Die Gartenlaube (1888)/Heft 49
Nun geht das alte Jahr zu Ende;
Die Zeit der Wintersonnenwende
Hüllt Feld und Wald in lichtes Weiß.
Die Tannen frühlingsgrün nur ragen,
Doch ihre stolzen Häupter tragen
Ein flimmernd Diadem von Eis.
Es sinkt die Nacht; die Stunden rinnen,
Die ihren dunkeln Mantel spinnen;
Kein Stern hält heute treue Wacht;
Die Eichenwipfel weh’n im Sturme,
Und durch den Wald vom nahen Thurme
Dröhnt laut es zwölfmal: – Mitternacht!
Da legt es sich, da raunt’s, da flüstert’s!
Da schleicht’s, da springt es und da knistert’s!
Die Sonnenwende übt ihr Recht.
Lebendig werden Busch und Hecken,
Es schlüpft aus mancherlei Verstecken
Der Zwerge winziges Geschlecht.
Die Grubenlämpchen glühn und flimmern;
Den Wald, o Wunder! hat ihr Schimmern
verwandelt in ein Feenreich.
Wo eben mitternächtig Dunkel,
Herrscht zauberhaftes Glanzgefunkel,
Sich spiegelnd im beeisten Teich.
Hier spielt’s in feinen Birkenzweigen,
Die zierlich erdenwärts sich neigen,
Wie farbenbunter Demantglanz.
Dort sprüht es bläulich aus dem Moose,
Roth, wie der Kelch der wilden Rose
Flammt in dem Gras ein Purpurkranz.
Wo zack’gen Eises nur ein Glöckchen,
Wo weißen Schnees nur ein Flöckchen,
Bricht tausendfacher Glanz hervor.
Und horch! der Wundernacht zum Preise
Tönt durch den Wald die frohe Weise
Des Zwergenvölkchens muntrer Chor:
„Hei, längste Nacht! Hei, Sonnenwende!
Gesellen, rührt Euch, seid behende,
Weihnachten naht, der Liebe Fest!
Ihm tönet Preis von allen Zungen,
Zu uns auch ist herabgedrungen
Der Jubelgruß aus Ost und West!
Schafft Tannen her zu Weihnachtsbäumen,
Davon die jungen Herzen träumen,
Und Beeren roth vom Stacheldorn!
Auch Moos fürs Kripplein bringt zur Stelle;
Bald tönt Knecht Ruprechts Silberschelle,
Die Säumigen bedroht sein Zorn!
Christkindlein setzt ihn uns zum Meister,
Alljährlich ruft die kleinen Geister
Er aus verborgnem Felsennest.
Hei, längste Nacht! Hei, Sonnenwende!
Gesellen, rührt Euch, seid behende –
Weihnachten naht, der Liebe Fest!“ –
Das ist ein Bücken, Klettern, Biegen!
Es klingt die Axt, die Späne fliegen;
Sie gönnen sich nicht Rast, noch Ruh.
Und bei der Arbeit, welch Frohlocken!
Rothkehlchen schauen unerschrocken
Dem Liebeswerk der Zwerge zu.
Und wißt, die haben’s ausgeplaudert!
Ich aber habe nicht gezaudert
Und schildert’s Euch in Bild und Lied.
Das biet’, Ihr lieben guten Leute,
Ich Euch als Weihnachtsgabe heute –
Doch sagt nicht, daß ich’s Euch verrieth!
Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser.
(Schluß.)
Achatius pfiff die Diener in sein Zimmer. Sie fanden ihn, wie er das herrliche Bild Meister Kranachs, die Venus, die mit einem rothen Sammethut bekleidet war, von der Wand hob.
„Schafft mir auf der Stelle das Weibsbild von hinnen in die fernste Rumpelkammer! Ja so! Dahin kommt sie ja auch, wenn sie in dem saubern weißen Schürzchen ihren Umgang hält. Zum Haus hinaus also!“
„Aber,“ entgegnete der Diener, „sie hat so viel Geld gekostet.“
„Fort!“ rief Achatius, mit beiden Händen wehrend.
„Aber –“
„Fort!“ schrie sein Herr, mit dem Fuße stampfend, „oder ich werfe Dich selbst mit hinaus.“
Der Diener enteilte.
„Mein Staatswams!“ befahl der Hausherr aufathmend. „Den Hut mit der langen Feder.“
Athemlos brachte der Leibknecht das Verlangte.
„Welcher Firlefanz hängt da noch? Zum Teufel mit den Favors! Frau Beschließerin, kommt mit der Schere!“
Die dicke Beschließerin wackelte eilig herbei und trennte Schleiflein und Quästchen, den „Galanten“ und den „Schäker“ ab.
Zehnmal schaute er in den Spiegel, aber nicht, um den Bart zu zwirbeln, sondern nur, um zu sehen, ob auch kein Alamodezotten auf die Nase fiel. Die Locken konnte er freilich nicht aus seinem braunen krausen Haar kämmen.
Auf dem Schloßthurm schlug die bestimmte Stunde. Er flog davon, am Rothen Schloß vorbei. Jetzt hörte er schon neben sich die Ilm rauschen, jetzt Mühlengeklapper. Da schimmerten die beiden Fenster durch die Nacht, hinter denen er erwartet wurde. Mit lachenden Lippen, mit blitzenden Augen stürmte er die Treppe hinauf, an der Michel mit einem Oellämpchen leuchtete. Die Thür wurde ihm aufgethan, und er trat gebückt durch die niedrige Pforte.
Da stand sie vor ihm in der großen weißen Schürze; denn sie hatte häuslich gewaltet. Das zeigten die Weinkanne und die Gläser auf dem gedeckten Tisch.
Frau von Hellingens Sorgenstuhl war zu oberst daran geschoben und die Dame hatte fürnehmem Brauch gemäß zu der feierlichen Stunde ihr Kleid mit dem Brokatvorderblatt angelegt; und es paßte wieder, denn auf dem unscheinbaren Zindel saß sie. Würdevoll hielt sie das Fähnlein in der Hand.
Und nun sollte der redegewandte Hofmeister sprechen, wie es schicklich war. Und nun blieb der allezeit Zungenfertige stecken.
„Hochehrenreiche Frau!“ er stockte schon. „Tugendselige Jungfrau“ erschien ihm in diesem Augenblick zu geziert und „geliebtes Mädchen“ zu sagen getraute er sich nicht.
Er schwieg; nur die großen sprechenden Augen flehten.
Aber wunderbar! Sein Verstummen rührte Gertrud mehr, als die schönste Rede es gethan haben würde. Ein leises weiches Lächeln, das ein liebliches Grübchen auf der jugendlich gerundeten Wange bildete, trat in das feine Gesicht.
Auch die würdige Frau von Hellingen konnte seinem Blicke nicht widerstehen; sie half ihm aus der Noth. Mild beruhigend sagte sie: „Unsre gnädige Herrschaft hat uns schon kund gethan, weshalb Ihr kommt. Ihr wollt um Gertruds Hand werben und, wenn Ihr die Zusage empfahen, um meinen Segen bitten.“
Achatius knieete nieder. Diese Aeußerung tiefster Demuth entsprach allein der Zerknirschung seines Herzens.
Frau von Hellingen aber ließ sich durch solch absonderliches Gebühren nicht irremachen. Sie sah ein, sie mußte dem schüchternen Mann unter die Arme greifen, wenn er vom Fleck kommen sollte. Nachdem sie also für ihn bei sich selbst angehalten hatte, fuhr sie in ihrer Eigenschaft als Brautmutter fort: „Wir freuen uns, daß Ihr das gute Zutrauen zu uns heget, und haben beschlossen, Euren Antrag anzunehmen. So reicht Euch denn die Hände!“
Es war das erste Mal, daß Achatius diese feine Hand berührte; er that es so zart, als fürchte er, ein Fingerchen zu zerbrechen.
Bittend schaute er sie dabei an. Einen Augenblick sah sie in das schöne ihr zugeneigte Antlitz. Aber die Zeit, da Achatius, mit spitzen Lippen Küsse hauchend, als Herr waltete und Schmätzlein wie Gnaden vertheilte, war vorüber.
Gertrud schlug die Wimpern nieder, und Achatius küßte ihre Hand. Dann saßen sie beisammen und besprachen die nächste Zeit.
Die Mutter nahm getrost im Geiste bereits Besitz von der großen Stube im Erdgeschoß des Hauses mit dem Rosenstock und billigte ihres Schwiegersohnes Bestimmung, daß der treue Michel bei den Hausknechten mit untergebracht werde, aber auch hinfüro die blau und weißen Farben zu tragen habe.
„Für jetzt gehe ich nach Reinhardsbrunn und halte Wolfstreiben,“ sprach Achatius. „Wenn aber die Weihnachtszeit kommt, dann will ich anfragen, ob das Christkind in seiner Gnade mir Unwürdigem eine liebe Hausehre bescheren will.“
Gertrud sah ihn mit einem warmen Blick an: das war aus keinem Schäferroman zusammengestoppelt.
„Und mich,“ sagte sie, „werdet Ihr bereit finden, als Euer getreues Weib Euch in Euer Haus zu folgen.“
Vom Schloßthurm tönte die neunte Stunde, Herrn Achatius viel zu früh. Aber er folgte der Mahnung. Tief neigte er sich vor der Schwiegermutter.
Gertrud leuchtete ihm zu der steilen Wendeltreppe.
Er ging. Als er schon ein paar Stufen hinab war, sah er noch einmal zurück, halb lächelnd, halb betrübt.
Da setzte sie das Lämpchen auf die Erde, schlang beide Arme um seinen Hals und flüsterte: „Gott geleite Euch, mein liebes Herze!“
Und nun bekam Herr Achatius doch seinen Verlobungskuß.
Unter dem funkelnden Sternenhimmel ging er heim. Aus den Häusern tönten fromme Weisen. Jeglicher Hausherr sang mit Familie und Ingesinde den Abendsegen. Das alte Kampflied Luthers stieg auf wie immer in bedrängter Zeit.
So würde auch er hinfüro mit seinem lieben Weibe allabendlich singen: „Eine feste Burg ist unser Gott.“ Der heilige Weihnachtsabend würde ihn nicht mehr als Nachtschwärmer sehen. Am häuslichen Herd würde er sitzen, während seine Frau die Lichter an der Tanne anzündete, die er nun so manches Jahr nicht gesehen hatte. Und da er jetzt an seiner Thür stand und dem guten Mond gerade ins Gesicht sah, da trug er dem alten Freund aller Liebenden noch einen Gruß an sein Herzgespiel auf. Denn, bei Gott! er war ein deutscher Mann!
Es gab in der nächsten Zeit viel Thränen unter dem Frauenzimmer, das in Weimar so fröhlich mit Achatius geschäkert hatte.
Der Text der Predigten, die ihm gehalten wurden, war derselbe, ob sie nun aus dem Mund der sanften Eleonore, der brünetten Herzogin von Koburg oder der Sternenkundigen von Eisenach kamen. Ja, der Hofprediger der Dornburg, der gerufen werden mußte, um der Hofmeisterin den Kopf zurecht zu setzen, ließ sich gleichermaßen vernehmen: „Nicht umsonst ist die Frau zur Hüterin der Sitte bestellt. Darum rächt sich an ihr eine Verletzung derselben strenger denn am Manne.“
Nachdem sie sich ausgeweint hatten, putzten sich die Eisenacherinnen wieder für das Jagdfest auf der Wartburg, die Koburgerinnen beredeten Kirmeßfahrten nach benachbarten Edelsitzen, Benigna lugte hinter dem jüngsten fürstlichen Rath, dem Sauerhaften, her, und die Hofmeisterin zählte alle unvermählten Junker und alle Witwers an den Fingern zusammen, die im Umkreis von zwei Meilen zu erreichen waren.
Auch die langnasige Hofjungfrau hatte Trost gefunden in einem Klatsch, den sie verbreitete; in selbigem war der Frau von Tautenburg die Rolle der Burgkatze, dem Junker Utz die eines unschuldigen weißen Mäusleins zugetheilt.
Denn nicht umsonst sagt der weise Salomo: „Ein jegliches Ding hat seine Zeit: Weinen und Lachen, Klagen und Tanzen, Lieben und Hassen.“
Ob die jungen Herzen jauchzten, ob sie klagten, die Jahreszeiten gingen ihren ruhigen Gang. Der Hain bei der Dornburg färbte sich roth und gelb. In den Weinbergen schallte fröhlicher Gesang; die Knechte und Mägde trugen große Körbe voll grüner [827] und blauer Trauben aus dem Saalthal herauf. Die Schwalben umschwärmten in Scharen das graue Gebäu und ließen die Wanderpfeife ertönen.
Bei dem Schloßhauptmann wurde eifrig zur Hochzeit Katharinas mit dem Junker von Hagenest gerüstet. Die Leinwandweben in der Eichenholztruhe waren zerschnitten und mit künstlichen gedoppelten Nähten zu allerhand Gewänden wieder zusammengefügt worden. Dann verfertigte der Hofschneider der Frau Witwe das karmoisine Brautkleid; und saß derselbe im Thurmgemach auf demselben Tisch, wo vor wenigen Monden Achatius seine Bartfutterale ausgebreitet hatte; denn also geht es zu auf diesem Wandelstern, der Erde benamset ist.
Frau von Tautenburg hatte in dieser Zeit als den für ihren Gemüthszustand passendsten Abendsegen den Gesangbuchvers erkiest: „O, wie gar viel Gaben muß der Hausstand haben.“
Und bei all der Arbeit kam der würdigen Frau auch noch zum öfteren fremder Einspruch über den Hals, wie das immer geht, wenn der Haushalt gerade auf dem Kopfe steht.
Eben flatterte die Brautwäsche im Hof und Frau von Tautenburg lobte den Utz wegen des schönen Sonnenscheins, den seine Ehrbarkeit herfürgezaubert hatte – da schallte Hufschlag durch das Thorgewölbe. Ein Trompeter aus Weimar ritt ein mit Briefen an die fürstlichen Damen. Unter den hochgehaltenen Leinen und dem scheltenden Geschnatter sämmtlicher Mägde wurde das staubige Pferd hinweggeführt. War so lange kein Bote von dort gekommen, so konnte er auch jetzt wegbleiben.
Dann als sie die neuen Betten ausgebreitet hatte, um sie zu sonnen, fiel mitten hinein, gleich einer verstörenden Karthaunenkugel, der Hofmarschall von Teutleben aus Weimar. Nun, er war ein geriebener Hofmann, der mit feinem Lächeln sagte, es könne ihn kein besseres Vorzeichen empfangen. Sie verstand zwar nicht, wie er das meinte; aber sie hatte keine Zeit, an der Spitzfindigkeit herum zu klauben. Sie mußte ihren Eheherrn rufen lassen, dieweil der Hofmarschall dringend um eine geheime Unterredung mit der Frau Witwe bat.
Dann wurde auch noch eine stattliche Hoftafel seinetwegen anbefohlen. Waren so große Umstände nöthig für den Diener des Herzogs, der das fürstliche Fräulein – man mochte es drehen und wenden, wie man wollte – doch hatte sitzen lassen? Er hätte die Herzogin Dorothea gar nicht zu sehen brauchen. Statt dessen wurde derselben die Qual auferlegt, mit ihm zu Tische zu sitzen.
Der alte Herr war ja freilich des Lobes voll gewesen, als er mit heiteren Mienen aus dem Residenzhaus zurückkehrte. Er behauptete, das fürstliche Fräulein noch nie so schön gesehen zu haben, wie jetzt in dem violenblauen Sammetrock. Er nannte ihre Blässe fürnehm, rühmte ihre Milde und schien sichtlich erfreut durch die gnädige Gesinnung, die sie ihm erwiesen hätte. Und dabei konnte er, ganz entgegen dem Vetter Achatius, gar nicht die Zeit erwarten, da er wieder auf seinem Pferd saß, um stracks nach Weimar zurückzutraben.
Auch Frau von Tautenburg war froh, als er fort war. Nun würde ja endlich Ruhe werden.
Gott bewahre! Jetzt lebte plötzlich die Frau Witwe wieder auf. Frau von Tautenburg gönnte ja hochderselben alles Gute. Sie freute sich, daß die bedrückte Stimmung, die immer nach gescheiterten Heirathen eintritt, allmählich sich verzog. Aber ob die Herrschaft nicht immer die Dinge am verkehrten Ende anfaßte?
Als das hoch zu wünschende Ehewerk im Gang war, hatte sie die Hände in den Schoß gelegt und selbiges durch ihr übermüthiges Fräulein verfahren lassen. Und nun auf einmal war sie die Thatkraft selbst. Sie setzte ihren Kopf darauf, daß die Prunkgemächer abgestäubt, die Purpurpolster der Wandbänke ausgeklopft wurden. Sie ließ die kostbare Tapezerei mit dem Türkenzug aufhängen und in allen Gastgemächern Betten aufschlagen.
Trotz all dieses Ungefährs wurde endlich doch der Polterabend glücklich erreicht.
In ihrem Stüblein stand Käthe vor dem Spiegel, durchstach die blonden Haare mit kleinen silbernen Schwertern, zog den neuen zeisiggrünen Rock an und legte die rothe Korallenkette um den Hals. Zuletzt hing sie an dieselbe das schwere goldene Kreuz, das ihr die Herzogin Dorothea heute eigenhändig überreicht hatte. Und während sie an dem Glanz sich freute, der von dem ernsten Symbol ausging, spürte sie in ihrem Herzen gegen die erhabene Geberin das herablassende Mitleid, mit welchem Bräute auf ihre noch unversorgten Schwestern niederzusehen pflegen.
Frau von Tautenburg beaugenscheinigte die lange Reihe von Hochzeitskuchen, die auf den Köpfen des sämmtlichen Ingesindes aus dem Backhaus in die Vorrathskammern einzogen. In der Küche loderten helle Feuer, bereiteten Koch und Küchenmägde den Schmaus für den Abend und trugen geheimnißvoll alles seit Wochen angesammelte schadhafte Geschirr herbei.
Da kam abermals ein Kurier aus Weimar in die Quere. Gottlob! er hielt sich nicht lange auf. Eiligst jagte er, mit einer kurzen Antwort der Frau Witwe versehen, wieder davon.
Aber nun regte es sich auch im Residenzhaus. Die Pagen trugen Befehle vom Witwengemach hinauf in das Gestock, wo die Hofmeisterin und die Hofjungfrauen wohnten, und hinab in die Gesindestube. Die Lakaien mußten die Galalivrei anziehen, die Damen in ihre Staatsröcke schlüpfen. Auch der Schloßhauptmann wurde zur Frau Witwe berufen. Als er heimkam, ließ er sein Galakleid bereit legen. Aber auf die feinen Fragen seiner Hausehre antwortete er nur mit einem schlauen Augenblinzeln.
Der Herzogin Dorothea war von ihrer Mutter die Weisung geworden, sie solle sich bereit halten, noch am heutigen Tage einen vieltheuren Gast empfangen zu helfen.
Sie fragte nicht, wer es sei. Ihr war es gleichgültig, ob ein Graf von Rudolstadt oder Gleichen vorsprach. Sie saß in ihrem kleinen Zimmer, dessen Fenster, halb beschattet von der Burglinde, in den Hof blickten, und schaute mit wehmüthigem Lächeln stuf das frohe hochzeitliche Treiben.
Wie viel Freude gab es doch in der Welt! Und wie verschieden fielen die Lose der Menschen! Der treufeste Herr von Hagenest vergab Käthchen, daß ihr Herz zuerst an dem leichtfertigen Hofmeister gehangen hatte. Voll Sicherheit hatte die junge Braut vor ihr gestanden in dem Bewußtsein, es fertig gebracht zu haben, daß ein edler Herr sie von früh bis spät als seine Perle und wahre Krone pries.
Die Glückliche! Wie schwer war es dagegen ihr geahndet worden, daß sie in übermüthiger Jugendlust für einen Schemen, den Celadon, geschwärmt hatte! Sie blieb allein im Frühlinge des Lebens.
Wie hatte sie noch vor wenigen Monden gelacht bei dem Gedanken, daß sie Abbatissa werden könnte! Nun stand es vor ihr, dieses Geschick. Gleich ihrer ältesten Stiefschwester würde sie, das Stiftskreuz auf der Brust, durch die düsteren Gänge in Quedlinburg schreiten, die vor Einsamkeit hallten, ohne Theil an dem frischen Menschenleben, das draußen fluthete, in Wahrheit nun lebendig eingemauert.
Und es war das Beste so. Sie verstand die Menschen ja doch nicht mehr. Nichtt das leichtlebige Pärlein da drüben, nicht das lustige Völklein drunten – nicht einmal mehr die gnädige Mutter. Das hatte sich deutlich gezeigt, als vor einigen Wochen endlich einmal ausführliche Briefe von der Herzogin Eleonore ankamen. Es war ja auch ihr lieb gewesen, daß die sanfte Freundin sich wieder näherte. Sie schrieb so offen und herzlich wie in früherer schöner Zeit. Auch den Herzog Albrecht nannte sie wieder, und Dorothea hatte eine wehmüthige Genugthuung empfunden, als sie las, er sei sehr verändert; der sonst immer zu einem heitren Wort Bereite verhalte sich jetzt allezeit ernst und schweigsam. Aber sie begriff doch nicht, daß die Frau Witwe über den an dieselbe gerichteten Brief, den Dorothea nicht zu lesen bekam, sich also freute, daß sie jetzt von der Hochzeit des Lammes nicht mehr zu sprechen beliebte.
Und vollends unergründlich blieb ihr die Heiterkeit ihrer Mutter nach Teutlebens Vorsprechen. Sie hatte nicht gefragt und ihre Mutter nicht geäußert, um was die geheime Berathung sich drehte. Wahrscheinlich um einen neuen Tausch von Gütern der Altenburgischen und Weimarischen Herrschaft, denn der Hofmarschall hatte von einem demnächstigen Besuch bei ihrem Bruder in Altenburg gesprochen.
Das Wiedersehen mit dem alten Diener, der einst schon ihr und ihrem Gemahl aufgewartet hatte, schien die Frau Witwe gänzlich in die Vergangenheit zurückversetzt zu haben. Unermüdlich plauderte sie von ihren Erinnerungen; und sie konnte so froh lächeln, wenn sie erzählte, wie Herzog Albrecht, da er noch ein kleines Krabbelchen war, ihr einst einen wohlsingenden Hänfling verehrt und mit solchem Geschenk ihr Herz gewonnen hatte.
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[829] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [830] Sie war so verstrickt in ihre schöne Jugendzeit, daß sie heute sogar den Ring hervorgesucht hatte, den sie bei ihrem Verlöbniß empfing.
Handtreue nannte man solche Ringe. Und während die blasse Fürstin an dem Funkeln der Diamanten und Rubinen sich erfreute, die in der Sprache der Edelsteine feurige Liebe und Beständigkeit in Glück und Leid bedeuteten, sprach sie: „Es ist das Beste bei Verlöbnissen, wenn alles in hergebrachter Weise verläuft. Kluge Menschen haben nicht umsonst die Formeln gefunden, in denen die ernstesten Ereignisse des Lebens sich vollziehen.“
Wie hatte die Mutter es nur übers Herz bringen können, so zu ihr zu reden? Ob wohl alle Menschen so empfanden, wenn sie alt wurden? Ob sie wohl auch einmal die Tulipanen hervorsuchte und darüber lächeln konnte?
Sie schüttelte den Kopf. Aber die Erinnerung an die Blumen wollte nicht mehr weichen. Sie erhob sich und entnahm dem Geheimfach einer mit Perlmutter ausgelegten Spinde ein Päckchen Silberflor. Als sie es mit bebenden Fingern öffnete, lag ein vertrocknetes Häuflein von Blumenleichen in ihrer Hand.
Wie hatten sie in Farbenpracht geprangt, die Herzblätter dem Licht geöffnet, da Er sie in ihre Hand legte! Nun waren die Häupter geneigt, die Kelche für immer geschlossen. Sie wandten sich nie wieder der Sonne zu. Sie waren verblüht, verwelkt, vergangen wie seine Liebe. Es stieg heiß in ihre Augen. Durch den Thränenflor vermochte sie nichts mehr zu erschauen.
Da tönte plötzlich weither der Ruf: „Kiekebusch, wo kommst Du her?“ Und ein anderer antwortete näher: „Wahrhaftig, da ist Kiekebusch.“ Und nun scholl es unter ihren Fenstern: „Hei Kiekebusch!“ Die Kammermägde im Nebenzimmer riefen hinab: „Je Kiekebusch!“ Und das Rufen ging weiter: „Das Hündlein Kiekebusch ist wieder da.“
Dorothea fuhr auf und blickte hinab. Das Ingesinde der Burg lief zusammen- und der kleine Kiekebusch sprang im Kreis umher, am dicken Koch empor, leckte den letzten Knecht in das herabgebeugte Gesicht und war vor Freude schier außer sich.
Draußen vor dem Thore aber tönte das Pflanzen der Hellebarden und eine Stimme, welche sprach:
„Bei Ihrer fürstlichen Gnaden, der Frau Herzogin Anna Maria fragt Seine fürstliche Gnade, der Herzog Albrecht von Sachsen-Weimar an, ob Hochdieselbe ihn empfangen will.“
Zitternd sank Dorothea auf den Fenstersitz nieder. Wie durch einen Schleier sah sie Lakaien, Pagen, den Schloßhauptmann laufen.
Dann schmetterten Trompeten, klirrte Hufschlag. Ein glänzender Zug ritt ein. Voraus blasende Trompeter, Pagen in Gala, der Hofmarschall von Teutleben im Staatskleid und – war es möglich? – Herzog Albrecht im goldgestickten Wams. Hinter ihm ein glänzendes Gefolge; allen voran im schwarzen silberverbrämten Amtskleid ein gelahrter Rath vom Schöppenstuhl in Jena, dem ein Diener mit einem Felleisen voll dicker Folianten nachritt.
Was konnte das bedeuten? So kamen nach deutschem Fürstenbrauch die Freier, um zu werben.
Sie gedachte nicht daran, wie sie dereinst diese Sitte mißachtet hatte; sie drückte die Hände auf das hochaufschlagende Herz. Jetzt nannte sie auch den gelahrten Rath nicht mehr einen Aktenwurm; er war ihr ein glückverheißendes Zeichen mehr. Es ging ihr plötzlich ein Verständniß auf für alle Vorgänge der letzten Zeit, und sie sah dieselben im wohlgefügten Zusammenhang, einem festen Ziele zustrebend. Aber auszudenken vermochte sie nichts.
Der Page der Frau Witwe erschien mit der Botschaft, das fürstliche Fräulein werde in den Prunkgemächern erwartet.
Athemlos flogen ihre Kammermägde herbei mit Perlen und Demantsternen. Sie hielt geduldig still und vergaß, in das Spieglein zu schauen. Dann ging sie in dem dunklen Sammetkleid, auf dem das edle Gestein glitzerte wie Thautropfen auf einem Viol, gemessenen Schrittes hinüber.
Die Vorzimmer waren erfüllt mit dem Gefolge der fürstlichen Herrschaften. Der Page öffnete die Thür zum Staatsgemach und schloß sie wieder hinter ihr.
Die Frau Witwe saß auf dem Thronstuhl mit gerötheten Wangen, sanft leuchtenden Augen. Und Herzog Albrecht stand vor ihr und neigte sich lebhaft sprechend voll Ritterlichkeit ihr zu.
Jetzt erhob er das Haupt und wendete sich. Sie standen einander gegenüber und blickten sich an. Und die Augen hafteten in einander, und die Seelen fragten durch sie: Bist Du es wirklich?
War die ernste Fürstin, die in so stiller beherrschter Haltung vor ihm stand, die freudige Dorothea?
War der junge Fürst mit dem sanften Zug über den Brauen, dem weichen Lächeln der unbeugsame strenge Albrecht?
Und doch! Du bist’s antworteten sich selig die Augen.
In feierlicher Haltung trat der Herzog hierauf vor und sprach zu Dorothea gewandt:
„Aus eigenem tiefinnersten Wunsch und mit Zustimmung der beiden Häuser von Weimar und Altenburg stehe ich hier und werbe um Eurer Gnaden Hand. Ich gelobe vor Ihnen und Ihrer gnädigen Mutter, Sie hoch und theuer zu halten als meinen höchsten Schatz, Sie zu schützen und zu stützen, in treuer Liebe Ihnen zu eigen zu sein, bis der Tod uns scheidet. Und bitte ich Eure Gnaden, mich mit huldvoller Antwort zu versehen.“
Dorothea verbeugte sich tief vor der Frau Witwe. Diese gab durch ein Neigen des Hauptes die Erlaubniß zur Antwort. Und mit zitternder Stimme erwiderte Dorothea:
„Mit Einwilligung meiner gnädigen Mutter gebe ich Eurer fürstlichen Gnaden mein Jawort.“
Es dämmerte ein Leuchten in den topasfarbigen Augen auf; Albrecht wußte nicht, war es eine Thräne, die mühselig zurückgehalten wurde, oder das alte schelmische Lächeln, das ihm erschien wie Duft und Schmelz, unnütz und doch unentbehrlich. Einen Augenblick hielt sie inne. Dann fuhr sie in innigem Tone fort: „Und gelobe ich, Sie als meinen Herrn allezeit hoch zu halten und Ihnen eine gehorsame Gemahlin zu sein.“
Ein gerührtes Lächeln spielte um seine Lippen.
Da erhob sich die Frau Witwe, nahm aus dem kleinen Kästchen, das neben ihr auf einem Kredenztisch stand, den Ring mit den Rubinen und Diamanten und sprach: „Nachdem Sie beiderseits in das Verlöbniß gewilligt haben, mögen Sie zur Bekräftigung dessen die Ringe gegen einander wechseln.“
Sie tauschten die Handtreue aus. Mit einem warmen Druck umfaßte seine Hand ihre Finger.
Und nun schwiegen beide. Keines fand ein Wort mehr, nicht die junge Fürstin bei all ihrer höfischen Kunst, nicht der Herzog trotz seines stolzen, unerschütterlichen Herrenbewußtseins.
Auf ein Zeichen der Herzogin Anna Maria wurden die Thüren geöffnet und das Verlöbniß dem Hofstaat kundgethan.
Da war nun die Werbung vor sich gegangen, ganz wie Dorothea damals unter dem Dächlein ein solches Ereigniß voll Spott geschildert hatte.
Ach, sie dachte nicht an jene Zeit. Selig stand sie neben ihrem Bräutigam und nahm die Bücklinge des Hofstaates in Empfang.
Die Liebe hatte die starre Form belebt.
„Juchhe, Hochzeit!“ tönte es vom Hof herauf. Dazwischen lustiges Gekrach. Alle alten Scherben polterten zusammen. Dazu hoben die Stadtpfeifer von Dornburg im Hochzeitshause an zu blasen und zu fiedeln.
Es war nicht der französische Tanz Mimi, sondern ein echter deutscher Walzer, der mit dem ersten Takt in die tiefste Tiefe zu tauchen scheint, um in den zwei folgenden leichtfüßig empor zu wirbeln. Da entließ die Frau Witwe lächelnd das Gefolge, auf daß es den deutschen Polterabend mitzufeiern vermochte und das junge Paar Zeit zu einer vertraulichen Aussprache fand.
Sie standen unter dem Dächlein Hand in Hand. Die Gelöbnisse, die sie austauschten, waren ernst wie die Zeit, in der ihnen beschieden war, über die Erde zu wallen.
Und in die leisen Reden Dorotheas mischte sich kein französisches Wörtlein mehr. So wenig im Gebet der Mensch von einem andern Volk die Worte borgt, so wenig redet wahre Liebe in fremder Zunge.
Der Sonnenblick, der eine kurze Frist dem geplagten deutschen Volk geleuchtet hatte, erlosch. Die finstern Wolken zogen sich wieder zusammen. Aber in den Wettern, die herniederbrachen, blieb die Liebe der lichte Strahl, der den jungen Paaren leuchtete, bis an ihnen das Wort sich erfüllte des einzigen Dichters ihrer Zeit, der in die Unsterblichkeit, das heißt, in die Litteraturgeschichte sich hineindichtete, das Wort des Martin Opitz: „Ein jedes Ding verstäubt.“
[831]Wie alt ist der Weihnachtsbaum und wo ist seine Heimath? Klingt diese Frage nicht wie eine Ketzerei angesichts der Tatsache, daß am Christfest, soweit die deutsche Zunge reicht, auf jedem Weihnachtstische der Lichterbaum flammt? Von Ostpreußen bis zum Elsaß, von Nord- und Ostsee bis über die Donau ist er fast durchgängig der Schmuck des Christfestes. Bisweilen wird er durch die sogenannte Pyramide ersetzt. Diese besteht aus einem reisigumwundenen senkrechten Stabe, an welchem in bestimmter Abständen wagerechte Stäbe angebracht sind, die denselben grünen Schmuck und dazu vergoldete Aepfel und Nüsse, Pfefferkuchen und Lichter tragen gleich den Zweigen des Tannenbaumes, oder sie ist ein pyramidenartiges festes Holzgestell, welches in ähnlicher Weise geschmückt ist. Selten tritt ein angeputzter Kronleuchter an ihre Stelle. Durch die Herzogin Helene von Orleans hat der Weihnachtsbaum um 1840 in Frankreich und durch den Prinzen Albert in England Eingang gefunden, wo man ihn heute auch aus Eisen herstellt. Nach den Niederlanden, nach Rußland, besonders nach St. Petersburg und Moskau, wo er jedoch nur in den höchsten Kreisen üblich ist, nach Schweden wie nach Italien ist er ebenfalls aus Deutschland gekommen, und in Amerika, wo er immer mehr heimisch wird, gilt er vielfach geradezu für ein Merkzeichen des Deutschthums. 1830 kam er nach Ungarn, wo er jedoch noch heute nur in deutschen Bürgerkreisen und in hohen magyarischen Geschlechtern üblich ist. Im Jahre 1807 fand er sich bereits auf dem Weihnachtsmarkte zu Dresden[1] Hier wurde er mit glänzendem Rauschgold, bunten Papierschnitzeln, goldenen Früchten und Kerzen verkauft. Um dieselbe Zeit war er in Norddeutschland ziemlich allgemein üblich. In Hamburg kommt er bereits im Jahre 1796[2] vor. Hier heißt es bei Gelegenheit einer Beschreibung des Weihnachtsfestes im Wandsbecker Schlosse: „Hoch oben am Weihnachtsbaum hing ein Apfel, so schön, so kunstreich vergoldet, wie kein anderer. Den holte er (Fr. Perthes) plötzlich mit halsbrecherischer Kunst herab und dunkel erröthend gab er ihn zur nicht geringen Berwunderung der Anwesenden dem ahnenden Mädchen (Caroline Claudius).“ Aber nicht einmal bis in dieses Jahr können wir den Christbaum allgemein zurück verfolgen. Schon unsere ältesten Leute können sich auf eine Zeit besinnen, wo er noch nicht auf dem Weihnachtstische stand. Aber auch die Zeit seines erstmaligen Auftretens und seine eigentliche Heimath sind uns unbekannt. An vielen Orten tritt er mit einem Male aus dem Dunkel hervor, mit einem Schlage ist er da, und niemand weiß, wo er hergekommen. Nachweisbar reicht er nur bis in das 17. Jahrhundert zurück, und wenn ihn Scheffel[3] ins 10. Jahrhundert setzt oder Schwerdtgeburth ihn auf seinem berühmten Lutherbilde[4] verwendet und sein Vorkommen somit bis ins 16. Jahrhundert ausdehnt, so entbehrt das jeder thatsächlichen Grundlage.
Im allgemeinen tritt der Weihnachtsbaum in Norddeutschland früher auf als im Süden. Während ihn nach München die Königin Karoline erst um 1830 brachte, führten ihn die preußischen Offiziere und Beamten in Danzig[5] und im Münsterland bereits 1815 ein. Im Jahre 1799 war der Weihnachtsbaum in Leipzig noch völlig unbekannt; denn Magister G. A. Eberhard erwähnt in seinem Buche über die Feste des Jahres[6] kein Wort davon, während er doch der Christbescherung, des gegenseitigen Beschenkens mit Wachsstöcken, der Umzüge des Knechtes Ruprecht und einer Menge Weihnachtsaberglaubens von Holstein bis Nürnberg ziemlich ausführlich gedenkt. Vierzehn Jahre früher, 1785, aus welcher Zeit wir eine ziemlich ausführliche Schilderung des Leipziger Weihnachtsmarktes haben, findet sich der Tannenbaum auf dem Christmarkte in dieser Stadt noch nicht. Dagegen soll er bereits 1765 in Leipzig vorgekommen sein. Als nämlich der junge Goethe in diesem Jahre im Hause der Großmutter des Dichters Theodor Körner, der Gattin des Kupferstechers Stock zu Leipzig, Weihnachten feierte, soll er hier einen Christbaum aufgestellt gefunden haben[7], mit allerlei Süßigkeiten behängt, darunter Lamm und Krippe mit zuckernem Christuskinde, Mutter Maria und Josef nebst Ochs und Eselein, davor aber ein Tischchen mit braunem Pfefferkuchen für die Kinder. Diese Nachricht ist aber keineswegs sicher verbürgt. In den Briefen Goethes an seine Schwester aus jener Zeit, welche erst neuerdings herausgegeben worden sind und in denen der Dichter sonst so gern Neuigkeiten mittheilt, ist von dieser Feier nichts erwähnt. Gleichwohl ist sie nicht ohne weiteres bei Seite zu schieben; fest steht, daß Goethe 1774 den Christbaum kannte. In den „Leiden des jungen Werther“ heißt es[8] von Lotte. „Sie beschäftigte sich, einige Spielwerke in Ordnung zu bringet, die sie ihren kleinen Geschwistern zum Christgeschenke gemacht hatte. Er (Werther) redete von dem Vergnügen, das die Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da eine unerwartete Oeffnung der Thür und die Erscheinung eines aufgeputzten Baumes mit Wachslichtern, Zuckerwerk und Aepfeln in paradiesische Entzückung setzt.“
In einem zwei Jahre früher geschriebenen Briefe[9] Goethes wird bei einer kurzen Beschreibung des Frankfurter Christmarktes der Weihnachtsbaum noch nicht erwähnt. Schon einige Tage vorher hatte Goethe ein Packet an Kestner gesandt mit Geschenken für seine „zween kleine Buben“. Dazu schreibt er[10] „Lassts ihnen den Abend vor Christtag bescheeren, wie sichs gehört. Stellt ihnen ein Wachsstöckgen dazu und küsst sie von mir.“ Kannte damals Goethe den Brauch des Weihnachtsbaumes noch nicht? Oder war derselbe nur in Kestners Hause nicht üblich? Noch in einem Briefe vom Christtage 1773[11], welcher ebenfalls an Kestner gerichtet ist, erwähnt Goethe nichts davon. Hier gedenkt er überhaupt keinerlei Weihnachtsfestlichkeit.
Auch Schiller kannte den Weihnachtsbaum. Er schreibt von ihm als einer allbekannten Sache.[12] „… Donnerstag komme ich nach Weimar. – Daß Ihr Euch ja nicht von irgend einem heiligen Christ engagiren laßt! Ihr werdet mir hoffentlich einen grünen Baum im Zimmer aufrichten, weil ich Euretwegen um den Griesbachschen komme.“ 1790 kommt dann der Christbaum in Schillers Hause vor[13] und 1796 bei Frau von Stein mit Lichtern und Bescherung.
Eine Nachricht von Jung Stilling über den Christbaum aus dem Jahre 1793 scheint den Christbaum in Jung Stillings Jugend – er war 1740 zu Grund im Nassauischen geboren – zurück versetzen zu wollen. Er sagt einmal[14] : „Mir wars bei diesen Worten zu Muth als wie einem Kiude bei den apokryphischen Sprüchen seiner Mutter am Tage vor dem Christfeste: es ahnet etwas Herrliches, versteht aber nichts, bis es früh aufwacht und nun zum hell erleuchteten Lebensbaum mit vergoldeten Nüssen und zu den Schäfchen, Christkindchen, Puppen, Schüsseln mit Obst und Konfekt geführt wird.“
Aber noch weiter geht der Weihnachtsbaum zurück. Eine Salzburger Waldordnung vom Jahre 1755 verbietet die Bechl- oder Weihnachtsboschen. In dem Namen „Bechlboschen“ ist jedenfalls eine Erinnerung an Berchta zu suchen, der der 6. Januar, der Berchtentag, geweiht ist. Dies deutet auf einen heidnischen Ursprung des Brauches. Als heidnische Sitte wird der Christbaum geradezu bezeichnet von dem kursächsischen Rath Tentzel[15] : „Die alten Heiden satzten vor ihre Häuser zweene Dannen-Bäume creutzweise über einander und fraßen und soffen 19 Tage lang.“
Nach Schweden weist uns auch eine Volkssage in Lindenau bei Leipzig, welche bis in das erste Drittel unseres Jahrhunderts zurück zu verfolgen ist[16]. Sie erzählt: im Herbst 1632 nach der Schlacht bei Lützen wurde nach Lindenau ein durch die Hand geschossener schwedischer Offizier gebracht, der in der dortiger protestantischen Gemeinde freundliche Aufnahme und gute Pflege fand. Zu Weihnachten war er wieder so weit hergestellt, daß er die Reise in seine Heimath antreten konnte. Vorher wollte er jedoch [832] der Gemeinde seinen Dank erweisen und veranstaltete daher mit der Erlaubniß des Pfarrers in der Kirche des Dorfes „nach der Sitte seiner Heimath“ eine Weihnachtsfeier, bei welcher (zu der üblichen Christbescherung) ein Tannenbaum aufgestellt wurde, auf dessen Zweigen viele Lichter brannten. – Ist diese Sage nur erfunden, um das plötzliche Auftauchen des Christbaumes zu erklären, oder weist sie uns mit Recht nach dem Norden als der Heimath des Christbaumes?
Die Antwort auf diese Frage ist noch nicht gefunden. In Schweden gilt der Weihnachtsbaum allgemein für eine aus Deutschland eingeführte Sitte. Noch im Anfange unseres Jahrhunderts war er auf dem schwedischen Festlande unbekannt, wenigstens als Christbaum in unserem Sinne. Doch war es dort Brauch, vor den Häusern und Ortschaften Bäume und zwar Fichten oder Tannen aufzustellen.[17] Bei den Inselschweden an der russischen Küste auf Dagö und Worms war der Weihnachtsbaum damals üblicher als heutzutage.[18] An den mit Nüssen und Aepfeln geschmückten Tannen standen immer je fünf kleine Wachslichter auf einem Zweige. Einer mündlichen Nachricht zufolge[19] kannte zu gleicher Zeit das schwedische Festland nur folgenden Weihnachtsbrauch: in der Weihnacht zogen die Bauern in Scharen aus und suchten einen einsam im Freien stehenden Baum. Diesen zündeten sie an, und dabei fand großer Festjubel statt. Weihnachten 1887 berichtete die „Leipziger Zeitung“ einen vereinzelten Fall desselben Brauches aus der Nähe von Dresden. Unabhängig von allen diesen Bräuchen erscheint der Lichterbaum in der isländischen Volkssage.[20]
Doch zurück nach Deutschland! Schon 1816 war der Weihnachtsbaum in der heutigen Reichshauptstadt allgemein. In dem in jener Zeit erschienenen Märchen vom Nußknacker von Fouqué und Hoffmann steht bereits der Baum mit seinen goldenen Aepfeln in der Mitte. Im Anfang unseres Jahrhunderts übte die feine Welt in Berlin nach dem Vorgange der französischen Emigranten diesen Brauch nicht, denn derselbe galt für „ordinär“[21], sondern schmückte den Tisch, wie uns Schleiermacher[22] erzählt, mit Myrthen, Amaranthen und Ephen. Auch Tieck erwähnt in seiner „Weihnachtsnovelle“ den Lichterbaum nicht. Dagegen berichtet der Berliner Gymnasialdirektor W. Schwartz[23], daß der Ueberlieferung seiner Familie zufolge der Christbaum in das vorige Jahrhundert zurückreiche, was ja durch die Nachrichten von Goethe, Schiller und Jung Stilling erwiesen ist.
Am Rheine ist der Weihnachtsbaum ganz allgemein im Gebrauch. Bereits im Jahre 1805 erwähnt ihn Johann Peter Hebel in seinen „Alemannischen Gedichten“, jedoch ohne den Lichterschmuck, welcher ihm auch auf dem der fünften Auflage dieses Buches vom Jahre 1820 beigegebenen Kupfer fehlt, der zu Straßburg gestochen ist und das Bäumchen – gleich dem Kronleuchter des sächsischen Erzgebirges – hängend zeigt. Weiter rückwärts fehlt uns am Rheine jede Kunde von dieser Sitte, bis ins siebzehnte Jahrhundert. Damals[24] eiferte nämlich der Straßburger Professor Dannhauer gegen den Tannenbaum oder Weihnachtsbaum, den man zu Hause aufrichtet, mit Puppen und Zucker behängt und dann abschütteln läßt, ohne jedoch die Lichter zu erwähnen. Er nennt die Christbäume „Lappalien“.
Dies ist unsere älteste geschichtliche Nachricht von dem Christbaume. Der Lichterbaum reicht jedoch weiter zurück. Ihm begegnen wir bereits im dreizehnten Jahrhundert, einmal in dem altfranzösischen Romane „Durmart le galois“ und dann im „Parzival“ des Wolfram v. Eschenbach. In dem französischen Romane erblickt der Held zweimal einen Baum, dessen Zweige von oben bis unten mit brennenden Kerzen bedeckt sind. Doch noch glänzender als diese sitzt auf dem Wipfel ein leuchtendes Kind. Er fragt den Papst, was das bedeute, und erhält zur Antwort, der Lichterbaum bezeichne die Menschheit, die nach oben gerichteten Lichter seien die guten, die nach unten gerichteten die schlechten Menschen, das Kind sei Christus. Wolfram erzählt uns[25] daß es üblich war, beim Empfang hoher Gäste einen Baum mit Lichtern aufzustellen.
Die Sage verlegt das erste Auftreten des Christbaumes in Deutschland ins Jahr 1632. Eine frühere Kunde über ihn giebt es nicht, wohl aber eine solche vom Jahre 1571, welche beweist, daß er in jener Zeit wenigstens im damaligen Kurfürstenthum Sachsen noch nicht vorhanden war. Weihnachten 1571 hielt nämlich Herr Thomas Vinita (Winzer) in Wolkenstein in Sachsen eine Reihe Predigten über das Weihnachtsevangelium Joh. 5, 1 bis 14.[26] Darin spricht er auch von der Bescherung und sagt: „Die Kindelein finden in ihren Bündlein gemeiniglich fünfferley Dinge. Erstlich güldige als Gelt, viel oder wenig, nachdem der Haus-Christ vermag und reich ist, doch lassen sich auch die armen Kinderlein an einem Pfenninge oder Heller in Apffel gesteckt, genügen und sind guter Dinge darüber. Darnach finden sie auch geniesliche Dinge, als Christstollen, Zucker, Pfefferkuchen und aus diesen allen mancherley Confect und Bilde. Daneben Epfel, Birnen, Nuß und gar mancherley gattunge allerley bestes. Zum dritten finden sie ergetzliche und zu frewden gehörige Dinge als Puppen und mancherley Kinderwerk. Zum vierden finden sie nötige, und zur bekleidung und zier des lebens dienstliche Dinge, gar mancherley und hübsche Kleiderlein, von guten gezev mit seiden, gold und silber, und reinlicher arbeit gefertiget. Zum letzten finden sie auch, was zu lere, gehorsam und disciplin gehöret, als Abctefflin, Bibeln, und schöne Bücherlein, Schreib- und Federgezeuge, Papier etc. und die angebundene Christrutte.“ Betrachtet man diese Christruthe als etwas, das da mit „zu lere, gehorsam und disciplin gehöret“, so will sie fast an die Ruthe des Knechtes Ruprecht gemahnen. Aber ist nicht vielleicht mehr in ihr zu suchen? Ist die Christruthe vielleicht ein Vorläufer des Christbaumes? Berührt sie sich vielleicht mit dein „Weihnachtsboschen“ Salzburgs? Ist vielleicht gleich diesen beiden Ruthen der Weihnachtsbaum ein Sinnbild für die Ruthe aus der Wurzel Jesse oder für das Reis, das da entsprungen ist? Oder ist ihr gemeinsames Urbild der Paradiesesbaum, auf den der 24. Dezember als der Tag Adam und Eva hinweist? Deutet nicht die Bezeichnung „Lebensbaum“ bei Jung Stilling auf den Baum des Lebens im Garten Eden? Noch wahrscheinlicher wird dies dadurch, daß die mittelalterliche Legende bereits eine Beziehung zwischen diesem Baume und Christus erfunden, indem sie erzählte, Adam habe einen Senker vom Baume der Erkenntniß gepflanzt, daraus sei der Baum gewachsen, aus welchem später das Kreuz Christi gemacht wurde. Oder wurde vielleicht der Weihnachtsbaum aufgerichtet im Sinne des Lichterbaumes im „Parzival“, zum Empfange des Welterlösers auf dieser Erde?
Aber erinnern uns nicht ebensoviele kleine Züge daran, daß wir es hier mit einem heidnischen Brauche zu thun haben? Tentzel nennt denselben geradezu so, und hätte ihn Dannhauer nicht für einen solchen angesehen, so würde er nicht dagegen geeifert haben. Dazu kommt der „Bechlboschen“ Salzburgs und die Bezeichnung des Weihnachtsbaumes als „Maje“ oder „Moja“ in der schwäbischen Mundart, welche uns geradezu zwingt, den Weihnachtsbaum mit den anderen Jahresbäumen an ursprünglich heidnischen Festen aus gleiche Stufe zu stellen, mit dem „Sommer“ der Lätaregebräuche, den „Maien“ und „Pfingstbuschen“ sowie den „Erntemaien“.
Ist der Weihnachtsbaum eine christliche Sitte, entstanden in der Zeit der Reformation, der Zeit, wo allenthalben ein lebendiges Glaubensleben wieder rege wurde, oder ragt er, ein uraltes Sinnbild des großen Sonnen- und Himmelsbaumes, aus der grauen Heidenzeit herüber? Das ist eine Räthselfrage, auf die wir heute noch keine Antwort zu geben vermögen, heute, wo das Material noch in jeder Beziehung nur lückenhaft vorliegt. Daß aber der Zeitpunkt, wo dies möglich sein wird, bald komme, ist gewiß wünschenswerth, und es ergeht darum an alle Leser der „Gartenlaube“, an Alt und Jung, an jeden, der ein Herz hat für den schönsten Schmuck des deutschen Christfestes, die Bitte um Mittheilung von Nachrichten über den Weihnachtsbaum, woher sie auch kommen mögen, aus verstaubten Bänden, aus alten Briefen, aus der lebendigen Ueberlieferung des Volkes, oder aus dem Schatze der eigenen Erinnerung. Die Redaktion der „Gartenlaube“ ist gern erbötig, derartige Sendungen entgegen zu nehmen.
[833]Aus dem Leben einer schwergeprüften Frau. Nach ihren Briefen und Aufzeichnungen. (Schluß.)
Von Schmidt-Weißenfels.Meineke ließ die anderen Aerzte rufen, ältere und erfahrene Herren, und sprach ihnen von seiner Vermuthung, daß hier ein Fall von Scheintod vorliegen könne. Sie lachten ihn aus, untersuchten nochmals die Leiche und erklärten, daß sie sich überzeugt hielten, eine Todte vor sich zu haben. Er wandte sich trotzdem mit seinem Widerspruch an den General, und erschrocken bestimmte derselbe, daß die Beerdigung unter solchen Umständen um einen Tag verschoben werden solle. Aber vierundzwanzig Stunden später befand sich die Leiche noch in demselben Zustande. Kein Lebenszeichen an ihr war zu bemerken. Doktor Meineke bat gleichwohl abermals um Aufschub des Begräbnisses. Mehr als tags zuvor war er in Unruhe, und es konnten seine Gedanken sich nicht von dem eigentümlichen Eindruck loslösen, den der letzte Blick der Sterbenden und sein Funkensprühen auf ihn ausgeübt. Ja, wie er durchdringend seinen Blick aus ihre geschlossenen Lider heftete, so war ihm, wie er einmal unter der einbrechenden Dunkelheit noch bei ihr wachte, als leuchteten diese Funken durch die Augendecken.
Ungläubig gegen seine fort und fort erhobenen Zweifel an dem wirklichen Tode Karolinens, that man doch aus Gewisensangst seinen Willen und verschob die Beerdigung von einem Tage immer wieder zum andern. Alle Mittel, die man Meineke anwenden ließ, eine Wiederbelebung zu ermöglichen waren und blieben erfolglos. Und dennoch wurde er in seinem Glauben nicht wankend, denn kein Zeichen von Verwesung stellte sich ein. Er verließ das Zimmer, in dem der Sarg mit der blumengeschmückten Todten sich befand, nicht Tag noch Nacht. Oft hielt er seine schauerliche Wacht allein, und dann richtete er laute Worte an das starre, bleiche Gesicht im Sarge, wie ein Beschwörer. Die Sache erregte Aufsehen in Hannover; die Freunde und Bekannten der trauernden, in Bangen gehaltenen Familie liefen herzu, um ihre Neugier am Anblick der unentstellt Aufgebahrten zu befriedigen, und die Behörde wollte endlich auf die Proteste des jungen Arztes nicht länger Rücksicht genommen wissen. Ueber zwei Wochen hatte man es gethan.
Und in dem Augenblick, wo auf ihren Sarg der Deckel gehoben werden sollte, trotz einer letzten, auffällig inständigen Bitte Meinekes dagegen, sah er den langsamen Aufschlag ihrer Augen. Mit dem freudigen Schrei „Sie lebt!“ stürzte er auf sie zu.
Und mit einem aus Freude und Entsetzen gemischten Gefühle sahen die Anwesenden wie sich Glied um Glied der Todesbraut wieder belebte, wie sie sich endlich, unterstützt von dem triumphirenden jungen Arzt, in ihrem weißen Kleide emporrichtete und die Blumen dabei von ihrem Haupte niederfielen.
„Ja, ich lebe!“ kam es nun von ihren Lippen – „Ich lebte, als Ihr mich für todt hieltet, und hörte alles, was Ihr an meinem Sarge sprachet. Er, er ist mein Retter!“ Dabei leuchteten ihre Augen hell auf gegen den Arzt, der sie in seinen Armen hielt und trunkenen Blickes dies von ihm dem Tode abgetrotzte Leben betrachtete, dessen erster Laut ein Dank an ihn war.
Der Sarg wurde nun schnell mit dem Bett vertauscht und Doktor Meineke behandelte die vom Tode Erstandene weiter. Er galt nun alles im Hause, und Karoline sah in ihm denjenigen, dem sie wie ihrem Herrn über Leben und Tod gehörig geworden sei. Sie hatte während ihrer Todtenstarre, die einem hypnotischen Zustande entsprach, mit vollem Bewußtsein alles gehört, was um sie und über sie gesprochen worden, ohne fähig zu sein, eine Muskel zu rühren. Es war danach nicht erstaunlich, daß sie Meineke eine willenlose Hingebung für ihre Rettung bezeigte. Als nach einigen Wochen Karoline vollständig genesen war, bat er sie um ihre Hand, und sie nahm seine Werbung an. Von ihrem früheren Ehebunde wußte er nichts und erfuhr er auch nichts.
Für ihn war sie nur diejenige, die vom Tode auferstanden, die er einem neuen Leben zurückgegeben, und diese die Seine nennen zu dürfen, beglückte ihn.
Auch sie war glücklich durch seine Liebe und Werbung. Eine stille Heiterkeit kam über ihr Gemüth und eine Freude an dem neugewonnenen Leben, in welchem sich der wackere bürgerliche Mann als ihr Führer angeboten.
Niemals, seitdem die gerichtliche Scheidung ausgesprochen, hatte der Prinz wieder den Versuch erneuert, Karoline einen Brief von sich zukommen zu lassen. Als er ihre Todesnachricht erhielt, hatte er brieflich den General von Linsingen seinen Schmerz darüber in leidenschaftliche Ausdrücken bezeigt. Dann war ihm durch Ernst, mit dem er in freundschaftlicher Verbindung geblieben, mitgetheilt worden, daß seine Schwester nur einem Scheintod verfallen gewesen, durch den Doktor Meineke gerettet worden sei und sich nun mit ihm aus Dankbarkeit verheiraten werde.
Der Prinz geriet über diese Nachricht außer sich. Trotz seines dauernden Verhältnisses mit Dora Jordans, in dem er Ersatz für die zerstörte Verbindung mit Karoline gesucht, betrachtete er diese noch immer als das ihm gehörige Weib, mit dem sich zu vereinigen ihm auch noch als Hoffnung vorschwebte. Nun aber riß ihn die Furcht hin, sie an einen anderen verlieren zu sollen, und er schrieb ihr einen leidenschaftlichen Brief, in dem es u. a. hieß:
„Ich habe Antwort von Ernst. In wenigen Worten, die kalt dastehen wie der Tod, und die er, den Tod erwartend, auf den Vorposten bei Valenciennes nur mit Crayon mir schreibt. Hoffend, meine Nachrichten wären falsch, fragte ich den treuen wahren – Deinen, meinen Bruder. ‚Sie ist,‘ schreibt er, ‚entschlossen, sich nicht der Konvenienz zu opfern, sich dem Manne zu geben, der ihr das Leben rettete, dem einzigen, der nach Ihrem Verlust ihr Herz erwärmen konnte, und der sie mit einer Leidenschaft liebt, die nur der Ihrigen nachsteht.‘ – Sie ist entschlossen, so sagt der, der Dich nach Deinem William allein kennt. Ich weiß, was das heißt. Du liebst nicht jenen Mann, drei Jahre tödten Deine Liebe nicht. Du bist nur dankend, willst nicht zwei Unglückliche machen und vergißt mein Elend. Kannst Du das? Bedenke den Ahnenstolz der Deinen, Deiner Landsleute, laß mich Dich fortreißen. – Mein Wort gab ich, nicht Dir zu schreiben, nicht breche ich es heute, mach mir diesen Vorwurf nicht; denn für das Unerhörte gab ich es nicht. – Hier liegt Deine Entsagung, dieser furchtbare Beweis Deiner Liebe für mich, hier liegt Dein Brief an meine Mutter, den Du vor drei Jahren schriebst, und ich sollte Dir glauben, Du liebtest heut einen andern? Weib, dem kein anderes gleicht, Weib, das allein mein Herz füllte und ewig füllen wird, Weib mit der Feuerseele, Du liebst für die Ewigkeit, und nur William, nur Deine erste Liebe kann Dir genügen. Oder willst Du – gräßlich, abscheulich – es mir unmöglich machen, je wieder Dein zu werden? Heilig ist das Wort, das ich, durch Dich verleitet, den trauernden Eltern gab; aber ich gab es nur bedingungsweise, Du kannst es lösen, und noch ist alles, wie es war. Die Nation liebte mich vormals, jetzt betet sie mich an, mein Bruder ist in meiner Hand, und diese Insel ist nicht meine Welt, wenn sie Dich nicht vergöttert, wie ich. Noch besser wie ehemals können wir unsere Wünsche erreichen – unsere, unsere, sage ich – denn, Weib meiner Jugend, sie sind noch jetzt auch die Deinigen. – – Von Dir will ich alles hören; ich will Wahrheit aus Deinem Munde, Du kannst mich nicht täuschen. Schreibst Du mir nicht, so hält, so bindet mich nichts. Ich komme und reiße Dich vom Altare – wer wird’s wagen, mir mein Weib zu entreißen? Mein Gefühl, meine Angst erstickt mich! – – – –
Löse Deine Bande, sei mein – oder ich fluche der Tugend selbst. Ich fluche Dir, der Heiligkeit unserer Liebe, ich fluche Deiner Gewalt über mich, ich fluche mir, daß ich meine gesetzmäßigen Rechte an Dich nicht geltend machte und nahm, was mein war, um es nie wieder verlieren zu können. O Weib, Weib! Ewig bin ich Dein – nie nennt eine andere Deinen William den Ihren.“
In folternder Ungeduld erwartete er die Wirkung dieses liebestürmenden Briefes. Fest entschlossen war er zum Aeußersten, wenn Karoline es wollte. Dann war Dora Jordans nichts mehr, ein Mond nur gegen die Sonne, die ihre unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn wieder übte. Vater und Mutter mußten dann vor seiner Liebe sich beugen, oder er gab sie und alle seine Rechte an den Thron dahin. Das Scheidungsurtheil hatte ihm nichts gegolten – was fragte er nach diesem Stück Papier? Karoline war sein Weib und nun mußte sie auf die letzte große Frage sich entscheiden, ob sie ihm, ob sie einem anderen gehören wollte.
[835] Und sie entschied. Sie sandte ihm den Brief, den er wie sein Urtheil von ihr begehrt.
„So mußtest Du,“ schrieb sie ihm, „das heilige Wort brechen, das Du der verehrungswürdigsten Mutter gabst – so mußtest Du noch einmal alle Wunden meines Herzens aufreißen, in dem Du ewig leben wirst! – Hier steht mein Bekenntniß, hier hast Du die Wahrheit. Aber nun höre auch meinen festen, meinen unerschütterlichen Entschluß, den mir der Tod, aber keine Macht der Welt ändern kann. Was Dir Ernst schrieb, ist wahr, und indem Du dies liest, bin ich schon das Weib eines andern. Vielleicht hätte ich nicht so schnell gehandelt; aber Dein Brief sagt mir, daß ich eilen muß. Der Mann, der mein Leben rettete und dem ich es nun weihe, liebt mich mit einer Leidenschaft, die der Deinigen gleich sein würde, wenn unserer Liebe je etwas gleichen könnte. Elend auf immer würde sein Leben sein, wenn ich mich weigerte, die Seine zu werden. Er ist edel, brav, gut, aber er hat nicht die Kraft, nicht die Stärke, nicht das Feuer meines verlorenen Williams; er ist nicht Held wie Du im schönsten Sinne des Wortes. Ohne mich ist er verloren, verbunden mit mir erhalte ich ihn der Welt, den Seinigen, der Tugend. Ja, er hat mein Herz erwärmt – ich liebe ihn mit der innigsten Frenndschaft und ich bin bereit, ihm alle die Kleinigkeiten zu opfern, die die Welt Glück nennt. O William! Wie kannst Du mich an den Adelsstolz meiner Landsleute erinnern, wie kannst Du glauben, daß der mich hindern wird, etwas zu thun, was ich als recht erkenne! Ist Dir das Herz und der Sinn Deiner Karoline schon so fremd geworden? Was opfere ich denn dem Manne, dem ich leben will? Stand ich denn nicht weit tiefer unter Dir, wie er unter mir? Und ich entscheide nicht, wen von uns das Schwerste trifft. Nie – oder sehr spät hörst Du wieder von mir; ich bin todt für Dich und will es sein. Ich erleichtere Dein Schicksal, wenn Du mich für unwiederbringlich verloren hältst …
Jetzt scheide ich von allen Ansprüchen auf Glück. Ich lebe nur noch für andere und in ihnen. Ich trete ab und bin von heute an todt für Dich. Lebe wohl! Mann meiner einzigen, meiner ewigen Liebe – William, Heinrich, Bruder, Gatte, Freund – o, es giebt keinen Namen, Dich zu nennen, wie mein Herz Dich nennt. William, nichts trennt unsere Seelen. Aber zum letzten Male – Himmel, zum letzten Male! – sagt es Dir Deine Karoline.“
Der Prinz hatte mit Thränen in den Augen diese Antwort gelesen. Er fühlte, daß sie ihm verloren war für diese Welt, daß nun für immer alles vorbei! – –
Es folgten sich viele Jahre. Unter den napoleonischen Kriegsstürmen eröffnete sich ein neues Jahrhundert. Sie stürzten den Kurfürstenthron in Hannover, warfen Oesterreich und Preußen zu Boden, und England wurde von der europäischen Welt durch den Ingrimm des Eroberers abgesperrt, der es zu Tode treffen wollte. Die Beziehungen zwischen dem Herzog von Clarence und Karoline hatten vollständig aufgehört, und so hätte nach menschlichem Ermessen in beiden die Gluth endlich ersterben, ihr Liebesroman sich mehr und mehr in schwindenden Erinnerungen verflüchtigen müssen.
Vollends unter der Prosa des Lebens für Karoline. Sie hatte durch ihre Verheirathung mit Doktor Meineke sich aus der vornehmen Welt in die bürgerliche, aus dem luxuriösen Leben in ein höchst bescheidenes und anspruchsloses begeben. Der Vater hatte ihr bei der Menge seiner Kinder nur eine geringe Mitgift geben können und Doktor Meineke, so tüchtig er war in seinem Beruf, erstrebte doch vergeblich in Hannover eine einträgliche Praxis als Arzt. Er siedelte deshalb, auch um sich und seine junge Frau den peinlich werdenden Gesellschaftsbeziehungen mit der Linsingenschen Familie und deren vornehmen Bekanntenkreise zu entziehen, nach Berlin über, ohne indessen dort mehr Glück zu haben. Die unruhigen Zeiten, dann der unglückliche Krieg Preußens trugen das Ihrige dazu bei, daß er mit seiner inzwischen durch zwei Kinder vermehrten Familie nicht aus den Sorgen um die Existenz herauskam. Unter solchen Umständen nahm er eine Stellung als Direktor einer nett angelegten Kohlenbrennerei des Grafen Salms zu Blansko in Mähren an, um dort seine chemischen Kenntnisse zu verwerthen. Das Gehalt, welches er bezog, betrug nur 700 Gulden, aber es gab doch als sicheres Einkommen dem verzagt und mißmuthig gewordenen Mann eine gewisse Beruhigung.
Es war nicht anders möglich, als daß Karoline schwer unter dem Opfer litt, das sie aus Dankbarkeit gegen ihren Lebensretter gebracht. Aus der Stille ihres Zimmers sandte sie, wenn sie mit ihrem Sohn Heinrich und ihrer Tochter Jettchen allein war, oft ihre stummen Klagen gen Himmel. Der Gegensatz zwischen dem beseligenden Traum, in dem sie sich einst gewiegt, und der nüchternen Wirklichkeit, von der sie sich fort und fort umfangen sah, war zu groß, und gegen die mürrische Launen des Gatten immer wieder anzukämpfen, überstieg ihre Kräfte nur zu häufig. Dennoch beschäftigte diese Sorge sie unaufhörlich , und mit dem schmalen Wirtschaftsgelde verstand sie so gut hauszuhalten, als sei sie einst nicht allen solchen kleinlichen Rechnungen entrückt gewesen.
Niemand mehr war auf der Welt, dem sie ihr volles Vertrauen schenken konnte, als ihr Bruder Ernst, der Mitwisser ihres Herzensgeheimnisses. In treuer Liebe hielt er nach wie vor zu ihr. Ihre Eltern waren todt, ihre Geschwister in die verschiedensten Lebensverhältnisse übergetreten und ihr meist durch die langjährige Trennung entfremdet geworden. Ernst allein, der in militärischen Diensten Englands ehrenvoll emporgestiegen, suchte sie, wie in Berlin, so auch einmal in dem entlegenen Blansko auf. Er war es auch, der während seines bleibend gewordenen Aufenthaltes in England und bei seinem ungetrübten Freundschaftsverhältniß zum Prinzen William Andeutungen an sie gelangen ließ, daß derselbe ihr das lebhafteste Andenken bewahrt habe und seine Liebe zu ihr noch nach mehr als einem Jahrzehnt ihn völlig erfülle. Es beglückte sie diese Mittheilung, ohne sie zu überraschen.
Ihr Bruder hatte eine auffallende Aehnlichkeit ihres zehnjährigen Sohnes Heinrich mit dem Prinzen William gefunden und wollte denselben nach England geschickt haben, um für ihn zu sorgen. Offenbar steckte dahinter ein Wunsch des Prinzen, ebenso wie hinter dem brüderlichen Bedrängen Karolines um das Bild des schönen Knaben. Sie errieth dies und schlug deshalb sowohl die eine wie die andere Bitte ab. Sie wollte sich streng vor einer That der Pflichtverletzung bewahren. Ihre Kinder waren ihr außerdem der Inbegriff ihres Lebens. Heinrich zumal, eben wegen seiner großen Aehnlichkeit mit Prinz William, war ihr Liebling. Von ihm sich zu trennen, wäre ihr unmöglich gewesen, mindestens so lange er noch im Kindesalter stand. Im Sommer 1810 starb er aber und mit ihm senkte sie die höchste Freude ins Grab, die ihr das Leben noch vergönnt hatte.
Ihre Sorge und ihre Liebe drängte sich jetzt auf ihre Tochter Jettchen zusammen, die schon zur Jungfrau heranreifte. Bald warb auch ein junger Bergverwalter in der Nähe von Blansko, Namens Teubner, um das treffliche Mädchen, und es war ein Tag des Glücks im Dasein der Mutter, als die Hochzeit der beiden jungen, sich liebenden Leute stattfand. Aber in das heimliche Entzücken, mit dem sie gleichsam die Wirkungen ihres Segens zu dieser Verbindung beobachtete, mischte sich nun auch auf einmal die Ahnung, daß sie nicht mehr lange Zeugin davon sein werde. Der Tod nagte fühlbarer in ihrer Brust; gefaßt sah sie, nun sich in ihrem Leben nichts mehr, woran ihr lag, erfüllen konnte, der Ruhe des Grabes entgegen.
In den Stunden, in den Nächten, in denen sie mit ihrem schleichenden Leiden allein war, überließ sie sich mehr als je den fernen Erinnerungen ihres Liebeslebens und feierte jeden der ihr unvergeßlich gebliebene Gedenktage in demselben. Bald daß sie in Briefen an ihren Schwiegersohn Teubner, bald daß sie in langen Ergüssen an ihren Bruder Ernst in England ihre Seele von dem befreite, was sie in anffluthenden Erinnerungen bewegte.
Einem Antwortschreiben ihres Bruders fand sie einmal einen Brief beigelegt, der sie in einen wonnigen Schrecken versetzte. Auf den ersten Blick erkannte sie, wer der Absender war. Mit zitternden Händen hielt sie den Brief und betrachtete ihn mit strahlenden Augen, wie einst in jenen Tagen, da sie im Himmel ihrer Liebe, in den Hoffnungen ihrer Jugend schwelgte. Es war ein Brief von Prinz Williams Hand. Er wagte es, ihn zu senden, und nach siebzehn Jahren! Er konnte es versuchen, noch in die melancholische Idylle ihres Matronenlebens mit seiner im Herzen erhaltenen Liebe zu ihr einzubrechen! Sie vermochte ja deutlich durch das feine Papier seine Schrift zu lesen, einen abgebrochenen Satz nur, aber welchen Inhalts!: „Weib meiner Jugend, sind wir denn ganz getrennt? Soll ich –“
Schnell legte sie den Brief aus der Hand, um nicht mehr dem Zauber desselben zu verfallen. Unerbrochen sandte sie ihn ihrem Bruder wieder zurück.
Prinz William hatte sich kurz zuvor, im Jahr 1811, unter dem Druck der Vorstellungen der königlichen Familie und um die [836] Bedingung zur Aufbesserung seiner geringen Apanage zu erfüllen, von Dora Jordans endlich getrennt, und es wirft ein häßliches Licht auf den Charakter des so schwärmerischen Prinzen, daß das verstoßene Weib gebrochenen Herzens nochmals auf die Bühne hatte zurückkehren müssen, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Das war das jammerwürdige Los derjenigen geworden, mit der er fast zwanzig Jahre lang ein Liebesleben geführt, das ihm Karoline versagt hatte. Schmählich und in Armuth gestoßen, mußte Dora es büßen, eines Prinzen Geliebte geworden zu sein. Wie war es nur möglich, daß nun der Prinz noch wieder diejenige zu sich zurückrufen wollte, die ihm feierlich entsagt und gleichsam ihr zweites Leben weit weg aus seinen Kreisen und in Aermlichkeit gesucht hatte? Zudem war seine Thronfolge ihm auch wieder nähergerückt. Man verlangte nämlich in England, da inzwischen sein ältester Bruder die Regentschaft für den unheilbar irrsinnig gewordenen und in Windsor eingesperrten Vater erhalten, daß Prinz William eine standesgemäße Ehe eingehe. Aber wie konnte er sich dann an seine geschiedene Gattin wenden, die wegen ihrer Unebenbürtigkeit ihm hatte entsagen müssen? Es drängen sich Fragen auf, deren Beantwortung heute niemand mehr möglich ist. In Karoline aber hatte er mit seinem Versuch, wieder mit ihr in Verbindung zu treten, die zurückgedrängte Leidenschaft für ihn in frevelhafter Weise wieder lebendig gemacht. Den Scheintod dieser Leidenschaft brach er damit, und die mächtig wieder hervorquellenden Erinnerungen der Kranken an den Traum ihres Jugendlebens umgaukelten sie, indeß sie körperlich mehr und mehr der Auflösung entgegenging. Das Feuer, in dem einst ihr Herz geglüht, loderte von neuem auf und verzehrte es. In wunderbarer Weise fand ihr Mädchentraum, aus dem sie so jäh in eine nüchterne Wirklichkeit gerissen worden, seine Fortsetzung nach vielen Jahren und sein sie beseligendes Ende mit ihren letzten Athemzügen. Das Ideal, von dem sie geblendet gewesen, erschien in lichtem Glanz wieder an ihrem Sterbebett. Im Traum sah sie William, wie er, ermüdet von der Schlacht, einsam am Wachtfeuer des Lagers sitzt und ihrer gedenkt. … Sie sah ihn …
„Unnennbar süß, in Wehmut halb verloren,
Umspielt ein Lächeln seinen schönen Mund;
‚Verschmähst Du noch,‘ so klang zu meinen Ohren
Sein Zauberlaut, ‚der treusten Liebe Bund?
O nahe Dich, Geliebte! Hat mein Leiden
Bewegt denn endlich Deinen strengen Sinn?
Du findest hier mich, wo zu stillen Freuden,
Zu sanften Schmerzen nun geweiht ich bin.‘
Sein Laut erstarb. – Willst Du mir ahnend winken,
Mein dunkles Los? Er bot mir sanft die Hand;
Ich wollte liebend an die Brust ihm sinken –
Da kam der morgen und mein Traum verschwand.“
In diesem Traum, den sie in einem Gedicht beschrieben, gab sie ihm die Antwort auf seine letzte ungestüme Frage: „Weib meiner Jugend, sind wir denn ganz getrennt?“
Mit Sehnsucht nach dem Tode fragte sie zurück:
„Willst Du mir ahnend winken, mein dunkles Los?“
Und im Traum von ihm entschlummerte sie im Sommer 1815, um nicht wieder zu erwachen. Todt ein zweites Mal und wirklich todt mit 45 Jahren. Genau zur selben Zeit starb in einem kleinen Hause von St. Cloud, wohin sie sich aus England wegen Schulden geflüchtet, die arme Dora Jordans. Prinz William aber heirathete 1818 die Prinzessin Adelheid von Sachsen-Meiningen, bestieg als Wilhelm IV. den englischen Thron, und als König sorgte er auch für die Kinder Doras.
Alle Rechte vorbehalten.
Erna zuckte zusammen, als Waltenberg auf sie zutrat, und wich zurück; es war eine unwillkürliche Bewegung des Schreckens und Widerwillens, die ihm nicht entgehen konnte; er lächelte, aber es war ein Lächeln der tiefsten Bitterkeit.
„Fürchtest Du meine Nähe so sehr? Ich bedaure, sie Dir trotzdem aufdrängen zu müssen, denn ich habe mit Dir zu reden.“
„Jetzt? In dieser Stunde, wo der Tod über unsere Schwelle geschritten ist?“ fragte das junge Mädchen in müdem vorwurfsvollen Tone.
„Gerade jetzt, später möchte ich – den Muth verlieren.“
Die Worte klangen so seltsam dumpf und gepreßt, daß Erna betroffen aufblickte. Ihre Augen begegneten den seinigen, aber sie fanden dort nicht mehr jene lodernde Gluth, die sie in der letzten Zeit so namenlos geängstigt hatte. In diesem dunklen Blick glühte jetzt etwas anderes, war es Haß oder Liebe, oder vielleicht beides zugleich – sie wußte es sich nicht zu deuten.
„So sprich!“ sagte sie matt. „Ich höre.“
Er schwieg noch immer und sah sie unverwandt an, endlich sagte er mit schwerem Nachdruck:
„Ich komme, Dir Lebewohl zu sagen.“
„Du willst abreisen? Jetzt, noch ehe der Onkel zur letzten Ruhe gebettet ist?“
„Ja – um nicht zurückzukehren! Da mißverstehst mich, Erna; es handelt sich hier nicht um Tage oder Wochen, das Lebewohl gilt unserer Trennung.“
„Trennung?“ Das junge Mädchen sah ihn ungläubig, halb verständnißlos an, die Botschaft kam zu jäh und unvermittelt, um sofort begriffen zu werden.
„Du scheinst nicht an meine Großmuth zu glauben,“ sagte Ernst im herbsten Tone. „Freilich, noch gestern hätte ich Euch beide, Dich und Deinen Wolfgang, eher vernichtet, als Dir die Freiheit zurückgegeben. Das ist vorbei – er hat es mich gelehrt, wie man seine Gegner zwingt. Denkst Du, ich kenne die Hand nicht, die mich emporriß, als ich am Ausgange der Brücke stürzte? Ohne diese Hand hätte mich der brechende Pfeiler niederschmettert, zermalmt. Du hast es auch gesehen, ich weiß es, und wirst ihn nun noch mehr bewundern, Deinen Helden, den Du gestern schon mit so verklärten Blicken anschautest. Mit dieser That wächst er Dir vollends zu einem Ideale empor – wie stehe ich dagegen da in Deinen Augen!“
„Ja, ich sah es!“ flüsterte Erna mit gesenktem Blick, „aber ich glaubte nicht, daß Du ihn erkannt hättest in der Betäubung des Sturzes, in der Verwirrung der allgemeinen Flucht.“
„Seinen Todfeind erkennt man immer, selbst wenn er einem das Leben rettet! Ich wollte es ihm schon gestern sagen, unmittelbar nach der Katastrophe, aber ich brachte es nicht über die Lippen; ein Dankeswort diesem Manne gegenüber hätte mich erstickt. So mag er es denn von Dir hören! Sage ihm, daß ich meine Forderung zurücknehme und ihn seines Wortes entlasse, daß ich Dich freigegeben habe. Dann sind wir quitt, mehr als quitt. Ich gebe ihm zehnfach so viel, als das Leben werth ist, das er mir erhielt.“
Erna war erbleichend aufgefahren bei der Enthüllung, die sie freilich längst geahnt hatte.
„Du hast ihn gefordert? Also kam es doch dahin in jener Unterredung zwischen Euch!“
„Glaubst Du, daß es meine Absicht war, ihm ein Glück in Deinen Armen zu gönnen?“ fragte Waltenberg mit bitterem Auflachen. „Darauf ist meine Natur nicht angelegt. Ich hätte ihn niedergeschossen ohne die gestrige Stunde, und er gab mir sein Wort, sich mir zu stellen, sobald die Wolkensteiner Brücke vollendet sei – das Schicksal selbst hat uns die Antwort darauf gegeben!“
Der hohnvoll bittere Ton beirrte Erna jetzt nicht mehr, sie hörte nur die verzehrende Qual darin, fühlte nur, was diese Entsagung dem leidenschaftlichen Manne kostete. Leise und bittend legte sie die Hand auf seinen Arm.
„Ernst, glaube mir, ich fühle das Opfer, das Du mir bringst, in seiner ganzen Schwere. Du hast mich grenzenlos geliebt –“
„Ja,“ sagte er schneidend, „und ich war Thor genug, mir einzubilden, daß eine Leidenschaft wie die meine sich Gegenliebe erzwingen müsse. Ich glaubte, wenn ich Dich nach einem andern Weltteil führte, wenn ich den Ocean zwischen Euch legte, dann würdest Du vergessen lernen und Dich Deinem Gatten zuwenden. Jetzt ist es mir klar geworden, daß ich verspielt habe! Ich werde
[837][838] diese Liebe nie aus Deinem Herzen reißen, und wenn ich ihn niedergeschossen hätte, so hättest Du den Todten noch geliebt. Jetzt, wo er im Unglück ist, fliegt ihm ja Deine ganze Seele zu – so geh’ hin zu ihm, ich hindere Dich nicht mehr – Du bist frei!“
„Laß uns zusammen gehen!“ bat Erna mit aufflammender Innigkeit. „Biete Wolfgang die Hand zur Versöhnung, Du kannst es, denn jetzt bist Du der Großmüthige, der Gewährende, wir haben Dir nur zu danken.“
Er stieß mit einer beinahe wilden Heftigkeit ihre Hand zurück.
„Nein, ich wil, ich kann diesem Manne nicht mehr begegnen! Wenn ich ihn wiedersehe, stehe ich für nichts; dann bäumen sich all die Dämonen in mir wieder auf; Du ahnst nicht, was es mich gekostet hat, sie niederzuzwingen, laß sie ruhen!“
Erna wagte es nicht, ihre Bitte zu wiederholen, sie begriff, daß diese leidenschaftliche Natur wohl entsagen, aber nicht verzeihen konnte; in stummer Ergebung senkte sie das Haupt.
„Lebe wohl!“ sagte Ernst, auch jetzt noch in dem herben, feindseligen Tone, den er während der ganzen Unterredung festgehalten hatte. „Vergiß mich – es wird Dir leicht werden an seiner Seite.“
Sie sah zu ihm auf mit heißen Thränen im Auge.
„Ich werde Dich nie vergessen, Ernst, niemals! Aber ich werde es ewig als einen Vorwurf empfinden, daß Du in Haß und Bitterkeit von mir gegangen bist.“
„Im Hasse?“ rief er mit ausbrechender Leidenschaft, und plötzlich fühlte sich Erna von seinen Armen umschlossen, an seine Brust gerissen. Noch einmal überströmte er sie mit jener wilden, glühenden Zärtlichkeit, die nie auch nur die leiseste Erwiderung gefunden hatte; aber in diesem Augenblicke hatte sie etwas vom Wahnsinn des Schmerzes an sich. Dann riß er sich los und stürzte fort; der kurze, stürmische Liebestraum seines Lebens war zu Ende, war ausgeträumt für immer! –
Draußen war inzwischen der Tag angebrochen; seit gestern abend hatte der Regen aufgehört, auch der Sturm hatte sich während der Nacht, wenigstens theilweise, gelegt, der wilde Aufruhr der Natur schien sich allmählich zu beruhigen.
Die Rettungsarbeiten waren überall eingestellt worden, man hatte nur die nöthigen Wachen an den einzelnen Punkten zurückgelassen. Es gab in der That kaum mehr etwas zu retten, seit die Wolkensteiner Brücke vernichtet war. Der schwerste Schlag war zuletzt gefallen, aber die ganze weite Bahnstrecke hatte den ungeheuersten Schaden erlitten, nur wenige der zahlreichen Bauten und Brücken waren unversehrt geblieben, und angesichts dieser Verheerung erschien die Wiederherstellung fast unmöglich. Der Schöpfer des ganzen Unternehmens lag todt in seinem Hause, die geplante Uebernahme von seiten der Gesellschaft fiel selbstverständlich mit dieser Katastrophe. Ob und wann sich andere fanden, die das halbzerstörte Werk wieder aufnahmen, mußte erst die Zeit lehren.
Es mochten wohl solche Gedanken sein, die durch die Seele des Mannes zogen, der so einsam mit verschränkten Armen am Stande der Wolkensteiner Schlacht stand und auf die Verwüstung blickte. Es war ein eisig kalter, düsterer Herbstmorgen; in den Schluchten und Thälern gährten noch dichte, weißgraue Nebelmassen, lange Wolkenzüge schwebten an den Bergen hin und ein grauer, schwerer Himmel blickte nieder auf die nasse, zerwühlte Erde, die noch ringsum die Spuren dieser Schreckenstage trug.
Ueberall entwurzelte und abgebrochene Bäume, zerschmetterte Felsblöcke, wüste Schlamm- und Geröllmassen, überall noch die Spuren der Arbeiter, die so heldenmüthig und so vergeblich mit den Elementen gerungen hatten. Dazu tönte dumpf das Rauschen der Wildbäche, die zwar nicht mehr gefahrdrohend, aber noch immer reißend genug von den Höhen niederstürzten, und das Rauschen des Windes, der den triefenden, sturmgepeitschten Wäldern noch immer keine Ruhe gönnte.
Nur in der Wolkensteiner Schlucht herrschte die Ruhe des Grabes. Wie ein riesiger Gletscher lagerte es dort in der Tiefe, weiß und starr und dazwischen ein chaotisches Gemisch von Erd- und Felsmassen. Die Lawine, die zweifellos am Gipfel des Wolkenstein entstanden war, mußte furchtbar angewachsen sein auf ihrem Wege, denn sie hatte den ganzen Bannwald, von dem man unbedingten Schutz erhoffte, niedergeworfen, die hundertjährigen Tannen geknickt wie dürres Gesträuch und mit ihnen auch einen Theil des Bergesabhanges in die Tiefe gerissen. Und dann hatte sich diese ganze Masse von Eis und Schnee, von Felsblöcken und Baumstämmen mit einer durch die rasende Schnelligkeit ihres Laufes verzehnfachten Wucht gegen die Brücke geworfen und sie zerschmettert. Einem solchen Ansturm widerstand freilich kein Werk von Menschenhand.
Es war immerhin an Trost, sich das sagen zu können; aber Wolfgang Elmhorst schien für diesen Trost nicht zugänglich zu sein. In dumpfem Brüten starrte er auf das eisige Grab, wo all seine stolzen Hoffnungen und Entwürfe ruhten, um vielleicht nie wieder aufzuerstehen. Schon damals, als man den Plan der ganzen Bahnstrecke entwarf, war die Wolkensteiner Brücke beanstandet worden, der ungeheuren Kosten wegen. Man wollte die Schlucht überhaupt vermeiden und die Bahn auf einem Umwege weiter führen, der nicht halb so kostspielig war. Aber Nordheim, den das Kühne, Großartige des Entwurfes reizte, und der überdies einen Glanzpunkt für seine Bahn brauchte, war mit allem Nachdruck für die Brücke eingetreten und hatte schließlich seinen Willen durchgesetzt. Für die Zukunft war das nicht zu hoffen, da konnten nur Gründe der Sparsamkeit maßgebend sein, und damit war das Urtheil des Werkes gesprochen, das eine feindselige Macht gerade in dem Augenblick vernichtete, wo es der Welt vor Augen treten und seinem Schöpfer Ruhm und Namen bringen sollte.
Da kam etwas heran, was in mächtigen Sätzen über den nassen, schlammigen Erdboden hinjagte, ein großer, löwenartiger Hund, der, froh, der langen Zimmerhaft entronnen zu sein, seine Freude in ungestümer Weise kund gab. Er blieb dicht vor Elmhorst stehen und machte Miene, ihm in gewohnter Liebenswürdigkeit die Zähne zu weisen, unterließ das aber zum ersten Male, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit fesselte. Der kluge Greif merkte sofort, was geschehen war. Er wurde unruhig, richtete spürend den Kopf nach der Tiefe, nach der anderen Seite der Schlucht und wandte dann die großen, dunklen Augen wie fragend auf den Chefingenieur.
Wolfgang hatte bisher immer noch seine Fassung behauptet, wenigstens äußerlich; bei diesem unbedeutenden Zufall, vor der stummen Frage des Thieres, brach sie zusammen. Er legte die Hand über die Augen und ein paar Thränen, die ersten seit seiner Knabenzeit, rollten heiß und brennend über seine Wangen.
Da hörte er seinen Namen nennen, leise, schüchtern, mit einem Tone, wie er ihn noch nie vernommen hatte und der ihm gleichwohl nicht fremd war.
„Wolfgang!“
Er wandte sich um, eine rasche Bewegung mit der Hand tilgte die verräterische Spur auf den Wangen; dann trat er, sich gewaltsam zusammenraffend, der schlanken Gestalt entgegen, die, in einen dunklen Regenmantel gehüllt, das blonde Haar unter einem schwarzen Spitzentuche geborgen, einige Schritte entfernt stand, als wage sie es nicht, näher zu kommen.
„Sie hier, Erna?“ fragte er hastig. „Nach der furchtbaren Nacht, die Sie durchlebt haben?“
„Ja, sie war furchtbar!“ sagte das junge Mädchen mit einem schweren Athemzuge. „Sie haben die Nachricht von dem Tode des Onkels erhalten?“
„Vor zwei Stunden. Ich hatte nicht mehr das Recht, an seinem Sterbebette zu weilen; auch hätte wohl meine Anwesenheit ihn nur gepeinigt, deshalb bin ich fern geblieben. Wie trägt es Alice?“
„Sie ist für den Augenblick noch fassungslos; aber Doktor Reinsfeld ist an ihrer Seite.“
„Dann wird sie den Schlag überwinden. Sie lieben sich ja, und wenn man das Geliebte schirmend und tröstend zur Seite hat, erträgt sich alles, auch das Schwerste im Leben.“
Es sprach eine tiefe Bitterkeit aus den Worten; Erna antwortete nicht, aber sie trat langsam näher und stellte sich an seine Seite. Er blickte sie an; aber sein Antlitz verdüsterte sich nur noch mehr.
„Ich weiß es, warum Sie kommen; Sie wollen mir ein Wort des Trostes, der Theilnahme sagen – wozu das? Der Fluch, den Ihr Vater sterbend ausgesprochen, hat sich ja nun erfüllt, die Zerstörung des alten Erbsitzes der Thurgau ist gerächt, und ich glaube, der Freiherr würde zufrieden sein mit dieser Rache.“
„Legen Sie den Worten, welche die Verzweiflung, die Erregung des nahen Todes auspreßte, wirklich eine solche Kraft [839] bei?“ fragte Erna vorwurfsvoll. „Seit wann sind Sie dem Aberglauben zugänglich?“
„Seit der Glaube an meine eigene Kraft darunter begraben liegt! Lassen Sie mich allein, Erna! Was soll mir das Almosen einer Theilnahme, zu dem Sie sich heimlich hinweggestohlen haben, das Sie vielleicht büßen müssen bei Ihrem Verlobten. Ich brauche kein Mitleid, auch von Ihnen nicht!“
Mit der ganzen wilden Gereiztheit des Unglücks wandte er sich ab und blickte zu dem Wolkenstein empor, dessen Gipfel weiß und gespenstig durch die Wolken dämmerte. Er allein schien sich heute entschleiern zu wollen, wo all die anderen Berge sich in Nebel verhüllten.
„Ich komme nicht heimlich und nicht mit einem Almosen“ sagte Erna, mit einer Stimme, deren Beben sie vergebens zu beherrschen versuchte. „Ernst weiß es, daß ich Sie aufsuche, und er hat mir eine Botschaft mitgegeben.“
„Ernst Waltenberg – an mich?“
„An Sie, Wolfgang! Er läßt Ihnen sagen, daß er Sie Ihres Wortes entbindet und seine Forderung zurückzieht.“
Elmhorsts Brauen zogen sich finster zusammen und ein beinahe verächtlicher Ausdruck spielte um seine Lippen, als er entgegnete:
„Und das hat er Ihnen mitgetheilt? Sehr rücksichtsvoll in der That! Sonst pflegen dergleichen Dinge unter Männern als Geheimniß betrachtet zu werden. Jedenfalls habe ich seine Bedingungen angenommen, diesen Akt der Großmuth aber nehme ich nicht an – jetzt am wenigsten.“
„Und Sie gaben ihm doch zuerst das Beispiel der Großmuth. Leugnen Sie es nicht! Er kennt die Hand, welche ihn hier an dieser Stelle dem Verderben entriß, wie ich sie kenne.“
„Ich lasse niemand verderben, wenn es in meiner Macht steht, ihn zu retten, auch meinen Feind nicht,“ sagte Wolfgang kalt. „In solchen Momenten wirkt nur der Instinkt der Menschlichkeit, nicht die Ueberlegung, und einen Dank weise ich entschieden zurück. Sagen Sie das Herrn Waltenberg, mein Fräulein, da er Sie doch nun einmal zum Boten auserwählt hat.“
„Weisen Sie diesen Boten wirklich so hart zurück?“ Die Stimme des Mädchens klang in weichem, verschleierten Tone und die großen tiefblauen Augen wandten sich mit einem seltsamen Aufleuchten dem Manne zu, der jetzt die mühsam verhaltene Qual nicht länger bändigte.
„Wozu foltern Sie mich mit diesem Blick und Ton?“ rief er in ausbrechender Leidenschaft. „Sie gehören einem anderen –“
„Den Sie verkennen, wie ich es that! Jetzt freilich kann ich die ganze Größe des Opfers ermessen, das er mir bringt, denn ich weiß, wie grenzenlos er mich geliebt hat, und mit dieser Liebe im Herzen gab er mir meine Freiheit zurück und sagte mir ein Lebewohl für immer.“
Wolfgang war aufgefahren bei der unerwarteten Nachricht, mitten durch die Nacht der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zuckte ein blendender Strahl, der neues Licht und Leben verhieß.
„Du bist frei, Erna?“ brach er aus. „Und nun – nun kommst Du –“
„Zu Dir!“ ergänzte sie. „Du trägst allein so schwer an Deinem Unglück, ich fordere meinen Antheil daran!“
Die Worte klangen in einfacher Innigkeit, als sei das selbstverständlich, aber Elmhorsts Stirn färbte eine dunkle Röthe und sein Auge sank zu Boden. Er rang schwer mit seinem Stolze, der diese Hingebung in diesem Augenblick als eine herbe Demüthigung empfand.
„Nein, nein, jetzt nicht!“ murmelte er, mit einem Versuch der Abwehr. „Laß mich nur erst wieder Muth gewinnen, mich emporraffen, jetzt kann ich Dein Opfer nicht annehmen – es drückt mich zu Boden.“
„Wolf!“ Der alte Schmeichelname aus seiner Knabenzeit, den er seitdem nur noch von Benno gehört hatte, kam so weich und süß von den Lippen des Mädchens. „Wolf, jetzt gerade brauchst Du mich! Du brauchst eine Liebe, die Dich ermuthigt und aufrecht erhält; gieb keinem falschen Stolze Gehör. Einst fragtest Du mich, ob ich Dir zur Seite geblieben wäre auf dem einsamen, rauhen Wege, der zur Höhe führt, jetzt komme ich und bringe Dir die Antwort. Du sollst ihn nicht allein gehen, ich will bei Dir bleiben, in Arbeit und Ringen, in Noth und Gefahr. Wenn Du Deiner Kraft und Deiner Zukunft nicht mehr vertraust, ich glaube unerschütterlich daran – an meinen Wolfgang!“
Sie blickte mit einem strahlenden, siegesgewissen Lächeln zu ihm empor; da brach sein Widerstand, mit einer stürmischen Bewegung breitete er die Arme aus und zog die Geliebte an seine Brust.
Greif hatte inzwischen mit höchster Verwunderung und deutlichem Mißvergnügen dieser Entwickelung der Sache zugesehen. Sie war ihm zwar noch nicht ganz klar, aber soviel begriff er doch, daß er den Chefingenieur, der seine junge Herrin in den Armen hielt und sie küßte, in Zukunft nicht mehr anknurren und ihm die Zähne weisen dürfe, und das bekümmerte ihn aufrichtig. Er zog es vor, einstweilen eine abwartende Haltung anzunehmen, indem er sich niederlegte und die beiden unverwandt mit seinen klugen Augen anschaute.
Droben am Wolkenstein wallten noch immer die Nebelgewänder, aber immer klarer und deutlicher tauchte der Gipfel daraus empor. Heut entschleierte er sich nicht im träumerischen Mondesglanze, in der duftigen, geheimnisvollen Schönheit der Mittsommernacht. Eisig, weiß und geisterhaft stand er da, über ihm der düstere regenschwere Himmel, ringsum Sturm und Nebelwogen und zu seinen Füßen die Vernichtung, die er selbst herabgesandt hatte. Und doch keimte aus dieser Zerstörung ein hohes, reines Glück empor, das sich schwer genug durchgerungen hatte durch all die Stürme.
Wolfgang ließ die Geliebte aus seinen Armen und richtete sich empor, verschwunden war Bitterkeit und Verzweiflung. Es war ihm ja nun zurückgekommen, das sonnige leuchtende Glück, das er für immer entschwunden wähnte, und mit ihm kam auch der alte Muth wieder, die alte unbezwingliche Energie.
„Du hast recht, meine Erna!“ rief er aufflammend. „Ich will nicht kleinmüthig verzagen. Ich zwinge sie doch noch, die Unheilsmacht da oben, und hat sie mir mein Werk vernichtet – nun denn, ich baue es von neuem!“
Christabend in einer Wiener Wärmstube. (Mit Illustration S. 828 und 829.) Ein Schimmer des strahlenden Kerzenglanzes der Christbäume dringt am Feste der Liebe auch in die dunkelsten und verlorensten Winkel der Armuth und des Elends, und auch in den Wärmstuben der Weltstadt, den Sammelplätzen jener Aermsten der Armen, denen es an einem Obdach fehlt, oder die nicht die Mittel haben, ihre eigene elende Wohnung zu heizen, bereiten am heiligen Abend Edelmuth und Theilnahme einen Augenblick der Freude. Vom Glück Begünstigte begeben sich unter die Männer und Frauen, die Greise und Kinder, welche verschuldetes oder unverschuldetes Unglück in Noth und Elend geführt hat, und mehr als die mitgebrachten Gaben erfreuen oft die freundlichen überzeugenden Worte der Theilnahme. Die Mehrzahl der Unglücklichen bilden brotlose Arbeiter, stellenlose Dienstboten, beklagenswerthe Witwen und Waisen, seltener sucht der Strolch oder der Verbrecher die Wärmstube auf, in der er sich unter den scharfen Augen des Wachmannes nicht behaglich fühlt. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend sind die Wärmstuben geöffnet, Brot und Speisemarken für die Volksküche werden vertheilt, Karten für die Asylhäuser verabreicht. So geht es den ganzen langen Winter – immer ist das Bild des Jammers das gleiche, gemildert nur am Weihnachtsabend!
Familienchronik. Ein erst kürzlich in der „Gartenlaube“ (Nr. 43) ausgesprochener Wunsch hat unerwartet rasch seine Erfüllung gefunden.
[840] Was wir wünschten, war ein Buch, das wir kurzweg als „Familienchronik“ bezeichneten, und heute liegt uns ein solches vor, das sogar fast denselben Titel: „Haus- und Familienchronik“ führt und von Martin Gerlach herausgegeben ist (Verlag von Gerlach und Schenk in Wien). Dieses Werk entspricht dem Zwecke einer Chronik vollkommen und die einzelnen Abschnitte: Vorfahren des Chronisten, Erinnerungen aus der Jugendzeit, Geschwister, Erinnerungen aus den Lehr- (Studien-) Jahren, Militärzeit, Wanderjahre, Berufsleben, Gründung der Selbständigkeit, Hochzeitstag, Aus der Jugendzeit des lieben Weibes, Kinder, Freunde, Frohe Tage, Trübe Zeiten, Lebensabend, Letzte Wünsche – umfassen das ganze Leben und lassen kaum etwas vermissen. Wohldurchdacht ist die ganze Anordnung der Chronik, künstlerisch schön die Ausstattung, solid und geschmackvoll der Einband. Möge sie fleißig benutzt werden; die nachfolgenden Geschlechter werden sie zu ehren wissen. * *
Wintermärchen. (Mit Illustration S. 837) Den Lesern wird ein doppelseitiges Bild noch in Erinnerung sein, welches den vorigen Jahrgang der „Gartenlaube“ (S. 276 und 277) schmückt. „Der Frühling“ lautet der Titel und dasselbe gehört zu einem Bildercyklus des Meisters Wilhelm Kray, welcher die vier Jahreszeiten darstellt. Heute bringen wir aus diesem Cyklus ein zweites Bild, das „Wintermärchen“, in allem von dem ersten grundverschieden. Der „Frühling“ mit seinen blühenden Frauen- und Kindergestalten und der im ersten Blüthen- und Blätterschmuck prangenden morgendlichen Frühlingslandschaft tritt uns realistisch näher, der Winter dagegen ist eine groß angelegte und durchgeführte Phantasie. Nacht ist es, bitterkalte, sternenklare Winternacht. Dort jene Frauengestalt, welche, vom fahlen Mondlicht magisch überfluthet, hoch auf eisglitzerndem Felsen ruht, sie schläft den starren, ewigen Winterschlaf, der ein Leben nicht kennt. Doch zu Füßen des Felsens sieht man in reizender Gruppe zwei blühende Mädchen. Der wohlthuende Winterschlaf umfängt die eine nach all den Mühen und Sorgen, nach all den getäuschten Erwartungen und den erschöpfenden Plagen, welche Frühling, Sommer und Herbst mit sich brachten. Ihr ist der Winter nicht das Erstorbensein, sondern jene Ruhe, in der sich die Kräfte des Menschen und der Natur zu neuem Schaffen und Ringen erfolgreich sammeln. Ein Kranz von Dauerblumen liegt dem anderen, von warmem Leben durchglühten Mädchen im Schoße. Sie ist von der sengenden Gluth des Sommers und von den rauhen Stürmen des Herbstes nicht ermüdet, ein freundliches Geschick hatte sie vor Gluth und Sturm in Schutz genommen und ist ihr nicht minder hold inmitten Schnee und Eis. Doch auch sie träumt hoffend von dem Blühen und Prangen, von dem süßen würzigen Dufte, der wieder die Welt verjüngen wird, sobald der Weckruf des Frühlings siegreich durch die Lande tönt. Nur sie dort oben, die Braut des eisgepanzerten Nordens, wird den frischen jauchzenden Ruf nicht vernehmen, sondern weiterschlafen, sie, das Sinnbild des kalten, alles bezwingenden Todes. * *
Ein Konversationslexikon für 10 Mark. Nur wenige Jahre sind verflossen, seit Professor Joseph Kürschner sein kleines „Taschen-Konversationslexikon“ erscheinen ließ, das eine große Verbreitung fand, zugleich aber den Wunsch rege werden ließ, ein etwas umfangreicheres Werk zu besitzen, das, nach denselben Grundsätzen bearbeitet, eine noch größere Reichhaltigkeit des Stoffes darböte. Sofort ging Kürschner an die Ausführung dieses Gedankens, und zum heurigen Weihnachtsfeste liegt sein neues Werk „Kürschners Quart-Lexikon“ (Stuttgart, W. Spemann) vollendet vor. Der Umfang desselben übersteigt den des „Taschen-Konversationslexikons“ um das Fünffache, und im gewöhnlichen Leben dürften sich wenige Fragen ergeben, welche das „Quart-Lexikon“ nicht beantwortete. Wo aber der Text noch im Unklaren lassen sollte, da helfen 1460 Illustrationen zur Veranschaulichung. „Kürschners Quart-Lexikon“ verdient eine freundliche Aufnahme und wird diese sicher finden. * *
Weihnachtswunsch. Unsere Illustration „Weihnachtswunsch“ ist einem neuen Bilderwerk entnommen, welches in einer reizvollen Mappe unseren diesjährigen Weihnachtstisch zu schmücken berufen ist. „Grüß Gott!“ ist ein Gruß, der im täglichen Verkehr zunächst in Bayern, Schwaben, Oesterreich und in den Alpenländern zu Hause ist, der aber in der ganzen Welt verstanden wird. Es liegt etwas Trauliches, Treuherziges in diesem Gruße, und deshalb wird er auch mit dem hübschen Prachtwerk, welches der bekannte Ackermannsche Kunstverlag in München unter diesem Titel in alle Welt sendet, überall willkommen sein. Womit Albert Hendschel in seinen bekannten Skizzen das Menschengemüth zu fesseln und zu unterhalten verstanden, das bietet Alexander Zick in diesem „Grüß Gott“-Album; aber nicht in bloßen Skizzen und Kontouren, sondern in 20 ausgeführten Tuschzeichnungen, die in einer Reihe lieblicher Kinderscenen und anmuthiger Idyllen aus dem Herzensleben einen wahren Familienschatz bergen. Es wird uns oft schwer gemacht, aus der reichen Fülle von illustrirten Prachtwerken die wirklich guten Früchte für den Weihnachtsbaum herauszuschälen, hier aber können wir einmal voll eintreten für ein Werk, dessen Blätter berufen sind, gleich Hendschels Skizzen ihre dauernde Wirkung am Familientisch auszuüben. Feiner Humor und liebenswürdige Darstellung haben sich hier vereinigt, daß jedes der 20 Blätter auch ohne erklärende Unterschrift uns eine ganze kleine Geschichte erzählt. In unserem Probebildchen aus „Grüß Gott!“ sehen wir das Kindchen, wie es täglich mit wonnigen Wünschen im Herzen am Puppenladen in der winterlichen Straße stehen bleibt. Tief liegt der Schnee, kalt ist die große Fensterscheibe des Spielwaarenhändlers, aber warm ist der Kuß der Kleinen, welcher der ersehnten Weihnachtspuppe gilt, die hinter dem Fenster lehnt; sogar das Hündchen scheint an der Freude der Kleinen theilzuehmen.
Ein Herzensgeschenk. (Zu unserer Kunstbeilage.) Der kleine Gott Amor verübt seine Schalksstreiche, wo er nur Gelegenheit findet, und an dieser fehlt’s ihm nie. Hier hat er sich das Weihnachtsfest ausersehen, zwei junge glückliche Menschen noch glücklicher zu machen – durch ein Herz, vom Konditor geholt, aber bedeutungsvoll in der Hand des jungen Burschen, den sein Mädchen wohl versteht. Ein Herzensgeschenk fürs Leben! Glückliche Weihnacht, ihr beiden! * *
Abonnentin in Münsterberg. Den Roman „Ein armes Mädchen“ von W. Heimburg finden Sie im Jahrgang 1884 der „Gartenlaube“. Von den unter dem Sammeltitel „Dazumal“ in Buchausgabe vereinigten vier Novellen derselben Verfasserin (Leipzig, Ernst Keils Nachfolger) sind „Unverstanden“ im Jahrg. 1880, „Im Bann der Musen“ im Jahrg. 1882, „Ursula“ und „Das Fräulein Pathe“ dagegen nicht in unserem Blatte erschienen.
Inhalt: Wintersonnenwende. Gedicht von Johanna Baltz. Mit Illustration. S. 825. – Deutsche Art, treu gewahrt. Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser (Schluß). S. 826. – Wie alt ist der Weihnachtsbaum und wo ist seine Heimath? Von Alexander Tille. S. 831. – Ein junger Kriegsheld. Illustration. S. 833. – Karoline von Linsingen. Aus dem Leben einer schwergeprüften Frau. Nach ihren Briefen und Aufzeichnungen. Von Schmidt-Weißenfels (Schluß). S. 834. – Die Alpenfee. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 836. – Blätter und Blüthen: Christabend in einer Wiener Wärmstube. S. 839. Mit Illustration S. 828 und 829. – Wildermuths Jugendgarten. S. 839. – Familienchronik. S. 839. – Wintermärchen. S. 840. Mit Illustration S. 837. – Ein Konversationslexikon für 10 Mark. S. 840. – Weihnachtswunsch. Mit Illustration. S. 840. – Ein Herzensgeschenk. S. 840. – Kleiner Briefkasten. S. 840.
- ↑ Kügelgen, Jugenderinnerungen 1870, S. 79.
- ↑ Clemens Theodor Perthes: Friedrich Perthes Leben 1853; I, 84.
- ↑ Ekkehart. Kap. 10.
- ↑ Luthers Abschied von seiner Familie, 1845 entstanden.
- ↑ Mannhardt, Baumkultus der Germanen, 1875, S. 240.
- ↑ Mag. Gotthilf Anton Eberhard, Privatlehrer zu Leipzig, Geschichte der Sonn- und Festtage, Erfurt, 1799, S. 25 ff.
- ↑ Vergl. „Kunst und Leben aus Friedrich Försters Nachlaß“, 1873.
- ↑ Nach dem 20. Dez. des zweiten Jahres.
- ↑ Vom 26. Dez. 1772; derselbe ist an Kestner gerichtet und findet sich bei A. Kestner, „Goethe und Werther,“ Stuttgart und Tübingen, 1854, S. 114.
- ↑ Ebenda S 111.
- ↑ Ebenda S 192.
- ↑ Emilie von Gleichen-Rußwurm, „Schiller und Lotte,“ Stuttgart und Augsburg, 1856. S. 574 am 21. Dez. 1789.
- ↑ Charlotte von Schiller, 2, 276.
- ↑ Jung Stillings sämmtliche Werke, Stuttgart, 1841. 4. Bd., S. 8 im „Heimweh“.
- ↑ Monatliche Unterredungen einiger guter Freunde von allerhand Büchern und anderen annemlichen Geschichten, Leipzig, 1690, S. 456.
- ↑ Bisher ungedruckt, dem Verf. mitgetheilt von Herrn Prof. Dr. Rudolf Hildebrand zu Leipzig.
- ↑ Finn Magnusen, Lexic. mythol. 1828. S. 779. M. fügt dazu die Bemerkung, daß Dänen, Norweger und Deutsche dasselbe thäten, nur innerhalb der Gebäude.
- ↑ K. Rußwurm. Eibofolke, II S. 96 § 296.
- ↑ Der Gewährsmann des Verf. ist Herr Prof. Dr. Rudolf Hildebrand zu Leipzig.
- ↑ Mohr, Forsög til en Islandsk Naturhistorie. Kjöbenhavn 1786. S. 187, und Maurer, Isländische Sagen, Leipzig 1860, S. 178.
- ↑ W. Schwartz, Indogermanischer Volksglaube, Berlin 1885. S. 38. Anm.
- ↑ Weihnachtsfeier, Berlin 1805.
- ↑ Indogermanischer Volksglaube. S. 38. Anm.
- ↑ 1657 in seiner Katechismus-Milch V, 649.
- ↑ Parzival 82, 25 „von kleinen kerzen manec schoup geleît ûf ölbaume loup“
- ↑ 1572 bei Schwertel in Wittenberg im Druck erschienen.