürdige Magistratsperson trat dem neuen Ankömmling sofort aufs Gastfreundlichste das eigene Zimmer ab. Aber der Kapitän sollte diesen Vorzug nicht ungeschmälert genießen, denn er hatte das Schlafgemach mit den beiden Hausgenossen des Syndikus zu theilen, die am Fußende des Bettes angebunden waren – einem Esel und einem Schwein.

Hundert Schritte vom Ort entfernt wohnte in einem schönen Landhaus ein Arzt Namens Luigi Cimino, der dem Kapitän sofort seine Aufwartung machte, ihm sein ganzes Haus zur Verfügung stellte und ihn mit Liebenswürdigkeiten überschüttete. Dieser Cimino gab Gesellschaftsabende mit allem großstädtischen Luxus, wobei seine drei reizenden Töchter mit gewinnendster Anmuth die Honneurs machten; es wurde getanzt, und alle jungen Officiere waren dazu eingeladen worden. Nur unser Kapitän blieb zurückhaltend, lehnte alle Anerbietungen ab und hielt sich an seine vier Wände. Doch war er froh, daß die Regierung befohlen hatte, die Quartiere alle vierzehn Tage zu wechseln, um den Einzelnen nicht zu sehr zu belasten, und daß er daher bald aus der Gemeinschaft der beiden vierfüßigen Schlafkameraden befreit wurde.

Der Kapitän, welcher gelegentlich Kranke und Arme in dem Orte unterstützte, wurde bei dem Völklein, das ebenso rasch zur Liebe wie zum Haß geneigt ist, beliebt, und wenn die Leute von ihm sprachen, nannten sie ihn „lu buonu figghiu[1]. Dieser Popularität schreibt es der Kapitän auch zu, daß er nicht auf seinen einsamen Abendspaziergängen hinter einer Hecke hervor von einem der im Ort versteckten Briganten niedergeschossen wurde.

Auf einem dieser Abendspaziergänge, als er an einem Gesang seines Hymnus dichtete, traf er einmal auf ein altes Weiblein, das gebückt und zitternd vor Kälte an einem Rain stand und ihm bei seinem Näherkommen freundlich zunickte und rief: „Guter Junge, gesegnet seist Du und Deine Mutter!“ und was dergleichen Reden mehr waren.

Der Kapitän trat auf sie zu, fragte sie, ob sie ihn denn kenne und ob er ihr je etwas Gutes erwiesen habe, doch die Alte blieb dabei, daß er „lu buonu figghiu“ sei, der den Armen Gutes thue und dem sie Alle wohlwollten. Dabei griff sie von Zeit zu Zeit mit Daumen und Zeigefinger an die Nase, als ob sie eine Prise nähme.

„Du möchtest gewiß schnupfen, Mütterchen?“ fragte der Kapitän.

„Ich möchte freilich,“ entgegnete die Alte, „aber ich habe keinen Schnupftabak.“

Der Kapitän zog ein paar Soldi heraus und reichte sie mit den Worten: „Hier ist Schnupftabak für Dich,“ der Alten, die ihn mit Danksagungen überhäufte und es sich nicht nehmen ließ, ihn bis zu seiner Hausthür zu begleiten. Von da an wurde er das alte Weib nicht mehr los; jeden Abend erschien sie unter seinem Fenster, sang allerlei närrische Lieder, die sie selbst improvisirte und die gewöhnlich mit dem Ritornell schlossen:

N’u ha tante gocce lu mare
Quanti baci ti voglio dare.
[2]

Andere Weiber und Kinder sangen mit; die jungen Leute tanzten dazu und machten einen Lärm, der sowohl die Musen des Kapitäns verscheuchte, als auch der Ordre zuwiderlief, welche über das Städtchen eine Art von kleinem Belagerungszustand verhängt hatte. Aber der Kapitän ließ das Unwesen zu, um seine Beliebtheit nicht zu verscherzen, die ihm schon so gute Früchte getragen hatte. Von Chiodo zeigte sich indeß nirgends eine Spur.

Während dieser ganzen Zeit dauerten die Zuvorkommenheiten von Seiten der Familie Cimino immer fort. Zwar wurde der Kapitän nicht mehr eingeladen, nachdem er ein- für allemal erklärt hatte, er sei ein Einsiedler, der des Abends nach dem Dienst am liebsten daheim bei der Studirlampe sitze; aber bald erhielt er ein paar Hühner, die er zurücksandte unter dem Vorwand, daß er durchaus kein Geflügel esse, bald ein prächtiges Wildbrett, das gleichfalls zurückwanderte; bald bot man ihm mehr oder minder werthvolle Gegenstände des Komforts an, an welchen im Quartier des Kapitäns allerdings fühlbarer Mangel herrschte, die er aber alle ablehnte mit keinem andern Hintergedanken, als daß er an einem Orte, an dem er halb und halb als Feind, jedenfalls als ungern gesehener Gast erschienen war, sich Niemandem verpflichten wollte.

Eines Tages warf das alte Mütterlein dem Kapitän auf der Straße bedeutungsvolle Blicke zu, als ob sie ihm etwas von Wichtigkeit mitzutheilen habe. Der Kapitän folgte ihr aus der Entfernung, und als sie unbeobachtet waren, flüsterte sie ihm rasch zu:

„Wenn Du den Chiodo fangen willst, so mache Dich rasch auf den Weg. Er ist eben beim Barbier und läßt sich rasiren. Das letzte Haus oben auf der Höhe, rechts am Weg.“

Der Kapitän ließ rasch die Barbierswohnung von seinen Bersaglieri umstellen, aber als er eindringen und die Bande gefangen nehmen wollte, eröffneten die Briganten zu Thüren und Fenstern heraus ein mörderisches Feuer. Die Angreifer mußten sich in den Straßengraben ducken, wo ein Hagel von Kugeln über ihre Köpfe wegsauste, und steckten endlich durch angezündete Strohwische das Haus in Brand. Chiodo, aufgefordert, sich zu ergeben, erschien am Fenster und rief durch den vordringenden Qualm, daß er sich nur dem Kapitän persönlich übergeben wolle. Schon wollte sich der Kapitän vom Straßenrand erheben und sich dem Banditen nähern, aber noch rechtzeitig ergriffen ihn die zwei nächsten Soldaten und drückten ihm den Kopf in den Graben nieder, denn sie hatten gesehen, wie der Brigant eben tückisch anlegte, um den Officier niederzuknallen. Jetzt kletterte [747] Chiodo ruhig zum Fenster heraus und wollte durch den Rauch des brennenden Hauses und den Kugelregen hindurch sich an der zerbröckelten Mauer hinauf in ein höheres Stockwerk schwingen, weil vermuthlich die Treppe in Flammen stand – da traf ihn eine Kugel mitten durch die Stirn, daß er todt herabstürzte.

Als der letzte Brigant gefallen war, ließ der Kapitän die Leiche Chiodo’s in Gegenwart des Syndikus und anderer Zeugen durchsuchen und fand in seiner Tasche ein Papier des Inhalts:

„Ich bescheinige hiermit, von dem Kapitän Chiodo 60000 Franken in Depot erhalten zu haben. Luigi Cimino.“     

„Ah, Du Hund!“ rief der Kapitän. „Daher also die fetten Kapaunen, daher das Wildbrett und das reizende Lächeln Deiner schönen Kinder! Du wolltest mir die Hände binden, wenn nicht gar mich zum Mitschuldigen machen!“

Und augenblicklich ließ er den Arzt festnehmen und ihn gefesselt mit Handschellen nach Tiriolo transportiren. Dort angekommen, wurde er in festen Gewahrsam gebracht. Der Kapitän rief die Behörden zusammen, berichtete den Fang und die Tödtung Chiodo’s und legte ihnen das kompromittirende Papier vor. Da sah er mit Verwunderung, wie der Richter sich im Gesicht entfärbte, unruhig auf dem Stuhl hin- und herzurücken begann und ihn fortwährend zu unterbrechen suchte – er möchte doch die Sache vor der Hand auf sich beruhen lassen – das werde sich später Alles aufklären – das Papier könne unmöglich von Cimino herrühren u. s. w. Als aber der Kapitän sich nicht zum Schweigen bringen ließ, erhob sich der Richter plötzlich und bat um Entschuldigung, wenn er sich einen Augenblick entferne. Er verschwand und wurde nicht mehr gesehen. Zugleich mit seiner Flucht stellte sich auch heraus, daß Cimino aus seiner Haft entkommen und unauffindbar geworden war. Der Kapitän verließ bald darauf den Ort und vernahm nie wieder etwas von den beiden Persönlichkeiten; über den Beweggrund aber, der den Richter so eilig von dannen getrieben hatte, konnte Niemand im Zweifel sein.

„So ging es zu in jenen Tagen,“ schloß der Kapitän seine Erzählung. „Hätte man mit allen Helfershelfern der Briganten aufgeräumt, so wären die südlichen Provinzen heute entvölkert. Die armen Leute waren aber auch von zwei Seiten in Gefahr, denn der Neutrale war dazumal schlimmer dran als in Dante’s Hölle. Ich kannte einen Unglücklichen, dem eines Nachts die Briganten ins Haus einbrachen, um sich bei ihm auszuruhen und sich in seiner Küche gütlich zu thun. Wenn ihm sein Leben lieb war, mußte er sie gewähren lassen. Am Morgen zogen sie weiter, und gleich darauf rückte das Militär ein, das schon Wind erhalten hatte. ‚Ihr habt heute Nacht die Briganten beherbergt? Ihr seid ein Mitschuldiger.‘ Vergebens betheuerte der arme Mann, daß er ja nur der Uebermacht erlegen sei. Das Gesetz war unbeugsam: jedes Haus, das den Briganten Unterschlupf gewährt hatte, wurde verbrannt und sein Besitzer deportirt. Der Soldat darf in solchen Fällen nur das blinde Werkzeug einer summarischen Justiz sein, und wenn es ihm das Herz bräche.

Aber auch Züge von Heroismus hat der Brigantaggio zu Tage gefördert, welche beweisen, daß der alte Heldenmuth unserer Nation nicht erloschen ist.

Da kam einmal der Brigant Certéllo, eines der größten Ungeheuer, die Gott erschaffen hat, gegen Abend in eine ärmliche Hütte, wo er nur einen alten Mann mit seiner jungen Enkelin und einem siebenjährigen Knaben allein zu Hause fand.

‚Deine Enkelin gefällt mir, ich komme, um sie mit mir zu nehmen,‘ sagte er dem Alten, ‚rede dem Mädchen zu, daß sie gutwillig mitgeht.‘

Das arme, erschrockene Geschöpf klammerte sich an den Großvater an, der den Briganten mit aufgehobenen Händen beschwor, ihm das Kind zu lassen, sie sei ja noch so jung; er wolle lieber einwilligen, ihm eine seiner älteren Enkelinnen zu geben.

Aber der Brigant verlor die Geduld und mit brutalem Lachen, halb aus Zorn, halb aus Uebermuth – denn er war angetrunken – legte er an und schoß den alten Mann durch den Kopf. Und ohne weiter auf die beiden Waisen zu achten, die sich schreiend auf die Leiche des Großvaters warfen, stellte er seine Flinte in die Ecke und ließ sich gähnend auf die Herdbank nieder, um seinen Rausch auszuschlafen. Da erwachte in dem kleinen Jungen etwas vom Geiste David’s, als er den Philister schlug. Er sah das Scheusal, das seinen Großvater ermordet hatte, auf der Bank schnarchen, er sah auf dem Herd daneben die Axt, mit der der Alte sonst sein Holz zu spalten pflegte, und ohne sich zu besinnen, griff er zu dem Beil und schlug es dem schlafenden Briganten mit all seiner siebenjährigen Kraft auf die Stirn, daß der Brigant brüllend auftaumelte, durch die Wunde und das vorquellende Blut geblendet mit beiden Händen sich die Stirn hielt und unter fürchterlichem Schreien und Fluchen den Knaben zu Tode zu foltern drohte, sobald er nur wieder sehen könne.

‚Du sollst mich aber nicht mehr sehen,‘ rief das Kind, holte aufs Neue aus und hieb so lange mit der scharfgeschliffenen Axt auf den Briganten ein, bis er ihm das Hirn zu Brei zermalmt hatte. So fanden wir den Knaben in der Hütte und brachten ihn selbst nach Neapel, um ihn dem König vorzustellen. Viktor Emanuel ließ ihn auf Staatskosten erziehen und setzte ihm aus seiner eigenen Tasche einen Dukaten pro Tag auf Lebenszeit aus.

Noch eine Scene aus der Brigantenjagd werde ich Ihnen erzählen, eine Scene, die auf ewig in meine Seele gegraben steht, weil ich damals durch die tiefste Verderbniß hindurch den Funken eines heiligen Feuers erkannte.

Der schreckliche Caruso, einer der gefährlichsten Brigantenführer und zugleich weit und breit der schönste Mann, hatte ein wunderbar schönes Mädchen und guter Leute Kind entführt und zu Pferde mit Gewalt davongeschleppt. So wenigstens sagte man im Ort, vielleicht um die Anverwandten zu schonen, denn ich für meinen Theil“ – es ist der Kapitän, welcher spricht - „bin fest überzeugt, daß man noch niemals von den Sabinerinnen bis auf unsere Tage ein Weib mit Gewalt entführt hat. Doch das sind Glaubenssachen; gewiß ist, daß die Schöne bald Caruso’s Geliebte und eine der entsetzlichsten Megären wurde, die je durch Gewöhnung an Blut und Frevel den Adel ihres Geschlechtes verloren. Sie verübten gemeinsam Gräuel, die zu erzählen mir der Muth gebricht.

Wir machten lange vergeblich auf sie Jagd; endlich fingen wir Caruso in Gesellschaft des schrecklichen Weibes – ihr Name ist mir entfallen, aber ich kann Ihnen noch ihre Photographie zeigen, die unter unser ganzes Bataillon vertheilt war. Das Standgericht verurtheilte Beide zum Tode, und Caruso wurde zuerst erschossen. Das Bild steht mir noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Noch sehe ich ihn auf dem Rasen liegen, die herkulische Gestalt mit dem herrlichen Römerkopf, den weder sein entmenschtes Leben zu entadeln, noch der Tod zu entstellen vermochte. Da, als sie die Gewehrläufe der Bersaglieri auch auf sich gerichtet sah, brach dem entsetzlichen Weibe, das sich nicht gescheut hatte, aus dem Schädel eines gemordeten Soldaten schäumendes Blut mit Wein vermischt zu trinken, das Herz; sie bat den Kommandanten, noch ein Gebet sprechen zu dürfen vor dem Tode. Es wurde gestattet. Sie hob die Augen angstvoll zum Himmel und öffnete den Mund, aber sie fand keine Worte: auf ihrer Verbrecherlaufbahn hatte sie das Beten verlernt. Da warf sie sich neben der Leiche ihres Geliebten auf die Kniee, küßte seine entfärbten Lippen, sah ihm innig ins Gesicht und rief, während ihr zwei Thränen über die Wangen rollten:

‚Ah, Du bist noch immer schön! Das ist ein Zeichen, daß die Madonna Dir vergeben hat, dann kann sie auch mir verzeihen‘ – und von sechs Kugeln getroffen, sank sie bei der Leiche des Briganten nieder. Dieses Weib hatte den Tod tausendfach verdient, und dennoch – hätte ich damals zu kommandiren gehabt, so wäre die Hinrichtung unterblieben.“

Der Kapitän schwieg, und wir nahmen mit warmem Danke Abschied, da über seinen Erzählungen die Nacht schon tief hereingebrochen war.

Mir ertheilte er auf das Liebenswürdigste die Erlaubniß, seine Erinnerungen, die noch niemals niedergeschrieben waren, aufzuzeichnen. Ich habe es, so weit mir mein Gedächtniß treu blieb, mit des Kapitäns eigenen Worten gethan, und wenn ich ihnen nicht das Feuer und die Lebendigkeit des mündlichen Vortrags einzuhauchen vermochte, so möge mir der Leser verzeihen: wurden sie doch von einem Augenzeugen und Dichter und in der schönsten Sprache der Welt erzählt.


[748]

Ein Friedhof ohne Gleichen und vierzig auferstandene Könige.

Von Georg Ebers.

Vor zwei Jahren hat der Botaniker und Afrikareisende Schweinfurth den Lesern der „Gartenlaube“ (Nr. 38, 1884) interessante Mittheilungen über den Blumenschmuck ägyptischer Mumien gemacht. Er hatte solchen an den Leichen fürstlicher Männer und Frauen gefunden, welche aus einem Versteck über dem berühmten Terrassentempel von Der el-bahri im westlichen Theben zu Tage gefördert worden waren.

Die Entdeckung der sterblichen Reste so vieler Beherrscher des Nilthales, unter denen sich die größten aller Pharaonen befanden, wurde von dem genannten Gelehrten mit Recht als der denkwürdigste von allen Funden aus dem Alterthume bezeichnet, und so wollte es dem Herausgeber der „Gartenlaube“ wünschenswerth erscheinen, den Lesern seines Blattes durch den Verfasser etwas Näheres über denselben mittheilen zu lassen, zumal bei Gelegenheit der Auswickelung gewisser Mumien im Museum von Bulak in jüngster Zeit wieder viel auf diesen Fund hingewiesen worden ist.

Je interessanter uns nun die gestellte Aufgabe erscheint, desto williger gehen wir an ihre Lösung, desto lieber wollen wir auf den folgenden Blättern die Todtenstadt von Theben, welche wir in der Ueberschrift mit Recht einen „Friedhof ohne Gleichen“ nannten, beschreiben und dann erzählen, welchen Platz Der el-bahri in demselben einnahm, wie es kam, daß die wunderbare Entdeckung, um die es sich hier handelt, gemacht wurde, welche Gegenstände sie umfaßt, und wie es geschehen konnte, daß die Leichen so vieler Fürsten, unter denen mehrere eigene große Grüfte, die längst entdeckt worden sind, besaßen, an einer einzigen Stelle beisammen gefunden werden konnten. Man denke, wie erstaunt unsere Nachkommen sein würden, wenn sie Friedrich Wilhelm’s III. von Preußen Mausoleum in Charlottenburg und Friedrich Wilhelm’s IV. Grab in Potsdam entdeckten und später die Leichen dieser Könige an einer dritten Stelle beisammen fänden.

Die Todtenstadt nahm das westliche oder linke Nilufer des hundertthorigen Theben ein und darf als ein weit ausgedehnter Friedhof von höchst absonderlichem und wechselvollem Aussehen bezeichnet werden. – Während sich auf dem rechten (östlichen) Nilufer die Wohnstadt der Bürger von Theben mit Straßen und Plätzen, Magazinen und Palästen, mit der viele Quadratkilometer bedeckenden Tempelstadt, welche die gewaltigen Reichsheiligthümer umfaßte, sowie mit den Arsenalen und Sitzen für die öffentlichen Behörden erhob, war das ganze ziemlich breite Flachland auf der anderen Seite des Stromes sammt dem nackten libyschen Kalkgebirge, das es im Westen wie eine Maner abschloß, ganz und gar dem Tode, den Verstorbenen und solchen Dingen und Bestrebungen gewidmet, die nicht von dieser Welt sind.

In der Ebene der Nekropole reihte sich ein Flecken an den anderen, und diese bestanden sämmtlich aus einem Heiligthume, um welches sich die Häuser der Priester, der Tempeldiener sowie der Handwerker, Gärtner, Landleute, Lebensmittel- und Opferverkäufer scharten, welche dem betreffenden Tempel vorstanden, zu ihm gehörten oder ihm als Fröhner dienstbar waren.

Als Stiftungen, welche sich an mehrere Heiligthümer auf dem Gebiet der Nekropole schlossen, gab es auch Lehranstalten, in denen weit ab von dem Treiben der Residenz junge Aegypter aus allen Ständen in der Ruhe der Todtenstadt erzogen und unterrichtet wurden.

Die berühmteste war das sogenannte „Haus des Ramses“, dessen Trümmer unter dem Namen des Ramesseums bekannt sind. Als ihre Vorgängerin ist das „Setihaus“ zu betrachten, der heutige Tempel von Qurna, welcher unter Ramses II. und seinem Sohne Menephtah von dem Ramseshause weit überflügelt werden sollte. An dieses schloß sich auch eine berühmte Bibliothek, welche den Namen der „Heilanstalt der Seele“ führte, und einige der besten Stücke der ägyptischen Litteratur, welche ein glückliches Ungefähr gerettet und bis auf uns gebracht hat, sind von Gelehrten dieser Hochschule verfaßt oder doch abgeschrieben worden. Sie stand sammt ihren Hörsälen, Schreibstuben, Sternwarten, Gerichtsstätten und Alumnaten in nächster Verbindung mit einem herrlichen Tempel, der von Ramses II. als Votivbau errichtet worden war, nachdem ihn in der Schlacht bei Kadesch die Truppen der Cheta, des mächtigsten Volkes im damaligen Vorderasien, umzingelt hatten und er, verlassen von all seinen Mannen, „allein geblieben war unter Tausenden“.

Schreiber. Auf dem Geräthkasten Palette und Wassergefäß.

Die Aegypter nannten diese Stiftungen in der Nekropole mennu, das heißt Erinnerungsmale oder Denkstätten, und sobald nach der Eroberung des Nilthales durch Alexander den Großen die Griechen nach Theben gekommen waren und die Monumente gesehen hatten, brachte sie ihr beweglicher Geist mit eigenen Erinnerungen und den Mythen ihres Volkes in Beziehung. Da stand vor den Pylonen der Denkstätte des Königs Amenophis III. in der Nekropolis ein Paar von Kolossen, welche die Gestalt dieses Pharao in riesigem Maßstabe zur Darstellung brachten, und als nun ein Erdbeben die nördlicher aufgestellte Statue verstümmelt und sich die Kunde verbreitet hatte, daß sie beim Aufgang der Sonne einen Klang von sich gebe, erklärten die Hellenen sogleich das von den Aegyptern mennu genannte Bildwerk für die Statue des Homerischen Helden Memnon, welcher „der herrliche Sohn der leuchtenden Eos“ genannt wird, und der den Antilochos, Nestors Sohn, in der Feldschlacht getödtet. –

Schreiber. Auf dem Kasten die Palette, vor dieser Gefäße mit Geräth zu der schwarzen und rothen Tinte, deren er bedurfte.

Dieser Memnon, das Kind der Morgenröthe, wurde bald von den Griechen in einen äthiopischen Heros verwandelt, und sie umflochten das Andenken an ihn mit einem schönen Mythenkranze. Wenn Eos, so hieß es nun, in der Frühe den östlichen Horizont rosenroth färbe, solle sein Standbild der Mutter einen Gruß entgegentönen, sie aber Thränen der Rührung, den Morgenthau, auf den geliebten Sohn niederweinen. Wie der Koloß des Amenophis den Namen der Memnonssäule, so haben alle der Erinnerung geweihten Baudenkmäler in der Nekropole, welche auf Aegyptisch „mennu“ heißen, durch die Griechen den Namen „Memnoien“ erhalten, und die ganze Todtenstadt wurde bald die Memnonienseite von Theben genannt.

Von den frühesten Zeiten an waren hier die Leichen nicht nur der Könige, sondern auch der Bürger bestattet worden, und es haben sich auf diesem Riesenfriedhofe die Gräber schon von Pharaonen aus der elften Herrscherreihe, deren Regierungszeit in der Mitte des dritten Jahrtausends vor Chr. endete, gefunden. Diese Fürsten ließen sich, anknüpfend an die Sitte ihrer Vorfahren, kleine Pyramiden am Fuße des libyschen Gebirges erbauen und im Anschluß an sie Grabkammern in den Felsen meißeln. Fürsten und Große aus jener und der ihr folgenden Zeit haben sich Grüfte in den Boden des Flachlandes der Todtenstadt ausgraben und sie zum Theil überwölben lassen: nachdem aber die Eindringlinge, welche unter dem Namen der Hyksos bekannt sind, Aegypteu vier Jahrhunderte lang geknechtet hatten und endlich wieder aus dem Lande vertrieben worden waren, suchten die ersten Befreier, welche für den verzweifelten Entscheiduugskampf aller Männerarme so dringend bedurften, daß sie dieselben nicht für die Herstellung ihrer Gruft aufrufen konnten, durch die künstlichste Ausschmückung der Mumien das gut zu machen, was ihren Grabstätten im Qurnet Murrai am östlichen Fuße des libyschen Gebirges an Größe und Schönheit abging.

Ihre Nachfolger in der achtzehnten Dynastie, denen es dann gelungen war, ihre semitischen Nachbarn zu unterwerfen und sich einen großen Theil von Vorderasien tributpflichtig zu machen, gaben die alte Sitte des Pyramidenbaues auf, und nachdem einige von ihnen noch im nördlichen Theile der Nekropole bestattet worden waren, legten sie einen neuen Friedhof an und ließen sich Felsengrüfte in das Gestein eines westlichen Querthales des libyschen Gebirges hauen.

[749] Ihrem Vorgange folgten die Pharaonen der neunzehnten und zwanzigsten Dynastie, indem sie die große Schlucht hinter dem sogenannten Sargberge, welcher das Flachland des Memnonienviertels nach Westen zu abschließt, benutzten, um sich ewige Ruhestätten in derselben auszuhöhlen.

Im alten Reiche war es den Pharaonen Ehrensache gewesen, sich bei ihrer Residenz Memphis eine möglichst hohe Pyramide zu erbauen; von der achtzehnten Dynastie an boten die Könige bei der Herstellung ihrer Ruhestätten Alles auf, um möglichst tief in die Felsen zu dringen. Ein mächtiger Herrscher, wie Seti I., und ein reicher Fürst, wie Ramses III., stellten Grüfte für ihre Leichen her, welche eine Längenausdehnung von wenigstens 60 Meter besaßen und dabei über und über mit schön ausgemalten Skulpturen und Inschriften bedeckt waren.

Statue des Ehepaares Rahetep und Nefert aus einem Grabe zu Medum.

In diesen Theil der Nekropole, welcher heute Biban el-Muluk oder Pforten der Könige genannt wird, und in dem ausschließlich gekrönte Häupter bestattet werden durften, führten zwei Wege: eine Fahrstraße in der Ebene und ein Fußweg, welcher den Berg überschreitet, an den sich das Memnonium von Der el-bahri lehnt.

Die Großen und Reichen aus der Zeit, welche der Vertreibung der Hyksos folgte, ließen sich wie die Könige, denen sie dienten, in Felsengrüften bestatten; diese finden sich aber weitab von den Fürstengräbern im östlichen Abhänge des Sargberges, und ihre Pforten öffnen sich nach dem Flachlande der Todtenstadt hin. Ihre Zahl ist groß, und wenn man, etwa vom Ramesseum aus, nach dem libyschen Gebirge hinschaut, so gewährt dies an vielen Stellen den Anblick einer Honigwabe oder der Rinde des Korkbaumes; denn eine Gräberöffnung gähnt neben der andern aus dem hellen Kalkstein dem aufwärts Schauenden entgegen.

Wie im alten Aegypten jedes Einzelding einem vorgeschriebenen Typus, einem fest normirten Gesetze zu folgen hatte, so wurden sowohl die Gräber der Könige wie die der Privaten nach einem bestimmten Plane angelegt, von dem nur geringe Abweichungen gestattet waren.

In den Pharaonengrüften schließt sich Raum an Raum, oft so, daß die ganze Gruft schräg abwärts führt und man bald auf geneigten Flächen, bald auf Treppen zu ihrem Ende niedersteigen muß. Je mächtiger, langlebiger oder frömmer der zu Bestattende war, desto mehr Säle und Kammern gab es, desto reicher ward die Ausschmückung des Grabes mit Bildern und Inschriften.

Darstellung des Todtengerichtes der alten Aegypter. 125. Kapitel des Todtenbuches.

Diese beziehen sich sämmtlich auf das Leben nach dem Tode, die Dua-t oder Tiefe, die Fahrt der Sonnenbarke, in der auch die Seele des Verstorbenen Aufnahme gefunden hat, durch alle Stunden des Tages und der Nacht. An den Sternbildern des oberen und unteren Himmels gleitet der Nachen vorüber; flinke Schakale ziehen ihn, treue Gefährten halten die Schlange zurück, über deren Windungen das Boot in der Unterwelt vorwärts zu streben hat. Dort beleuchtet die Sonne die Sitze der Verstorbenen und der Dämonenwelt in der Dua-t, und wer die finsteren Felsenräume der Königsgräber mit der Fackel in der Hand durchschreitet und die Augen über die Bilder an den Wänden und Decken Hinschweifen läßt, der meint in einer sinnverwirrenden Zauberwelt zu verweilen; denn gar befremdlich ist das rege Treiben im Reiche des Todes, und wenn er an Schlangen und Nattern, den menschlich gebildeten Trägern höchst wunderlicher Geräthe, an Männergestalten ohne Kopf, an den Barken, welche über den Rücken unermeßlich langer, wellenförmig gekrümmter Kriechthiere hingleiten, an Personen, die auf dem Kopfe stehen und deren Füße gen Himmel weisen, vorbeigekommen ist und die barocken Namen all dieser Phantasiegebilde gelesen hat, sieht er sich zu Häupten seltsam geordnete Sternbilder auf gekrümmten Barken auf und nieder fahren, beugt sich eine weibliche Riesengestalt über ihn hin, die Himmelsgöttin, deren blauer Leib mit Gestirnen besäet ist, auf deren Rücken sich das Sonnenschiff von Osten nach Westen oder, wenn der nächtliche Himmel gemeint ist, von Abend nach Morgen fortbewegt.

Schön ist der Gedanke, daß Seele (ba) und Herz (ab) verantwortlich sind im Jenseits für die Gesinnung und sittliche Führung während der Zeit ihrer Vereinigung mit dem Körper, dem sie Leben, Bewegung, Selbstbewußtsein, Willenskraft, Empfindung und Denkvermögen verliehen hatten. Vor dem Todtenrichter Ofiris und seinen 42 Beisitzern wird das Herz des Verstorbenen, der Träger der Gesinnung und der Regungen des Gemüthes, gewogen, und zwar mit der Straußenfeder, welche die Wahrheit symbolisirt. Ist das Ergebniß dieser Wägung günstig ausgefallen und festgestellt worden, daß der Erdenbürger sich enthalten hat die 42 Todsünden zu begehen, welche das 125. Kapitel des sogenannten Todtenbuches aufzählt, und die sich auch auf den Wänden mancher Königsgruft eingemeißelt finden, dann wird der Seele gestattet, zu dem lichten Weltgeist zurückzukehren, von dem sie ausgegangen ist, und als Theil des Ra und Eins mit ihm die Welt zu beleuchten und sie zu regieren, oder auf die Erde zurückzukehren und sich in jede Gestalt zu kleiden, die ihr genehm ist. Vor ihrem Aufgehen in Gott muß sie ganz frei sein von jedem Makel; denn der kleinste Flecken würde die vollkommene Reinheit dessen, der sie in sich aufnehmen soll, trüben. Darum hat sie Wohl, bevor sich die Vergöttlichung vollzieht, „durch Feuer und Wasser“ zu gehen und dann in den Gefilden der Seligen zu verweilen, dort an klaren und vollen Strömen Felder von wunderbarer Fruchtbarkeit zu bestellen und Aehren von einer Größe zu ernten, wie sie die Erde nicht kennt. – Die Mühe der Bewässerung der Aecker, des Pflügens und Säens wird den Seligen von gehorsamen Dienern abgenommen, den Schebti oder Uschebtifiguren, Püppchen aus gebranntem Thon, Holz oder Stein in Mumiengestalt mit Hacke und Pflug in den Händen, dem Saatbeutel auf dem Rücken und dem sechsten Kapitel des Todtenbuches, das ihre Bestimmung erläutert und ihre Hilfe anruft, auf der vorderen Seite des Körpers.

Nach seinem Hingang trennen sich die verschiedenen Theile des menschlichen Organismus. Der Körper, welcher der Erde und gemeinen Materie angehört, heißt Chat; er wird aber durch die Mumisirung in eine höhere Existenzordnung erhoben und empfängt dann, nachdem er durch Amulete, Ceremonien und Sprüche Reinheit erlangt hat, die Erlaubniß, die Pforten der Dua-t als Sahu zu überschreiten. Ba und ab – Seele und Herz – kennen wir bereits. Der Schatten oder Chaib-t wird selten erwähnt. Sehr eigenthümlich ist die Idee des Ka oder Genius, welcher als Doppelgänger des Menschen betrachtet werden darf und die körperliche und geistige Form darstellt, die ihn auf Erden von anderen Individuen unterschieden hat. Dieser Ka ist gewissermaßen das Vorbild, das der Gestaltung des Einzelnen zu Grunde gelegen hat. Nach dem Tode löste er sich von dem Körper ab, diente, gleichsam als luftiges Spiegelbild des Lebenden, seiner Seele zum Gefäße und vereinte sich nach der Apotheose derselben mit dem Sahu oder der geheiligten Mumie, auf die er paßte wie die Todtenmaske auf das Gesicht, wie der Schuh auf den Fuß, von dem er sich selbst abgezogen. Wie dem Entschlafenen selbst sah er der portraitähnlichen Statue desselben gleich, und mit

[750]

Gattin, welche weinend die Mumie mit dem Ka ihres Mannes umarmt.

seinem Namen Ka, das ist das Abbild, wurde auch die von Menschenhänden verfertigte Bildsäule bezeichnet. Wenn diese angerufen ward, konnte er sich an sie heften, wie an die Mumie; aber seine Existenz blieb abhängig von der Erhaltung der letzteren. Uebrigens war der Ka keine bloße Form, sondern ein Sonderwesen, das, wie der Genius der Römer, als Schutzgeist des Lebenden wie des Verstorbenen, dessen äußere Erscheinungsform er darstellte, gelten konnte. Die Hinterbliebenen wandten sich an ihn mit Gebeten und Opfern, die Seele des Dahingegangenen blieb in Verkehr mit ihm, redete mit ihm, und wenn es sie, der es frei stand, sich in jede Gestalt, auch in die von Thieren und Pflanzen zu kleiden, gelüstete, auf die Erde zurückzukehren und mit den Ihren zu verkehren, hüllte sie sich in ihre von ihr abgesonderte äußere Form, den Ka. Darum ist in den meisten Gräbern eine Statue des Verstorbenen aufgestellt worden, darum mußte die Mumie mit aller Sorgfalt vor jeder Beschädigung gehütet werden. Ward sie zerstört, so paßte der Ka nicht mehr auf den Körper, die Todtenmaske nicht mehr auf das Gesicht. Die Seele, welche sich vielleicht nach der Erde zurücksehnte, war um ihren Schutzgeist gekommen und ihr Kleid verdorben. Sie kehrte nicht mehr in den Ka zurück, und der, wenn der Ausdruck erlaubt ist, seiner Füllung beraubte Schemen verflüchtigte sich oder enteilte, um vielleicht bei der Entstehung einer neuen Menschenknospe zum Vorbild und ihr später als Schutzgeist zu dienen.

Aus diesen Gründen wurden die Leichen der Aegypter mit so ängstlicher und opferwilliger Sorgfalt vor Vernichtung geschützt.

Das Erdenleben des Einzelnen sollte nicht verloren gehen; verantwortlich für ihr Verhalten auf Erden war jede Seele. Manche sehen wir auch ewiger Verdammniß anheimfallen; denn unter den tausend Gestalten, denen das Auge in den Königsgrüften begegnet, finden wir auch Verurtheilte in glühenden Oefen, die, von Flammen umzüngelt, Fächer in der Hand halten, mit denen sie sich wie zum Hohn Kühlung zuwedeln. Aus dem Hals der Geköpften spritzt rothes Blut, eine unreine Seele wird in Gestalt eines Schweines aus der unterirdischen Gerichtshalle herausgepeitscht, und kein Dante könnte eine wunderlichere, sinnverwirrendere Gestaltenfülle ausdenken als diejenige, welche wir, wohl benannt und mit bestimmter Bedeutung, in dieser unterirdischen Divina, Commedia zusammenfinden. Alles, was hier in Schwindel erregender Menge auf Auge, Geist und Seele einstürmt, bezieht sich auf den Tod, und nur auf diesen, wenn wir einige kleine Darstellungen im Grabe Ramses’ III. ausnehmen.

(Fortsetzung folgt.)




Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Hertha stand allein am Fenster ihres Zimmers und blickte unverwandt hinaus, aber sie sah nichts von dem fluthenden Leben und Treiben der großen Hauptstraße. Ihr Blick war mit angstvoller Beharrlichkeit nur nach der einen Richtung gewandt, wo die Wohnung des Generals lag. Dieser hatte versprochen, ihr noch im Laufe des Vormittags Nachricht zu geben. War es ihm wirklich gelungen, das Duell zu verhindern und einen Ausgleich herbeizuführen, so hätte sein Bote schon hier sein können; aber noch immer wollte die Steinrück’sche Livrée nicht auftauchen, und mit jeder Minute des Wartens stieg die qualvolle Unruhe der jungen Gräfin.

Da auf einmal fuhr sie auf und beugte sich dann weit vor. Sie hatte den General erkannt, der soeben um die Ecke bog. Er kam selbst, und, sie am Fenster gewahrend, winkte er ihr einen Gruß zu. Gott sei Dank, er lächelte! Das konnte keinen schlimmen Ausgang bedeuten!

Hertha trat vom Fenster zurück. Sie wagte es nicht, dem Grafen entgegenzueilen. Es durfte ja Niemand ahnen, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorging. Erst als sie seinen Schritt im Nebenzimmer hörte, öffnete sie rasch die Thür und flog auf ihn zu.

„Du kommst selbst – Du bringst mir gute Nachricht?“

Die Frage klang athemlos gepreßt, wie in Todesangst, aber Steinrück sagte beruhigend: „Gewiß, mein Kind! Du brauchst Dich nicht mehr zu ängstigen. Die Sache ist beigelegt.“

Ein tiefer Athemzug der Erleichterung rang sich aus der Brust der jungen Gräfin empor.

„Gott sei Dank! Ich wagte es kaum zu hoffen!“

Der General warf einen prüfenden Blick auf ihr bleiches, überwachtes Antlitz; dann nahm er ihren Arm und führte sie in das Zimmer zurück, dessen Thür er schloß.

„Ich habe allerdings einen harten Stand gehabt mit den beiden Trotzköpfen,“ begann er wieder. „Keiner wollte nachgeben, Keiner dem Anderen auch nur einen Schritt entgegenkommen. Ich mußte schließlich meine ganze Autorität brauchen, um sie zur Vernunft zu bringen. Trotz alledem war die Sache nicht so ernst, wie Du sie genommen hast; ein paar unbedachte Worte Raoul’s, eine gereizte Erwiderung Rodenberg’s – das ist genug für zwei junge Hitzköpfe, um zu den Waffen zu greifen. Sie hätten am liebsten sofort auf einander losgeschlagen. Glücklicherweise erfuhr ich noch rechtzeitig genug davon, um Unheil zu verhüten.“

Er sprach in halb scherzendem Tone, aber Hertha sah und fühlte es, daß sein Lächeln wie seine Heiterkeit erzwungen waren. Sie täuschte er nicht damit; sie kannte den Ernst des Vorfalles, den er so leicht zu nehmen schien.

„Und Dir haben sie auch eine schlaflose Nacht damit bereitet, man sieht es Dir an,“ fuhr er fort. „Jetzt bereut es unsere spröde kleine Braut doch wohl, daß sie den armen Raoul gestern so unverzeihlich behandelt hat? Laß Dir das zur Warnung dienen, Hertha! Dergleichen erträgt kein Mann, auch von der geliebtesten Frau nicht.“

„Von ihr vielleicht am wenigsten! Aber glaubst Du denn, daß Raoul mich liebt?“

Der General stutzte bei dem bitteren Tone der Frage.

„Nun, ich dächte doch, er hätte um Dich geworben.“

„Nach dem Beschluß der Familie, nach Deinem ausdrücklichen Willen. Ich weiß, wie hoch ich diese Liebe ,auf Befehl‘ zu schätzen habe.“

„Und ist Dir denn das etwas Neues?“ sagte Steinrück ernst. „Hast Du es nicht von Anfang an gewußt? Ihr folgtet Beide einer Bestimmung, wie sie in unseren Kreisen üblich ist. Eine überflüssige Romantik haftet allerdings nicht an solchen Verbindungen; aber Du hast sie meines Wissens auch nie vermißt. Warum denn nun auf einmal diese Bitterkeit, dieser Vorwnrf gegen Raoul, den er Dir mit dem gleichen Rechte zurückgeben könnte?“

Die junge Gräfin schwieg; sie hatte keine Antwort auf dies forschende: Warum?

„Da regt sich wieder der alte böse Geist, der gebannt und gezwungen sein will,“ sagte der General mit einem flüchtigen Lächeln. „Ich habe das schon einmal thun müssen, in den ersten Wochen meiner Vormundschaft. Damals war ich genöthigt, mit voller Strenge aufzutreten, gegen ein verwöhntes, vergöttertes Kind, das nie einen anderen Willen gekannt hatte, als den seinigen. Du trotztest mit vollster Leidenschaftlichkeit, und Deine Mutter zerfloß in Thränen, weil ich hart blieb und auch sie verhinderte, Dir nachzugeben. Es war eine schlimme Scene. Aber als das Kind ausgetrotzt hatte, da kam es aus freien Stücken zu mir und legte die kleinen Arme um meinen Hals und sagte – weißt Du es noch, Hertha?“

Sie lächelte gleichfalls, und das Haupt an seine Schultern lehnend ergänzte sie:

„Ich habe Dich lieb, Onkel Michael! So sehr lieb!“

[751] Er beugte sich nieder und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.

„Weil ich Dich zu zwingen verstand! Seitdem war ich Deiner Liebe sicher, und das versteht Raoul nicht. Ich glaube beinahe, der Ritter, den sich dies stolze eigensinnige Fräulein als Ideal träumt, müßte etwas vom Drachentödter an sich haben; sonst imponirt er seiner Dame nicht.“

„Er müßte Dir gleichen!“ rief Hertha aufflammend. „Dir, Onkel Michael, mit Deiner eisernen Kraft, Deinem unbeugsamen Willen, Deiner Härte sogar. Dich hätte ich lieben können, wenn ich Dich in Deiner Jugend gekannt hätte.“

Steinrück schüttelte lächelnd den Kopf.

„Willst Du einem Greise noch Schmeicheleien sagen? Freilich, Du bist eine von den Naturen, die erst erobert, erkämpft sein wollen; im Sturme willst Du gewonnen werden. Aber, mein Kind, das Schicksal läßt uns nur selten die Wahl in solchen Dingen: es zwingt uns seinen Willen auf. Du wirst das auch noch erfahren. Glaube mir, Raoul gilt hundert anderen Frauen als das Ideal von Ritterlichkeit und Liebenswürdigkeit; daß er nicht ganz das Ideal Deiner Träume ist, beunruhigt mich nicht mehr, seit ich weiß, daß Du ihn trotzdem liebst. Und – offen gestanden, Hertha – ich weiß das erst seit gestern Abend. Bis dahin zweifelte ich ernstlich an Deiner Neigung. Erst die Todesangst, mit der Du mich gestern zur Hilfe aufriefest, mit der Du heute meiner Nachricht entgegenharrtest, verrieth mir, wie Du um Raoul gezittert hast.“

In dem Antlitz der jungen Gräfin begann langsam eine tiefe Röthe aufzusteigen, und sie senkte das Haupt, ohne eine einzige Silbe zu erwidern.

„Mußte erst die Gefahr Deines Bräutigams Dir dies Zugeständniß entreißen?“ fuhr der General vorwurfsvoll fort. „Du hast bisher förmlich etwas darin gesucht, die spröde, kalte Braut zu spielen, und hast Dir Raoul dadurch immer mehr entfremdet. Zeige ihm nur einmal diese bebende Angst um sein Leben, wie Du sie mir jetzt zeigtest, und Du kannst von ihm Alles fordern, Alles erreichen; dafür bürge ich Dir.“

Die Röthe in dem Gesichte Hertha’s war zur dunklen Gluth geworden, und hastig, als wolle sie um jeden Preis dies Gespräch abbrechen, fragte sie: „Glaubst Du denn wirklich, daß diese Gefahr dauernd beseitigt ist?“

„Ja, die Beleidigung wie die Forderung sind in aller Form zurückgezogen, der Streit ist zu Ende.“

„Aber die Feindschaft ist es nicht! Ich konnte Dir gestern nur flüchtig das Vorgefallene mittheilen: Du weißt nicht, was für Worte gefallen sind, zumal von Seiten Raoul’s; sie galten allerdings nicht dem Hauptmann selbst, sondern seinen Eltern.“

„Ah, das war es also!“ murmelte Steinrück.

„Weißt Du irgend etwas Näheres darüber?“ fragte die Gräfin rasch.

„Ich weiß nur, daß an der persönlichen Ehre Rodenberg’s kein Makel haftet, und das ist mir genug. Wie nahm er die Aeußerung auf?“

„Wie ein gereizter Löwe! Er war geradezu furchtbar in dem Augenblick. Hätte Raoul noch ein einziges Wort gesprochen, ich glaube, er hätte ihn zu Boden geschmettert.“

Der General wurde aufmerksam bei dem leidenschaftlich erregten Tone, und ein befremdeter, fragender Blick streifte Hertha, die das nicht bemerkte; denn sie sprach mit flammenden Augen und glühenden Wangen weiter: „Rodenberg schien aufs Aeußerste gebracht zu sein. Er gebot Raoul Schweigen, mit einem Blick und Ton, wie ich sie nur einmal im Leben gesehen und gehört habe – bei Dir, Onkel Michael, als Dir damals in Berkheim der Wilddieb vorgeführt wurde, der unseren Förster erschossen hatte – ich glaubte Dich zu sehen!“

Steinrück hatte sich aufgerichtet; er erwiderte nichts auf die letzte Bemerkung, aber seine Augen hefteten sich starr mit einem seltsamen Ausdruck auf die junge Gräfin, als suche er irgend etwas in ihren Zügen zu enträthseln.

„Vielleicht hatte Raoul nicht Unrecht mit seinem Vorwurf,“ sagte er endlich langsam. „Wer weiß, was ihm von der Herkunft Rodenberg’s bekannt sein mag.“

„Um so unverzeihlicher war es, daß er diesen Punkt berührte,“ fuhr Hertha auf, mit einer Leidenschaftlichkeit, von der sie wohl selbst keine Ahnung hatte. „Du sagst es ja selbst, daß an der persönlichen Ehre des Hauptmanns kein Flecken haftet, und Raoul weiß das sicher eben so gut wie Du; deßhalb griff er ihn in seinen Eltern an. Das ist feig und heimtückisch, das ist eine Unwürdigkeit, das ist –“

„Hertha, Du sprichst von Deinem Verlobten!“ unterbrach sie der General rauh.

Hertha zuckte zusammen; die flammende Gluth erlosch, als ob ein Eishauch sie berührt hätte. Jetzt aber legte sich Steinrück’s Hand schwer auf die ihrige, und halblaut, aber dumpf und drohend fragte er:

„Für wen hast Du gezittert? Wem galt vorhin Deine Angst?“

Sie schwieg, obgleich sie es nur zu gut wußte; die Todesangst, die schlaflosen Stunden der letzten Nacht hatten ihr die Wahrheit zum Bewußtsein gebracht, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Der Graf sah sie unverwandt an.

„Hertha, ich fordere Antwort! Willst Du oder kannst Du sie mir nicht geben? Ich denke doch, die Braut des Grafen Steinrück weiß, was sie sich und ihm schuldig ist.“

„Ja, sie weiß es!“ sagte Hertha tonlos, aber fest. „Fürchte nichts, ich stehe bei meinem Worte.“

„Das will ich hoffen!“ Er preßte ihre Hand so heftig in der seinigen, als wolle er sie zerbrechen; dann ließ er sie plötzlich fallen und erhob sich.

„Auf welche Zeit ist Eure Abreise festgesetzt?“ fragte er nach einer Pause.

„Auf den Anfang der nächsten Woche.“

„Gut. Ich wollte anfangs Deine Mutter bestimmen, noch hier zu bleiben; jetzt halte ich es für besser, daß Ihr sobald als möglich abreist. Dir thut – Luftveränderung noth. Und noch Eins, Hertha! Hätte Raoul es gesehen und gehört, wie Du vorhin von seinem Gegner sprachest, er wäre nicht von dem Duell zurückgetreten, und ich hätte ihm keinen Vorwurf daraus gemacht. Leb’ wohl!“

Er hatte kalt und finster gesprochen, und jetzt ging er, hochaufgerichtet wie immer; aber draußen im Vorzimmer blieb er doch stehen und legte einen Moment lang die Hand über die Augen. Wankte denn Alles, was er so stolz gebaut hatte, so fest gegründet glaubte?

„Er müßte Dir gleichen, in Deiner eisernen Kraft, Deinem unbeugsamen Willen, Deiner Härte sogar!“ Das Wort hatte den Grafen auf die Spur geleitet. Ja, es gab Einen, der ihm darin glich, Zug für Zug, und der verstand es vielleicht auch, das schöne trotzige Kind zu zwingen, wenn man ihm freies Spiel ließ. Das mußte verhindert werden, um jeden Preis! Hertha mußte fort aus dieser gefährlichen Nähe. Ihre Laune – denn etwas Anderes konnte und durfte es nicht sein – erlosch von selbst, sobald man ihr den Gegenstand entrückte. Sie war in keinem Falle ernst zu nehmen. Aber es traf den General doch schwer, daß die Gefahr gerade von dieser Seite kam, daß dieser Mann es war, der sein Werk bedrohte. Das hatte er nie für möglich gehalten. –

Zu derselben Vormittagsstunde saß Professor Wehlau in seinem Studirzimmer vor dem Schreibtische; aber er arbeitete heute ausnahmsweise nicht, sondern hatte sich in eine Zeitung vertieft, die etwas ihm sehr Mißfälliges zu enthalten schien; denn er saß wieder mitten in der „Donnerwolke“.

Das Blatt, das erste und angesehenste der Hauptstadt, brachte in der That einen längeren Artikel über „Sankt Michael“, das erste größere Werk eines jungen Künstlers, eines Schülers des Professor Walter, das in den nächsten Tagen öffentlich ausgestellt werden sollte. Der Kritiker, der es bereits im Atelier gesehen hatte, sprach sich mit einer wahren Begeisterung darüber aus und verfehlte nicht, dem Publikum mitzutheilen, daß das Gemälde bereits verkauft sei. Es sei für die Wallfahrtskirche von Sankt Michael bestimmt, wo es am Michaelsfeste mit aller Feierlichkeit installirt werden solle. Die letzte Bemerkung schlug nun vollends dem Fasse den Boden aus; der Professor zerknitterte wüthend die Zeitung.

„Das wird ja immer besser!“ grollte er. „Wenn sie jetzt schon anfangen, dem Jungen in solcher Weise den Kopf zu verdrehen, dann ist vollends nicht mehr mit ihm auszukommen. Großartiger mächtiger Entwurf – glänzende Durchführung – ein hochbedeutendes Talent, das zu den weitestgehenden Hoffnungen [752] berechtigt und – wahrhaftig, da steht es wieder! Der geniale Sohn eines berühmten Vaters – hol’ der Kuckuck all die Bewunderer und den Hans und den Michael dazu!“

Er warf das Blatt bei Seite und begann heftig im Zimmer auf und nieder zu gehen. Wehlau gehörte zu den Menschen, die es nun einmal nicht ertragen können, Unrecht zu haben. Er hätte eher behauptet, daß Weiß Schwarz sei, als zugegeben, daß sein Scharfblick, der sich in der Wissenschaft so untrüglich erwies, ihn mit Bezug auf den eigenen Sohn so gründlich getäuscht hatte. Hans sollte und mußte ein Windbeutel sein, der, da er nicht zum Schüler und Nachfolger des Vaters taugte, überhaupt für keinen ernsten Beruf tauglich war. Er hatte sich förmlich verrannt in diese Ansicht und hielt sie mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters fest. Hätte man in jenem Artikel seinen Sohn einen Stümper genannt, er würde trinmphirt haben. Daß man ihn ein Genie nannte, nahm er als eine Beleidigung auf, da es ihm selber Unrecht gab.

„Will mir der Mann da etwa weismachen, daß wirklich etwas in dem Jungen steckt?“ fuhr er noch grimmiger fort. „Es ist nicht wahr, sage ich! Ein Sausewind ist er, ein Hans Narr, der mit seinem Gesicht und seiner Liebenswürdigkeit den Kritiker bestochen hat, wie er alle Welt besticht. Der und Bedeutendes leisten! Mir soll er nicht damit kommen; ich setze keinen Fuß in sein Atelier, sehe kein einziges seiner Bilder an, und wenn zehn Kritiker sie loben und zwanzig Gräfinnen sie kaufen!“

Er hob wie zum feierlichen Schwur die Hand empor; da wurde die Thür geöffnet und der alte Gärtner, den Hans zugleich als Diener für sein Atelier benutzte, natürlich auch ohne den Vater um Erlaubniß zu fragen, erschien auf der Schwelle.

„Was giebt es?“ fuhr ihn der Professor in der übelsten Laune an. „Sie wissen doch, Anton, daß ich in meinen Arbeitsstunden nicht gestört sein will. Was wollen Sie?“

„Verzeihen der Herr Professor,“ versetzte der alte Mann mit angstvoller, verstörter Miene. „Ich komme aus dem Atelier, von dem jungen Herrn.“

„Das ist keine Entschuldigung. Künftig unterbleiben derartige Störungen – verstanden?“

„Aber, Herr Professor, es geht dem jungen Herrn ja so schlimm, so sehr schlimm – ich glaubte, er würde mir unter den Händen sterben!“

„Was?“ fuhr Wehlau erschrocken auf. „Was fehlt denn meinem Sohne?“

„Ich weiß nicht. Ich arbeitete im Garten, da öffnete er das Fenster und rief mich, und als ich hereinkam, lag er da wie ein Halbtodter. Es war ihm plötzlich übel geworden, sterbensübel. Er hatte kaum noch so viel Kraft, zu sagen: ‚Rufen Sie meinen Vater!‘ Da lief ich, Hals über Kopf, um Sie zu holen.“

„Um des Himmels willen, der Junge ist ja bisher gesund gewesen wie der Fisch im Wasser!“ rief Wehlau, der schon zur Thür hinaus geeilt war. Vergessen war Groll und Aerger, vergessen der eben geleistete Schwur, das Atelier nicht zu betreten. Er eilte spornstreichs durch den Garten und Anton ihm nach.

(Fortsetzung folgt.)




Waidwund verbellt.

Mein alter Jagdfreund, der Oberförster L., half mir beim Aussteigen aus dem Americain, der mich von der Bahnstation vor das auf einer Waldblöße gelegene Jägerhaus geführt hatte, indem er mir Flinte und Jagdtasche abnahm, um dann einen prüfenden Blick auf die beiden von mir mitgebrachten Dachshunde zu werfen. Im nächsten Augenblick hatte er sie, nach Uebergabe der Jagdgeräthschaften an den danebenstehenden Jägerburschen, mit festem Griff gepackt und auf die Erde gesetzt, worauf er ihnen noch liebelnd auf den Rücken klopfte, ehe er mir die Rechte zum Gruß bot.

„Recht niedliche Thiere! In der Farbe wie ein paar Waldschnepfen; nur sind die Köpfe zu dick zum Kriechen im Fuchsbau, man thäte da besser, man kröche selbst. Und die Läufe – ja, die Läufe sind wieder zu kurz und zu krumm zum Laufen; aber man kann ja nicht wissen, sie haben vielleicht innerliche Tugenden.“

Das war ein wenig tröstliches Urtheil über meine erst vor wenig Tagen, freilich für billiges Geld, gekauften Hunde. Ein mir befreundeter Gutsbesitzer hatte sie mir für einen sehr geringen Preis abgelassen, weil sie zu viel auf eigene Hand auf den Feldern wilderten. Sie sollten scharf auf Raubzeug sein und sicher und laut der Fährte jedes Wildes folgen; weßhalb also nicht auch der von Sauen, welchen unsere auf heute verabredete Jagd galt? Um die schlechte Meinung des Jagdfreundes von den Teckeln zu entkräften, versuchte ich, ihre mir von dem Vorbesitzer gerühmten Eigenschaften in das rechte Licht durch eine anschauliche Schilderung einiger mir mitgetheilten Heldenthaten derselben beim Buschiren zu setzen; allein auch jetzt begegnete ich entschiedenen Zweifeln an der Leistungsfähigkeit der Thiere.

„Zum Kriechen sind die Köpfe zu dick und zum Laufen die Läufe zu krumm“, das blieb der Refrain des Urtheils des alten Waidmanns.

Es war ein herrlicher Wintermorgen, der Himmel wolkenlos, und Bäume und Sträucher mit einem feinen, in den Sonnenstrahlen blitzenden Reif bedeckt, während eine leichte, kanm zollhohe Neue sicheres Abspüren gestattete. Die Jägerei war vollzählig beisammen, lauter wettergebräunte, kräftige Männer, Mitglieder des Forstschutzpersonals der Oberförsters, ich als einziger Gast darunter. Wir hatten etwa eine halbe Stunde Wegs nach dem ersten Treiben zurückzulegen; die Treiber folgten uns mit fünf oder sechs Hunden von gänzlich verschiedener Größe und Farbe, sämmtlich Mischrassen angehörig, deren Abstammung dem gewiegtesten Hundekenner zu ergründen unmöglich gewesen wäre. Es würde zu weit führen, wollte ich die struppigen Gesellen näher schildern; dem kritischen Auge mußten sie wenig vertrauenerweckend erscheinen, obgleich sie sammt und sonders bereits Beweise ihrer vortrefflichen Eigenschaften auf der Saujagd abgelegt hatten.

Zu meinem Kummer mußte ich bemerken, daß auch bei den anderen Forstleuten dasselbe Mißtrauen gegen die Leistungsfähigkeit meiner reinblütigen Teckel zu bestehen schien. Die Blicke, mit denen dieselben von allen Seiten gemustert wurden, waren unschwer zu deuten. Man machte sich über die krummbeinigen Burschen lustig, die freilich in der schläfrigen Art, wie sie an der Leine dem sie führenden Treiber folgten, auffällig abstachen gegen die muntere, kläffende und umherspringende Schar ihrer unedlen Genossen.

Doch nicht allein Flick und Flock, so hießen die beiden Hunde, sollten heute das Mißfallen des Oberförsters erregen, auch meine Bewaffnung wurde einer abfälligen Kritik unterzogen. Ich hatte die Büchsflinte, mit welcher ich vor wenig Wochen einen Ueberläufer auf einer schmalen Schneuse gefehlt, zu Hause gelassen, und dafür meine Dreyse-Flinte mitgenommen, deren Treffsicherheit auf kürzere Entfernungen mit der Kugel bereits häufig erprobt war. Der Kugelschuß aus dem glatten Rohr bietet stets den Vortheil, daß der Schütze weit schneller fertig werden und das Ziel nehmen kann, was grade bei der Saujagd, bei dem überaus flüchtigen Ueberfliehen der schmalen Gestelle durch das Wild, von der größten Wichtigkeit ist.

Eben führte uns der Weg an einem hohen Bestand hin. Ich ging neben meinem Jagdfreunde am Ende des Zuges und suchte ihm die eben erwähnten Vortheile des Kugelschusses aus dem glatten Rohr klar zu machen, als er plötzlich stehen blieb und auf einen hämmernden Specht wies, welcher auf einem der obersten Aeste einer hohen Eiche emsig nach Würmern pochte.

„Versuchen Sie einmal Ihr Glück und schicken Sie dem da oben einen Morgengruß hinauf. Wir wollen sehen, ob Sie überhaupt hinauf reichen. Der Schuß stört uns die Jagd nicht; ist doch Jagen 12, wo wir anfangen, noch wenigstens 20 Minuten entfernt.“

Kaum hatte der Grünrock seinen Wunsch geäußert, als auch meine Flinte bereits geladen an der Wange lag. Ich drückte, und unmittelbar vor dem Schnabel des hämmernden Spechtes flogen die Splitter des von der Kugel durchbohrten Astes, auf dem er saß, empor. Wahrscheinlich durch den plötzlichen Schreck betäubt, flog der Vogel nur wenige Fuß zur Seite und schien danach verwundert Umschau zu halten.

„Jetzt denkt er nach, welcher Gattung die Made wohl angehört haben mag, die er eben herausgepocht.“

Der Grünrock lachte lustig zwinkernd nach mir herüber, während er den Scherz machte, so daß ich schon glaubte, seine Zuversicht zu meiner Bewaffnung sei nunmehr wiederum vollständig befestigt. Als wir jedoch später die Dickungen erreicht hatten, in welchen das Schwarzwild bestätigt worden und die nun umstellt werden sollten, wurde es mir alsbald klar, daß man geneigt war, mich für den heutigen Tag als Paria zu behandeln; ich erhielt nämlich nach meiner und jedenfalls auch nach der Ansicht der Jagdgefährten einen vollständig verlorenen Posten. Zwar sprach L., der mich selbst anstellte, bei dieser Gelegenheit viel von „freiem Ausschuß nach allen Seiten“ und „altem, bekanntem Wechsel“ nach einem in meinem Rücken liegenden Bruch; aber ich kannte bereits aus Erfahrung diese stets gleichlautenden, trostreichen Phrasen, die mir Ersatz für den Anlauf bieten sollten, dessen sich die Andern voraussichtlich erfreuen würden.

Wohl eine Viertelstunde saß ich bereits regungslos auf einem Baumstumpf. Meine Hunde befanden sich bei dem Treiber, der sie vorher geführt hatte; sie sollten nicht von der Leine gelöst werden, weil – ihre Köpfe zu dick, ihre Läufe zu krumm waren. Freilich, einen freien Ausschuß nach allen Seiten hin hatte ich hier. Mein Stand befand sich auf einer breiten, abgeholzten Fläche. Vor mir, in einer Entfernung von etwa 200 Schritten, lag die nach meiner Seite hin gänzlich von Schützen entblößte Dickung, welche getrieben werden sollte; rechts, links und rückwärts, nach letzterer Richtung hin wohl 800 Schritte entfernt, schlossen hohe, lichte Kiefernbestände das Gehau ein, welches durch den Frost gebräunte Farnkräuter, Brombeergestrüpp und Wachholderbüsche überwucherten.

Anfänglich wurde die lautlose Stille des Winterwaldes nur durch die ziemlich regelmäßigen Axthiebe der Holzfäller unterbrochen, welche in

[753]

Waidwund verbellt.
Nach dem Oelgemälde von G. von Maffei.

[754] dem hohen Holz hinter mir thätig waren. Dann begann endlich das Geläut der Hunde in der Dickung, bald näher – bald ferner. Es ließ sich das Schwarzwild im Kreise umhertreiben und war, wie gewöhnlich bei dieser Jagdart, nicht vor die Schützen zu bringen. Schon eine volle halbe Stunde währte die Jagd und noch immer war kein Schuß gefallen.

Eben ließ sich der rauschende Ton vernehmen, welcher den Sturz eines gefällten Baumes begleitet, worauf das bekannte Krachen der auf den Boden schlagenden Aeste folgte.

Unwillkürlich wandte ich meinen Blick rückwärts in der Richtung, von welcher das Geräusch kam, um im nächsten Augenblick mich langsam zu erheben und vorsichtig seitwärts hinter einen mich deckenden Wachholderbusch zu treten. Deutlich konnte ich einen dunklen Gegenstand, zum Theil durch das Gestrüpp verdeckt, unmittelbar vor dem Saum des hohen Holzes wahrnehmen. Derselbe bewegte sich, schob sich hin und her; doch war die Entfernung noch zu bedeutend; ich vermochte nicht zu erkennen, was ich eigentlich vor mir hatte.

Ein Thier war es; vielleicht ein von der Herde abgekommenes Stück Rindvieh? Für ein Schwein schien es mir zu lang, der dunkle Rücken ragte jetzt deutlich sichtbar über den Büschen hervor. Eben begann wieder das Geräusch der Holzschläger, und fast gleichzeitig damit das Geläut der Hunde, dessen Echo in dem hohen Holz eine eigenthümliche Täuschung hervorrief: klang es doch, als käme die Jagd gerade aus entgegengesetzter Richtung her. Auch das von mir beobachtete Wesen mochte durch den Widerhall beirrt werden, es sicherte[3] einen Augenblick rückwärts; dann nahm es seinen Wechsel geradewegs auf mich zu, anfänglich langsam trollend, um danach in eine beschleunigtere Gangart überzugehen.

Die eigenartige Bewegung des Thieres ließ mich jetzt sofort erkennen, daß ich einen Schwarzkittel, und zwar ein Hauptschwein vor mir hatte. Der wehrhafte Recke rückte näher heran, der Wind stand mir günstig; er hatte keine Ahnung von meinem Dasein. Nur noch fünfzig Schritte mochten mich von ihm trennen, und doch kommte ich nicht schießen, weil er spitz auf mich zukam. Und die Entfernung verminderte sich immer mehr, kaum zwanzig Gänge betrug sie jetzt. Ich mußte zum Entschlusse kommen, schnell trat ich aus meiner Deckung hervor; ein erschrecktes Grunzen; der mächtige Körper flog zur Seite; in demselben Augenblicke knallte aber auch mein Schuß, und in vollster Flucht wechselte der Keiler in die Dickung hinein. Wegen des hohen Gestrüpps konnte ich meine zweite Kugel nicht anbringen, allein ich wußte, daß die erste saß.

Wenig Schritte hinter dem Anschuß fand ich Schweiß, anfänglich in einzelnen Tropfen, dann in größerer Menge. Mein jugendlicher Jagdeifer erhielt durch diesen Beweis des erfolgreichen Schusses neue Nahrung; ich wartete nicht das Krankwerden des Schweines ab, sondern folgte sofort der deutlich erkennbaren Fährte. Eine Weile war ich in der Dickung mit zu Boden gehefteten Blicken weitergeschlichen, als ich plötzlich in unmittelbarer Nähe den Standlaut zweier Hunde vernahm, dem sich in demselben Augenblicke eine menschliche Stimme zugesellte.

„Husu! – hier sitzt er!“

Endlich hatte ich mich durch die dichte Wand der Mischholzkultur durchgedrängt und befand mich nun am Rande eines kaum einen Morgen großen Bruches; vor mir stand ein Treiber, mit dem Stocke winkend und rufend:

„Heran, Herr! – hier sitzt er.“

Und da saß er wirklich, von meinen beiden Dickköpfen „waidwund verbellt“; vor ihm Flick, ohne Unterlaß mit seiner hellen Stimme Laut gebend; hinter ihm Flock, nur selten in tieferer Lage einstimmend. Ich brauchte nur seitwärts von hinten den Fangschuß zu geben, und der alte Recke brach polternd verendet zusammen.

„Heiliger Hubertus, das ist das stärkste Schwein, welches mir in meiner Jägerpraxis vorgekommen ist! Vier Centner Gewicht und darüber – wette ich. Und dabei haben die Dickköpfe mitgewirkt? – Man sieht, das Aeußere täuscht wie bei den Menschen, so auch bei den Hunden; die dürfen Sie mir nun nicht mehr zu Hause lassen.“

Der Oberförster schüttelte mir glückwünschend die Hand, und wirklich haben Flick und Flock uns noch öfter treffliche Dienste auf Sauen geleistet. E. F.


Blätter und Blüthen.

„Moderne Wunder.“ Unter diesem Titel hat einer der eifrigsten Gegner der neuen Geisterseher und Geisterbeschwörer, Karl Willmann, ein Werk (Otto Spamer, Leipzig) veröffentlicht, in welchem er alle Geheimnisse derselben, alle ihre Kunststücke und ihren Schwindel aufzudecken bestrebt ist. Natürlich sieht er auch den sogenannten „Antispiritisten“ auf die Finger, um auch ihre Kunst, mit welcher sie ja ebenfalls als geschickte Taschenspieler überraschen, zu erklären. Es ist erstaunlich, wie groß das Register solcher Wunder ist, welches uns in Willmann’s Schrift aufgeführt wird: Bindeproduktionen, Durchdringung der Stoffe, Geisterschrift, Gedankenlesen, Tischrücken, Geistererscheinungen – nur die magnetische Heilkraft und das Hellsehen der Somnambulen möchten wir mit allen jenen Taschenspielereien nicht in eine Linie gesetzt sehen. Man weiß, welchen Eindruck das Knotenbinden des Herrn Slade auf einen so gelehrten Naturforscher gemacht hat, wie es Herr Zoellner in Leipzig war und bedauert, daß derselbe nicht die einfachen Erklärungen lesen konnte, die hier von jenen Wundern gegeben werden: er hätte sich dann jene merkwürdige Lehre von der „vierten Dimension“ erspart, die durch ihren sonderbaren Tiefsinn so großes Aufsehen erregte.

Sehr ergötzlich sind die mitgetheilten Geschichten der Entlarvungen der geheimnißvollen Geister. Bekannt ist ja, wie der Erzherzog Johann in Wien Bastian in die Mäusefalle gelockt hat; weniger bekannt, wie Betty Tamke, die in Wilhelmsburg, auf einer kleinen Elbinsel bei Hamburg, ihr Wesen trieb, eines Tages ebenfalls entlarvt wurde. Betty ist die achtzehnjährige Tochter des Bauers Tamke, in dessen Hause wöchentlich mindestens zwei Sitzungen abgehalten wurden. Zahlreiche Geister abgeschiedener Menschen erschienen dort, von Cagliostro bis zum Professor Zoellner, und brachten den Anwesenden Mittheilungen aus dem Jenseits, auch sonstige Offenbarungen, Recepte gegen Krankheiten und sogar Geschenke von Blumen und Kuchen. Einmal schon wurde in einer solchen Sitzung ein Handtuch erfaßt: doch der kontrollirende Geist erklärte durch den Mund der Betty, daß Jemand die Schürze des Geistes erfaßt habe, und bat, dieselbe gefälligst loszulassen. Als aber ein anderes Mal Betty Tamke erklärte, daß sie kein weißes Zeug bei sich verberge und bat, sie darauf hin zu untersuchen, gingen zwei anwesende Damen sehr energisch zu Werke und förderten aus dem Korsett des Mediums zwei Betttücher und ein Handtuch zu Tage. Nun sollten die Geister in diesem Falle ihrem Abgesandten einen Schabernack gespielt haben! Aehnlich erging es der Leipzigerin Valeska Töpfer, die, nachdem sie sich leicht der Fesseln entledigt hatte, die ihr bei Beginn der Sitzung angelegt worden waren, ihre beliebten Geistergestalten, die sie auf dem Repertoire hatte, den Geist eines Kindes, Namens Abilla, dann einer schlanken Frauengestalt Adrienne kunstgerecht vorführte, bei einer dritten Verwandlung aber die Unvorsichtigkeit beging, einem der Zuschauer die Hand zu reichen. Diese wurde nun ergriffen, indem zugleich einer der Verschworenen ihren Stuhl hinter dem Vorhang besetzte. Bei der Untersuchung fand man ein großes weißes Mullkleid, welches sie versteckt an sich trug, in dem Dunkelraum verschiedene von ihr abgelegte Toilettenstücke.

Interessant ist die Schilderung, wie es in den Dunkelsitzungen der Geisterbeschwörer zugeht. Bastian setzte sich in den Kreis mitten in sein Publikum, ließ das Licht auslöschen und die Fenster so dicht verschließen, daß nicht der geringste Schein von außen hereindringen konnte. Mindestens ein Theilnehmer war in die Geheimnisse des Mediums eingeweiht.

Anfangs wird die Unterhaltung im Flüstertöne geführt, bis das Medium der Gesellschaft empfiehlt[,] sich ganz ruhig zu halten. Nun hört man nichts, als das gleichmäßige Klatschen der Hände desselben, welches den Beweis liefern soll, daß es nicht betheiligt sei an den nun folgenden Erscheinungen. Da die Geister den Gesang lieben und sich dann viel gefälliger zeigen, beginnen nun alle zu singen. Da ertönt ein Schreckensruf und man erfährt, daß einer der Anwesenden soeben von unsichtbarer Hand am Ohr gezupft und ein anderer gekitzelt worden sei.

Die Geister treiben solchen Hokuspokus wahrscheinlich, weil sie sonst auf Erden nichts zu thun haben. Das Medium klatscht inzwischen ununterbrochen fort, nur mit dem Unterschied, daß es mit der linken Hand jetzt auf die linke Backe klatscht, um die rechte für seine künstlerischen Leistungen frei zu halten. Nun erfahren die Anwesenden, daß, wenn die Geister in ihrer Mitte erscheinen, sich das durch einen kühleren Luftzug an[k]ündigt. Bald wird auch diese Wahrnehmung gemacht; denn der Geistermann hat die rechte freie Hand nicht unbenützt gelassen, sondern mit ihr ein im Rockfutter verborgenes Papierrohr hervorgeholt, dasselbe leicht aufgeblasen und so den Luftzug aus dem Geisterreich hervorgerufen. Durch das Papierrohr ertönen auch die Stimmen aus dem Jenseits. Auf einmal fliegen kleine Flammen in der Nähe des Mediums umher: das ist die Materie, aus der sich die Geister bilden, indem sie dieselbe allmählich dem Gehirn des Mediums entziehen. Das Medium hat die Fingerspitzen mit Phosphoröl oder leuchtender Balmaynfarbe versehen, die, auf ein Lederläppchen aufgetragen, vorher mit Magnesialicht beleuchtet, unter dem Rockfutter verborgen gehalten wurde. Mit Hilfe eines weiten Handschuhs, dessen Fingerspitzen in ähnlicher Weise vorbereitet werden, einer mit Phosphoröl getränkten Maske und ähnlicher Vorrichtungen erscheinen dann die Geister selbst. Das wird Alles in Willmann’s Werk aufs genaueste beschrieben.

Man mochte anfangs den Geistergläubigen jenseit oder diesseit des Oceans jene Visionen und Verzückungen zutrauen, wie sie den Mystikern aller Zeiten eigen waren: jetzt ergiebt es sich, daß man es nur mit handgreiflichen Taschenspielerkunststücken zu thun hat und daß die ganze Geisterseherei in die Meßbude eines Professors der Magie gehört.

Ein schwieriger Brief. (Mit Illustration S. 745.) Der Himmel mag wissen, was sie zu schreiben haben und an wen? Sicherlich handelt es sich um eine Sache, welche zugleich ihre ernsthafte und ihre launige Seite hat und welche von einer geschickten Hand behandelt sein will; und was die Adresse betrifft, so erlaubt ebenfalls der Umstand, daß die mit dem Kalbe ihrer Freundin pflügende Briefstellerin eine ländliche Schönheit ist, mit einiger Wahrscheinlichkeit, Jemanden von den „Hulanen“ oder von der „Attollerie“ als Adressaten zu vermuthen. Man kann ein sehr nettes und kluges Bauernfräulein sein und braucht gar nicht zu Denen zu zählen, die d[e]s Lesens und Schreibens unkundig sind, um trotzdem bei gewissen Anlässen an der eigenen Fähigkeit zu verzweifeln, so briefstellern zu können, wie man es sich wünschen mochte. Mitunter ist Schönschreiben allein schon wichtig; und nun gar die Orthographie und der Stil! „Er“ braucht ja nicht zu wissen, wer geschrieben hat: wenn er wieder da ist, hat man nicht nöthig, Briefe zu schreiben. Es ist ein Glück, daß man diese Trine zur Busenfreundin hat, welche in der Schule immer die Erste war, welche Tinte besitzt, die nicht eintrocknet, und eine Feder, die ihr der Herr Kantor schneidet, sobald der vorige Schnitt abgenutzt ist – der Herr Kantor gehört noch zu der alten [755] Garde, welche unentwegt die Kunst des Gänsekiel-Schneidens gegen den Untergang durch die modische Stahlfeder vertheidigt. Die Uhr tickt in dem lauschigen Stübchen, der Nachmittag scheint auf den sauber gescheuerten „Tisch für Alles“, und die kluge Trine weiß der wortschwierigen Freundin alles so geschickt vorzudenken, was sie eigentlich sagen möchte – es wird gewiß ein Brief, der sich sehen lassen kann und der seinen Eindruck macht. Zwei Stunden höchstens, so ist er fertig! V. Blüthgen.     

Katharina Klafsky. scheint uns die Auserwählte zu sein, welche die unvergeßliche, der Kunst so früh entrissene Reicher-Kindermann ersetzen wird. Gleich dieser hat sie Jahre lang in kleineren Rollen gewirkt, bevor ihr großes Talent sich entfaltete und Anerkennung gewann. Nur war das Los der Reicher-Kindermann in so fern ein viel günstigeres, als sie in der Jugend den Musikunterricht ihres Vaters, des ausgezeichneten Sängers genoß, während die Künstlerin, deren Bild und kurze Lebensbeschreibung wir hier bieten, erst die härtesten Lebensproben zu bestehen hatte, bevor sie überhaupt zum Bewußtsein ihres großen Talentes gelangte.

Katharina Klafsky.

Katharina Klafsky ist im Jahre 1855 in einer kleinen Stadt Ungarns, Sankt Johann (Komitat Wieselburg), geboren. Ihr Vater war ein ehrsamer Schustermeister; nebenbei beschäftigte er sich mit Musik; er und seine Frau sangen in der Kirche bei den Sonntags- und Feiertagsmessen; auch die kleine Kathi mußte, sobald sich ein Stimmchen bei ihr zeigte, bei Processionen, Begräbnissen, Hochzeiten als Choristin wirken. Als sie fünfzehn Jahre alt, verlor sie die Mutter; der Vater nahm eine zweite Frau, und diese war der Stieftochter nicht gut gesinnt, die „Kathi“ ging aus dem Hause, um sich ihr Brot zu verdienen. Erst weilte sie in Oedenburg, dann brachte der Vater sie nach Wien zu einer ihm bekannten Dame, bei der sie feinere Handarbeit und die Hauswirthschaft erlernen sollte. Als sie einmal in der Küche sang, ward die Dame auf ihre Stimme aufmerksam und empfahl sie dem Direktor eines kleinen Kirchenchors, H. Neuwirth. Dieser empfand Theilnahme für das junge Mädchen, ließ sie kleine Solo-Kirchenarien singen, verwendete sich bei dem Direktor des Konservatoriums Hellmersberger, und dieser empfahl sie der ausgezeichneten Gesanglehrerin Marchesi, die damals noch in Wien wirkte (jetzt lebt sie in Paris), das Talent des jungen Mädchens sofort erkannte und sie eine Zeit lang unentgeltlich unterrichtete. Im Jahre 1875 begann sie ihre Theaterlaufbahn in Salzburg und in ganz kleinen Rollen. 1876 verheirathete sie sich mit einem jungen Kaufmann, zog mit ihm nach Leipzig und gedachte, ganz im häuslichen Privatleben zu verbleiben. Aber ungünstige Verhältnisse zwangen sie, ihre Begabung von Neuem der Kunst zu weihen.

Zu jener Zeit stand die Oper des Leipziger Theaters unter Direktion von Angelo Neumann; er engagirte Frau Klafsky sofort. Doch es gelang ihr eine Zeit hindurch nur schwer, Anerkennung des Publikums zu gewinnen. Als aber der Direktor die Reisen mit dem „Wagner-Theater“ begann (bei dem bekanntlich die Reicher-Kindermann auch zuerst in den bescheidenen Rollen der „Fricka“, selbst der „Erda“ auftrat), da entfaltete sich das große Talent unserer Künstlerin bald in schönster Kraft. Sie sang einmal in Berlin die „Siglinde“, und die gesammte Kritik verhieß ihr sofort eine glänzende Zukunft. Und sie hat die Prophezeiung bewahrheitet. Wohin immer sie in den letzten Jahren kam, feierte sie Triumphe, die nur eine Zeit lang in Italien durch ein böses Malariafieber unterbrochen wurden, das sie fast ein Jahr der Bühne entzog. Aber jetzt wirkt sie wieder in Vollkraft. Nachdem sie eine Zeit lang in Bremen engagirt war, gehört sie jetzt dem Hamburger Stadttheater an. Im Sommer 1885 hat sie auf dem Krolltheater in Berlin die großartigsten Erfolge errungen.

Frau Klafsky besitzt eine ungemein umfangreiche, kräftige, in allen Registern gleichmäßig ausgebildete, aller Tonfärbungen fähige Stimme. Aber viel mehr als durch diese Stimme wirkt sie durch ihren Vortrag, durch ihre edle Auffassung, durch ein eigenartiges „Etwas“ in ihrem Wesen, das den Zuhörer in eine höhere Stimmung versetzt; er fühlt, daß die Sängerin da oben auf der Bühne ganz aufgeht in ihrer künstlerischen Aufgabe, daß in ihr ein energischer Geist lebt, der sich aufschwingt über alle momentane Störungen. Sie singt fast am schönsten, wenn sie im Anfang mit einer kleinen Ermüdung, mit Unsicherheit zu kämpfen hat; dann wird sie von Scene zu Scene wärmer, begeisterter. Hochdramatische Rollen, Fidelio, Donna Anna, Valentine sind ihre Hauptpartien; wie sie aber auch im Lyrisch-Leidenschaftlichen sehr Schönes leistet, hat sie als Siglinde oft genug bewiesen. Wir wollen ihr wünschen, daß sie als Kunsterbin der großen Reicher-Kindermann recht lange sich des idealen Besitzes erfreue. Heinrich Ehrlich.     

Friedrich der Große und die Schauspielkunst. Der Schützling Voltaire’s, der berühmte Schauspieler Lekain, hatte 1775 auf die Empfehlung des Dichters in Berlin gastirt. Ueber das Gastspiel schrieb Friedrich an Voltaire: „Ich habe Lekain spielen sehen und seine Kunst bewundert. Dieser Mann würde der Roscius seines Jahrhunderts sein, wenn er etwas weniger übertriebe. Ich mag unsere Leidenschaften gern so dargestellt sehen, wie sie wirklich sind: dann bewegt das Schauspiel das Innerste unseres Gemüthes; sobald aber die Kunst die Natur erstickt, läßt sie mich kalt. Ich wette, Sie denken, so sind die Deutschen. Sie lieben bloß schwachangedeutete Leidenschaften; starker Ausdruck ist ihnen zuwider; dafür haben sie keinen Sinn. Das kann sein, ich will mich nicht zum Lobredner meiner Landsleute aufwerfen. Auch ist es wahr, sie reißen keine Mühlen um und verderben keine Saat, wenn sie über Korntheuerung klagen; sie haben bis jetzt weder Bartholomäusnächte noch rebellische Bürgerkriege angestiftet. Da indessen die Welt nach und nach immer aufgeklärter wird, hoffen unsere Schöngeister, daß das mit der Zeit kommen werde, zumal wenn die Wälschen uns die Ehre erzeigen wollen, mit ihrem Geist den unsrigen anzuregen.“

Der alte Fritz liebte also eine maßvolle Schauspielkunst: unsere späteren genialen Shakespeare-Darsteller, die Lears und Othellos, wären ihm gewiß ein Gräuel gewesen. Daß die Deutschen aber für starken Ausdruck der Leidenschaften auf der Bühne wohl Sinn und Verständniß zeigen: das haben sie durch die Huldigungen bewiesen, die sie bis in die neueste Zeit hervorragenden Darstellern im Stile Lekain’s dargebracht haben. Auffallend ist indeß Friedrich’s letzte Aeußerung: die Deutschen haben doch wahrlich genug blutige Bürgerkriege und Religionskriege aufzuweisen, wenn auch nicht gerade Bartholomäusnächte. Darin aber hat er richtig prophezeit, daß sie sich von den Wälschen auf revolutionäre Bahnen würden locken lassen: die spätere Geschichte bestätigt das hinlänglich, †      

Flissaken-Terzett. (Mit Illustration S. 741.) Auf langen „Traften“ und zusammengenestelten Balken und Brettern kommen die „Flissacken“, Flößer aus polnischen Gegenden, die Weichsel herunter nach Danzig, um dort die Erzeugnisse ihrer Heimat, meist Holz und Getreide, auf den Markt zu bringen. Ganze Reihen von Flößen sieht man oft in der Nähe Danzigs auf der Weichsel, und an schönen Sommerabenden entfaltet sich auf ihnen ein eigenthümliches Leben. Männer, wohl auch Weiber und Kinder lagern sich im Kreise, nicht selten um flackerndes Feuer, das die Gesichter der Schwatzenden oder träge in die Ferne Starrenden magisch beleuchtet. Hin und wieder tönen langgezogene, melancholische Mollweisen in die stille Abendluft hinaus, und die aschblonden Slawen in ihren hellen Leinenkitteln, mit farbigen Gürteln, senden, singend oder auf der Fiedel spielend, aus der Fremde sehnsuchtsvolle Grüße an die Heimat, in die sie nach Erledigung ihrer Geschäfte meist unverzüglich zurückkehren. **     

Ein neuer Industriezweig. Geistreiche Menschen waren von jeher als Gesellschafter bei Diners und Soupers ein gesuchter Artikel, und wenn sie noch obendrein über Witz und schlagfertige Geistesgegenwart verfügen, so wird es ihnen niemals an Einladungen fehlen. Aber leider sind diese Gaben nicht allzu häufig, und deßhalb hat sich in London ein Verein junger gebildeter Männer gebildet, welche sich die Aufgabe gestellt haben, bei vorkommenden Festlichkeiten sich dem Hausherrn als Gesellschafter zur Verfügung zu stellen. Diese „Dinner-Outs“ (Auswärts-Speiser), wie sie im Volksmunde genannt werden, haben ihre Tarife, deren Preise sich nach den Anforderungen richten, die an den Einzuladenden, dessen Magen, Mundwerk und Füße gestellt werden. Herren-Diners, bei denen eine besondere Toilette nicht erforderlich ist, kosten zwei bis drei Pfund; sind aber Damen anwesend und ist der Gesellschaftsanzug nothwendig, so steigert sich der Preis bis auf das Doppelte, während die dreifache Taxe eintritt, wenn an den Einzuladenden die Verpflichtung herantritt, sich am Balle zu betheiligen und die Antiquitäten der Damenwelt zur Polonaise und Française zu führen. Besonders elegante und sprachgewandte „Dinner-Outs“ stellen sich bei diesem Gewerbe ganz ausgezeichnet.

Ein Roman von Ernst Wichert. In dritter Auflage liegt der Roman: „Heinrich von Plauen“ von Ernst Wichert (Leipzig. Reißner) vor, welcher uns Bilder aus der Geschichte des deutschen Ordens in Preußen mit der Tüchtigkeit der Darstellung vorführt, die dem Verfasser eigen ist. Er hat dabei eine der interessantesten Epochen jener Geschichte herausgegriffen und auf Grund eingehender Quellenstudien geschildert. Der Held, Heinrich von Plauen, ist ein durchaus interessanter Charakter; seine Schicksale erwecken warme Theilnahme; aber auch die Phantasiegestalten des Dichters sind lebenswahr und anziehend. Aus Ostpreußen gebürtig und in Königsberg lebend, kennt derselbe Land und Leute in jener Eigenart, welche von der geschichtlichen Wandlung nicht berührt wird, ganz genau; die Geschichtsbilder selbst aus den deutschen Ordensschlössern, den preußischen Handelsstädten, von den Höfen von Polen und Ungarn, aus den Kreisen der Eidechsenritter und Vitalienbrüder, haben einen nicht minder eigenartigen Reiz. Einen Vorzug hat Wichert vor manchen sehr gefeierten Romanautoren voraus: er schreibt natürlich und ungezwungen, ohne jeden Anflug von Manier; er geht nirgends auf Stelzen – und das ist gerade bei dem geschichtlichen Roman nur zu sehr Mode. †      

Asyl für unbemittelte Lungenkranke nächst New-York. Mitte August traf Dr. med. Seibert aus New-York im Auftrage der New-Yorker Deutschen Gesellschaft in Görbersdorf (Preußisch-Schlesien) ein, um, nachdem er Davos und Frankenstein besucht, die Brehmer’sche Heilanstalt für Lungenkranke zu studiren und mit Dr. Brehmer, der [756] bekanntlich der Schöpfer der höhenklimatischen Heilorte ist, eingehend Rathes zu pflegen. Die New-Yorker Deutsche Gesellschaft verfügt zum Zweck der Gründung eines Asyles, in welchem unbemittelte Schwindsuchtskranke deutscher Nationalität aufgenommen werden sollen, über ein Kapital von 100000 Dollars. Die weite Entfernung der Felscngebirge gestattet es nicht, in diesen einen immunen (schwindsuchtsfreien) Ort auszuwählen, da allein die Reise bis dahin eine beträchtliche Summe erfordern würde. Es besteht bloß die Absicht, am Hudson, ungefähr eine Bahnstunde weit von New-York, einen waldreichen, geschützten Platz ausfindig zu machen – der allerdings nicht höher als acht- bis neunhundert Fuß über dem Meere liegen wird – um dort die so nothwendige humanitäre Anstalt einzurichten. Bei der zielbewußten, thatkräftigen Handlungsweise der Deutsch-Amerikaner wird es wohl nicht lange währen, bis die Kranken die Wohlthat jener Einrichtung genießen werden, von der es nur zu bedauern ist, wie es auch Dr. Brehmer ausgesprochen hat, daß dieselbe ein Surrogat bleibt, da die hauptsächlichste Anforderung: die immune Lage unerfüllt bleibt.

Das Verwaltungspersonal Frankreichs im Jahre 1869, also ein Jahr vor Ausbruch des Krieges bestand aus 502 812 Beamten, welche zusammen 341317672 Franken bezogen, so daß auf jeden Kopf der Bevölkerung eine Beamtensteuer von 10 Franken 38 Cent. kam. Der Kaiser und seine Familie figurirten auf dem Budget mit 26500000 Franken, der Senat mit 5100000 Franken, die Minister mit 1060000 Franken, die Präfekten mit mehr als 4 Millionen, die Generale und Generalstabsofficiere mit etwa 8 Millionen; die geheimen Ausgaben des Ministeriums des Aeußeren beliefen sich auf 550000 Franken und diejenigen für die öffentliche Sicherheit auf 2 Millionen.

Eine merkwürdige Eiche. Hartknoch erzählt in seiner Geschichte von Preußen, daß bei Wehlau in einem Garten eine Eiche von 27 Ellen in der Dicke gestanden, in deren Höhlung Herzog Albrecht und sein Sohn Adolph Friedrich (1565) sich mit den Pferden herumgedreht hätten.


Allerlei Kurzweil.

Bilder-Räthsel.


Auflösung der „Baumwurzeln“ auf Seite 704: Zieht man von jedem Wurzelende eine Vertikale auf die untenstehenden Buchstaben und liest dann zuerst die Wurzeln resp. deren Buchstaben der obersten Erdschichte, hierauf in gleicher Weise die der 2. und 3. Schichte ab, so erhält man die Worte: „Der Wurzelsepp“.


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

Bureaudiätar Richard H. in Posen. Da Ihre Namensunterschrift völlig unleserlich ist, vermögen wir Ihnen nur zu antworten, wenn Sie Ihre Anfrage unter Mittheilung Ihrer genauen Adresse wiederholen.

Theodor A. in Sch. Das „Generalregister der ‚Gartenlaube‘“ umfaßt die Jahrgänge 1853–1880 und kostet 4 Mark. – Erzählungen von E. Werner brachten die Jahrgänge 1870–1874, 1876, 1878, 1880, 1883, 1885.

J. P. in Gießen. Nicht verwendbar.


Inhalt: Ueber den Gartenzaun. Erzählung von A. Weber (Fortsetzung). S. 74l – Aus den Zeiten des „Brigantaggio“. Von Isolde Kurz. II. (Schluß.) S. 746. – Ein Friedhof ohne Gleichen und vierzig auferstandene Könige. Von Georg Ebers. S. 748. Mit Illustrationen S. 748, 749 und 7S0. – Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 750. – Waidwund verbellt S. 752. Mit Illustration S. 7S2. – Blätter und Blüthen: „Moderne Wunder“. S. 7S4. – Ein schwieriger Brief. Von V. Blüthgen. S. 7S4. Mit Illustration S. 745. – Katharina Klafsky. Von Heinrich Ehrlich. Mit Portrait. S. 755. – Friedrich der Große und die Schauspielkunst. S. 755. – Flissacken-Terzett. S. 755. Mit Illustration S. 741. – Ein neuer Industriezweig. – Ein Roman von Ernst Wichert. S. 755. – Asyl für unbemittelte Lungenkranke nächst New-York. – Das Verwaltungspersonal Frankreichs. – Eine merkwürdige Eiche. – Allerlei Kurzweil: Bilder-Räthsel. S. 756. – Auflösung der „Baumwurzeln“ auf S. 704. S. 756. – Kleiner Briefkasten S. 756.



[ Verlagsreklame der Gebrüder Kröner. ]


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Für il buon figliuolo – der gute Junge.
  2. Nicht so viel Tropfen hat das Meer, als ich Dir Küsse geben will.
  3. Das Wild „sichert“, wenn es durch Umheräugen oder Wittern sich überzeugt, ob ihm Gefahr droht.