Die Gartenlaube (1888)/Heft 50
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Auf dem Leipziger Bahnhofe in Dresden wogte ein buntes Treiben hin und her, da im Laufe der nächsten Stunde verschiedene Züge nach Leipzig, Meißen und der Lößnitz abgehen sollten.
Droschken und Equipagen fuhren vor und entluden sich ihres Inhalts; Damen in eleganten Reisetoiletten, welchen die geplagten Diener mit einer Last von Regenmänteln, Plaids, Kistchen, Hutschachteln, Kissen und Rollen folgten, Offiziere in Uniform und in Civil, Handelsleute und Marktfrauen, alle drängten sich hastig durcheinander die Stufen hinauf dem Eingang zu, wo der Portier in unerschütterlicher Würde und Ruhe seines Amtes waltete.
Zur linken Seite des Treppenaufganges umbrandete der Strom eine standhafte Apfelsinenfrau, deren kleiner Kram von Pfefferkuchenmännern, Spielzeug, Brezeln und Zuckerdüten nur dem jüngeren Theil der Reisegesellschaft einen Blick des Verlangens abnöthigte. Dienstmänner eilten geschäftig mit Handgepäck hin und her oder schleppten metallbeschlagene schwere Koffer nach den Gepäckbureaus. Ueberall standen kleinere und größere Menschengruppen, ein dichtes Gedränge umgab die geöffneten Billetschalter und steigerte sich von Minute zu Minute.
Durch das Gewühl sich durchwindend, waren zwei Damen glücklich auf den Perron gelangt und näherten sich langsam, Arm in Arm dahin schlendernd, dem Zuge, welcher eine derselben nach Leipzig entführen sollte. Die eine der beiden jungen Freundinnen war groß und schlank und hatte eines jener frischen Gesichter, welche nur angenehm, nicht auffallend wirken; man ging an ihr vorüber, ohne sie zu beachten, während auf der anderen zierlicheren Gestalt die Blicke unwillkürlich haften blieben.
Aus einem pikanten Gesichte schauten zwei dunkelbraune Augen blitzend in die Welt; der brünette Teint zeigte keinen Hauch von Farbe, dagegen leuchteten die Lippen im frischesten Roth und ließen zwei Reihen prachtvoller Zähne sehen. Der Mund war vielleicht etwas zu groß, die Nase nicht fein genug geformt und dennoch war es ein anziehendes Gesicht, das man,
[842] einmal gesehen, in Erinnerung behielt. Die Stirn, in welche die krausen, natürlichen Löckchen graziös hereinfielen, war von vollendeter Schönheit und üppig schwarzes Haar quoll in schweren Flechten unter dem Reisehütchen hervor.
„Eigentlich, liebe Helene,“ wendete sich die größere der Damen an ihre Begleiterin, „beneide ich Dich nicht um Deine heutige Reise; Du wirst bei dieser Hitze in dem vollgepfropften Damencoupé Qualen ausstehen und mit Wehmuth an unser schattiges Gärtchen und seine kühle Veranda zurückdenken.“
„Alles zu seiner Zeit, liebste Emma,“ erwiderte Helene lebhaft, „das lange Schattensitzen weckt einem die Lust, auch einmal in der Hitze spazieren zu fahren; ich fürchte mich gar nicht davor und bin sicher, frisch und vollkommen lebendig in Leipzig einzutreffen.“
„Diese Auffassung scheinen andere Leute auch zu theilen, es wimmelt ja von Menschen auf dem Bahnhofe; allein ich bleibe dabei, daß die tolle Idee zu dieser Reise eben nur in Deinem Kopfe entspringen konnte; Du denkst Dir besonders gern solche extravagante Geschichten aus.“
„Emma, Emma, Dir geht es wie dem Fuchs mit den Trauben; könntest Du mit mir reisen, dann wäre alles gut; toll ist meine Idee gar nicht, wohl aber halte ich dieselbe für äußerst gelungen. Es ist doch prachtvoll, daß ich heute abend bei Hansens so ganz unvorbereitet eintreffe. Bei ihrem jedenfalls brillanten Gartenfeste mit den gewünschten Verkleidungen tauche ich plötzlich als Zigeunerin auf und lasse nicht ab, zu intriguiren und die Leute zu mystifiziren. Niemand kann sich denken, wer es ist, der ihnen solche Wahrheiten sagt, ihnen die Vergangenheit aufdeckt und kühn die Zukunft prophezeit. Ehe man zu entdecken vermag, daß ich es bin, der alljährlich wiederkehrende Zugvogel, verschwinde ich und morgen abend kehre ich hierher zurück. Auch das finde ich herrlich, daß niemand außer Dir und zufällig Deinem Onkel etwas von meiner Reise weiß, daß Dein Papa gerade abwesend ist und ich so auf eigene Faust, ohne Wissen meiner Eltern diesen Ausflug unternehme, um einmal für zwei Tage völlig verloren zu gehen. Es liegt darin wenigstens der Schein eines Abenteuers und Du weißt, was ich darum gäbe, einmal, nur ein einziges Mal ein solches zu erleben.“
„Nun, Du kleine Phantastin,“ meinte Emma lachend, „an Abenteuern wird es ja bei diesem Gartenfeste nicht fehlen, Herzen kannst Du auch erobern, denn Dein südlicher Teint und Deine feurigen Augen müssen ja im Zigeunerkostüm doppelt wirken … Aber ich glaube wahrhaftig, der Zug wird nächstens abgehen, komm, wir wollen ein Coupé suchen.“
Rascher weitergehend, spähten die beiden Freundinnen aufmerksam in die Wagen hinein und blieben einen Augenblick vor dem fast vollständig besetzten Damencoupé stehen.
„Wie ist es, Helene,“ frug Emma lächelnd, „willst Du nicht diese Schönheitsgalerie vollzählig machen?“
„Um Gotteswillen!“ fuhr Helene voll Entsetzen auf, „nur nicht da hinein, es wäre das reinste Dampfbad, dann könntest Du schließlich mit Deinen bösen Prophezeiungen recht behalten; nein, lasse uns lieber auf ein Coupé für Nichtraucher fahnden, es müssen doch ein paar im Zuge sein.“
„Jenes dort,“ entgegnete Emma, „ist ebenfalls schon ziemlich besetzt, allein etwas weiter vorn sah ich vorhin noch eines, siehst Du, eben steigt ein Herr hinein.“
Helene eilte der offenen Thür zu, wandte sich jedoch schnell um und zu ihrer Gefährtin zurück. „Aber Emma,“ flüsterte sie, „es sitzt nur dieser eine Herr darin, und mit diesem kann ich doch nicht mutterseelenallein davonfahren!“
„Ah, also so sieht es mit Deiner Lust nach Abenteuern?“ spottete Emma. „Sobald sich nur eines von ferne zeigt, ergreifst Du das Hasenpanier. Uebrigens,“ fuhr sie nach einem weiteren Blick in den Wagen fort, „sieht dieser Herr sehr anständig und zuverlässig aus; ich glaube, Du kannst ruhig einsteigen und das fürchterliche Unternehmen wagen.“
„Ja, Du hast gut spotten, allein gerade weil ich diese Reise so auf eigene Faust ausführe, möchte ich nichts thun, was mir Unannehmlichkeiten bereiten könnte.“
„Halt, setzt hab’ ich’s,“ rief Emma triumphirend aus, „steige nur ruhig ein, mir ist ein köstlicher Einfall gekommen, der Dich schützen und Dir vielleicht noch einen besonderen Spaß bereiten wird, nur rasch ins Coupé, es ist keine Zeit mehr zu verlieren.“
„Einsteigen! einsteigen!“ ertönten die Stimmen der Schaffner, und nun entstand der letzte gewöhnliche Trubel, das eilige Hin- und Herrennen, die zu wechselnden Küsse, Umarmungen und Händedrücke; die Coupéthüren wurden zugeschlagen, aus den Fenstern ertönten noch Abschiedsrufe und Mahnungen zu den Zurückbleibenden heraus.
Auch Helene lehnte sich erwartungsvoll aus dem Fenster, den versprochenen guten Einfall ihrer Freundin zu vernehmen; von dem fremden Herrn, welcher sich bei ihrem Einsteigen höflich verneigte, hatte sie keine Notiz genommen und nicht bemerkt, daß er aufgestanden war und über ihre zierliche Gestalt hinweg auf den Perron schaute. Emma dagegen sah ihn; flüchtig streiften ihre Blicke das ausdrucksvolle Männerantlitz, dann rief sie, heiter lachend, ihrer Freundin zu:
„Adieu, liebe Helene, grüße Deinen Gatten, den gestrengen Herrn Major, vielmals von mir und er soll Dich bald wieder zu uns schicken; adieu Schatz, leb’ wohl und glückliche Reise!“
Ein schriller Pfiff ertönte, langsam setzte sich der Zug in Bewegung, lebhaft winkte Helene mit dem Taschentuche zum Fenster hinaus, und erst als sie die Freundin nicht mehr zu erblicken vermochte, ließ sie sich, mit aller Anstrengung das laute Lachen zurückhaltend, auf ihren Sitz nieder. Welch ein toller Einfall von Emma − wie kann man nur auf einen solchen Unsinn gerathen! Aber köstlich war es doch und vor allen Dingen sehr praktisch, denn die unverhoffte neue Würde mußte sie vor jeder unberufenen Annäherung schützen; ja selbst wenn der fremde Herr eine Unterhaltung beginnen sollte, konnte sie getrost darauf eingehen, galt sie doch in seinen Augen für eine verheiratete Frau.
Helene mußte wieder krampfhaft das Lachen verbeißen; sie sah schnell zum Fenster hinaus und ahnte nicht, daß ihr Reisegefährte sie lächelnd betrachtete und sich im Stillen frug, was wohl die außerordentliche Heiterkeit der jungen Dame veranlaßt haben könnte.
Endlich schaute Helene sich um, und als sie den forschenden Blicken des Fremden begegnete, sprang sie verlegen auf und versuchte das andere, noch geschlossene Fenster zu öffnen, was ihr, trotz aller Bemühungen, nicht gelingen wollte.
„Darf ich mir erlauben, gnädige Frau?“ ertönte hinter ihr eine tiefe, angenehme Stimme.
Wirklich: „gnädige Frau“ hatte er sie genannt, die List war also geglückt. Einen Augenblick noch zögerte Helene, dann drehte sie sich würdig und ernsthaft, wie es der Gattin eines Majors zukommt, nach ihm um; allein das Vergnügen, nun endlich ein ordentliches, kleines Abenteuer zu erleben, strahlte unverkennbar aus ihren Augen, als sie die gemessenen Worte sprach:
„Wenn Sie so gut sein wollen, mein Herr, es ist erstickend heiß hier drinnen.“
Der Fremde, eine kräftige, hohe Männergestalt, trug einen üppigen Vollbart; dieser und ein phänomenaler Haarwuchs, der jeder Dressur zu spotten schien, umgaben ein Gesicht, dessen Züge auf besondere Schönheit keinen Anspruch machen konnten. Aber die feste Stirn, der Ausdruck der durchdringenden, dunkelblauen Augen verriethen eine lebhafte Intelligenz, man hatte diesem Manne gegenüber den Eindruck einer sicheren und bedeutenden Persönlichkeit.
Im Bahncoupé kommt es nur auf die Einleitung zum Gespräch an. Das geöffnete Fenster und der Dank dafür wurden zum Ausgangspunkt einer Unterhaltung, die sehr bald Helenens lebhaftestes Interesse erregte. Sie hatte sich über die „tropische Hitze“ beklagt; der Fremde gab ihr zum Trost eine kleine Schilderung der Leiden einer afrikanischen Mittagsstunde mit ihrer vernichtenden Gluth, ja selbst schon des indischen Hochsommers, der die Europäer in die waldkühlen Himalayaschluchten treibt, wenn sie nicht in der Hitze halb oder ganz zu Grunde gehen wollen. Alles, was dieser Mann sagte, klang so anschaulich, als spreche er aus eigener Erfahrung; Helene lauschte gespannt, versäumte dabei aber nicht, die weibliche Kunst der geschickten Fragen zu üben, und lockte ihn so weiter und weiter. Er ließ vor ihren Augen die Städte des Ostens erstehen, Delhi und Singapore, das vielsprachige Shanghai, das kaiserliche Peking, die endlosen gelben Sumpfniederungen des Flachlandes, die chinesischen Bergketten mit den unaussprechlichen Namen, zuletzt sprach er von der zauberhaften Schönheit einer Morgenfrühe auf dem weiten Indischen Ocean.
[843] „Sie haben das alles selbst gesehen?“ fragte Helene gespannt.
„Ich war einige Jahre in Ostasien.“
„Zu Ihrem Vergnügen?“ Sie bereute sofort die indiskrete Frage. Aber sie hätte doch gar zu gern gewußt, wer er eigentlich sei. Nach einem Kaufmann sah er nicht aus.
„Unmittelbar wohl nicht,“ erwiderte er lachend. „Ein Vergnügen kann man vieles nicht nennen, was dort vom Reisen unzertrennlich ist. Und andererseits geht der ungeheure Lebensreichthum, den man in solchen Jahren erwirbt, weit über das Wort Vergnügen hinaus. – Ich war dort, um geologische Aufnahmen zu machen,“ setzte er kurz hinzu, als ihr Blick fragend auf ihn gerichtet blieb.
Also ein Gelehrter. Helene fand das ungemein interessant, sie hätte schon lange gern einen berühmten Professor kennenlernen mögen. Vielleicht war das einer? Nur sah er dazu eigentlich nicht alt und würdig genug aus. Und seine Augen ruhten mit einem so merkwürdigen Ausdruck auf ihrer kleinen Person – es waren schöne, tiefe Augen; auch die Stimme hatte einen sonoren Klang, der die musikalische Helene angenehm durchbebte.
„Wie haben die Männer es doch gut in der Welt!“ sagte das junge Mädchen, indem sie träumerisch auf die vorbeifliegende Landschaft sah. „Sie können reisen und alles Wirkliche des Lebens sich zu eigen machen, während wir ein bißchen in Kunst und dergleichen herumpfuschen – und Indien zum Beispiel nur kennen lernen, wenn wir in ‚Paradies und die Peri‘ mitsingen,“ setzte sie schon wieder lachend hinzu.
„O, schelten Sie das Frauenlos nicht,“ erwiderte er eifrig. „Niemand fühlt tiefer als ein Fachgelehrter, wie einseitig unsere Bildung ist. Glauben Sie mir, ich habe schon oft eine wahre Sehnsucht empfunden nach den Gebieten, die wir vernachlässigen müssen und die mir so recht als Domäne für begabte, feinfühlige Frauen vorkommen. Gestern noch in Ihrer herrlichen Galerie fühlte ich mich als armen Fremdling unter diesen Wundern der Kunst!“
Nun war Helene ist ihrem Fahrwasser. Kunst, Musik, Litteratur – alles was ihr junges Herz ausfüllte und begeisterte, kam jetzt eins ums andere während der nächsten Stunden an die Reihe; sie sah reizend aus in ihrer lebhaften und selbstvergessenen Sprechweise, und ihr Gegenüber gerieth immer tiefer ist die bewundernde Betrachtung ihrer großen strahlenden braunen Augen hinein. Plötzlich aber kam ihm die Erinnerung, daß es die Frau eines andern war, mit der er hier reiste, er schwieg eine Zeitlang, fuhr nachdenklich mit der Hand über die Stirn und sagte dann:
„Gnädige Frau, nach einer so interessanten Unterhaltung, wie ich das Glück hatte, sie hier bei Ihnen zu finden, ist der Wunsch begreiflich, nicht als absolut Fremder scheiden zu wollen. Gestatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen. Professor Roditz aus Halle.“
„Professor Roditz!“ rief Helene jubelnd aus. In ihrer Herzensfreude ergriff sie ohne weitere Ueberlegung seine Hand mit lebhaftem Druck. „O, wie mich das beglückt! Wie oft wünschte ich sehnlich, Sie einmal zu sehen – las ich doch immer mit so großer Begeisterung Ihre wundervollen Reisebriefe!“
Der Professor verneigte sich lächelnd. „Damit faßt man einen Autor an der schwachen Seite. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, in der Ferne verstandest und günstig beurtheilt zu werden. Sie lasen meine Berichte wohl gemeinsam mit Ihrem Herrn Gemahl?“
Helene überhörte das leise Weh in dem Ton der Frage, weil diese selbst wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf sie hereinfiel. Das hatte sie ja in der Lebhaftigkeit der Unterhaltung ganz vergessen. Die dumme unnöthige Lüge! Und was setzt sagen, wenn er auch ihren Namen wissen wollte? Etwa bekennen: „Ich fürchtete mich, allein mit Ihnen zu fahren, deshalb gab meine Freundin mich für eine verheiratete Frau aus!“ Oder: „Entschuldigen Sie, wir haben uns nur einen kleinen Scherz erlaubt.“ Nein – nein, das war unmöglich, wozu auch? sie würde ihn ja wohl niemals wiedersehen. Aber antworten, wenn er fragte, mußte sie ohne Zögern. Sie mußte sich einen komischen, unglaublich klingenden Namen ausdenken, den es in Wirklichkeit sicher nicht gab. Eigentlich wurde das Abenteuer ja immer lustiger. Wären nur nicht jene Augen und das eigenthümliche Gefühl in ihrer Brust gewesen! Viel, viel lieber hätte sie ihrem Reisegefährten die Hand gereicht und ihm gesagt: „Ich heiße Helene Elden und hoffe auf ein Wiedersehen.“ Wie kindisch, wie albern müßte dieses Bekenntniß sie vor dem ernsten Manne erscheinen lassen! – –
Alle diese Gedanken und Erwägungen kreuzten sich mit Blitzesschnelle ist Helenens Kopfe; allein während der Pause, die seiner Vorstellung folgte, dachte auch der Professor nach und beobachtete.
Das kurze Ja! gefolgt von einem plötzlichen verlegenen Nachsinnen der noch eben so heiteren Frau Majorin, fiel ihm auf. Was mochte wohl der Grund davon sein und weshalb fehlte an der Hand der verheirateten Frau der glatte, bedeutungsvolle Reif?
Helene hatte nämlich im Eifer der Unterhaltung die Handschuhe abgestreift, und mit Entzücken betrachtete der Professor ihre schlanken weißen Hände, die ohne jeden Schmuck nachlässig in ihrem Schoß ruhten.
Weshalb fehlte der Ring? Weshalb nannte sie ihren Namen nicht? Er war sich bewußt, eigentlich nicht danach forschen zu dürfen, da sie offenbar absichtlich ihm denselben verschweigen wollte, und im Grunde genommen hatte er nichts davon, wenn er wußte, wie diejenige hieß, die er nie wiedersehen würde. Woher kam nur das lebhafte Bedauern, welches ihn bei dieser Vorstellung durchzuckte? Es erschien ihm unmöglich, sich für immer von ihr zu trennen; es war ihm, als müsse er später einmal diese wundervollen braunen Augen, diese zierliche, ebenmäßige Gestalt wiedersehen, als müsse er einmal, einmal nur diese kleine Hand küssen, die eben in dem schwarzen, krausen Haar lag und sich blendend davon abhob. Allein er suchte die Empfindung rasch abzuschütteln, sie lief seinem strengen Ehrgefühl entgegen. Freilich konnte er nicht umhin, ganz im allgemeinen ein paar Augenblicke darüber nachzudenken, welche Seligkeit es doch sein müsse, ein solches Weib sein zu nennen – die Gefährtin des Geistes zugleich mit der Geliebten des Herzens. Wie anders würden die vier Wände seiner Gelehrtenstube sich ausnehmen, wenn eine solche kleine Fee darin waltete! Es wurde ihm schwül, er erhob sich und sah aus dem Fenster, dann wendete er sich wieder Helene zu, die, in ihre eigenen Gedanken vertieft und bang die möglichen Fragen des Herrn Professors fürchtend, die Unterbrechung des Gesprächs nicht auffällig gefunden hatte.
In ihrem Gesicht zeigten sich widerstreitende Empfindungen; offenbar war es ihr gelungen, einen Namen herauszufinden, dessen Absonderlichkeit ihre Mundwinkel voll Schelmerei zucken machte; es sprach sich darin sowie in dem Blitzen ihrer Augen noch immer etwas von stiller Befriedigung an ihrem Abenteuer aus; allein die Heiterkeit gelangte dieses Mal nicht zum Durchbruch, denn als sie endlich aufschaute und die Blicke des Professors fest auf sich gerichtet sah, durchschauerte sie abermals das seltsame Gefühl und eine glühende Röthe bedeckte ihre Wangen.
Jedoch Roditz nahm entschlossen das Gespräch wieder auf.
„Das Endziel Ihrer Reise ist Leipzig, gnädige Frau; ich selbst werde mich dieses Mal dort nicht aufhalten, sondern gleich weiter fahren nach Halle und,“ setzte er aufseufzend hinzu, „später wohl wieder eine weite Reise antreten. Wenn ich dann auf dem Schiffsverdeck oder in den kleinasiatischen Bergschluchten an die deutsche Heimath denke, dann werde ich mich auch Ihrer erinnern sowie dieser gemeinsamen, unvergeßlichen Fahrt, und so möchte ich denn wissen, an wen ich denken darf; wollen Sie es nicht für unbescheiden halten, wenn ich bitte, mir auch Ihren Namen zu nennen?“
„Helene,“ flüsterte das junge Mädchen so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen.
„Helene!“ wiederholte er mit dem tiefen Tonfall seiner Stimme. „Der Name ist mir teuer. Es ist der meiner Mutter.“
Sie sah ihn teilnahmsvoll an:
„Und Ihre Frau Mutter lebt mit Ihnen zusammen?“
„Nein, sie ist todt, ich stehe allein auf der Welt und wahrscheinlich für immer,“ erwiderte der Professor ernst. „Man hat ja ist der Jugend auch seine Träume gehabt von einer späteren lichten Zukunft, von einem Heim. voll Liebe, Treue und Sonnenschein, allein solche Träume erfüllen sich nicht immer – oder können sich auch nicht erfüllen,“ setzte er mit einer seltsamen Betonung hinzu.
Helene stockte in der Erwiderung, denn sie begann den Sinn seiner Rede zu ahnen. Ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen, hätte sie doch nie dieses thörichte Spiel getrieben, wäre Emma nie auf diese Idee gekommen!
Der Professor bemerkte ihre Verwirrung, und von seinem vorigen Verlangen beherrscht, benutzte er die abermalige Pause zu einer weiteren Frage.
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[845] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [846] „Sie nannten mir Ihren Vornamen, der mir über alles teuer ist; allein Ihren anderen Namen, denjenigen Ihres Gatten möchte ich noch wissen, ich möchte, selbst wenn ich Sie nie wiedersehen sollte, wenigstens Ihren Lebensweg aus der Ferne verfolgen!“
Helene schrak zusammen, nun war er da, der gefürchtete Moment, und die Augen des Professors sahen bittend, mit beredtem Ausdruck zu ihr herüber; sollte sie die Lüge wirklich aussprechen, das Zutrauen dieses Mannes täuschen? Und dennoch – sie konnte sich zu dem in mehr als einer Hinsicht schwierigen Geständniß nicht entschließen, sie mußte ihre Rolle festhalten und den Namen nennen, den sie sich ausgedacht. Was schadete es übrigens? Etwas wie Trotz wollte sich in ihr regen gegen das seltsame Gefühl, das sie zu umstricken drohte. Sie sah ja den Professor doch nie wieder, was kam’s denn darauf an, ob er unter diesem oder jenem Familiennamen ihrer gedachte?
„Nie wieder“ – es war ihr, als vermöge sie diesen Gedanken nicht zu ertragen, ein solches Weh schnürte ihr plötzlich die Brust zusammen. Doch was sollte Professor Roditz von ihr denken? Sie mußte antworten, koste es was es wolle. Hätte sie nur ihre alte Heiterkeit hervorrufen können, ihren sonst nie versagenden Uebermuth; aber dieser war untergegangen in den noch unverstandenen Empfindungen, die ihr Herz bewegten.
Sie raffte sich auf, und wie mit Purpur übergossen, die langen Wimpern tief gesenkt, flüsterte sie: „Schnitzel, Major von Schnitzel.“
Der Professor verbeugte sich artig. „Ich danke Ihnen, gnädige Frau! Und wohnen Sie schon lange in Leipzig? Leben Sie sehr gesellig dort?“
„Gottlob,“ athmete Helene innerlich auf, diese letzte Frage ließ sich wenigstens im allgemeinen beantworten: „Nein, wir sind erst seit kurzem dahin übergesiedelt und eigentlich gesellig, im Sinne der großen Welt, leben wir nicht,“ erwiderte sie, dabei an ihr väterliches Haus, ihre Eltern, ihre fünf jüngeren Geschwister denkend. „Wir haben einen sehr netten, kleinen Kreis,“ fuhr sie fort, „in welchem wir unter einander einen äußerst angenehmen Verkehr pflegen; wir lesen, musiciren, veranstalten kleine Aufführungen, tanzen und unternehmen Ausflüge, allein all dies geschieht nicht in übertriebener Weise, nur um das alltägliche Leben zu würzen, um ab und zu geistige, sowie erheiternde Anregung zu empfangen. Sonst widme ich mich meinen Büchern, meinen Arbeiten, meinen Musikstudien und hauptsächlich meinen häuslichen Pflichten, welche mir das höchste Vergnügen gewähren“ – und wieder dachte Helene nur an die Geschwister, wie sie an ihr hingen, wie sie mit ihnen lernte und spielte, sie behütete und umsorgte, wie sie ihre Mutter unterstützte, so viel sie nur konnte.
„Ich vermag Sie mir so gut vorzustellen, schaltend und waltend in Ihrer Häuslichkeit,“ bemerkte der Professor, „Glück spendend und Glück empfangend, alles verklärend mit Ihrem harmonischen Wesen, Ihrem gebildeten Geiste, Ihrem reichen Gemüthe; Sie besitzen doch sicher Kinder?“
„Kinder!“ – Helene war wie vom Schlage gerührt und starrte ihm entsetzt ins Gesicht, diese Frage hatte sie für unmöglich gehalten, gar nicht an dieselbe gedacht. „Kinder!“ – sie, die nicht einmal verheirathet war! O diese fürchterliche Frage – allein ihr geschah schon recht, weshalb hatte sie sich von ihrer Abenteuerlust hinreißen lassen zu dieser Komödie!
Jetzt hatte sie ein Abenteuer in aller Form, wie sie es sich schon unzählige Male gewünscht, aber freilich was für eins!
Kinder! Sie und Kinder!
„Ja, nein, das heißt, o mein Gott!“ stammelte sie und brach, das Gesicht mit den Händen bedeckend, in Thränen aus.
Der Professor war sichtlich bestürzt: „Es betrübt mich ernstlich und tief, wie es scheint, schmerzliche Verhältnisse berührt zu haben, gnädige Frau, bitte, verzeihen Sie mir!“
Rasch gaben Helenens Hände ihr Gesicht frei, und ihre Thränen niederkämpfend, sah sie auf. Schmerzliche Verhältnisse – wie sollte sie diese neue Wendung auffassen, was meinte der Professor damit? hielt er sie für unglücklich verheiratet? Es war zum Verzweifeln; o diese Emma! – Sie wollte sich nie wieder ein Abenteuer wünschen, nein, niemals mehr – allein wie sollte sie sich aus dem jetzigen herausfinden?
„Herr Professor,“ begann sie stockend – da ertönte ein Krach, begleitet von einem heftigen Stoße, der Wagen schwankte, Helenens Sinne schwanden, sie fühlte noch einen jähen Schmerz und dann war sie bewußtlos.
Es war im Sommer des Jahres 1805. Beethoven hatte den Auftrag übernommen, für das damals unter kaiserlicher Verwaltung stehende Theater an der Wien eine Oper zu komponiren, und war mit aller Lust, sogar mit Begeisterung ans Werk gegangen, denn in dem von Bouilly verfaßten Buch der Gaveauxschen Oper: „Léonore, ou l’amour conjugal“ glaubte er gefunden zu haben, was er schon so lange gesucht: eine wirksame dramatische Handlung in einer Ausführung, die seinen künstlerischen Regungen zusagte und seinem eigenen Empfindungen entsprach. Bouillys Buch war von Joseph Sonnleithner, Sekretär des Hoftheaters, wörtlich, Scene für Scene übersetzt worden und Beethoven hatte in einer ihm im Theater an der Wien eingeräumten Wohnung seine Arbeit begonnen, die nach vielen schweren Kämpfen und Wehen eines seiner Hauptwerke, sein einziges Bühnenwerk, doch dafür „ein Löwe“ werden sollte. Im Sommer siedelte er mit der begonnen Partitur nach dem hübschen stillen Hetzendorf über, dort seine „Leonore“, denn so, und wie das französische Originalbuch, sollte die Oper heißen, zu vollenden.
In seinem Stübchen saß der Meister am Klavier bei der Arbeit, das Fenster ihm zur Seite weit geöffnet. Die helle Morgensonne drang in den einfachen, von dichten grünen Rebenblättern und Ranken umzogenen Raum, der die Geburtsstätte eines der herrlichsten Meisterwerke der Opernbühne werden sollte. Draußen herrschte eine feierliche Ruhe, denn es war Sonntag und das Haus, in dem Beethoven zwei kleine Stübchen bewohnte, lag dem Park des kaiserlichen Lustschlosses nahe, in dessen einsamen Alleen der Meister so gerne, seinen Gedanken nachhängend, wandelte. Beethovens Augen leuchteten, denn wundervolle Melodien und Harmonien entlockten seine Finger dem einfachen Instrument, die er theilweise aus den aufgelegte Notenblättern abzulesen schien. Es klang wie ein vielstimmiger Jubelgesang, der nur der neuen Oper „Leonore“ angehören konnte.
Da öffnete sich während einer Pause die Thür und mit einem fröhlichen „Grüß Gott, Ludwig!“ trat Stephan von Breuning, Beethovens Jugendfreund und jetziger geduldiger Genosse, in die Stube. Beide hatte bis noch vor kurzer Zeit in dem Esterhazyschen „Rothen Hause“ zusammen gewohnt, sich dann entzweit, bis der mürrische Beethoven sein Unrecht eingesehen und sich reumütig wieder dem treuen Freunde genähert hatte.
„Was hast Du da gespielt, eine Phantasie oder gehört’s zu Deiner Oper?“ rief Breuning, der wohl draußen gehorcht hatte, mit hellem Enthusiasmus.
„Setze Dich daher, Steffen, und höre das letzte Finale meiner ‚Leonore‘,“ entgegnete Beethoven, nur mit diesen Worte den Gruß des Freundes erwidernd, denn seinen Blick hatte er nicht von den Noten abgewendet und durch die Störung nichts von seiner begeisterten Erregung verloren. „Ich habe den Entwurf soeben zu Ende gebracht und Du sollst der erste sein, der das ganze Finale hören wird. – In wenigen Tagen ist es instrumentirt und dann auch bald die ganze Partitur fertig. Höre! – Doch unterbrich mich nicht! Hast Da eine Bemerkung zu machen, so warte damit, bis ich zu Ende bin.“
Nicht wenig erwartungsvoll ließ sich Breuning auf einen Stuhl in der Nähe Beethovens nieder, so, daß er auch die Notenblätter im Auge behalten konnte. War des Meisters Notenschrift auch meistens hieroglyphisch, so vermochte er sie doch, durch langem Uebung dazu befähigt, wo es nur irgend anging, zu entziffern. Beethoven spielte. Ohne dem Freunde nur einen Augenblick der
[847] Vorbereitung zu gestatten, hatte er bei dem Chor des Volkes: „Heil sei dem Tag! Heil sei der Stande!“ begonnen und sonder Unterbrechung ließ er ihn das ganze große Finale, theilweise sogar mit vollem Text, hören, bis zu den letzten Takten des Jubelchors: „Wer ein solches Weib errungen!“ Als er endlich die Hände sinken ließ, sich in den Stahl zurückwarf, um den Schweiß, der seine mächtige Stirn bedeckte, abzutrocknen, da sprang Breuning von seinem Sitz empor. Sein Auge flammte, seine Brust senkte und hob sich vor heftiger Erregung, und keine andern Worte vermochte er im ersten Augenblick zu finden als: „Herrlich! herrlich! ergreifend herrlich!“ Dann umarmte und küßte er den Meister.
„Du bist also mit der Komposition zufrieden?“ sagte Beethoven, der aufgestanden war und jetzt, um sich Luft zu machen, die Stube zu durchwandern begann. „Hast mir keine Bemerkung zu machen?“
„Wunderbar! Himmlisch schön! Der Schlußgesang ist ein Jubelhymnus, wie noch nie – niemals ein gleicher auf der Bühne – ich möchte wohl sagen im ganzen Reich der Töne erklungen!“ Also antwortete Breuning noch immer in voller Begeisterung. Dann umschlang er des Meisters Schultern, drückte ihn sanft wider seine Brust und sagte nun mit leisem, innigem Ton, während seine Augen naß werden wollten: „Und ein Mann hat ihn mit seinem Herzen gesungen – der bis jetzt noch kein Weib gefunden, das er in gleichem Sinne sein eigen nennen darf. Armer Freund!“
„Laß das!“ fuhr Beethoven wild, mit dem Ton eines grollenden Löwen auf, zugleich die Arme des Freundes, der sich wohl vergessen hatte, von sich abschüttelnd. „Sage mir lieber, was Du auszusetzen hast, es wäre ja ein Wunder, wenn nichts derartiges auf Deinem Herzen lastete.“
„Nun denn, wenn Du es durchaus willst,“ entgegnete der andere, durch des Meisters rauhe Weise etwas abgekühlt, „so will ich Dir eines sagen, was mir aufgefallen ist. Ich bemerkte eine Stelle Roccos, im Beginn des Finales, der Du nach meiner Ansicht eine wirksamere Betonung hättest geben können, die dabei auch ganz bestimmt die richtigere sein würde.“
„Ah! das wäre! – Da liegen die Noten – zeige mir die falsch betonte Stelle!“
Breuning schlug die Blätter zurück, und als er endlich gefunden, was er gesucht, deutete er auf die Noten und sagte: „Hier ist’s, schau nur her! Rocco sagt zu dem Minister, als Schluß seines Berichtes über den Hergang im Kerker:
Die Scansion dieses Verses hast Du, wie alles was ich gehört, richtig, oder doch regelrecht behandelt, aber mir scheint, daß Du gerade an dieser Stelle von dieser Regelrechtigkeit hättest absehen müssen. Denn deutlicher und wirksamer wäre es auf alle Fälle gewesen, wenn Du das unscheinbare Wörtchen ‚Nur‘, das sich auf das Kommen des Ministers bezieht, was nach meiner Ansicht hier allein den Ausschlag giebt, mehr hervorgehoben und deklamirt hättest:
„Hm, hm!“ brummte Beethoven gedankenvoll vor sich hin, „das wäre zu überlegen.“ Dann sprach er hastig, abgerissen und ohne aufzublicken: „Doch laß mich jetzt! – Gehe einstweilen in den Park, in einer halben Stunde bin ich bei Dir, dann wollen wir eine Promenade machen. – Ich sehne mich nach freier Luft – meine hier zu ersticken.“
Breuning, der Beethovens Eigenheiten hinlänglich kannte, entfernte sich ohne viele Worte und schritt dem Eingang des kaiserlichen Parkes zu. Der Meister war wieder allein. Eine ganze Weile blieb er brütend und unbeweglich, die Augen starr auf die Noten gerichtet, vor dem Klavier sitzen, kaum verständlich ein über das andere Mal vor sich hinmurmelnd: „Nur euer Kommen – Nur euer Kommen – rief ihn fort!“ – Endlich rief er laut: „Der Satansjunge hat wahrhaftig recht! es klingt besser, wirksamer und ist dabei auch richtiger.“ Zugleich nahm er die auf dem Klavierdeckel bei der Tinte liegende Feder, durchkreuzte mit kräftigen Strichen die Stelle und schrieb sie sofort in der neuen Lesart in kaum zu enträthselnden Noten und Worten am Rande des Blattes nieder. Dann versank er aufs neue in sein früheres Brüten.
Die halbe Stunde – wohl eine ganze! – war vergangen und Beethoven hatte Breuning und sein Versprechen, ihn im Schloßpark aufzusuchen, längst vergessen. Da klopfte es an der Thür, die sich auch sofort öffnete – denn ein „Herein!“ des unbeweglich dasitzenden Meisters wäre nicht erfolgt! – und in die Stube traten ein Herr und eine Dame in gesetztem Alter in der damaligen modischen Tracht der besseren Gesellschaftsklasse. Es war Joseph Sonnleithner und Frau Nanette Streicher, die sich schon damals in ihrer frischen, freundlichen Weise der etwas unordentlichen Junggesellenwirthschaft Beethovens thatkräftig angenommen hatte.
“Schönen guten Morgen, Herr von Beethoven!“ rief Frau Streicher schon beim Betreten der Stube mit lachendem Gesichte und fröhlichem Ton. „Muß mich doch wieder einmal nach Ihnen umsehen, und da heute ein heiliger Sonn- und Festtag ist, so darf dies wohl auch geschehen, ohne daß man befürchten müßte, den Meister in seiner Arbeit zu stören.“ Dabei war sie auf Beethoven zugetreten und hatte ihm so kräftig und anhaltend die Hand gedrückt und geschüttelt, als ob sie ihn mit Gewalt aus seinem Träumen hätte aufwecken wollen.
Sonnleithner hatte während dieser redefertigen Begrüßung nur eine ceremonielle Verbeugung anbringen können, nun aber sagte er: „Und ich komme im Auftrag meines Chefs, des kaiserlichen Hofoperndirektors Herrn Baron von Braun, mich bei Herrn von Beethoven nach dem Stande unserer Oper ‚Fidelio‘ zu erkundigen.“
„Nichts ‚Fidelio‘! ‚Leonore‘ heißt meine Oper, und so soll und wird sie heißen!“ rief Beethoven, recht unwirsch den höflichen Gruß seines Dichters erwidernd. „Und fertig ist sie auch – oder doch so gut wie fertig. Schaut nur her, Sonnleithner, hier das letzte Finale! – Ah!“ rief er plötzlich recht freudig, wie von einem ihn ganz besonders interessirenden Gedanken erfaßt. „Ihr kommt mir gerade gelegen und sollt nun auch ein Stück meines Finales und einen Theil Eurer schönen Verse hören. Merket auf – alle beide!“
Seine letzten Worte waren in ein Lachen übergegangen, das indessen bedenkliche Aehnlichkeit mit einem unwirschen Brummen zeigte. Dann begann er zu spielen.
Frau Nanette hatte sich, ohne den Shawl und den gewaltigen, mit wallenden Federn besetzten Hut abzulegen, bequem in eine Ecke des einfach ländlichen Sofas niedergelassen und Herr Sonnleithner stützte sich auf die Rücklehne des Stuhls, auf dem Beethoven saß. Dieser hatte das Finale bei dem Chor: „Heil sei dem Tag! Heil sei der Stunde!“ begannen, dann spielte er weiter bis zu der bewußten Stelle Roccos, wo er die neue Lesart:
ganz besonders, sogar mit rechtem Wohlgefallen hervorhob.
In diesem Augenblick machte Sonnleithner eine unbehagliche Bewegung, wodurch der Stuhl, dessen Rücklehne seine Hand gefaßt hielt, ebenfalls ins Schwanken gerieth. Beethoven brach sein Spiel ab, wandte den Kopf nach dem Dichter um und fragte ist recht rauher Weise:
„Na, was ist’s, Herr von Sonnleithner? Gefällt Ihnen etwa meine Komposition nicht?“
„Ganz ausnehmend gefällt sie mir, hochverehrter Meister,“ entgegnete der also Angefahrene äußerst höflich. „Nur – verzeihen Sie mir, Herr von Beethoven, wenn ich es wage, mich offen auszusprechen – nur diese letzte Stelle scheint mir nicht ganz richtig aufgefaßt und wiedergegeben zu sein. Der Accent müßte doch hier unbedingt – wie es auch die Scansion des Verses verlangt – auf dem Worte ‚euer‘ liegen und nicht aus dem nebentonigen ‚nur‘. Denn des Ministers Kommen allein hat die Katastrophe herbeigeführt, und da ist es unbedingt klarer und nebenbei auch richtiger, wenn es heißt und gesungen wird:
„Da haben wir’s!“ knirschte Beethoven unhörbar vor sich hin, um in Gedanken hinzuzusetzen: „Nun will der wieder recht haben – und er hat’s vielleicht auch, wie ich von allem Anfang an recht hatte.“ Da fiel sein Blick auf Frau Streicher, und plötzlich wendete er sich mit einem Anflug von Humor und der Frage an diese: „Und was sagt Frau Nanette dazu? Welches ist ihre Meinung?“
[848] „Ich möchte fast Herrn von Sonnleithner recht geben,“ antwortete diese in ihrer frischen Redeweise, „nur meine ich, daß es noch weit wirksamer und auch klarer wäre, wenn Sie den Hauptaccent auf das ‚Kommen‘ legten. Denn gerade, daß der Minister zur rechten Zeit gekommen ist, giebt so den Ausschlag.“
Da sprang Beethoven jäh von seinem Sitz empor und brach in ein unbändiges Gelächter aus – während Sonnleithner erschrocken einige Schritte zurückwich. Dann rief er mit einer ingrimmigen Bissigkeit:
„Ein Tausendglück, daß Ihr nur zu zweit gekommen seid, denn wären Euer ein halbes Dutzend, so gäbe es mehr Deutungen, Lesarten und Vorschläge, als das arme Versungeheuer Füße und Silben hat! – Da bin ich in eine schöne Klemme gerathen! – Wißt Ihr, wie ich mir in diesem Augenblick vorkomme?“ Damit faßte er Frau Nanette, die sich erhoben hatte, unter den einen Arm, packte Sonnleithner unter den andern und sprach dann geheimnißvoll zu beiden: „Geht heim und leset die Fabel Lafontaines von dem Bauer und seinem Sohne, die ihren Esel zum Markt führen und dabei auf das Gerede und den Rath der Leute hören – und danach thun. Dann wisset Ihr, wie mir zu Muthe ist. – Doch getrost, Kinder, laßt mich nur ein halbes Stündchen allein, muß über Eure gewiß wohlgemeinten Vorschläge nachdenken. Geht einstweilen in den Park – dort werdet Ihr den Breuning finden, der bereits auf mich wartet. Bald bin ich bei Euch und dann wollen wir zusammen promeniren und plaudern.“
Damit drängte er beide zur Stube hinaus und setzte sich wieder ans Klavier. Herr von Sonnleithner und Frau Nanette Streicher gingen in den Park des kaiserlichen Lustschlosses, doch fanden sie dort ebenso wenig Herrn Stephan von Breuning wie nach einer vollen Stunde Wartens – Beethoven.
Der Meister saß in ernsten Gedanken versunken vor dem Entwurf seines großen Finales und ließ die drei verschiedenen Lesarten des bewußten Verses an seinem Geiste, dann auf dem Klavier Revue passiren: „Wo steckt das Richtige?“ sagte und fragte er sich, ohne eine genügende Antwort finden zu können. Sein Kopf begann zu glühen, und je mehr er nachdachte, je schwankender wurde er in seiner Meinung. Da rief er plötzlich mit einem raschen Entschluß. „Hol’s der Teufel! ich will die sämmtlichen Lesarten anbringen – eine davon wird gewiß die wirksamste und somit auch die richtige sein – das Publikum mag entscheiden.“ Dann begann er zu schreiben – Sonnleithner und die Streicher waren vergessen wie er früher Breuning vergessen hatte. –
Gegen Ende des Sommers war die Arbeit gethan und Meister Beethoven brachte die fertige Partitur mit nach Wien. Am 20. November desselben Jahres, 1805, wurde die Oper, und zwar gegen den Willen Beethovens, unter dem Titel „Fidelio“ in dem Theater an der Wien zum ersten Male aufgeführt – ihre weiteren Schicksale sind bekannt. –
Und die drei Lesarten des verhängnißvollen Verses?
Beethoven hat sie wahr und wahrhaftig zur Ausführung gebracht.
Der Leser mag nur einen Klavierauszug zur Hand nehmen, dort findet er sie im zweiten Finale, bei Roccos Erläuterungen dicht neben einander stehen:
Aus der Reichshauptstadt.
Als Berlin nach den gewaltigen politischen Umwälzungen, welche der deutsch-französische Krieg zu Stande gebracht, plötzlich aus der preußischen Residenz zur deutschen Kaiserstadt erhoben worden war, bemerkten vielleicht zuerst die seltsame und überraschende Metamorphose, die sich für Berlin mit den erwähnten Ereignissen verband, die zahllosen Fremdenscharen welche herbeieilten, um die von Ruhm und Sieg umstrahlte Stadt in ihrem neuen verjüngenden Lichte zu schauen. Eher als die spreegetauften Einwohner selbst sahen sie, welche bedeutenden und tief einschneidenden Veränderungen sich theils schon vollzogen hatten, theils erst vorbereiteten, wie sich die Stadt in ihrem Innern sowohl wie auch nach außen hin reckte und streckte, wie sie sich in kürzester Frist verschönte und den Rang, der ihr unversehens zuertheilt worden war, vollauf in Anspruch nehmen und ausfüllen wollte.
Der Ruf davon verbreitete sich schnell; hatte bisher Berlin fast abseits von der großen kontinentalen Fremdenlinie gelegen, hatten nur wenige gewagt, es mit Paris und London, so auch nur mit Wien in einen Vergleich zu stellen, so änderte sich dies in kürzester Zeit. Nicht nur, daß die durch gemeinsam vergossenes Blut so eng mit dem leitenden Staat vereinigten Bundesgenossen viel häufiger wie jemals zuvor die Reichshauptstadt aufsuchten und dort zu ihrer Freude nicht mehr das specifisch „preußische Berlin“ vorfanden, auch von fernher lenkten sich die Fremdenströme mehr und mehr der neu emporblühenden Weltstadt zu und schenkten ihr dieselbe Aufmerksamkeit wie den bisher begünstigten Kolleginnen an der Seine, der Themse und Donau. Waren früher Russen, Engländer, Italiener, Amerikaner etc. nur vereinzelte Gäste in Berlin gewesen, so traten sie jetzt in wachsender Zahl auf, sehr viele von ihnen gründeten sich hier ein festes Heim, andere wieder kehrten regelmäßig hierher zurück, fast immer in Gefolgschaft neuer Landsleute. Bald schon konnte man von festgegliederten englischen, amerikanischen, italienischen, russischen etc. Kolonien sprechen, und zu diesen Ländern gesellten sich neben anderen Japan und Siam, wie auch der zuerst so vielangestaunte Chinese in langem Seidenrock und mit sauber geflochtenem Zopf rasch eine typische Erscheinung auf den Straßen Berlins wurde, die heute niemand mehr auffällig berührt. Sicherlich dürfte es nicht zu hoch gegriffen sein, wenn wir die Zahl der jetzt jährlich die Hauptstadt besuchenden Fremden auf etwa eine halbe Million schätzen und diese Ziffer dürfte sich in fortwährendem Steigen befinden, ohne daß ein Rückschlag zu befürchten wäre.
[849]
Die wachsenden Fremdenscharen bedingten für Berlin eine neue Pflicht: für ihre genügende und bequeme Unterkunft zu sorgen. Freilich gab es genug ausgezeichnete Hôtels, die an Komfort das Möglichste leisteten, aber ihre Räumlichkeiten reichten bald nicht mehr aus und eine Ueberfüllung war oft unausbleiblich. Da trat nun für Berlin eine neue Phase ein; es entstanden die Riesenhôtels, welche mehrere hundert Personen zugleich beherbergen können, nicht von einzelnen begründet, sondern von kapitalsfähigen Aktiengesellschaften. Der „Kaiserhof“ machte 1875 den Anfang; in bester Lage, unmittelbar am Wilhelmsplatz, entstand das kolossale, quadratische Gebäude, bald nach seiner Vollendung theilweis von den Flammen verzehrt, um allerdings bald darauf wieder den Gästen zugänglich zu werden, und sich bis heutigen Tags seines vornehmen Rufes erfreuend. Fünf Jahre später, nach Fertigstellung der Stadtbahn und direkt an deren Centralbahnhof gelegen, folgte das gewaltige, einen kleinen Stadttheil einnehmende „Central-Hôtel“, und in schnelleren Zeitspannen schlossen sich das „Grand Hôtel“ am Alexanderplatz, sowie das „Hôtel Continental“, zwischen Stadtbahn und „Linden“, an, womit die Reihe nicht erschöpft bleiben wird, da man bereits von neuen, ähnlichen großartigen Plänen vernimmt.
Es ist eine umfangreiche, hundertfältig gegliederte Maschinerie, welche den regelmäßigen Gang in diesen Riesen-Gasthäusern aufrecht erhält und ihn aufs genaueste bis in die geringste Kleinigkeit hinein bestimmt, ohne daß begründete Klagen laut werden dürfen. Von Interesse ist es, einen Einblick in den Betrieb eines derartigen riesenhaften Instituts zu gewinnen; greifen wir einmal auf gut Glück das „Central-Hôtel“ heraus, ohne damit andeuten zu wollen, daß die anderen ähnlich großen Hôtels minder betrachtenswerth sind: sie werden sich sämmtlich wenig von einander unterscheiden. Die Erbauung des angeführten Hôtels, welches, vier Stockwerke hoch, neuntausend Quadratmeter bedeckt, kostete rund zwölf Millionen Mark; neben einem eigenen Post-, Telegraphen und Reisebureau befinden sich Fernsprechkabinets nicht nur für Berlin darin, sondern auch für die mit letzterem verbundenen Städte Hannover, Hamburg, Breslau, Leipzig, Stettin, Dresden etc. Sechshundert Zimmer und Salons, welche sämmtlich elektrische Beleuchtung aufweisen, können siebenhundert Gäste beherbergen; in den Lesesälen sorgen mehrere hundert Zeitschriften für Unterhaltung und an zweihundert Adreßbücher der wichtigsten Städte aus der ganzen Erde für Auskunft. Der Wintergarten ist ein mächtiger Raum für sich, der mit seinen Nebensälen bequem weit über dreitausend Personen Aufenthalt gewährt; in ihm finden während der lebhafteren Saison täglich Aufführungen herumziehender Künstler, ferner die großen, ganz Berlin versammelnden Bälle statt, unter denen wiederum die vom „Künstler“- und „Presse-Verein“ veranstalteten den ersten Platz einnehmen. Für die Bedienung der im vergangenen Jahre eingekehrten etwa 185 000 Fremden sorgten an zweihundert thätige Hausgeister.
Zugleich mit den großen Hôtels kamen auch die glänzenden Wiener Cafés auf, die vor allen anderen Lokalen so recht den Sammelpunkt der Fremden bilden. Café Bauer machte hier den Anfang und ist, obwohl es in jedem, selbst dem entferntesten Stadttheile Nachahmungen gefunden hat, trotz aller Konkurrenz doch das erste und besuchteste geblieben. Seine überaus günstige Lage an einem der Hauptverkehrspunkte, seine kostbare Ausstattung, zu der die meisterhaften A. v. Wernerschen und Chr. Wilbergschen Wandgemälde gehören, der wohlbegründete Ruf sind freilich nicht so leicht zu übertreffen. Ein unterhaltsames Stück Berliner Leben spielt sich hier Tag für Tag ab, stets giebt es etwas Neues, etwas Eigenartiges zu sehen, sei es im Sommer, wenn draußen unter den „Linden“ die Menschenwogen in abwechslungsvollem Gewühl vorüberfluthen, sei es im Winter, wenn aus den Krystallkronen die Glühlichtflämmchen strahlen und in später Nacht- oder früher Morgenstunde dichtgedrängte Besucherscharen hereinströmen, hier an der Seite ihrer eleganten Herren mit tadellosem Frack und schneeweißer Kravatte Damen in rauschender Gesellschaftstoilette, dort ein Trupp phantastischer Masken in buntem Durcheinander, von einem lustigen Künstlerfest kommend, da, in dichtem Knäuel,
[850]die Angehörigen einer studentischen Verbindung, die kleinen Mützchen schief auf den biergerötheten und schmißreichen Gesichtern, die Füchse eifrig für die alten Herren trotz des Abwehrens der Kellner die Marmortischchen zusammenrückend und Stühle heranholend. Mitten aber in der Lebenslust, in all dem Uebermuth, dem Glanz und Schein fehlt auch nicht das Laster und oft sogar das Verbrechen, letzteres allerdings weniger von außen zu erkennen wie ersteres.
Die Wiener Cafés mit ihren luftigen weiten Räumlichkeiten und ihrer ausgesuchten Eleganz, mit ihren plätschernden Springbrunnen und kunstvollen Kronleuchtern, mit ihrem Heer dienstbarer Ganymeds und ihrem unterhaltsamen ununterbrochenen Verkehr haben die alten Berliner Konditoreien fast gänzlich verdrängt oder doch wenigstens ihrer angesehenen Stellung beraubt. Berlin vor dreißig, vierzig Jahren ohne seine berühmten, verräucherten, engen Konditoreien, das ist ein undenkbarer Begriff!
Die bekanntesten unter ihnen waren die von Stehely, Kranzler, Spargnapani; sie spielten eine bedeutsame Rolle im öffentlichen Leben der preußischen Residenz; die litterarischen, die politischen, die künstlerischen Elemente versammelten sich hier zu bestimmten Stunden, und trotz aller Spötteleien in den Witzblättern mag an diesen Stellen mancher gute Gedanke zur That gereift sein. Vollständig sind sie auch heute noch nicht verschwunden, diese altrenommirten Firmen und ihre Nachfolger; da ist noch Kranzler an seiner wohlbekannten Ecke mit der niedrigen, schmalen Terrasse nach den „Linden“ zu, die bei schönem Wetter gedrängt voll besetzt ist; da finden wir noch d’Heureuse und Schilling mit ihren kleinen, aber gemüthlichen Räumlichkeiten, und mit seiner Glashalle und seinem Gärtchen vor derselben blickt uns vertraut am Potsdamerplatze Josty entgegen.
Wie gemüthlich sitzt es sich hier im Freien bei schönem Wetter; Vogelgezwitscher schallt aus den dichten Kronen der die Bellevuestraße einsäumenden Kastanien, dem nahen Thiergarten eilen die eleganten Equipagen, die Droschken und leichten Kabriolets zu, Damen in hellen Sommergewändern und lachende Kinder, welche an dünnem Faden vergnügt die rothen Ballons in der Luft flattern lassen, promeniren vorbei, und vor uns und um uns herrscht das emsige, unermüdliche Leben einer Weltstadt. Ja, sie haben noch immer ihr Gutes, diese Berliner Konditoreien, wenn auch nicht mehr in ihnen hohe Politik getrieben und der Pegasus zu kühnem Fluge angespornt wird!
Aehnlich wie den Konditoreien ist es den „ersten“ Berliner Restaurants ergangen. Wo sind sie hin, diese Lokale, in denen sich einst unsere Altvordern so behaglich fühlten, mit ihren rauchgeschwärzten Decken, an denen die ölgefüllte Ampel hing, mit ihren vergilbten Wänden und dem sandbestreuten weißgescheuerten Fußboden, mit den hohen Bänken und steifen Stühlen, mit den wachstuchbezogenen Tischen, aus denen die „Spenersche“ und „Vossische Zeitung“ lagen und, wenn es hoch kam, einige Blätter des „Volksfreund“ und „Beobachter an der Spree“, die vollauf genügten, den Stammtischgästen Unterhaltung für den ganzen Abend zu gewähren! Sie sind, mit wenigen Ausnahmen, auf Nimmerwiedersehen verschwunden; an die Stelle der bescheidenen Bierlokale traten die anspruchsvollen Bierpaläste, für viele Hunderttausende Mark erbaut und in untrüglichstem Renaissance- oder Rokoko- oder sonst einem Stile innen ausgestattet, mit schwerster Holztäfelung, mit schöngeschnitztem Meublement, mit elektrischer Beleuchtung und Wand- oder Deckenmalereien der modernsten Meister.
Sie bilden gegenwärtig nicht die geringste Sehenswürdigkeit in Berlin, diese neuen, dem Gambrinus geweihten Tempel; wenn sie auch häufig in ihrem baulichen Gewande einen barocken Geschmack aufweisen, so ist doch der Aufenthalt in ihnen zumeist ein angenehmer und erträglicher, sicher fast immer ein unterhaltsamer, denn stets neue durstige Scharen strömen durch die weitgeöffneten Portale herein, Greise und Kinder, Männlein und Weiblein, denn auch letztere verstehen jetzt, was früher so streng verpönt war, den Humpen tüchtig zu schwingen.
Es scheint keine Einbildung zu sein, daß mit der wachsenden Einwohnerzahl in Berlin auch der Durst in stetem Steigen begriffen ist – anders könnte man sich die fabelhafte Vermehrung der Kneipstätten nicht erklären. Namentlich das Münchener Bier hat sich mit raschem Erfolge ein großes Terrain erworben, und jetzt schon ist die Zahl der „Bräus“, welche uns unter allen möglichen Namen und Schutzheiligen entgegentreten, eine Legion. Die Berliner Brauereien zwar, etwa achtzig an Zahl, haben muthig den Kampf mit den fremden Eindringlingen angenommen, vermochten sie aber bisher nicht zurückzuschlagen und konnten auch nicht die jährliche Einfuhr von etwa zweihunderttausend Hektolitern fremden Bieres verringern. Jedenfalls aber machen sie trotzdem gute Geschäfte, und man begreift das, wenn man vernimmt, daß auf 450 Mann in Berlin eine Restauration und auf jeden Kopf der Bevölkerung im Jahr 170 Liter Bier kommen.
Stürmen sie aber auch von allen Seiten heran, die Münchener, Nürnberger, Pfungstädter, Kulmbacher, Pilsener etc. Biere, eine Hochburg des Berliner Bieres haben sie bisher nicht zu stürzen vermocht und werden es auch fürderhin nicht können: die Hochburg des Berliner Weißbiers. Trotz alter Veränderungen, trotz aller Geschmacksrichtungen und Umwälzungen im Brauereiwesen hat es sich rein und unverfälscht erhalten, so wie es einst vor zweihundert Jahren die Refugiés in die Residenz des Großen Kurfürsten, ihres treuen Beschützers, eingeführt. Und auch die Lokale, in denen es ausgeschenkt wird. haben zum bedeutenden Theil ihr früheres Gewand nicht abgelegt; sie haben noch etwas Philisterhaftes, aber höchst Gemüthliches an sich, und auch von ihren Besuchern ist dasselbe zu sagen, es sind zu größeren
[851]Theile „geborene“ Berliner, eine Species von Menschen, die durchaus nicht so häufig, wie man glaubt, in Berlin zu finden ist.[1] Da thront sie dann königlich auf dem Tisch, die schäumende „Blonde“, in einem Behältniß, welches man für alles andere als gerade für ein Biergefäß halten kann, und als gehorsame Trabanten umgeben die perlende, mit einer stolzen Haube gezierte Herrscherin die kleinen bescheidenen „Strippen“, niedrige Gläschen mit Nordhäuser oder Korn gefüllt, so unzertrennlich von der Weißen wie einst der Ibis von den Krokodilen des Nils. – Einzelne der Weißbierstuben haben sich einen Ruf weit über das Weichbild des Bären hinaus erworben; die Namen Clausing, Haase, Päpke, um nur einige wenige anzuführen, nennt nicht nur der Spreeathener mit einer gewissen Achtung, auch so mancher Fremde hat dort seine durch den vorangegangenen Abend verschuldete katzenjämmerliche Stimmung schnell verloren und vergessen.
Weit mehr als die Restaurationen haben sich die Berliner Weinhandlungen ihren patriarchalischen Charakter zu bewahren gewußt, natürlich nur die Firmen, welche mit dem einstigen Berlin schon verwachsen waren; sie haben ein festes Stammpublikum zum Früh- wie zum Abendschoppen und wachen ehrgeizig über einen „guten Tropfen“, den es stets bei ihnen und für nicht zu theuren Preis giebt. In dieser Beziehung, was Essen und Trinken am belangt, dürfte überhaupt Berlin eine der billigsten Weltstädte sein; die Auswahl ist sehr reich und nicht nur für jeden Geschmack, sondern auch für jeden Geldbeutel ist gesorgt. Einzelne der bekannten Berliner Weinhandlungen beanspruchen ein kulturhistorisches Interesse; in dem Maurerschen Weinkeller in der Brüderstraße, der nun auch verschwunden, hatten oft genug bei vollen Gläsern Lessing und Ramler mit guten Gesellen gesessen, und wenn sie erzählen könnten, die Wände des noch heute blühenden Weingeschäftes von Lutter und Wegener, dicht am Schauspielhause, sie würden von mancher ausgelassenen Stunde berichten, die hier einst Ludwig Devrient und Th. Amad. Hoffmann in großem Freundeskreise, zu dem auch der junge Döring gehörte, zugebracht.
Ganz anders, vornehmer, zurückhaltender, schauen uns die von der Geburts- und Geldaristokratie bevorzugten Restaurants der „Linden“ sowie der benachbarten Straßen an. Was zum verwöhntesten Luxus gehört, hier scheint es noch überboten zu sein in jeglicher Beziehung; der raffinirteste Geschmack wird befriedigt in dieser stimmungsvollen Zusammensetzung von Gold und Farben, von Pracht und Reichthum, die namentlich abends, wenn ein Meer von Licht aus den Kronleuchtern herabströmt, zur vollsten Geltung gelangt. Aber auch zur vollsten Beachtung, denn wenn die Theater aus sind, wenn der letzte Geigenstrich im Konzert verklungen, wenn im Cirkus der Klown seinen Abschiedspurzelbaum geschossen, dann füllen sich bei Hiller, Dressel, Uhl, Borchardt und wie sonst die bevorzugten Berliner Priester des Lucullus heißen, die Salons und Kabinets, und während draußen der Schnee in dichten Flocken herniederwirbelt, serviren lautlos drinnen die geschmeidigen Kellner die mit dem frischesten und kostbarsten Gemüse angefüllten Schüsseln, denn der Einfluß der Jahreszeit auf den Küchenzettel, er spricht in diesen Lokalen niemals mit! –
Nirgends berühren sich die Gegensätze aber so sehr wie in einer großen Stadt. Der arme Teufel, der mit begierigen Augen und schnalzender Zunge durch die hohen Spiegelfenster, die trotz der vorgestellten Rahmen und blühenden Topfgewächse einen Ausguck lassen, eben gesehen hat, wie den behaglich am perlenden Sekt schlürfenden Gästen der leckere Braten herumgereicht wird, und der nun hungrig und frierend weitertrottet, er findet auch seinen Unterschlupf, wenn er um die Ecke biegt und dem freundlichen Wink der rothen Laterne folgt. Wie Wegweiser für hungernde und durstende Seelen ziehen sich durch die ganze Stadt diese kleinen Kellerkneipen und Destillationen, niemals leer, fast immer angefüllt mit einer schwatzenden, lachenden, kartenspielenden, [852] jedenfalls aber trinkenden Menge, unter der sich so mancher befindet, welcher einst von einem besseren Teller gegessen und ein feineres Glas zum Mund geführt. In diesen Lokalen, wo der Droschkenkutscher in seinem weiten Radmantel neben dem Dienstmann und dem rußgeschwärzten Arbeiter sitzt, wird noch das echteste und unverfälschteste Berlinisch gesprochen und oft genug ein derber Spaß ausgesonnen, den der davon Betroffene selten übelnimmt. Allerdings, sind erst die Gemüther erregt und haben der Branntwein wie das Bier die Mienen der Zecher mit flammender Röthe bedeckt, dann sitzen auch häufig die Hände lose und der Spektakel einer tüchtigen Prügelei schallt bis auf die Straße hinaus und lockt schnell den Ruhestifter in Gestalt des Schutzmannes heran.
Unser Thema wäre nicht vollständig, wenn wir nicht noch der Volksküchen Erwähnung thäten, einer der segensreichsten und unentbehrlichsten Einrichtungen der Weltstadt, welche bisher unendlich viel Noth und Elend gestillt hat. Jeder Stadttheil hat mehrere dieser Küchen aufzuweisen, in denen von mittags zwölf Uhr an eine nahrhafte, sättigende Kost – die halbe Portion 15, die ganze 25 Pfennig – verabreicht wird. Dichtgedrängt sitzen sie dann an den Tischen, auf dessen das dampfende Mahl steht, all diejenigen, für welche nichts vom Reichthum und Glanz der Residenz abgefallen ist, welche glücklich sind, wenn der knurrende Magen befriedigt ist – Männer und Frauen und Kinder, alles bunt durcheinander, eine herbe, lebende Illustration zur Kehrseite der nach außen hin mit so vielem Prunk schillernde Weltstadt. Auf ein zwanzigjähriges Bestehen können die Volksküchen bereits zurückblicken, von Jahr zu Jahr wurde ihre Tätigkeit eine umfangreichere, so daß sie jetzt jährlich weit über zwei Millionen Mittags- und 80 000 Abendportionen austheilen, womit trotz der großen Zahlen doch noch nicht alle Darbenden gesättigt werden.
Von dem Bürgersinn und dem Bürgerwohlstand der Berliner Einwohnerschaft darf man erwarten, daß auch fernerhin alles geschieht, um das Elend möglichst zu lindern. In diesem Sinne sind auch neuerdings Volkskaffeehäuser eingerichtet worden, in denen zu billigsten Preisen Kaffee, Thee, Chokolade, Milch, auch Bier (aber kein Branntwein), sowie mancherlei Eßwaaren verabreicht werden. Die Räumlichkeiten sind im Winter behaglich erwärmt, neben verschiedenen, zur freien Benutzung stehenden Spielen liegen illustrirte Blätter und Tageszeitungen aus, und es steht wohl zu erwarten, daß diese neue Einrichtung sich in den Kreisen der Handwerker und Arbeiter rasch großer Beliebheit erfreuen wird.
Möchte Berlin auf der mit Erfolg betretenen Bahn auch unentwegt weiterschreiten und den anderen Hauptstädten das schöne Vorbild zeigen, daß in seinen Mauern nicht nur für den Reichen, sondern auch für den Armen gesorgt ist!
Alle Rechte vorbehalten.
In der Nordheimschen Villa war es still und öde geworden. Man hatte die Leiche des Präsidenten nach dem Erdbegräbniß in der Residenz gebracht und Tochter und Nichte hatten sie begleitet. Die Dienerschaft war ihnen schon in den nächsten Tagen gefolgt und das Haus lag jetzt wie ausgestorben da.
Auch der Chefingenieur weilte augenblicklich in der Stadt, um mit der Gesellschaft, welche wenigstens theilweise Eigenthümerin der Bahn war, zu verhandeln und die Angelegenheiten des verstorbenen Präsidenten überhaupt zu ordnen. Er hatte dies unter den obwaltenden Verhältnissen sehr schwierige Amt übernommen und noch stand ihm die Autorität des Sohnes, des künftigen Gatten der Erbin zur Seite, denn noch wußte die Welt nichts von der Aufhebung jener Verbindung. Sie sollte es erst nach Ablauf der Trauerzeit erfahren, wenn Alice keines Vertreters mehr bedurfte. Man wollte gerade jetzt die inneren Angelegenheiten der Familie nicht der Neugier und Klatschsucht preisgeben, und die Katastrophe, welche mit dem Leben auch das Vermögen Nordheims getroffen hatte, forderte eine starke Hand, um noch das Möglichste zu retten.
Ernst Waltenberg befand sich noch in Heilborn. Er hatte seit dem Tage, an dem er sich von seiner Braut getrennt, das Wolkensteiner Gebiet allerdings nicht wieder betreten, aber irgend etwas schien ihn in der Nähe festzuhalten. Der Spätherbst war nun völlig und mit winterlicher Strenge in die Berge eingezogen und der große Kurort selbstverständlich ganz leer, nur der fremde Herr, mit seinem Sekretär und den beiden farbigen Dienern, weilte noch hier und machte auch noch keine Anstalt, abzureisen.
Im Salon der großen und behaglichen Wohnung, die Waltenberg innehatte, ging Veit Gronau mit unruhiger, besorgter Miene auf und nieder und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Thür zu dem Arbeitszimmer Ernsts, die fest geschlossen war.
„Wenn ich nur wüßte, was aus der Geschichte eigentlich werden soll!“ brummte er. „Da schließt er sich nun Tag für Tag ein und hat seit einer Woche keinen Fuß in das Freie gesetzt, er, der nicht leben konnte, wenn er nicht täglich ein paar Stunden im Sattel saß. Mit einem Arzte darf man ihm ja nicht kommen! Wenn wenigstens noch der Doktor Reinsfeld erreichbar wäre, aber der mit seiner unbequemen Gewissenhaftigkeit sitzt natürlich schon in Neuenfeld, obgleich er viel gescheiter thäte, bei seiner Braut zu bleiben; er hatte die Stellung einmal angenommen und nun hielt ihn nichts mehr, als der Termin da war. Hoffentlich sorgt er dort schleunigst für einen Nachfolger, denn so viel wird von den Nordheimschen Millionen wohl übrig bleiben, daß die ärztliche Praxis an den Nagel gehängt werden kann – Nun, da bist Du ja endlich, Said! Was hast Du ausgerichtet?“
„Der Herr läßt Master Hronau sagen, zu speisen allein,“ berichtete Said, der aus dem Zimmer Waltenbergs kam. „Er nicht hat Lust zu essen.“
„Schon wieder nicht!“ murmelte Gronau, „und schlafen thut er auch nicht mehr. Ich sage es so, er bringt die verwünschte Geschichte nicht aus dem Kopfe!“
„Der Herr gar nicht hat schlimme Laune,“ sagte der Neger wichtig. „Wir haben heut morgen fallen lassen die große Vase, welche serr viel Geld gekostet hat, er hat zugesehen und nur gezuckt die Achseln.“
„Ich wollte, er hätte den Stock genommen und Euch beide durchgeprügelt,“ erklärte Veit nachdrücklich.
„O – o!“ protestirte Said, mit entrüsteter Miene, aber Gronau fuhr unbeirrt fort:
„Nun, geschadet hätte es Euch nichts und ihm wäre die Bewegung sehr heilsam gewesen, aber ich glaube, man könnte vor seinen Augen jetzt alles kurz und klein schlagen, er rührte sich nicht. Das kann nicht so weiter gehen, ich muß versuchen, ihn zu sprechen.“
Er ging sehr entschieden auf das Arbeitszimmer zu, da öffnete sich die Thür desselben und Waltenberg selbst trat heraus.
„Sie sind noch hier, Gronau?“ fragte er mit einem leichten Stirnrunzeln, denn er hatte wohl geglaubt, den Salon leer zu finden. „Ich ließ Sie doch bitten, allein zu speisen.“
„Es geht mir wie Ihnen, Herr Waltenberg, ich habe keinen Appetit,“ versetzte Veit ruhig.
„So bestelle das Diner ab, Said – geh!“
Said gehorchte und verließ das Zimmer, während Gronau, der sehr gut merkte, daß seine Entfernung gleichfalls gewünscht wurde, nicht die geringste Notiz davon nahm, sondern hartnäckig seinen Platz behauptete.
Ernst war an das Fenster getreten, das einen vollen Ausblick auf die ferne Gebirgskette gewährte. In den acht Tagen, die seit der Hochwasserkatastrophe verflossen waren, hatte sich das Wetter nicht aufgehellt, es war trübe und stürmisch geblieben und die Berge trugen Tag für Tag ihre Wolkenschleier. Heut zum ersten Male zeigten sie sich wieder in voller Klarheit.
„Es hellt sich auf – endlich!“ sagte Waltenberg, mehr zu sich selber als zu seinem Gefährten, der zweifelnd den Kopf schüttelte.
„Das wird nicht lange dauern. Wenn die Linien der Berge sich so scharf abheben und die Gipfel so nahe erscheinen, hält das Wetter nicht.“
[853]
[854] Ernst antwortete nicht, er blickte unverwandt hinüber nach der blauen Alpenkette, aber nach Verlauf von einigen Minuten wandte er sich plötzlich um.
„Ich fahre morgen nach Oberstein, lassen Sie den Wagen bestellen.“
Gronau sah ihn betroffen an.
„Nach Oberstein? Haben Sie eine Bergpartie vor?“
„Ja – ich will auf den Wolkenstein.“
„Auf – das heißt doch nur bis zur Hochwand?“
„Nein, auf den Gipfel!“
„Jetzt? In dieser Jahreszeit? Das ist unmöglich, Herr Waltenberg. Sie wissen ja, daß der Gipfel überhaupt für unersteiglich gilt.“
„Eben deshalb reizt er mich! Ich bin eigens deswegen in Heilborn geblieben, aber bei dem fortwährenden Nebelwetter war ja nichts zu unternehmen. Sorgen Sie für an paar tüchtige Führer –“
„Die werden wir nicht bekommen, für diese Partie nicht!“ unterbrach ihn Gronau ernst.
„Weshalb nicht? Etwa wegen des alten Kindermärchens? Man wird den Leuten eine größere Summe bieten, das ist ein unfehlbares Mittel gegen den Aberglauben.“
„Möglich, aber hier könnte es doch versagen, denn das alte Kindermärchen hat einen sehr realen Hintergrund, das haben wir gesehen. Die Lawinenkatastrophe steht bei den Leuten noch in zu frischem Andenken; was hat sie nicht alles vernichtet!“
„Ja, sie hat viel vernichtet – sehr viel!“ sagte Ernst langsam und träumerisch, ohne das Auge von den Bergen abzuwenden.
„Und deshalb lassen Sie den Wolkenstein für diesmal in Ruhe,“ ergänzte Veit. „Die Schneeverhältnisse sind grade jetzt sehr ungünstig und das Wetter hält sich nicht, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Jetzt können wir das Wagniß nicht unternehmen.“
Ernst zuckte nur die Achseln bei diesen Vorstellungen.
„Ich habe Sie ja noch nicht aufgefordert, es mit mir zu theilen. Bleiben Sie zurück, wenn Sie sich fürchten, Gronau.“
Ueber Veits braunes Gesicht flog ein Ausdruck des Unwillens, aber er bezwang sich.
„Ich dächte, wir hätten schon so manche Gefahr zusammen bestanden, Herr Waltenberg, daß Sie über meine Furchtsamkeit beruhigt sein könnten. Ich gehe mit bis an die Grenze des Möglichen, aber ich fürchte, Sie gehen darüber hinaus und – Ihre Stimmung ist wirklich nicht danach, der Gefahr kaltblütig entgegenzutreten.“
„Da irren Sie sich, meine Stimmung ist vortrefflich und ich will nun einmal hinaus! Mit oder ohne Führer, im Nothfall gehe ich allein!“
Gronau kannte diesen Ton und wußte aus Erfahrung, daß dagegen nicht aufzukommen war, trotzdem machte er noch einen letzten Versuch. Er wußte, es würde einen Sturm geben, wenn er diesen Punkt berührte, aber er beschloß, es daraufhin zu wagen.
„Denken Sie an Ihr Versprechen!“ mahnte er halblaut. „Sie gaben Baroneß Thurgau Ihr Wort, den Wolkenstein zu meiden.“
Ernst zuckte zusammen, sein Erbleichen, sein jähes, drohendes Auffahren verrieth, wie die Wunde noch blutete bei der Berührung; aber das dauerte nur einen Moment, dann hüllte er sich wieder in die eisige, unzugängliche Ruhe, die jede fernere Bitte und Mahnung ausschloß.
„Die Verhältnisse, unter denen ich jenes Wort gab, existiren nicht mehr, das wissen Sie ja, Gronau,“ sagte er kalt. „Uebrigens wünsche ich nicht, daß jene Beziehungen in meiner Gegenwart wieder berührt werden – ich bitte ein für alle Mal darum.“
Er wandte sich um und ging nach seinem Zimmer, blieb aber aus der Schwelle noch einmal stehen.
„Also morgen früh um acht Uhr den Wagen nach Oberstein, es bleibt dabei!“
Auf einem Schneefeld, oberhalb der Hochwand des Wolkenstein, lagerte die kleine Gruppe der kühnen Bergfahrer, die nun in der That das Wagniß unternommen und es zum größten Theil auch ausgeführt hatte, die beiden Führer, kraftvolle, wetterfeste Gestalten und Veit Gronau. Sie waren mit Seilen, Eishacken und allen Hilfsmitteln einer Alpenfahrt ausgerüstet und hielten hier offenbar eine längere Rast.
Man war gestern von Oberstein aufgebrochen und bis zum Ausgang des Felsenmeeres gestiegen, wo sich eine nothdürftige Unterkunft für die Nacht fand, und hatte dann mit dem ersten Grauen des Morgens den Weg auf die für unersteiglich gehaltene Hochwand angetreten. Jetzt war sie erstiegen, mit unendlicher Mühe, mit unsäglicher Anstrengung und rücksichtsloser Verachtung der Gefahr, die bei jedem Schritte drohte, aber zum ersten Male erstiegen!
Dies Bewußtsein war freilich der einzige Lohn des kühnen Unternehmens, denn das Wetter, das gestern und heute morgen noch ziemlich klar gewesen war, hatte sich in den letzten Stunden geändert. Jetzt lagerte dichter Nebel in den Thälern, der jeden Ausblick hemmte, und von den umliegenden Bergen waren nur die Spitzen sichtbar. Auch der eigentliche Gipfel des Wolkenstein, eine mächtige Eispyramide, die unmittelbar über der Hochwand emporstieg, begann sich allmählich zu umschleiern. Von der Tiefe aus gesehen schien sie eins zu sein mit der Hochwand, während in Wirklichkeit ein breites Gletscherfeld dazwischen lagerte.
Es war immerhin ein großer, schwer errungener Erfolg, die unzugängliche Hochwand besiegt zu haben, aber die freudige Genugthuung darüber schien den drei Männern zu fehlen. Gronau hielt sein Fernglas unverwandt auf die Eispyramide gerichtet und die beiden anderen tauschten nur kurze, einsilbige Bemerkungen aus, während ihre ernsten Mienen eine unverkennbare Besorgniß verriethen.
„Ich sehe nichts mehr!“ sagte Veit, indem er das Glas sinken ließ. „Die Nebel ziehen jetzt auch um die Spitze, es ist unmöglich, noch etwas zu unterscheiden.“
„Und es ist Schnee, was dort heranzieht!“ ergänzte einer der Führer, ein älterer Mann mit grauen Haaren. „Ich habe es dem Herrn vorhergesagt, aber er wollte ja nicht hören.“
„Ja, es war ein Wahnsinn, unter diesen Umständen noch die Spitze erzwingen zu wollen!“ murmelte Gronau. „Ich dächte, wir hätten schon genug geleistet mit dem Ersteigen dieser Hochwand. Das war eine Kletterei auf Leben und Tod, die macht uns so leicht keiner nach und vor uns hat sie auch keiner gemacht.“
Der andere, jüngere Führer hatte inzwischen nach allen Seiten hin scharfen Ausblick gehalten; jetzt trat er heran und sagte:
„Es geht nicht länger an mit dem Warten – wir müssen zurück, Herr!“
„Ohne Herrn Waltenberg? Auf keinen Fall!“ fuhr Gronau auf.
Der Mann zuckte die Achseln.
„Nur bis zum Schneekaar, da haben wir Schutz an den Felsen, wenn es zum Aergsten kommt. Hier oben halten wir kein Schneetreiben aus, und wir müssen den schlimmsten Theil der Hochwand noch vorher passiren, sonst kommt keiner lebendig davon. Es ist ja auch ausgemacht, daß wir beim Schneekaar auf den Herrn warten.“
Das war allerdings verabredet worden, als Waltenberg sich von seinen Begleitern trennte. Die Führer, die man durch das Dreifache des gewöhnlichen Lohnes endlich zum Mitgehen bewog, hatten die beiden Fremden auch glücklich bis auf die Hochwand gebracht. Da aber weigerten sie sich entschieden, weiter zu gehen, nicht weil es ihnen an Muth fehlte – der Gipfel, der unmittelbar vor ihnen lag, bot verhältnißmäßig weniger Gefahr als die fast senkrecht steile Hochwand – aber die kundigen Männer wußten, was dies weißgraue Gewölk bedeutete, das sich, anfangs noch so leicht wie schwebender Dunst, zu sammeln begann. Sie mahnten zu schleuniger Rückkehr, und Gronau unterstützte ihre Bitten und Warnungen aufs nachdrücklichste, aber vergebens.
Ernst sah den so heiß ersehnten Gipfel in unmittelbarer Nähe vor sich aufsteigen und nun hielt ihn keine Warnung mehr zurück. Mit dem ganzen Starrsinn seines Charakters, der das eigene Leben so wenig wie das fremde achtete, bestand er auf der Vollendung des Wagnisses. Jede Vorstellung glitt ab an diesem Starrsinn, das drohende Wetter kümmerte ihn nicht und die Weigerung der Führer entflammte seinen Trotz nur noch mehr. Mit einem herben Spott über die „Vorsichtigen“, die im Angesicht des Zieles umkehrten, war er gegangen und man mußte ihn gewähren lassen.
Gronau hatte Wort gehalten, er war mitgegangen bis an die Grenze des Möglichen; als diese Grenze aber erreicht war, als das Wagniß zum Wahnsinn wurde, zu einer trotzigen Herausforderung des Aeußersten, da war auch er zurückgeblieben, und doch drückte ihn das wie ein Vorwurf. Der Aufsteigende war noch eine Weile auf der Firnkante sichtbar geblieben, bis unmittelbar unter die Spitze hatte man seiner Spur mit dem Fernglase folgen können, dann zogen auch hier die Nebel heran und hinderten jede fernere Beobachtung.
[855] „Wir müssen hinunter!“ mahnte jetzt auch der ältere Führer mit vollem Nachdruck. „Wenn der Herr überhaupt zurückkommt, so findet er uns auch beim Schneekaar. Unser Bleiben nützt ihm nichts und wir riskiren das Leben mit jeder weiteren Viertelstunde.“
Gronau sah die Richtigkeit der Vorstellung ein, um einem Seufzer schob er das Glas zusammen.
Die gährenden Nebelmassen waren dichter und dunkler geworden, sie stiegen aus allen Thälern, guollen aus allen Schluchten und hüllten Wälder und Matten in ihren feuchten Mantel. Die Abhänge des Wolkenstein, der ganze riesige Felsabsturz der Hochwand verschwanden in diesem gährenden Dunst, nur die Eispyramide des Gipfels hob sich in vollster Klarheit daraus empor.
Und hoch oben auf diesem Gipfel stand einsam der Mann, der es nun doch erzwungen hatte, das scheinbar Unmögliche. Sein Anzug trug die Spuren der furchtbaren Wanderung, seine Hände bluteten von den scharfen Eiskanten, an denen er sich emporgeholfen hatte, aber er stand aufrecht auf dem Boden, den vor ihm noch keines Menschen Fuß betreten hatte. Er hatte es gewagt, den Wolkenthron der Alpenfee zu ersteigen, ihren Schleier zu heben und der Herrscherin dieses eisigen Reiches in das Antlitz zu schauen.
Und es war schön, dies Antlitz! Aber von einer unheimlichen, geisterhaften Schönheit, die keine Spur des Irdischen mehr trug und das Auge des kühnen Bergfahrers fast schmerzhaft blendete. Rings um ihn her und zu seinen Füßen nur Eis und Schnee, starre, weiße Gletschermassen, wild zerklüftet und zerrissen und doch leuchtend in seltsamer, märchenhafter Pracht. In den Eisklüften schimmerte es bald grünlich, bald tiefblau wie Meereswogen und von dem blendenden Weiß des Schneemantels, den all diese Zacken und Spitzen trugen, sprühte es in tausend Funken zurück. Und darüber wölbte sich der Himmel in so leuchtender Klarheit, in so strahlendem Blau, als wolle er all seine Lichtfülle ausgießen auf den alten Sagenthron des Gebirges, auf den krystallenen Eispalast der Alpenfee.
Ernst athmete tief, tief auf; zum ersten Male wich der schwere Druck, der so lange auf ihm gelastet hatte; die Welt mit all ihrem Lieben und Hassen, ihrem Stürmen und Ringen lag so fern da unten, sie verschwand in dem Nebelmeer, das die ganze Tiefe ausfüllte, wie die Erde mit all ihren Thälern, Wäldern und Menschenwohnungen darin verschwand. Nur die Bergspitzen schauten einsam daraus hervor, wie Inseln auf einem weiten Ocean, hier ein paar zackige dunkle Felshäupter, dort ein blendend weißer Schneegipfel, dort ein ferner Höhenzug. Aber das alles schien körperlos, schemenhaft zu schwimmen und zu schweben in dieser Fluth, die leise wallend und wogend immer höher stieg. Und dazu ringsum das Schweigen des Todes – hier im ewigen Eise regte sich kein Leben mehr.
Und doch schlug ein heißes, stürmisches Menschenherz in dieser Oede, das der Welt und ihrem Weh hatte entrinnen wollen, das Vergessenheit suchte hier oben, und das doch nur sein Weh mit sich heraufgetragen hatte. So lange die Gefahr noch alle Nerven anspannte, so lange das Ziel noch lockte und winkte, schwieg auch der quälende Schmerz im Innern. Der alte Zaubertrank, den Ernst so oft erprobt hatte, that auch jetzt seine Wirkung, Gefahr und Genuß unlösbar verbunden, die Gewalt einer mächtigen Naturscenerie und die schrankenlose Freiheit, der er nun zurückgegeben war. Er fühlte wieder die berauschende Macht dieses Trankes, und mitten in der Eiswüste ergriff ihn eine brennende Sehnsucht nach jenen Ländern der Sonne und des Lichtes, die von jeher seine eigentliche Heimath gewesen waren. Dort konnte er vergessen und genesen, dort konnte er wieder leben und glücklich sein.
Das Nebelmeer stieg und stieg, langsam, lautlos, aber unaufhaltsam, ein Gipfel nach dem andern versank, eine Spitze nach der anderen tauchte unter in dieser grauen geheimnißvollen Fluth, die wie eine Sintfluth alles verschlang, was der Erde angehörte. Nur die Eispyramide des Wolkenstein ragte noch einsam daraus hervor, aber ihre leuchtende Pracht war erloschen mit dem Sonnenlicht, das sie nicht mehr traf.
Der einsame Träumer schauerte plötzlich zusammen unter einem Hauch, der ihn schneidend und eiskalt berührte. Er fuhr auf; der blaue Himmel über ihm war verschwunden, dort wallte jetzt weißer Dunst und auch neben ihm und um ihn begann es sich zu verschleiern.
Ernst war durch die Führer hinreichend gewarnt, er kannte diese Anzeichen; aber mit der Gefahr kehrte auch seine Spannkraft zurück, es war die höchste Zeit zur Rückkehr. Er begann den Abstieg, langsam, vorsichtig, jeden Schritt prüfend, wie er es beim Aufstieg gethan; aber der Nebel verlegte ihm überall den Weg und durchschauerte ihn mit seiner Eiseskälte bis ins Mark hinein. Trotzdem ging es unaufhaltsam abwärts, die Spuren, die er vorhin im Schnee zurückgelassen, leiteten ihn, aber er mußte sie mühsam suchen, mehr als einmal irrte er ab davon, und jetzt begannen sich auch die Folgen der Ueberanstrengung geltend zu machen.
Waltenbergs Athem ging schwer und keuchend, der Schweiß trat ihm auf die Stirn und sein sonst so sicherer Blick begann sich zu trüben. Er fühlte das und raffte sich nur um so trotziger empor. Wie er auch die Gefahr herausgefordert hatte, hier und jetzt wollte er ihr nicht erliegen, das alte Ammenmärchen sollte nicht recht behalten, und seine aufs äußerste angespannte Willenskraft, seine stählernen Sehnen und Muskeln trugen auch wirklich den Sieg davon. Er bezwang den furchtbaren Weg zum zweiten Male, keuchend, halb erstarrt, zu Tode erschöpft, erreichte er endlich den Fuß der Pyramide, er stand auf dem Gletscherfelde der Hochwand.
Ein tiefer, erleichternder Athemzug entrang sich seiner Brust, jetzt war das Schwerste überstanden. Zwar galt es noch, den obersten, jähen Absturz der Hochwand zu überwinden, aber dort hatte man schon beim Emporklimmen Stufen in das Eis gehauen und an den schlimmsten Stellen Seile zurückgelassen, um den Abstieg zu erleichtern. Ernst wußte, daß er diese Hilfsmittel finden werde, sie mußten ihn trotz des Nebels zum Schneekaar führen, wo die Gefährten ihn erwarteten.
Da kam es aus dem Nebel herangezogen, weiß, feucht und schimmernd, gleich wehenden Schleiern, die sich ihm auf Stirn und Wangen legten, anfangs nur leicht und lind, wie kosend und schmeichelnd – das Schneetreiben begann. Und schon nach wenigen Minuten wurde dies Kosen und Schmeicheln zu einer beklemmenden, erstickenden Umarmung, der er vergebens zu entrinnen versuchte. Er strebte vorwärts, wandte sich zurück, aber überall waren diese eisigen Arme, die ihm den Athem raubten und das Blut in seinen Adern erstarren ließen. Noch ein kurzer, verzweifelter Kampf, dann hielten sie ihn unlösbar umklammert – er sank zu Boden.
Aber mit dem Kampfe endete auch die Qual. Es war so süß, dies Entschlummern, diese tödliche Mattigkeit, wo sich Traum und Wirklichkeit einten. Er stand wieder oben auf dem Gipfel im Sonnenglanz, er schaute den krystallenen Eispalast in seiner Märchenpracht und blickte der Alpenfee in das entschleierte Antlitz, dessen tödliche Schönheit kein Sterblicher ertrug. Aber fremd war es ihm nicht; er kannte diese Züge, diese Augen mit ihrem leuchtenden, tiefen Blau, und jetzt strahlten und lächelten sie ihm, wie sie ihm nie im Leben gelächelt. Das Bild des einzigen Wesens, das er so wild, so namenlos geliebt hatte, ließ ihn selbst jetzt an der Schwelle des Todes nicht los, es stahl sich in den letzten Schimmer seines Bewußtseins.
Aber dann wallte die Nebelfluth wieder heran und stieg und stieg, langsam, unaufhaltsam, bis alles darin versank. Nur das geliebte Antlitz dämmerte noch fern und traumhaft durch den grauen Schleier, endlich verschwand es auch und der Träumende ward fortgetragen von diesem Nebelmeer, das sich endlos, uferlos ausdehnte, er steuerte hinaus in unermeßliche Fernen, hinaus in die Ewigkeit! –
Ueber den Wolkenstein hin brauste der Schneesturm. Hoch auf flatterten die weißen Schleier und sanken dann nieder auf den Schläfer, der zu Füßen des erstiegenen, des bezwungenen Gipfels lag. Der Mann, dessen ganzes Wesen nur Gluth und Leidenschaft gewesen war, der nur hatte athmen können in den Ländern der Sonne und des Lichtes, ruhte jetzt in kalten starren Armen. Er hatte sie ertrotzt, diese Umarmung, aber das Leben des kühnen Sterblichen erlosch in dem Eiseskusse der Alpenfee!
Es war am Tage vor Sankt Johannis und heller, goldener Sonnenschein begünstigte das Fest, das heute das ganze Wolkensteiner Gebiet feierte, die Eröffnung der neuen Gebirgsbahn. All die kleinen Ortschaften, welche an der Bahnlinie lagen und nun zu dem Range von Stationen erhoben waren, prangten mit grünem Laubschmuck und flatternden Fahnen, und überall waren
[856] die Bergbewohner in ihren Sonntagstrachten zusammengeströmt, um den ersten Zug kommen zu sehen, dem sie mit Staunen und Neugier entgegenblickten. Der nun endlich vollendete eiserne Weg sollte so auch Wohlstand und Gedeihen in ihre einsamen Thäler bringen.
Seit jenen unheilvollen Herbsttagen waren fast drei Jahre vergangen, und im Anfange schien die Vollendung der Bahn ganz in Frage gestellt zu sein, wenigstens soweit es die obere Strecke, die eigentliche Wolkensteiner Gegend betraf. Die Verhandlungen mit der Gesellschaft hatten monatelang gedauert, bis endlich die Energie und Ausdauer des Chefingenieurs siegte und das halb zerstörte Werk in seinem ganzen Umfange wieder aufgenommen und glücklich zu Ende geführt wurde.
Die Station Oberstein, die eine ziemliche Strecke von dem Orte selbst entfernt, am Ausgange der Wolkensteiner Brücke lag, trug einen besonders reichen Laub- und Fahnenschmuck. Der Zug, der den Chefingenieur und seine Gattin, die sämmtlichen Mitglieder des Verwaltungsrathes und eine Anzahl geladener Gäste brachte, sollte hier einen längeren Aufenthalt nehmen, deshalb war auch ein besonders feierlicher Empfang beabsichtigt. Die ganze Kurkapelle von Heilborn stand auf dem Bahnhofe, auf der nächstliegenden Anhöhe war eine Anzahl von Böllern aufgefahren und die Bevölkerung der Umgegend war hier zahlreicher zusammengeströmt als auf all den andern Stationen.
Mitten unter der bunten, freudig erregten Menge bemerkte man auch die lange Gestalt Veit Gronaus. Er sah noch etwas brauner und verwetterter aus als vor drei Jahren, schien aber sonst ganz der Alte geblieben zu sein. Ernst Waltenberg hatte in seinem Testamente seinen ehemaligen Sekretär sehr großmüthig bedacht und ihm eine durchaus unabhängige und behagliche Zukunft gesichert; aber der alte Wandertrieb war zu mächtig gewesen, Veit war wieder hinausgezogen in die Welt und erst jetzt nach jahrelanger Abwesenheit zurückgekehrt, um sich „das alte europäische Nest“ einmal wieder anzusehen. An seiner Seite befanden sich Djelma, jetzt kein Knabe mehr, sondern ein hübscher, schlanker Bursche von achtzehn Jahren, und Said, der europäische Kleidung trug und seinen ehemaligen Vorgesetzten und Mentor soeben freudigst begrüßt hatte.
„Ich bin serr froh, Master Hronau wiederzusehen,“ versicherte er einmal über das andere. „Ich schon wußte von Doktor Gersdorf, daß Master Hronau würde kommen zu dem Feste, aber wir glaubten, Master Hronau –“
„Said, thu’ mir den Gefallen und höre endlich auf mit Deinem Master Hronau!“ unterbrach ihn dieser in der alten derben Weise. „Hast Du noch nicht Deutsch gelernt? Da radebrechst es noch immer in derselben ohrenzerreißenden Weise und bist doch nun drei volle Jahre in Deutschland gewesen. Da höre den Djelma an, der plappert jetzt wie ein Staarmatz, trotzdem wir die ganze Zeit in Indien herumgezogen sind. Das Deutsche habe ich ihm beigebracht; aber die Dummheit habe ich ihm noch nicht ganz austreiben können, die ist zu solide angelegt. Du wolltest ja damals durchaus hier bleiben. Wie ist es Dir denn ergangen in Deiner neuen Stellung bei dem Doktor Gersdorf?“
„O serr gut!“ versicherte Said; „aber ich nicht bleibe dort, ich gehe fort, schon in wenig Wochen.“
„So? Wohin denn?“ fragte Djelma, der das Deutsche jetzt in der That ganz fließend sprach, mit offenbarer Neugierde.
„Nach Oberstein! Ich“ – der Neger machte eine sehr bedeutende Kunstpause, sah erst Djelma, dann Gronau an und vollendete endlich mit ungeheurem Selbstbewußtsein:
„Ich verheirathe mich!“
„Du Unglücksmensch, wie kommst Du denn dazu?“ fuhr Gronau auf. „Und wo in aller Welt hast Du denn hier eine schwarze Landsmännin aufgetrieben?“
„Meine Braut ist ganz weiß und serr, serr hübsch,“ erklärte Said mit höchster Genugthuung. „Sie ist die Wärterin des kleinen Bertie, sie liebt mich serr, und Missis Gersdorf sagt, wir uns müßten heirathen unter allen Umständen.“
„Natürlich, in dem Hause, wo die Frau regiert, muß alles heirathen!“ brummte Veit. „Was willst Du denn aber mit Deiner künftigen, Dich so serr liebenden Gemahlin in dem Nest von Oberstein anfangen?“
„Oberstein jetzt ist Station!“ berichtigte Said mit Nachdruck. „Doktor Gersdorf hat mir verschafft die Pacht von dem neuen Gasthause, welches die Bahngesellschaft gebaut hat. Wir werden geben zu essen und zu trinken all den Fremden, welche kommen werden mit den Zügen, viele Hunderttausende.“
„Viele Hunderttausende!“ spottete Gronau. „Das scheint so ein recht ausgedehnter Geschäftsbetrieb zu werden. Du hättest gleich heute damit anfangen können, denn die Herren vom Verwaltungsrath und die sonstigen Gäste, die mit dem Zuge kommen, werden doch alle essen und trinken wollen, und hier auf dem Bahnhof sehe ich noch gar keine Anstalten dazu.“
„Nein, Doktor Reinsfeld giebt droben in seiner Villa großes Diner all den Herrschaften,“ erklärte Said wichtig.
„Doktor Reinsfeld in seiner Villa? Großes Diner? Ja so“ – Veit lachte laut auf. „Ich bin doch neugierig, wie der gute Benno sich eigentlich als Millionär ausnimmt. Wahrscheinlich ist ihm das sehr unbequem, aber er wird sich wohl in das Unglück finden müssen, denn eine Million ist immer noch von dem riesigen Nordheimschen Vermögen übrig geblieben, wie mir Gersdorf schrieb.“
„Master Gronau, da kommt der Zug!“ rief Djelma, das Gespräch unterbrechend. Die ganze auf dem Bahnhofe harrende Menge gerieth in Bewegung, alles drängte heran und reckte die Hälse, um den ersten Zug zu sehen, der auf dem schmalen eisernen Wege aus der Tiefe emporstieg. Jetzt verschwand er in dem großen Tunnel unterhalb Oberstein; setzt kam er wieder zum Vorschein und glitt stolz und ruhig heran. Die bekränzte Lokomotive ließ ihre lange, weiße Rauchwolke wie eine Siegesfahne dahinwallen, jetzt erreichte sie die Schlucht, und nun donnerte die ganze Wagenreihe über die Brücke, empfangen von rauschender Musik, von jubelnden Hochrufen und Böllerschüssen, die rollend das Echo der Felsen ringsum weckten.
Auf dem Bahnhofe entleerte sich der Zug, aber es dauerte fast noch eine halbe Stunde, ehe man die Fahrt nach der Villa antrat. Zunächst wurde der Haupt- und Glanzpunkt der Bahn, die Wolkensteiner Brücke, die ein Theil der Gäste noch nicht kannte, eingehend besichtigt. Der kühne Riesenbau war wieder auferstanden aus der Vernichtung; stolz und mächtig wie einst schwang er sich von Fels zu Fels, unter ihm in schwindelnder Tiefe brauste die Ache in ihrer alten Wildheit, und hoch über ihm hob der Wolkenstein sein Haupt empor, das auch heut eine leichte Nebelkappe trug. Aber auf dem Abhange, wo einst der Bannwald gestanden hatte, erhob sich jetzt ein breites, festgefügtes Mauerwerk, ein sicherer Schatz gegen eine mögliche Wiederholung des Lawinensturzes.
Der Chefingenieur mit seiner jungen Gattin am Arme machte den Führer bei der Besichtigung. Er war selbstverständlich der Held des heutigen Tages, den man von allen Seiten mit Glückwünschen und Ausdrücken der Bewunderung überhäufte. Er nahm sie ohne jede Ueberhebung, mit ruhigem Ernste hin.
Erna dagegen strahlte vor Glück und freudigem Stolze, ihre Augen leuchtetet auf bei jedem Glückwunsche, jedem Wort der Bewunderung, das ihrem Manne galt, der wie sie selbst von allen Seiten umdrängt und in Anspruch genommen wurde. Jeder geizte danach, mit der schönen Gemahlin des Chefingenieurs wenigstens einige Worte zu sprechen, für jeden mußte sie eine freundliche Erwiderung, eine Aufmerksamkeit haben.
Allerdings mußten die beiden die Repräsentation allein übernehmen, denn Doktor Reinsfeld, der als Gemahl der Erbin des verstorbenen Präsidenten die zweite Hauptrolle zu spielen hatte, kam dieser Pflicht nur sehr unvollkommen nach. Er trug nicht mehr das berühmte altmodische Staatskleid und die safrangelben Handschuhe, in denen er die Bekanntschaft seiner jetzigen Frau gemacht hatte. Sein Gesellschaftsanzug war völlig tadellos, aber man sah es ihm doch an, daß er den heutigen Tag als eine schwere Aufgabe betrachtete. Er beschränkte sich auf Verbeugungen und vielfache Händedrücke und hielt sich möglichst im Hintergrunde, als ein hageres, sonnenverbranntes Gesicht vor ihm auftauchte und eine bekannte Stimme fragte:
„Habe ich noch die Ehre, von dem Herrn Doktor Reinsfeld gekannt zu sein?“
„Veit Gronau!“ rief der Doktor, froh überrascht, indem er ihm die Hand hinstreckte. „Also haben Sie unsere Einladung doch noch rechtzeitig erhalten! Aber warum meldeten Sie sich nicht früher und machten die Fahrt mit?“
„Ich bin über Heilborn gekommen“ versetzte Gronau, „und da war gerade noch Zeit, den Empfang hier in Oberstein mitzumachen. Meinen Glückwunsch zu dem heutigen Tage, Benno, an dem Sie so auch so nahe betheiligt sind.“
[857]
„Ja, leider – mit einem Diner für achtzig Personen!“ seufzte Benno. „Wolfgang meinte, es sei schicklich und unumgänglich, daß ich heute den Wirth mache, und wenn Wolf sich etwas in den Kopf gesetzt hat, muß man es schlechterdings thun.“
„In diesem Falle hat der Chefingenieur aber recht,“ sagte Gronau lachend. „Sie können als Hauptaktionär und erstes Mitglied des Verwaltungsrathes schon ein Uebriges thun bei der Eröffnungsfeier.“ „Wenn ich nur nicht überall dabei sein und mit aller Welt reden müßte!“ klagte der arme Doktor und nunmehrige Millionär in beweglichem Tone. „Denken Sie nur, sogar die Tischrede sollte ich halten, dagegen habe ich mich aber gewehrt mit Händen und Füßen. Wolfgang hat die Bahn gebaut, also kann er auch das Reden besorgen. Er hat zwar heute morgen schon gesprochen, vor der Abfahrt, als er die Bahn dem Verkehr übergab, und er sprach genial, hinreißend, wir waren alle entzückt und am meisten seine eigene Frau. Sie sieht heut blendend schön aus, nicht wahr?“
Veit nickte stumm und sein Gesicht verdüsterte sich, während sein Auge zu der jungen Frau hinüberflog. Diese Schönheit war es ja gewesen, die einen anderen in den Tod gejagt hatte, Ernst Waltenberg hätte seine Seligkeit hingegeben für einen Blick, wie Erna ihn eben ihrem Gatten zusandte. Die Erinnerung wollte freilich nicht in den Festjubel passen und Gronau verscheuchte sie auch rasch, indem er sich nach Frau Doktor Reinsfeld erkundigte.
„O, meine Alice blüht wie eine Rose und nun vollends unsere Kleine!“ Bennos ganzes Gesicht verklärte sich, als er von seiner Frau und seinem Kinde sprach. „Sie wissen doch –?“
„Daß Frau Alice Ihnen ein Kleines geschenkt hat – ja, das weiß ich, Sie schrieben es mir ja, und nun wird die ärztliche Praxis vermuthlich nur noch in der Familie ausgeübt.“ „Im Gegentheil, ich habe mehr Patienten als je,“ erklärte der Doktor seelenvergnügt. „Wenn wir im Sommer hier sind, gehe ich natürlich nach wie vor zu allen Kranken meines ehemaligen Bezirkes, und da ich bei den Aermeren jetzt meine Verordnungen auch mit den nöthigen Mitteln unterstützen kann –“
„So nutzen die biederen Wolkensteiner Sie gehörig aus!“ fiel Gronau ein. „Das kann ich mir denken! Ein Doktor, der ihnen nichts kostet und noch obendrein die Kurkosten bezahlt, das ist ein Mann nach ihrem Herzen. Sie machen sich vermuthlich jetzt öfter das Vergnügen, krank zu werden, da es so billig ist. – Aber nun will ich Sie Ihren gesellschaftlichen Pflichten nicht länger entziehen, Benno, wir können ja später plaudern.“
Er wollte zurücktreten, aber Benno hielt ihn schleunigst am Rockschoße fest.
„So bleiben Sie doch! Wenn ich mit Ihnen rede, kann ich so hübsch hier in der Ecke bleiben und brauche keine Komplimente zu machen. Wir haben ja alle möglichen Kapazitäten eingeladen, Minister und Provinzialbehörden, Abgeordnete und Bürgermeister und einen ganzen Stab von Journalisten, und mit all den geistreichen und vornehmen Herrschaften soll ich sprechen und womöglich auch geistreich sein – es ist fürchterlich!“
Gronau lachte und blieb, aber die Zurückgezogenheit sollte dem Doktor nicht lange gegönnt werden, denn jetzt trat Gersdorf, der als juristischer Vertreter der Bahngesellschaft gleichfalls an der Eröffnungsfeier theilnahm, mit seiner Frau heran. Die letztere schien ihren Grundsatz, dem armen Manne seine Dienstreisen durch ihre Gegenwart erträglicher zu machen, konsequent festzuhalten, aber sie hatte, mit Rücksicht auf ihre jetzige Stellung als Gattin und Mutter, eine gewisse feierliche Würde angenommen, die einen höchst ergötzlichen Kontrast zu ihrer quecksilbernen Natur bildete, welche bei jeder Gelegenheit durchbrach.
„Stehen Sie schon wieder hier in der Ecke, Benno!“ sagte sie vorwurfsvoll. „Soeben hat der Minister nach Ihnen gefragt, Sie werden ihn aufsuchen müssen.“
„Um Gotteswillen, laßt mich doch mit der Exzellenz in Ruhe!“ rief Reinsfeld verzweiflungsvoll. „Was habe ich denn eigentlich mit der ganzen Geschichte zu thun? Das ist Wolfgangs Sache.“
„Ja, das hilft Dir nichts, Benno, Du mußt aufmerksam gegen Deine Gäste sein, komm nur mit,“ sagte der Rechtsanwalt, indem er seinen Vetter beim Arm ergriff und fortzog; Frau Doktor Gersdorf aber blieb zurück und stellte sich dicht vor Gronau hin, der in dunkler Ahnung des Kommenden sich nach irgend einer Gelegenheit zum Rückzuge umsah.
„Also Sie sind noch immer unverheiratet, Herr Gronau?“ fragte sie mit strafender Miene.
„Ja, noch immer, gnädige Frau,“ gab Veit kleinlaut zu.
„Das ist unverantwortlich! Warum sind Sie damals so schnell abgereist? Ich hatte eine Lebensgefährtin für Sie in Vorschlag, eine sehr reiselustige Dame, die auch mit nach Indien gegangen wäre. Jetzt ist sie leider verheiratet.“
„Gott sei Dank!“ seufzte Gronau aus Herzensgrunde.
„Dem Said habe ich auch zu seinem Glücke verholfen, trotz seiner schwarzen Farbe,“ fuhr die junge Frau fort. – „Wo ist denn Djelma geblieben? Ich sah ihn doch vorhin an Ihrer Seite.“
„Djelma ist erst achtzehn Jahr, gnädige Frau, der kann noch nicht heirathen!“ erklärte Gronau, der für seinen Schützling das gleiche Schicksal heranziehen sah, mit großer Entschiedenheit. Wally schien das auch einzusehen und wurde jetzt glücklicherweise von einigen Bekannten in Anspruch genommen.
„Gott bewahre uns in Gnaden!“ murmelte Veit entsetzt. „Ich glaube, die Frau schont nicht einmal die Kinder in der Wiege mit ihren Heirathsplänen!“
Elmhorst gab jetzt das Zeichen zum Aufbruch, man bestieg die bereitstehenden Wagen und begab sich nach der Nordheimschen Villa, wo Alice, welche die Eröffnungsfahrt nicht mitgemacht hatte, die Gäste empfing. Sie war noch immer eine zarte Erscheinung, wenn auch jetzt zu vollster Gesundheit erblüht; aber eine gewisse mädchenhafte Schüchternheit war auch der jungen Frau geblieben und machte sie nur um so anmuthiger. Die eigentliche Würde und Vornehmheit des Hauses wurde durch Frau von Lasberg vertreten, die ihrer ehemaligen Pflegebefohlenen auch jetzt zur Seite stand. Sie hatte die sämmtlichen Anordnungen für das Fest übernommen und unter ihrer Leitung wurde denn auch der Ruf des früher Nordheimschen und nunmehr Reinsfeldschen Hauses glänzend gewahrt. Das Festmahl verlief in aller Pracht und Feierlichkeit, die zündende Rede des Chefingenieurs wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen, man toastete auf das Gedeihen der Bahn, auf deren Erbauer, selbstverständlich auch auf den Festgeber und dessen Gemahlin. Benno mußte schließlich doch noch eine Dankesrede halten und mit einem Toast auf die Gäste antworten. Natürlich blieb er in der Mitte stecken, aber Wolfgang kam ihm zu Hilfe, indem er, gerade im kritischen Augenblick, der Musik ein Zeichen gab, einzufallen. In dem rauschenden Tusch und dem allgemeinen Hochrufen ging der Zwischenfall denn auch glücklich unter.
Nach Verlauf von einigen Stunden brach die Gesellschaft wieder auf, um unter Führung Elmhorsts bis zum Endpunkte der Bahn zu fahren, von wo sie abends ein zweiter Zug zurückbringen sollte. Benno aber erklärte, er habe heut das Möglichste [858] geleistet und wolle nun endlich bei seiner Frau bleiben. Er stand mit Gersdorf und Wally, die gleichfalls zurückgeblieben waren, noch im Salon, als an der Hand eines hübschen blonden Mädchens, der so serr geliebten Braut Saids, der junge Herr Gersdorf erschien, der während der Eisenbahnfahrt unter dem Schutze von Alice geblieben war. Ihnen folgte Greif, der offenbar übler Laune war, weil seine Herrin ihn nicht mitgenommen hatte, und der sich, ohne von den Anwesenden weiter Notiz zu nehmen, draußen auf der Galerie niederlegte.
Albert der Kleine glich durchaus nicht seinem ernsten, ruhigen Vater. Er hatte das rosige Gesicht und die dunklen Augen der Mutter und über seiner Stirn kräuselten sich ebenso eigenwillig die schwarzen Ringellöckchen.
Frau Wally nahm ihren Sohn auf den Arm, aber der junge Herr drängte sofort wieder nach dem Boden, um sich der zur Galerie führenden Thür zu nähern.
„Gott sei Dank, daß die Geschichte vorüber ist!“ sagte Benno jetzt vergnügt. „Es hätte beinahe noch zuletzt ein Unglück gegeben, als ich in der Rede stecken blieb, aber Wolf half mir aus der Noth und ließ Tusch blasen – jetzt haben wir endlich Ruhe!“
Frau von Lasberg, die gleichfalls anwesend war und heute einen Tag des Triumphes gefeiert hatte, schüttelte bei diesem Stoßseufzer mit feierlichem Unwillen das Haupt.
„Mir scheint, Herr Doktor, Sie tragen Ihrer Stellung doch zu wenig Rechnung,“ bemerkte sie zurechtweisend. „Sie legt Ihnen zweifellos Pflichten auf in Bezug auf die Repräsentation, und seinen Pflichten sollte sich niemand entziehen. Ich hoffe, Sie sehen das ein, Herr Doktor.“
Der Herr Doktor sah das nun zwar nicht ein, aber er machte der majestätisch zur Thür hinausrauschenden Dame eine tiefe Verbeugung, Wally lachte laut auf.
„Da sitzt nun der Herr des Hauses und läßt sich von der gestrengen Frau Oberhofmeisterin den Text lesen! Sie hat Euch beide vollständig unter ihrem Scepter, ich glaube, Benno, Sie fürchten sich noch immer vor ihr.“
„Im Gegentheil,“ protestirte Reinsfeld. „Die Baronin ist ein wahrer Schatz für uns. Sie hat eine förmliche Leidenschaft für das Repräsentiren, sie besorgt das immer ganz allein und da können Alice und ich um so ungestörter –“
„In der Kinderstube sitzen,“ ergänzte Wally. „Das ist allerdings Eure Hauptbeschäftigung.“
„Ja, ich muß wirklich nach Alice und der Kleinen sehen,“ erklärte Benno, der schon lebhafte Zeichen von Unruhe gab. „Entschuldigt mich nur einen Augenblick, ich komme gleich zurück.“
Damit verschwand er und Frau Doktor Gersdorf sah ihm mit einem mitleidigen Achselzucken nach.
„Vor einer halben Stunde kommt er nicht wieder! Ich habe nie einen Vater gesehen, der so vernarrt in sein Kind ist wie Benno. Ich weiß mich frei von dieser Schwäche, ich beurtheile die Vorzüge wie die Fehler meines Sohnes in rein objektiver Weise. Allerdings muß ich zugeben, daß Bertie ein ungewöhnlich begabtes Kind ist, daß er schon jetzt Charaktereigenschaften zeigt, die man nur bewundern kann. Ich zweifle auch durchaus nicht, daß etwas ganz Bedeutendes aus ihm werden wird, und daß seine Zukunft –“
Die rein objektive Beurtheilung wurde hier unterbrochen, und zwar durch den jungen Herrn Gersdorf selbst, der sich unbemerkt auf die Galerie geschlichen hatte und nun triumphirend auf Greif angeritten kam. Er saß fest auf seinem „Pferdchen“ und hielt sich mit den kleinen Händen an dem zottigen Fell des Hundes. Greif schien zwar einigermaßen entrüstet über die ihm angesonnene Rolle, fand sich aber darein und trug den Reiter. Wally wollte entsetzt dazwischen fahren. „Er wird sich wieder wie das letzte Mal eine Beule holen,“ jammerte sie, aber ihr Mann hielt sie zurück und sagte lachend:
„Laß den Jungen! Er ist konsequent und setzt seinen Willen durch, auch wenn es Beulen dabei giebt, und da hat er recht!“
Benno stand richtig in der Kinderstube vor der Wiege seines Töchterchens und schaute dies und die junge Mutter, die daneben saß, mit ganz verklärten Blicken an. Dann sah er sich schüchtern und vorsichtig um und brachte endlich ein Sträußchen von Alpenrosen zum Vorschein.
„Es ist Johannisabend, Alice,“ sagte er leise. „Da muß ich Dir doch das gewohnte Sträußchen bringen.“
„Hast Da das wirklich nicht vergessen in dem Strudel des heutigen Tages?“ fragte die junge Frau lächelnd.
„Eine Glücksprophezeiung vergißt man nicht, am wenigsten, wenn sie sich erfüllt hat!“ Er bot ihr das Sträußchen.
„Weis meine Blümel’n
Nimmer zurück.
Johannissegen
Bracht’ uns das Glück!“ –
Es war bereits Abend geworden, als der Zug mit den Festtheilnehmern wieder die Station Oberstein passirte, wo er diesmal nur einen kurzen Aufenthalt nahm, um dann nach dem Ausgangspunkte der Bahn zurückzukehren. Nur der Chefingenieur und seine Gattin, die Gäste in der Reinsfeldschen Villa waren, und Gronau, der mit Djelma einige Tage in Oberstein bleiben wollte, waren auf dem Bahnhofe ausgestiegen, wo sie sich trennten.
„Ich habe den Wagen abbestellt,“ sagte Wolfgang, indem er den Arm seiner Frau nahm. „Ich denke, wir gehen zu Fuß, der Abend ist herrlich, und es ist unser erstes Alleinsein an dem heutigen Tage. Wir waren ja vom Morgen bis zum Abend unaufhörlich in Anspruch genommen.“
„Und es war doch ein Tag stolzen, langersehnten Glückes!“ entgegnete Erna, sich fest an seinen Arm schmiegend. „Aber Du warst so ernst, Wolfgang, mitten in all den Triumphen und Huldigungen – und Du bist es noch!“
Er lächelte, aber der Ernst klang noch in seiner Stimme, als er erwiderte: „Ich dachte daran, wie schwer dieser Triumph erkauft werden mußte. Das wissen nur wir beide allein! Du warst ja meine einzige Vertraute, meine einzige Zuflucht, bei der ich mir Muth und Kraft holte, wenn man mich mit Intriguen und Kleinlichkeiten bis aufs äußerste trieb. Wärst Du nicht an meiner Seite gewesen – ich hätte vielleicht nicht Stand gehalten.“
„Ja, es war das Schwerste, was einer Natur wie der Deinigen auferlegt werden konnte, sich überall gehemmt und gehindert zu sehen, und Du hast dennoch den Kampf siegreich durchgeführt bis an das Ende.“
„Aber Benno hat mir redlich dabei geholfen! Sobald Alice erst seine Frau war, sobald er sie auch gesetzlich vertreten konnte, legte er mit unbedingtem Vertrauen alles in meine Hände – ich werde ihm das nie vergessen.“
„Er dankt Dir aber noch mehr als Du ihm!“ warf Erna ein. „Benno mit seiner Geschäftsunkenntniß hätte sicher nichts gerettet aus jener Katastrophe, die das Vermögen meines Onkels so schwer traf. Das erforderte eine starke Hand wie die Deinige. Es ist Dein Werk allein, wenn Alice und Benno sich noch zu den Reichen zählen können.“
„Sie machen sich aber sehr wenig daraus,“ sagte Wolfgang halb scherzend. „Sie würden auch in einer Hütte zufrieden und glücklich sein.“
In diesem Augenblicke verließ der Zug den Bahnhof, die erleuchtete Wagenreihe donnerte wieder über die Brücke und wand sich dann wie eine glühende Schlangenlinie dahin, bis sie in der Mündung des Tunnels verschwand. Durch die Abendstille klang deutlich der Pfiff der Lokomotive und das Echo der Felswände gab ihn leise verhallend zurück. Wolfgang war stehen geblieben, und während sein Auge dem verschwindenden Zuge folgte, hob ein stolzer, freudiger Athemzug seine Brust.
„Jetzt ist sie besiegt, die alte Unheilsmacht da oben! Sie hat mir den Sieg schwer genug gemacht; aber ich zwang sie doch! Sieh nur, Erna, da weichen die letzten Nebel von dem Wolkensitze Deiner Alpenfee, sie scheint sich immer nur in der Sonnwendnacht zu entschleiern.“
Ueber Ernas eben noch so strahlendes Antlitz legte sich ein Schatten, und in dem Blick, mit dem sie zu dem Wolkenstein aufsah, glänzte eine Thräne, während sie leise erwiderte:
„Es hat sie noch ein anderer bezwungen – aber er mußte mit seinem Leben dafür büßen!“
„Für ein tollkühnes, zweckloses Unternehmen, das keinem nützte!“ Elmhorsts Stimme hatte einen herben Klang. „Er hat den Tod so herausgefordert, er fand nur, was er suchte. Kannst Du denn diesen Ernst noch nicht vergessen? Noch immer nicht?“
Sie schüttelte verneinend das Haupt.
„Sei nicht ungerecht, Wolf, und nicht eifersüchtig auf den Todten. Da weißt es so doch am besten, bei wem meine Liebe von Anfang an gewesen ist. Aber Du mit Deinem energischen Thatendrange, [859] mit Deinem Ringen und Streben auf dem festen Boden der Wirklichkeit konntest eine Natur wie die Ernsts nicht verstehen.“
„Möglich, wir waren von jeher zu schroffe Gegensätze, um gegen einander gerecht zu sein. Doch heute nichts mehr von dieser Erinnerung, Erna, heute gehört all Dein Denken und Fühlen nur mir allein! Die erste steile Höhe ist ja nun erstiegen, mit der Vollendung der Wolkensteiner Bahn ist mein Ruf und meine Zukunft fest begründet – aber leicht war der Weg wahrlich nicht.“
„Und er war doch schön, trotz Klippen und Abgründen!“ sagte Erna mit leuchtenden Augen. „Hatte ich nicht damals recht, Wolf? Es ist so schön, emporzusteigen aus der Tiefe; mit jedem Schritt, den man vorwärts thut, mit jedem Hinderniß, das man überwindet, die eigene Kraft wachsen zu sehen und endlich droben zu stehen auf der freien Höhe, im Gefühl des selbsterrungenen Sieges, wie Du jetzt dastehst!“
„Und mein Weib zur Seite!“ ergänzte Wolfgang mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. „Du tratest ja damals zu mir in der dunkelsten Stunde meines Lebens, als alles um mich wankte und stürzte, und mit Dir kam mir das verlorene Glück wieder. Jetzt halte ich es fest, und nun mag es weiter aufwärts gehen – zu neuen Zielen!“ –
Langsam sank die Nacht nieder, die alte, heilige Mittsommernacht mit ihrem Geisterweben. Heute war sie nicht erfüllt von träumerischem Mondesglanze, aber ein klarer, funkelnder Sternenhimmel breitete sich darüber aus, und nun begann es auch hier und dort an den Bergen aufzuglühen wie leuchtende Sterne – die Sonnwendfeuer, die überall emporflammten, und das größte und mächtigste loderte wie damals am Abhange des Wolkenstein. Sie grüßten das Reich der Alpenfee, das bezwungene Reich, in dem der Menschengeist sich nun doch Bahn gebrochen hatte, trotz aller Schrecken der Vernichtung, in dem er endlich doch Sieger geblieben war gegen die blinde Wuth der Elemente. Das große Riesenwerk war vollbracht. Neu geschaffen und fest gesichert stieg der eiserne Weg aus der Tiefe empor, mächtig schwang sich die Brücke über die Felsenschlucht und entschleiert blickte der Wolkenstein darauf nieder. Ein großes leuchtendes Sternbild stand über seinem Gipfel, über dem Haupte der Alpenfee.
Geschenkwerke für den Familientisch. Wenn auch die alte Klage über die Unlust der Deutschen, Bücher zu kaufen, im allgemeinen immerhin noch berechtigt sein mag, bei festlichen Gelegenheiten gilt jedenfalls ein werthvolles Buch als ebenso passendes wie schönes Geschenk, und namentlich zur Weihnachtszeit ist die Sorge vieler darauf gerichtet, den Festtisch mit dem einen oder andern guten Buche zu schmücken. Da aber die Wahl oft recht schwer ist, wollen wir, wie in früheren Jahren, so auch jetzt wieder, eine kleine Anzahl von Geschenkwerken für den Familientisch namhaft machen, um denen, welche in der „Gartenlaube“ Rath suchen, die Auswahl zu erleichtern.
Außer den von uns bereits an anderer Stelle empfohlenen Prachtwerken möchten wir nur noch einige wenige nennen. Den Freunden der bekannten Hendschelschen Skizzen wird die Nachricht willkommen sein, daß ein neuer, dritter Band „Aus A. Hendschels Skizzenbuch“ (Verlag von M. Hendschel in Frankfurt am Main) erschienen ist. Einer besonderen Empfehlung bedürfen diese Skizzen nicht mehr; sie haben sich ein Heimathsrecht in jeder kunstliebenden deutschen Familie erworben, und der dritte Band ist nicht weniger werthvoll als seine beiden Vorgänger. – „Die neue Spitzweg-Mappe“ (München, Braun und Schneider) enthält Kupferdruckreproduktionen von zwölf hervorragenden Gemälden des Meisters und bildet eine Fortsetzung der im vorigen Jahre in demselben Verlage erschienenen „Spitzweg-Mappe“, ist aber handlicher und billiger als diese. Sie wird hoffentlich dazu beitragen, den so stimmungsvollen Schöpfungen des zeitlebens allzu bescheidenen Meisters auch in weiteren Kreisen Anerkennung zu verschaffen – Edwin Bormann legt zwei Ausgaben seines „Liederhorts“ (Selbstverlag) auf den Weihnachtstisch, eine illustrirte Prachtausgabe und eine Textausgabe. Bormanns Poesien sind in seiner engeren Heimath, Sachsen, längst geschätzt; die vorliegende Prachtausgabe seines „Liederhorts“ mit ihrem reichen Bilderschmuck von Fedor Flinzer, Karl Gehrts, Erdmann Wagner und anderen namhaften Künstlern scheint ganz dazu angethan, seine Popularität in Nah und Fern zu erhöhen. – An die schweren weltgeschichtlichen Ereignisse des verflossenen Jahres gemahnt uns das Prachtwerk „Kaiser Wilhelm und seine Zeit“ von Professor Dr. Bernhard von Kugler (München 1888, Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vormals Friedrich Bruckmann). Wer an der Hand dieser Blätter das Leben Kaiser Wilhelms von seiner frühesten Jugend bis ins hohe Alter verfolgt, wird aufs neue überzeugend erkennen, welch eine außerordentliche und beispiellos erfolgreiche Laufbahn im März dieses Jahres mit dem Tode des greisen edlen Monarchen ihren Abschluß gefunden hat. Das umfangreiche Werk trägt die Berechtigung zu einem Hausbuche ebenso in seiner lebensvollen historisch treuen Darstellung wie in seinem reichen Illustrationsschmucke.
Nicht vergessen dürfen wir, hier ein kleineres Werk zu erwähnen, welches ebenfalls das Leben des entschlafenen Kaisers behandelt: Ernst Scherenbergs Gedenkbuch für das deutsche Volk: „Kaiser Wilhelm I.“ (Leipzig, Ernst Keils Nachfolger), aus dem wir Mitte dieses Jahres einzelne Abschnitte in der „Gartenlaube“ zum Abdruck brachten. Wem das Kuglersche Prachtwerk zu kostspielig ist, der findet in Scherenbergs trefflichem Gedenkbuch um geringen Preis einen werthvollen Ersatz.
Mit besonderer Freude haben wir ein Buch begrüßt, welches uns Aufzeichnungen aus dem Leben einer unvergeßlichen deutschen Frau bringt. Wer kennt nicht den Namen Ottilie Wildermuth, wer nicht ihre gemüthvollen Erzählungen für Jung und Alt! Die Schriften von Ottilie Wildermuth gehören ohne Zweifel noch heute zu dem Allerbesten, was für die deutsche Familie und die Kinderwelt geschrieben ist; aus dem Leben der Schriftstellerin aber war nur wenig bekannt. Und doch, wie sehr verdient auch dieses die Beachtung jeder deutschen Frau! Es bietet keine spannenden Ereignisse und ungewöhnlichen Begebenheiten; aber es entrollt die einfache, schlichte Geschichte einer edeln Frau und gerade darin liegt sein Werth. Wer sehen will, wie die Erzählerin, die in ihren Schriften so gemüthvoll und eindringlich der Frauenwelt die Erfüllung ihres Berufes ans Herz legt, im eigenen Leben ihre Ideale bethätigte, der wird in dem Buche („Ottilie Wildermuths Leben“. Nach ihren eigenen Aufzeichnungen zusammengestellt und ergänzt von ihren Töchtern Agnes Willms und Adelheid Wildermuth. Stuttgart, Verlag von Gebrüder Kröner) des Erfreuenden und Erquickenden unendlich viel finden.
„Das erste Jahr im neuen Haushalt“, eine Geschichte in Briefen von R. Artaria (ebenda), ist unseren Lesern durch die Veröffentlichung in der „Gartenlaube“ bekannt. Viele Wünsche veranlaßten die Herausgabe der bedeutend vermehrten Briefe in Buchform und der jetzt vorliegende elegante Band ist eines der reizendsten Geschenke für den Festtisch. Wer einer Braut oder einer jungen Frau zu bescheren hat, wird eine passendere Wahl nicht treffen können. – Ebenfalls an die Frauenwelt wenden sich das Gedenkbuch „Von Tag zu Tag“ von Richard Schwinger (Stuttgart, Friedr. Frommanns Verlag), das Perlen deutscher Dichtung enthält und zugleich leere Blätter zur Führung eines Tagebuches bietet, und „Sang und Klang“ (Leipzig, Fr. W. Grunow), ein Hausschatz deutscher Lyrik, von kundiger Hand zusammengestellt und geschmackvoll ausgestattet.
Ueberaus reichhaltig in die Auswahl erzählender Schriften, welche der Verlag von Ernst Keils Nachfolger in Leipzig darbietet. Wir erwähnen zunächst die illustrirte Ausgabe von E. Marlitts gesammelten Romanen und Novellen, von welcher jetzt zwei Bände vorliegen. Der erste bringt „Das Geheimniß der alten Mamsell“, der zweite „Das Heideprinzeßchen“. Hunderttausende von Lesern haben sich an E. Marlitts Romanen erfreut und diese üben auch heute noch ihre unverminderte Anziehungskraft, wenn auch der liebenswürdigen Erzählerin die Feder durch den Tod für immer entwunden ist. Ihr letzter, als Bruchstück hinterlassener Roman „Das Eulenhaus“, vollendet von W. Heimburg, liegt setzt ebenfalls in eleganter Buchausgabe vor. – Sieben Novellen von W. Heimburg (Am Abgrund – Unsere Hausglocke – Unser Männe – Jascha – In der Webergasse – Großmütterchen – Aus meinen vier Pfählen) tragen den Sammeltitel „Unter der Linde“. In vorzüglicher Geschenkausstattung erschienen auch Fanny Lewalds „Josias“ und Johannes Proelß’ anmuthiger Novellenkranz „In der Schutzhütte“. Den Lesern der „Gartenlaube“ ganz neu ist dagegen der dreibändige Roman „Das Loggbuch des Kapitäns Eisenfinger“ von Balduin Möllhausen, ein spannender, groß angelegter Roman, den kaum jemand ohne innerste Befriedigung aus der Hand legen wird.Weihnachtsbüchertisch für die Jugend. Die ungleichmäßige geistige Entwickelung der Kinder läßt es oft schwer erscheinen, bei jedem Buche eine genaue Grenze des Alters anzugeben, für welches es in erster Linie passend ist. Wenn wir trotzdem wieder eine Eintheilung der Weihnachtsbücher nach den Altersstufen geben, so geschieht dies deshalb, weil eine annähernde Bestimmung, bei welchem Alter hinreichendes Verständniß für das eine oder andere Buch vorauszusetzen immerhin möglich ist und weil wir nur eine kleine Zahl von wirklich guten Schriften anführen, denen sich das mehr oder minder entwickelte kindliche Verständniß sicher anschmiegen dürfte. Bei dem knapp bemessenen Raume, der uns diesmal zu Gebote steht, müssen wir von eingehenderen Besprechungen absehen.
Den Kleinsten im Alter von 5 bis 7 Jahren, bietet der Weihnachtsmann eine Reihe von Bilderbüchern, deren schöne künstlerische Ausführung nichts zu wünschen übrig läßt und bei denen auch auf die Texte alle Sorgfalt verwandt ist. „Wenn der Frühling blüht“, mit stimmungsvollen Bildern von H. M. Bennett und Gedichten von Fanny Stockhausen (München, Th. Stroefers Verlag) und „Augenweid und Herzensfreud“ von L. Mack und Emil Wolff (ebenda) werden das Entzücken aller Kleinen bilden und ohne Zweifel auch den erwachsenen Familiengliedern Freude machet. Einen belehrend unterhaltenden Zweck verfolgt das Bilderbuch „Unterricht im Thierreiche für unsere Kleinen“ von Anna Lieboldt und Hans W. Schmidt (Leipzig, E. Twietmeyer), ein echtes Kinderbuch, das namentlich in der Hand der Mutter für die Erweiterung des kindlichen Anschauungskreises ersprießlich werdet kann. V. P. Mohn, der bekannte Berliner Künstler, und G. Chr. Dieffenbach legen „Nesthäkchens Zeitvertreib“ (Bremen, M. Heinsius) auf den Festtisch, und ein Buch, das durch diese beiden bewährten Kinderfreunde eingeführt ist, empfiehlt sich dadurch am besten. Warme Anerkennung verdient auch der „Zeitvertreib für die ganz Kleinen“ (Dresden , C. C. Meinhold und Söhne), welchen E. Limmer [860] mit 45 farbigen Originalzeichnungen geschmückt hat. Eines der besten Bilderwerke aber, von Frida Schanz, mit Bildern von C. Colin, führt den Titel „Kleine Leute von sonst und heute“ (Stuttgart, Gebrüder Kröner). Bilder und Gedichte athmen liebenswürdigen, echten Humor und in den Prosageschichten weiß die Verfasserin vorzüglich den Ton zu treffen, den Kinder verstehen und lieben.
An Knaben und Mädchen im Alter von 7 bis 10 Jahren wendet sich eine neue Jugendschrift von Dietrich Theden: „Laßt Euch erzählen!“ (Leipzig, E. Twietmeyer). Das in geschmackvollster Ausstattung vorliegende Buch enthält Märchen und schlichte Erzählungen aus dem Leben, bestimmt und trefflich geeignet, die empfängliche Seele des Kindes mit der Poesie der Natur vertraut zu machen und sein Herzens- und Gemüthsleben zu wecken und zu bilden. Den reichen Bilderschmuck in Schwarz- und Buntdruck lieferten Hermann Vogel, R. Püttner u. a.
Die „Plauderstündchen“, eine Festgabe zur Unterhaltung und Belehrung, herausgegeben von Helene Binder (München, Th. Stroesers Kunstverlag), sind ein empfehlenswerthes Sammelwerk für Knaben und Mädchen von 8 bis 12 Jahren, während die unter dem Titel „Aus bewegter Jugendzeit“ (ebenda) vereinigten 6 Erzählungen von Auguste Meixner vorzugsweise für Mädchen dieses Alters in Frage kommen. Manche der Bilder in den „Plauderstündchen“ können zwar ihre englische Herkunft nicht verleugnen, doch sind sie hübsch und dürften namentlich durch ihren Farbenreichthum den Kindern außerordentlich zusagen. – „101 neue Fabeln“, mit über 80 künstlerisch schönen Illustrationen von Fedor Flinzer, sind von Frida Schanz im Verlage von Ambr. Abel in Leipzig herausgegeben worden. Sie werden sich bald einbürgern.
Für die reifere Jugend empfehlen wir in erster Linie ein vortreffliches Jugendbuch unseres altgeschätzten Mitarbeiters Victor Blüthgen: „Der Weg zum Glück“, mit sechs Bildern in Farbendruck von Fritz Bergen (Stuttgart, Gebrüder Kröner). Die fünf meisterhaften Erzählungen dieses Buches entsprechen auch den höchsten Anforderungen und verbinden mit spannendster Handlung wahrhaft sittliche Grundgedanken, deren Wirkung um so sicherer ist, als sie überall als selbstverständlich erscheinen, nirgends aber sich aufdrängen. – Von Erzählungen historischen Inhalts sind Oskar Höckers „Im Rock des Königs“, illustrirt von A. von Roeßler (Leipzig, Ferdinand Hirt und Sohn), „Die Erben von Scharfeneck“, Bilder aus der Zeit der Königin Luise, für das reifere Mädchenalter, von Brigitte Augusti (ebenda), „Ein Mann, ein Wort“, eine Geschichte aus der Zeit der Kreuzzüge von E. Wuttke-Biller (Leipzig, Ambr. Abel) und „Die Befreiung Germaniens vom Römerjoche“ von Albert Kleinschmidt (Leipzig, Friedrich Brandstetter) werthvolle Bereicherungen der Jugendlitteratur, gegen welche zahlreiche andere geschichtliche Schriften merklich zurücktreten.
Als erfreuliche und für die reifere Jugend vortrefflich passende Novitäten vom Gebiete der Länder- und Völkerkunde müssen wir schließlich noch drei Schriften anführen, welche bald in den weitesten Kreisen heimisch sein werden: „Ein afrikanischer Lederstrumpf“ von C. Falkenhorst (Stuttgart, Gebrüder Kröner), „Sturmhaken“ von demselben (Leipzig, F. A. Brockhaus) und „König Salomos Schatzkammer“ von H. Rider Hagard, übersetzt von M. Strauß (München, Th. Stroeser). Wie Nordamerika in dem Cooperschen „Lederstrumpf“ einen beredten Anwalt bei der Jugend gefunden hat, so möchte C. Falkenhorst durch den „Afrikanischen Lederstrumpf“ einen Fürsprecher für den „dunkeln Welttheil“ schaffen, und mit dem vorliegenden ersten Bande des Lederstrumpf, „Weißbart-Weichherz“, ist es ihm in der That gelungen, das Interesse für seinen Gegenstand in hohem Maße anzuregen. Mit der Schilderung spannender Abenteuer verbindet er eine nicht vordringliche, aber verläßliche Belehrung und bringt so die Länder und Völker des noch so wenig bekannten Erdtheils dem Verständnis; und der Anschauung des jugendlichen Lesers näher. – Die Handlung seines „Sturmhaken“ hat der Verfasser nach jener zu Melanesien gehörigen Inselgruppe verlegt, welche seit 1884 deutsche Kolonie ist und vom deutschen Kaiser 1885 den Namen Bismarcks-Archipel erhalten hat. Auch in diesem Buche gehen Belehrung und Schilderung spannender Abenteuer Hand in Hand.
„König Salomos Schatzkammer“, im Innern Afrikas spielend, ist eine Uebertragung aus dem Englischen und wenn wir auch im allgemeinen Uebersetzungen nicht gerade mit Vorliebe betrachten, so nimmt doch dieses Buch eine Ausnahmestellung ein. Es klingt glaubhaft, daß die englisch- amerikanischen Ausgaben in kurzer Zeit in mehreren hunderttausend Exemplaren verbreitet wurden; die Jugend liebt Schilderungen ungewöhnlicher Abenteuer und solche bringt das Buch in reichem Maße, ohne daß die Phantasie des Erzählers allzu bedenkliche Purzelbäume schlägt.
Christbaumschmuck. Obwohl die Industrie in neuester Zeit auch für den Schmuck des Weihnachtsbaumes sorgt und den Markt mit dem schimmernden Tand überschüttet, bleibt doch in weitesten Kreisen das Bestreben erhalten, den Baum mit Werken eigener Hand zu schmücken. Die Vertreter und Vertreterinnen jener guten alten Sitte haben jetzt allerdings einen schwierigeren Stand, denn der fabrikmäßig hergestellte Schmuck zeichnet sich durch feine Arbeit und Mannigfaltigkeit aus. Es giebt aber ein Mittel, dem selbstgefertigten Behang des Baumes noch einen besonderen Werth zu verleihen, und dieses finden wir in einem kleinen Büchlein, das unter dem Titel „Der Schmuck unseres Weihnachtsbaumes“ von J. Bergmeister im Verlage der Leipziger Lehrmittelanstalt von Oskar Schneider erschienen ist. Wir erhalten in demselben eine Anleitung zur Anfertigung von hübschen Gegenständen aus Kartenpapier, welche sich nicht nur als Schmuck des Christbaumes, sondern auch zu kleinen sinnigen Geschenken eignen. Die Sterne dienen z. B. als Wickelsterne für Stickwolle oder Seide, ein Bauernhäuschen soll nach dem Christfest seinen Zweck als Schachtel zum Aufbewahren von Visitenkarten erfüllen, ein kleiner Ofen stellt eigentlich ein Feuerzeug mit Kerzchen dar; andere Modelle bieten uns Nadelkissen, Fingerhutbecher, Ringbehälter etc. Mit derartigem selbstgefertigten Schmuck kann sich die Familie unter einander beschenken und die kleinen Arbeiten tragen gewiß dazu bei, die Festesfreude zu erhöhen.
Ein Sommernachtstraum. (Mit Illustration S. 853.) Eines der bekanntesten und phantasiereichsten Jugendlustspiele des großen Shakespeare, der „Sommernachtstraum“, ist in einer deutschen Prachtausgabe erschienen, welche bald zu einem beliebten Geschenke für den Büchertisch des Salons werden dürfte. Die Vollbilder dieser Ausgabe sind in reichem und stimmungsvollem Farbendrucke ausgeführt und bilden eine lebensvolle Veranschaulichung der Dichtung. Wir geben – mit Einwilligung des Verlegers Th. Stroeser in München – in Holzschnittreproduktion dasjenige der Bilder wieder, welches für die ganze Dichtung am meisten charakteristisch erscheint. Der „Sommernachtstraum“ ist in allem ein Gegenstück zu „Romeo und Julia“, eine heitere Verspottung des menschlichen Liebeslebens im Gegensatz zu der tragischen Verherrlichung desselben in der Romeodichtung.
„Dem schlechtsten Ding an Art und an Gehalt
Leiht Liebe dennoch Ansehn und Gestalt!“
spottet der Dichter und beweist dies durch eine Leidenschaft, die selbst einen Zettel mit dem Eselskopf zu ihrem Ideale erheben kann.
„Ich bitt’ Dich, holder Sterblicher, sing’ nochmals,“
läßt er Titania sagen,
„Mein Ohr ist ganz verliebt in Deinen Sang;
Auch ist mein Aug’ entzückt von Deinem Wesen;
Dein Tugendreiz reizet mit mächt’gem Trieb mich
Beim ersten Blick zum Wort, zum Schwur: ich lieb’ Dich.“
Titania, die liebreizende Königin der Elfen, und Zettel mit dem Eselskopf wirkungsvoller hätte der Dichter seine Gestalten nicht aussuchen können!
Die Schreckmittel einer istriainschen Natter. (Mit Abbildung S.857.) Im 4. Kapitel seines Werkes „Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren“ berichtet Ch. Darwin von einer nicht giftigen ostindischen Schlange, dem Tropidonotus macrophthalamus, daß sie, wenn sie gereizt wird, ihre Halshaut wie ihre Landesgenossin, die Cobra (Brillenschlange), ausbreitet und daher irrthümlicherweise für diese gehalten wird. „Diese Aehnlichkeit,“ schließt Darwin, „dient vielleicht dem Tropidonotus als ein gewisser Schutz. Eine andere nicht giftige Schlange, die Dasypeltis von Südafrika, bläht sich auf, breitet ihren Hals aus und zischt und schießt auf jeden Eindringling zu. Viele andere Schlangen zischen unter ähnlichen Umständen. Sie schwingen auch ihre vorgestreckten Zungen mit Schnelligkeit, und dies dürfte dazu dienen, das Schreckenerregende ihres Ansehens noch zu vermehren.“
Ein ähnliches Verhalten gegen den Angreifer beobachtete ich an einer Tropidonotus-Art, die ich in großer Menge auf den Sumpfwiesen am Timavo in Istrien antraf. Diese, die Vipernatter Tr. viperinus hat ihren Namen von ihrer auffallenden äußerlichen Aehnlichkeit mit der Redischen Viper (Vipera aspis sive Redii); sie ist 65 bis 90 cm lang, hat 2 vordere, 2 hintere Augenschilder, 7 obere Lippenschilder, von denen das 3. und 4. an das Auge stoßen; die Schuppen stehen in 21 Längsreihen; die Grundfarbe ist oben bald hellgrau – bald gelb-braun- oder graugrün, an den Seiten Heller; im Nacken hat sie 2 schwärzliche Flecken; dahinter jederseits auf dem Rücken eine Längsreihe schwärzlicher Querflecken, welche häufig durch ein Zickzackband verbunden sind; auf der Unterseite ist sie schwarz gewürfelt. Die Exemplare mit dem Zickzackband sahen bei grauer Grundfarbe mehr der Hornviper (Vipera cerastes) ähnlich.
Das erste 45 ein lange Exemplar traf ich auf den Felsen des Meerufers zwischen Duino und St. Giovanni, und hielt es anfangs für eine Redische Viper. Das Thierchen lag gar behaglich im Sonnenschein – ich hielt es bald mit meinem Stocke nieder. Nun blähte sich die Schlange zum doppelten Umfange auf, ihr Kopf näherte sich im Umrisse einem gleichseitigen Dreiecke, sie zischte laut und lange, rollte sich tellerförmig zusammen und schoß mit dem Kopfe ganz wie eine Giftschlange, wenn sie beißt; nur fiel mir auf, daß sie dabei den Rachen nicht öffnete.
Ich traute ihr aber doch nicht, sondern drehte sanft drückend den Stock bis zu ihrem Genick, wobei sie wüthend zischte und, so lange es noch ging, den Kopf emporschnellte, jedoch immer ohne den Rachen zu öffnen. Die Zunge blieb beim Zischen bis auf die beiden Spitzen eingezogen, welche dabei in vibrirender Bewegung waren. Erst als ich sie mit der Pincette im Genick faßte und sie genau besah, wußte ich, was für einen Gesellen ich vor mir hatte, und nahm ihn unbesorgt in die Hand, was er durch eine reichliche Gabe seiner widerlich riechenden Exkremente belohnte; denn mein Tropidonotus hatte jetzt alle Abschreckungsversuche aufgegeben, ja schien selbst in großer Angst zu sein. Ein Hündchen, das mich zum Timavo begleitete, schreckte eine große Vipernatter durch ihre drohende Haltung derart, daß es sofort Reißaus nahm. Gewiß lassen sich auch Falken, Krähen und Sumpfvögel durch die Schreckmittel und die schützende Aehnlichkeit unserer unschuldigen Natter täuschen. Da in dieser Gegend die obgenannten Giftschlangen häufig vorkommen, haben die Vögel dort wohl oft die tödlichen Wirkungen des Vipernbisses an ihren Genossen gesehen und scheuen daher einen Angriff auf die verdächtige Vipernatter. Daraus läßt sich das überaus häufige Vorkommen derselben in dieser Gegend und das seltene der Ringelnatter erklären, welcher diese
Schreckmittel nicht zu Gebote stehen.- ↑ Nach der neuesten Statistik ist die Zahl der geborenen Berliner wiederum zurückgegangen; sie beträgt 42⅓% der Gesammtbevölkerung, also nicht einmal die Hälfte der Einwohner ist „mit Spreewasser getauft!“