Die Gartenlaube (1888)/Heft 48

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[809]
Deutsche Art, treu gewahrt.
Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser.

(Fortsetzung.)

Käthchens Blick lief an dem schwarzbraunen rissigen Stamme der alten Ulme empor zu dem hohen Wipfel, der leise und feierlich rauschte. Einst sollten hier weise Frauen Rath ertheilt haben. Das Volk schlich noch jetzt nächtlicherweile herauf und band an seine Zweige in Leinenläppchen seine Leiden. Und es ging die Rede, daß die alte Ulme immer helfe. Konnte sie nicht auch ihr beistehen? Sie verdiente ja sonst nichts weiter, als umgehauen und zu Klaftern geschlagen zu werden.

Der Wind rauschte stärker in dem Wipfel – ein Krachen folgte und ein langer dürrer Ast fiel herab. Aber auch von der andern Seite wurde ein Rauschen und Knacken vernehmbar. Sie bog sich vor.

Da kam so der Junker Utz durch das Gebüsch geschlichen. Vorsichtig stieg er in seinen hohen Stiefeln über die Brombeerranken, leise bog er die Haselstauden aus einander und lugte hinaus nach der Dornburg, wo die Fenster von Käthchens Stübchen herabschauten. Aber es war dort gar nichts zu sehen. Da wandte er sich und kam langsam des Weges daher. Sein ehrliches Gesicht sah nachdenklich und traurig aus. Er seufzte tief auf. Dieser Seufzer kam nicht vom engen Leibgurt, sondern geradeswegs aus dem Herzen.

Und jetzt stand er vor ihr. Er schrak zusammen und starrte sie an. „Wie kommt Ihr hierher?“ fragte er.

Einen Riesen zittern zu sehen, macht kleinen Leuten allezeit Vergnügen. Käthchen lächelte unter ihrem Haarbüschchen vor und sagtet: „Das frage ich Euch. Ich wohne ja hier – gleich da oben.“ Sie deutete nach dem Fensterlein, das er eben bespäht hatte.

„Ich dachte – ich hatte – ich wollte einmal hinab und nach meinen Weinbergen sehen,“ stotterte er.

„Da reitet Ihr doch immer, Junker,“ quälte sie ihn.

Er stotterte weiter: „Ich – ich habe mein Pferd vergessen.“

„Da müßt Ihr also wieder heim,“ bedauerte sie schelmisch. Sie wandten sich zur Rückkehr. Da prasselte und rauschte es hinter ihr her im Gras.

„Ein langer Ulmenast hat sich an Euren Rock gehakt, Jungfrau Katharine,“ sagte Utz. „Man nennt das einen Freier. Wollt Ihr ihn los sein?“

„Ach ja!“ erwiderte sie. Er wurde roth. Doch bückte er sich und löste den dürren Ulmenzweig von Käthens Rocksaum. Da er sich wieder aufrichtete, schauten seine Augen sie treuherzig, aber voll tiefen Ernstes an.

Und siehe der Blick ging ihr durch und durch.

„Sagt aufrichtig,“ sprach er mit bebender

Versperrter Weg.
Originalzeichnung von Franz O’Stückenberg.

[810] Stimme, „soll ich Euch den langen ungefügen Freier vom Hals schaffen?“

Sie griff zögernd nach dem Ulmenast. „Er gäbe doch vielleicht einen ganz guten Stab ab,“ flüsterte sie.

„Ein solcher würde er werden,“ sagte Utz warm und fest. „Ein treuer Stecken und Stab, darauf Ihr Euch Euer Leben lang stützen dürfet.“

„Dann schafft ihn nicht fort; ich will ihn lieber behalten,“ sagte Käthchen leise.

„Den Stab allein?“ sprach Utz nun lachend und bog sich herab, daß er ihr in die Augen sehen konnte.

„Nein, auch den Freier,“ hauchte sie verschämt.

Da gab er ihr einen herzlichen Kuß.

Dann gingen sie nach der Dornburg zurück. Käthchen neigte sich nicht dankend gegen die alte Ulme, die ihr helfend den langen Freier angehangen hatte. Die Jugend hat viel zu viel mit sich selbst zu schaffen, als daß sie Zeit hätte, an Erkenntlichkeit zu denken. Erst viel später, wenn die Stürme des Lebens durchgekämpft sind, mahnt das Gewissen an manch vergessenes ‚Hab Dank‘.

In der Dämmerstunde dieses Tages saß das Brautpaar fröhlich auf dem Fensterbänkchen. Utz behing seine Braut mit goldenen Ketten, und diese dachte: Die Welt ist gar schön, und wenn der lahme Schloßvogt sagt, sie sei ein Zammerthal, so ist er ein griesgrämlicher Greis.

Auf der Ofenbank durfte endlich der Schloßhauptmann einmal ruhig schnarchen.

Da schlich Frau von Tautenburg in das Geheimstüblein ihres Ehegesponsen.

Sie holte aus seinem Schreibschrank einen Stoß Papierbogen, dicke, graue, mit faserigen Rändern versehene, und legte sie auf den großen Tisch, pflanzte ein mächtiges Tintenfaß auf, füllte es bis an den Rand und langte endlich ein halbes Mandel Federn hervor, die der Küchenschreiber hatte frisch schneiden müssen. Sie streifte die Puffärmel auf und setzte die Haube ab. Sie wollte schreiben und das – sie wußte es – kostete allezeit einen tüchtigen Schweiß.

„Die stille Abendstunde,“ sprach sie für sich, „kann ich nicht besser nützen, als indem ich meinem würdigen Vetter den Aerger heimzahle, den er uns eingerührt hat, und ihm für immer die Lust zu einem Besuch auf der Dornburg versalze.“

Sie setzte sich vor das Schreibgeräth. „Vorerst zeige ich ihm die Verlobung unserer Jungfrau-Tochter an, auf daß er sieht, es kräht kein Hahn mehr nach ihm. Nunmehro aber kann es losgehen!“

Und die großen Buchstaben quollen förmlich aus der Feder:

„Ich will Euch nicht verhalten, daß sich auf der Dornburg eine wunderbarliche Veränderung zugetragen hat. Itzo würde das fürstliche Fräulein nicht den Namen ‚die Freudige‘ küren. Nimmer schallt mehr der leichtfertige Mimi aus Hochdero Fenster, sondern das Leiblied ihres in Gott ruhenden Vaters: Erhalt uns, Herr, bei Deinem Wort. Der welsche Händler, dessen beste Kundin Ihro war, hat sich diesmal an unserer Armuth erholen müssen; die Hochzeitskleider waren sein einziger Verdienst auf der Dornburg. Wie ein bescheidener Viol ist die junge Herzogin anzuschauen, und gleich diesem duftet ihr Verdienst in der Stille, bei Armen und Kranken, in der Schule und in der Kirche. Sie hat geruht, sich dahin zu äußern, daß ihr Sinn nach nichts mehr stehe in dieser Welt, denn nach dem stillen Plätzlein einer Abbatissa im Stift Quedlinburg. Und als schickliche Vorbereitung zu dieser Würde hat sie den Alamodeteufel gründlich ausgetrieben, wie solcher Ausgeburt der Hölle gebührt. Im Feuer wurden verbrannt der Schäferroman, das Hirtentäschlein, der Schäferstab.

Darumb ist jeglichem alamoden Monsieur zu rathen, daß er sich der Dornburg fern halte, dieweil ihm hier der Prozeß gemacht, er elendiglich zu Asche verbrannt, und diese in die Winde gestäubt wird.“

Sie unterschrieb und siegelte den Brief.

Dann überantwortete sie ihn der Botenfrau, welche zwischen Dornburg und Weimar ging, und diese legte ihn zu dem andern Schreiben, das ihr die Frau Hofmeisterin an die Weimarer Hofmeisterin mitgab.


Hatten die kommenden Ereignisse ihre Schatten auf die stille Dornburg vorausgeworfen, so sah man ihnen in Weimar schon klarer in die Augen.

Nicht mehr durften die Bewohner der Stadt des Einspruchs festlich geschmückter Gäste gewärtig sein. Dagegen sprengte eines Morgens Herzog Bernhard mit seinem waffenklirrenden Gefolge zum Thore hinaus; er zog ab, um der Belagerung von Herzogenbusch durch den Prinzen von Oranien beizuwohnen und neue Kriegserfahrungen zu sammeln. Ein andermal wurden, in stiller Nachtstunde Hufschläge vernommen. Dann munkelte es, Herzog Wilhelm sei fortgeritten, nur von einem Kapitän und etlichen Leibgardisten begleitet; es gelte geheime Rüstungen. Die Staatskutschen hatten Ruhe in ihren Schuppen; schlicht war der Wagen, in welchem Herzog Ernst mit dem Superintendenten zu Kirchenvisitationen fuhr, auf daß die evangelische Lehre lauter und rein erhalten werde.

Zur Zeit weilte nur Herzog Albrecht in Weimar und führte die Zügel der Regierung. Er empfing Botschaften und fertigte Kuriere ab, richtete und schlichtete, wie es einem Fürsten geziemte. Aber wenn er den getreuen Unterthanen sich zeigte in der Kirche oder auf dem Gang zur Rathsstube, meinten sie, er sehe so gestreng aus wie ein Steinbild. Nie mehr spielte der gute Humor um seine Lippen, seit das Ehewerk an einem geheimen Pflöcklein sich gestoßen hatte und gescheitert war.

Aber so viel sich auch verändert hatte, Frau von Hellingen war die Alte geblieben.

„Michel!“ rief sie in die Küche hinab, wo ihr Knecht der Müllerin Rüben putzen half. „Es ist ein frischer Morgen; heize den Ofen!“

Michel verschwand mit Scheiten, Gabel und Blasebalg im Ofenloch, und bald that prasselnd und knackend die alte Weide den letzten Dienst ihres Erdenlebens.

Auf dem Sorgenstuhl, dem einzigen ansehnlichen Zimmergeräth, das sie aus dem Zusammenbruch feudaler Herrlichkeit gerettet hatte, nahm Frau von Hellingen Platz und zog das Spinnrad heran.

Nach einem langen bewegten Leben ist der Mensch nicht verlassen, wenn er auch einsam ist. Die Erinnerung wacht auf und läßt längst verschollene Stimmen ertönen, längst verblichene Bilder aufleuchten. So erging es auch der stillen Frau. Das leise schnurrende Rad erzählte ihr von der Zeit, da sie die ersten Hemdchen darauf spann für die Söhne, welche der Herr ihr gegeben und wieder genommen hatte; es erinnerte sie daran, mit welcher Freude sie dereinst das feine Garn abhaspelte, das so sonderlich gut gerathen und alsdann doch nur das Sterbekleid ihres Eheherrn geworden war. Jetzt hing der seidigste Flachs, den sie je auf dem Stammgut gebaut hatte, am Rockenstab. Sie spann ein Stück Leinwand für die Trude, das Nesthäkchen, welches ihr allein übrig geblieben war. Und als sie an das letzte liebe ihr angehörende Wesen dachte, schloß sie ihr Sinnen mit dem innigen Wort: „Der Name des Herrn sei gelobt.“

Die alte Stiege knarrte. Da kam sie. Rasch eilte sie herein, ein feines Roth auf den Wangen. Die Mutter blickte erstaunt die Athemlose an.

Da sagte sie, eifrig bemüht, ihre Aufmerksamkeit von sich abzulenken: „Ich komme zu ungewohnter Zeit, lieb Mütterlein. Wir haben heute in der Apotheke Brustkuchen gebacken, und die Frau Herzogin hat mir befohlen, Euch dieses Stück zu bringen für vorkommende Gebreste.“

„Ihro Gnade hat eine milde Hand,“ sprach Frau von Hellingen. „Gott sei Dank, daß ich jetzo dergleichen nicht bedarf. Aber Du selbst solltest ein Stücklein nehmen; Du bist ja ganz engbrüstig.“

„Ach nein,“ entgegnete Gertrud verlegen, „ich bin nur so gelaufen.“

„War der Spitz hinter Dir her?“ fragte Frau von Hellingen.

„Ach nein,“ erwiderte abermals Trude, während sie sich mit ihrem Mantel am Ofenhaken zu schaffen machte. Endlich, da ihre Mutter sie erwartend ansah, kam es leise von ihren Lippen: „Der Hofmeister von Krombsdorff war einmal wieder beihanden.“

„Vor dem brauchst Du nicht davon zu laufen,“ sagte geruhig ihre Mutter, das angehaltene Rad wieder in Schwung bringend „Das ist ein Mann nach altem Schrot und Korn, der ohne Laune Ehre giebt, dem Ehre gebührt.“

„Mein Mütterlein irrt in der großen Güte ihres Herzens,“ entgegnete Trude beklommen; „der Hofmeister ist ein alamoder Kavalier. Meine Gefährtin im Hofdienst, Benigna –“

„Laß Dir von ihr nichts weismachen,“ unterbrach sie Frau von Hellingen. „Alle Tage läuft sie ihm hier in den Weg. Er geht oft in die Mühle; ich denke mir, der Müller hat zu stark gemetzt bei dem Mehl für den fürstlichen Haushalt. Da kommt [811] sie bald aus der Stadt gestelzt, als sei sie vom pflastertretenden Spazierteufel besessen; bald im Hauskleid vom Backhaus her gewippt. Aber er ist ein rechtschaffner Junker. Ich muß gestehen, er weiß zu verschwinden wie ein echter Hofschalk.“

Gertrud schüttelte kummervoll den Kopf. „Ich habe gesehen, welche Geckerei er bei der großen Festivität getrieben hat, die im Mai allhier stattfand.“

„Zur Geckerei gehören immer zwei,“ entschied ihre Mutter.

Gertrud seufzte: „Ach nein, es war ein halbes Dutzend.“

Frau von Hellingen spann gelassen weiter. „Es giebt Männer, an denen das Frauenzimmer hängt wie die Mücken an unserem Honigtopf, ehe die Kroaten die Bienenkörbe zerstört hatten.“

Gertrud schüttelte traurig den Kopf. „Ich fürchte –“

„Man muß nicht immer fürchten, man muß auch hoffen,“ sagte Frau von Hellingen getrost.

Ein Zischen auf der Ofenplatte, dem ein würziger Duft folgte, unterbrach sie.

„Da mahnt es mich,“ lächelte sie und ging nach der Röhre, um die in derselben bratenden Aepfel zu wenden. „Die sind von dem Borstorfer Baum, vor unserem ehemaligen Haus. Der machte auch immer lange Wasserreiser, statt zu blühen. Dein seliger Vater wollte ihn umhauen und eine Frühbirne dahin setzen lassen. Aber ich sagte: ‚Das ist die Art, dieser edlen Bäume, daß sie lange Faselhänse bleiben, ehe sie Früchte bringen. Dafür sind es dann auch Borstorfer. Habt Geduld!‘ Und richtig! Welche Prachtäpfel sind das! Die Sippe hat sie mir vom Gut geschickt,“ fuhr sie schlau lächelnd fort. „Seit man dort weiß, daß ich ein Ohr am Hof besitze, hat man immer etwas für mich übrig.“

Sie legte die Aepfel in ein zinnernes Mülderchen, setzte dieses einladend vor Gertrud hin und brach selbst eine dampfende Frucht auf.

Mit einem fast liebevollen Blick sah Gertrud auf die gebratenen Aepfel nieder. Sie stammten von dem Baume, unter dem sie als Kind mit ihrer Docke gespielt hatte. Sein Wipfel war es gewesen, der ihr am längsten nachschaute, als sie mit ihrem kleinen Habeigen auf dem Wägelchen fort fuhren. Bäume wachsen nicht nur in die Erde, auch in das Herz. Und dem schönen frischen Apfelbaume sollte sie den Mann vergleichen, vor dem sie sich immer ängstlich hütete, je schwerer es ihr wurde, ihn zurückzuweisen?

Noch unruhiger und beklommener, als sie gekommen war, ging sie wieder. Einen scheuen Blick warf sie hinüber nach den Weiden, von welchen der Herbstwind die schmalen Blätter herabwehte. Die schlanke Gestalt, die vor einer Stunde dort gestanden hatte, war verschwunden. Vielleicht gab er es doch endlich – endlich auf, ihr nachzustellen, um ihre Liebe zu werben von früh bis spät, wie er jetzt es that.

Wenn sie zum Dienst in die Gemächer der Herzogin Eleonore sich begab, begegnete sie ihm auf dem Korridor und mußte seinen ehrfurchtsvollen Morgengruß entgegen nehmen. In der Kirche stand er neben ihr im Gebetstüblein, und sie vernahm den tiefen Seufzer, der auf dem Weg nach den Lippen erstickt wurde und dennoch ihr Herz beklemmte. Und wenn sie im Vorgemach ihrer Herrschaft harrten, er an der Spitze der Hofherren, sie als letzte des Frauenzimmers, da suchten die großen vorwurfsvollen Augen sie, und das leise bittere Lächeln seiner Lippen sagte: Wie lange willst Du mich noch quälen?

Vielleicht war er dieser Mühen überdrüssig geworden und gönnte ihr endlich Ruhe.

Ruhe! Sie wollte aufathmen bei dem Wort. Aber sie vermochte es nicht. Ruhe sollte sie finden, wenn er hinfüro an ihr vorüber glitt kalt, höflich, fremd?

O, ihre Mutter hatte recht gehabt: es war ihm Gewalt gegeben über alle Frauenherzen. Wie war es möglich, daß auch sie sein Bild nicht aus ihrer Seele tilgen konnte, die doch wußte, sie reizte ihn nur, weil sie ihm Widerstände leistete?

Sobald sie seinen Künsten erlegen war, würde es ihr gehen, wie es jetzt der blonden Benigna ging: er würde sie fliehen.

Ein heißes Roth färbte ihre Wangen. Dann richtete sie sich auf. Nein, so weit mußte ihre Kraft ausreichen, um dieser tiefsten Demüthigung zu entgehen.

Als sie im Grünen Schloß anlangte, tönte ihr eine kräftige Kinderstimme schon im Korridor entgegen. Der kleine Prinz geruhte ungnädigst zu schreien. Die Thür seiner Stube öffnete sich; die Amme stürzte mit angstrothem Kopf heraus und sah sich nach Beistand um. Sie winkte eilig Gertrud heran.

Drinnen tänzelte die erste Wärterin das Herrlein und klagte: „Der Prinz ist nicht zur Vernunft zu bringen.“

Auf dem Tisch stand die kleine Silberschüssel mit der Suppe, lag das goldene Löffelchen, beide so schön geformt, als hätten Zwerge das Geräth für das fürstliche Kind geschmiedet. Die Spur der Brühe auf dem Tischtuch zeigte, daß dasselbe sich kräftig geweigert hatte, sein Mahl zu verzehren. Sein großblumiges grünes Wämschen saß schief, und an den goldenen Ketten, die sich von der runden Schulter nach dem goldgestickten Ledergürtel zogen, arbeiteten die kleinen Grübchenfäuste, um sie abzureißen.

Die Amme sang ihm vor: „Eia popeia!“ Er zauste sie dafür tüchtig an den langen Bändern ihrer Mütze. Die Wärterin holte eine kunstvoll in einander gefügte Elfenbeinkugel aus einem kleinen Schreine, wo allerhand Spielzeug stand. Sie stammte von Herzog Wilhelms eigener kunstfertiger Hand. Das Söhnlein warf sonder Ehrfurcht die Kugel der aufgeregten Wärterin an den Kopf.

Gertrud nahm den kleinen Herrn auf den Schoß, hielt sanft die herumwirthschaftenden Händchen fest und sprach leise, beruhigend auf ihn ein. Er strampelte aus allen Kräften.

Da mußte sie plötzlich aufsehen. In der halb geöffneten Thür stand der Hofmeister von Krombsdorff, blaß, sonder Prunk gekleidet wie jetzt immer, und schaute sie unverwandt mit seinen düsteren Augen an. Als er ihr fruchtloses Bemühen mit dem Prinzen sah, lachte er spöttisch. Sie erschrak und sah weg. Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Die athmete wieder auf und bemühte sich weiter, den ungebärdigen Prinzen zu beschwichtigen.

Da hörte sie wieder den flüchtigen Schritt, und da trat er in das Zimmer. Er trug eine schuhhohe Docke in der Hand, die einen Trommelmann darstellte. Den Staub davon abblasen, ein Uhrwerk im Innern aufziehen und das Spielzeug vor den Prinzen stellen, war das Werk eines Augenblicks.

Nun schnurrte der kleine Automat grimmig, bleckte die Zähne, drehte den Kopf und trommelte, während ein kleiner schwarzer Hund aus dem Kober auf- und absprang.

Und siehe! der Harm des kleinen Prinzen legte sich. Er hörte auf zu schreien, schaute aufmerksam dem Trommelmann zu und – lachte endlich.

„Herzog Bernhards Spielzeug thut noch einmal seine Schuldigkeit,“ sagte Achatius, ohne Gertrud weiter zu beachten. „Aber,“ fuhr er in befehlendem Tone, zu der Amme gewendet, fort: „das Süpplein ist kalt und halb verschüttet. Laßt sofort eine frische Milch kochen! Nehmt auch den Löffel mit! Daß mir das Geschirr ordentlich von der Silberwäscherin gereinigt wird! Und,“ sprach er zu der ersten Wärterin, „gedenket Ihr, den Prinzen in solch zerzaustem Anzug zu der Frau Herzogin zu bringen? Suchet ein anderes Wämslein in der Kleiderkammer aus! Vergeßt nicht, ein wohlgestärktes Kräuschen einzuheften!“

Beide gehorchten eiligst und eilten hinaus.

In der gewohnten hofmäßigen Haltung trat Achatius dicht neben Gertrud und, ohne eine Miene zu verziehen, sprach er mit leiser durch das Trommeln verdeckter Stimme: „Achtet wohl darauf, Jungfrau von Hellingen: alle Mittel müssen am rechten Ort angewendet werden, sollen sie helfen. Die Elfenbeinschnitzereien thaten ihre Schuldigkeit, als der junge ritterliche Herzog selbige der schönen Kaiserin verehrte. Und ich weiß ein anderes Herrlein, das Ihr glücklich machen könntet, wenn Ihr seine Hand in Eurer hieltet und sanft zu ihm sprächet.“

Sie mußte die Augen abwenden. Das schmerzliche Lächeln, das sein schmales Gesicht nur matt erhellte, schnitt ihr in die Seele. Aber sie faßte sich gewaltsam.

„Das Herrlein wird gut thun, auf solches Glück zu verzichten,“ sprach sie, und ihre Stimme klang wie eine zu hart angeschlagene Saite. „Der Mensch muß gar manchem entsagen, was er nun einmal nicht haben kann.“

Das Uhrwerk war abgelanfen; er zog es eilig widoer auf. „Ihr habt Euch seit Monaten bestrebt, mir solches klar zu machen,“ entgegnete er bitter. „Und ob Ihr auch meiner lachen solltet, ich verhehle Euch nicht, daß mein Herz, zerrissen ist von Eurer starren Kälte. Aber sagen muß ich Euch doch: All Eure Sittsamkeit, Euer Stolz, Eure unnahbare Würde, sie erscheinen mir geringe Tugenden gegen die höchste im Diadem der Frau, gegen die hingebende Liebe.“

„Hingebende Liebe!“ wiederholte Gertrud fast schrill, und da der Trommelmann wieder nachließ im Schnurren; zog nunmehr [812] sie ihn mit fliegenden Fingern auf. „Hingebende Liebe! Wie oft ist es hingeworfene Liebe!“

Er wurde todtenbleich. „So verächtlich erscheine ich Euch?“ fragte er mit tonloser Stimme. Und leidenschaftlich fuhr er fort: „Spricht nichts, nichts in Eurem Herzen für mich? Ist nicht ein Plätzlein in Eurer Seele, dahin sich ein milderes Gefühl für mich versteckt hat? Und wenn es auch nur ein schwacher Funke Mitleid ist, laßt ihn mir zu gute kommen; ich flehe Euch an.“

Er stand vor ihr, die schlanke biegsame Gestalt demüthig gebeugt, mit den Augen in ihrem Blick sich festsaugend.

Und mit einem weichen zitternden Ton, wie er ihn noch nie von ihr gehört hatte, sprach sie: „Laßt es genug sein der Qual! Auch ich flehe Euch an.“

Da schwieg er. Der sanfte Ton hatte eine Gewalt über ihn, der er nicht zu widerstehen vermochte.

Die Wärterinnen kamen zurück. Und jetzt geruhte das Prinzlein, seine Suppe zu verzehren, indem es über den vorgehaltenen Löffel hinweg nach dem schnurrenden Trommelmann schaute. Es sah auch mit gnädigen Augen das wohl geglättete neue Wämschen an.

Der Hofmeister hatte nichts mehr in der fürstlichen Kinderstube zu schaffen. Er ging davon. Und nun rief ihm der alte Papagei aus dem Vorzimmer in gütevollem Tone nach: „Armes Papchen! ganz allein!“ Achatius drückte die Hände zu Fäusten zusammen.

Als er aus dem Schloß trat, fand er den Hof belebt von fremden Trompetern. Sie hatten Briefschaften aus Koburg und Eisenach an die Herzöge von Weimar gebracht. Der Page Conz verschwand eben mit denselben im Portal. Einen Augenblick tauchte bei der Nennung der Namen in der Erinnerung des Hofmeisters eine Reihe niedlicher Schäferinnen auf, die mit ihren Stäben ihn einhegten. Und er mußte denken, wie tief unter ihm die Irrthümer jener Zeit lagen. Aber er dachte nicht, daß, wer Irrthümer säet, Erfahrungen erntet.

Auch ihm Überreichte ein Lakai ein großes Schreiben. Die Botenfrau von der Dornburg, welche es gebracht hatte, sitze noch in der Schloßküche und thue sich gütlich an Kalbskopf mit aufgestreutem Ingwer. Ob der Herr Hofmeister nicht diesmal etwas mitzugeben habe?

Achatius winkte hastig abwehrend. Mißtrauisch schaute er die Aufschrift an. Nein, es waren nicht die flüchtigen Buchstaben der rundlichen Hofmeisterin. So grimmige Zeichen malte gewißlich nur Frau von Tautenburg.

Er erbrach und las die Epistel. Ein wehmüthiges Lächeln kam auf seine Lippen. Gottlob, die kleine Käthe und der Junker Utz hatten sich wieder zusammen gefunden. Dieser Schuld war er wenigstens ledig.

Und er hatte eine Leidensgefährtin auf der Dornburg: die schöne Dorothea. Wie er sich einst rühmte, den galanten Schäfer spielen und jegliches Frauenzimmer ködern zu können, so vermaß sie sich in ihrem Uebermuth, den Herzog Albrecht in einen Celadon umzuwandeln. Ein Schäferspiel wollten sie beide tragiren; das tragische Ende war gekommen.

„Herr Hofmeister!“ schallte es aus dem Korridor. Conz kam gelaufen. „Ihr sollt Euch sogleich zu meinem Herrn verfügen.“

Achatius folgte ihm auf dem Fuße. Geschmeidig glitt et in das Zimmer des Herzogs Albrecht.

Der fürstliche Herr stand neben seinem Schreibtisch, auf welchem verschiedene erbrochene Briefe lagen. Mit einem unwilligen Blick maß er den tief sich verbeugenden Hofmeister.

„Wir hören üble Dinge von Euch,“ sprach er streng. „Zum ersten haben wir hier einen Brief von unsrem Vetter in Eisenach bekommen. In der Nachschrift schreibt uns Seine Liebden: ‚Da Unsre liebe Gemahlin gern ihre Wissenschaft denen zu gute kommen läßt, welche ihrem Schutze anvertraut sind, so bitten Wir, Uns kund zu thun, wann Euer Hofmeister von Krombsdorff geboren ist. Unsre Gemahlin wünscht, ihm das Horoskop zu stellen, um zu erfahren, welche Unsrer Hofjungfrauen er zu freien gedenkt. Denn leider scheinen sie beide auf ihn zu lauern wie zwei Füchslein auf einen wohlschmeckenden Trappen. Die eine rühmt sich eines Kniefalls, die andre behauptet, er werde nächstens ein Mittel gegen Herzensgebreste bei ihr holen.‘“

Albrecht ließ den Brief sinken und schaute den Hofmeister an.

Stumm, betroffen stand Achatius vor dem jungen Fürsten.

Dieser griff nach einem zweiten Schreiben. „Auch unser Vetter in Koburg beklagt sich über Euch,“ sprach er und las: „‚Und müssen Wir Euer Liebden kund thun, daß durch Euren Hofmeister von Krombsdorff eine arge Unruhe in Unsrem Frauenzimmer angerichtet worden ist. Beide Hofjungfrauen behaupten, jeden Augenblick die Werbung des Hofmeisters erwarten zu dürfen. Die eine pocht darauf, daß er sie seinen Cherub genannt, die andere, daß er sie zu seiner Eva erkoren habe. Und sind sie also verzankt, daß Wir sie vernünftigerweise in die Custodi bringen wollten, welche gerechte Strafe Unsre Gemahlin abgewendet hat.‘“

Abermals sah Herzog Albrecht den Hofmeister fragend an.

„Der heidnische Gott Cupido hat sein arges Spiel getrieben,“ murmelte Achatius verwirrt.

„Ihr werdet selbigem Gott fleißig nachgeholfen haben,“ zürnte Albrecht. „Was hat es damit auf sich, daß die Hofmeisterin von der Dornburg bei der Hofmeisterin unsrer Schwäherin anfragt, wo ihr herzallerliebster Bräutigam, der Herr Achatius von Krombsdorff, weile? Er antworte nicht auf ihre Brieflein, und sie habe doch den Verlobungskuß von ihm empfangen.“

Achatius wich voll Schrecken zurück. „Gott soll mich bewahren!“ rief er, die höfische Haltung vergessend. „Vielleicht ist die ehrwürdige Frau mit einer Schwachheit des Hauptes behaftet. Ein Schmätzlein ist kein Eheversprechen.“

„Und,“ fiel Albrecht mit hartem Tone ihm in die Rede, „wie könnte es geschehen, daß der Hofmarschall von Teutleben in Euren Rechnungsbüchern ein Brieflein der Jungfrau Benigna fand, darin sie Euch Vorwürfe macht, daß Ihr nicht zur Buchsbaumgans gekommen seid? Verantwortet Euch ernstlich wegen der Leichtfertigkeiten, deren man Euch beschuldigt, bei unsrer Ungnade.“

Bei jedem Punkt war Achatius mehr zusammengeknickt. Da hatte er nun hingebende Liebe in Fülle. Er wünschte sie in das Pfefferland. Mühsam sammelte er sich. Dann sprach er gefaßt und ruhig: „Fürstliche Gnaden wissen, daß die alamoden Bräuche an vielen Höfen zur Herrschaft gekommen sind. Ich bin mit ihnen vertraut worden, seit ich unter Christian von Braunschweig die Welt kennen lernte. Ich habe gemeint, daß es keine Gefahr mit sich bringe, wenn dieselben bei uns eingeführt würden. Wie in dem Schäferroman habe ich mancherlei Diskussionen über die Liebe gepflogen, geseufzt und geschmachtet, wie es einem Celadon zukommt. Es mag dabei mancher Exceß in der angenehmen Redensart mit untergelaufen sein. Aber hat das Frauenzimmer nicht seinen gläsernen Rath, von dem es erfahren kann, daß zuweilen seine Augen mehr trübe blinzelnden Lichtlein denn Sternen und Vergißmeinnicht gleichen? Ich gebe zu, daß auch die Seufzer erheuchelt waren. Aber das Frauenzimmer weiß, daß der Schäfer vor den Augen der Welt einer Schäferin huldigt, die seinem Herzen gleichgültig ist, um seine wahre Liebe zu verhehlen. Also habe auch ich gethan. Hat das Frauenzimmer meine Reden falsch verstanden, so wollen fürstliche Gnaden einen Milderungsgrund darin sehen, daß ich zum Schäfer zu ungeschickt bin, und daß deutsche Frauen auch zu den Schäferinnen verdorben sind, indem sie jede Diskussion über die Liebe nur als eine Vorbereitung für die Ehe betrachten. Derohalb bitte ich unterthänig um gnädige Strafe.“

Herzog Albrecht hatte unbewegt zugehört. Nur bei Erwähnung der Schäfer war es, als zögen sich seine Brauen noch strenger empor.

Dann erwiderte er kalt: „Strafe habt Ihr allerdings zu gewärtigen. Es ist kein leichtes Vergehen, die Schwachheit vertrauender Frauen, die auf die ritterliche Gesinnung der Männer angewiesen sind, auszunutzen, sie auf Irrwege zu führen und dann im Stich zu lassen. Französische Leichtfertigkeit darf nicht an unserem Hofe eingeführt werden. Auch sind wir unseren fürstlichen Verwandten Genugthuung schuldig für die Unbill, welche ihrem Frauenzimmer von Euch zugefügt worden ist. Ihr werdet den Hof zu meiden haben.“

Achatius war zu Tode erschrocken. Aber nicht die Kränkung seines Stolzes und Ehrgeizes schlug ihn danieder. Er hatte nur den einen Gedanken, daß er Gertrud fürder nicht mehr sehen sollte.

War denn zu den vielen Teufeln, welche die Welt erfüllten, auch noch ein Briefteufel gekommen? Und hätte der Fürst der Hölle denselben gegen ihn losgelassen? Mit dem Schreiben der Frau von Tautenburg hatte er angehoben.

Da zuckte plötzlich durch den findigen Höflingskopf eine Erleuchtung. Er richtete sich auf und sprach: „Ja, ich gestehe es offen ein, ich bin ein leichtsinniger Schelm gewesen, und ich bereue es tief; denn es ist eine große Verwandlung mit mir vorgegangen.“

[813]

Der Arzt.
Nach dem Oelgemälde von Hans Bachmann.

[814] „In so kurzer Zeit?“ entgegnete Albrecht verächtlich. „Glaubt nicht, uns zu erweichen, indem Ihr den reuigen Sünder spielt.“

Mit niedergeschlagenen Augen antwortete Achatius: „Es sind nicht alle Menschen mit festem Sinn begnadet; es giebt auch schwankende Herzen. Aber warum soll es nicht möglich sein, daß diese doch sich endlich auf den rechten Weg finden? Von meiner niedrigen Person sehe ich ganz ab. Doch ich vermag ein erhabenes Beispiel anzuführen. Fürstliche Gnaden, auch ich habe einen Brief erhalten.“

Er zog das Schreiben der Frau von Tautenburg aus seinem Wams und überreichte es dem Herzog.

Dieser nahm es erstaunt in Empfang. Als er Dornburg las, wandte er sich ab, dem Fenster zu, daß ihn der Sammetbehang halb verdeckte, und begann zu lesen.

Und er las und las. Als längst der Inhalt des ganzen Schreibens ihm bekannt sein mußte, war er noch nicht über die erste Seite hinaus. Es waltete so tiefe Stille im Zimmer, daß das leise Knistern eines umgewandten Blattes dem gespannt lauschenden Ohr des Hofmeisters nicht entgangen wäre. Aber er vernahm nichts.

Achatius wußte, an welchen Zeilen die Augen des Herzogs haften geblieben waren, an den Worten: die Herzogin Dorothea wünsche und erhoffe nichts mehr als das stille Plätzlein einer Abbatissa des Stiftes in Quedlinburg.

Und je länger es still blieb in der Fensternische, je leichter schlug das Herz des jungen Hofmannes.

Endlich wendete sich Albrecht ihm wieder zu. Doch blieb er im Schatten.

Aber – täuschte sich Achatius? Lag nicht eine leise Röthe auf dem sonst so ernsten Antlitz? Strahlten nicht die klaren braunen Augen in lichtem Glanz?

Mit einem tiefen Athemzug und seltsam veränderter milder Stimme sprach der Herzog:

„Vorerst müssen wir Eure Angelegenheit zu schlichten suchen. Ich glaube, es ist das Beste, Ihr trefft eine Wahl unter dem Frauenzimmer, das Anspruch auf Euch erhebt. Da macht Ihr doch wenigstens an Einer das begangene Unrecht wieder gut.“

Aber Achatius erwiderte mit finster gefalteter Stirn: „Fürstliche Gnaden wollen jede Strafe über mich verhängen. Ich will sie als eine verdiente tragen. Aber eine von diesen hingebenden Nymphen zu heirathen vermag ich nicht.“

„Ich will nicht verhoffen, daß Ihr einen Widerwillen gegen den heiligen Ehestand hegt,“ sagte der Herzog.

Stürmisch, erwiderte Achatius: „Bei meiner Seele Seligkeit: nein. Gott weiß es, daß ich kein Glück erstrebe, als das einer christlichen Ehe, nichts ersehne als die Liebe einer Frau, die ich liebe – ach, die ich liebe mehr als mein Leben.“

„Und wie heißt sie?“ fragte Albrecht theilnahmsvoll.

Ohne zu zögern, wenn auch tief erröthend, antwortete Achatius: „Gertrud von Hellingen.“

Albrecht glaubte nicht recht gehört zu haben. „Gertrud von Hellingen? Die Einzige, um die ich Euch nie herumflattern sah?“

Achatius neigte sich demüthig zustimmend. „Die es mir nie gestattet hat.“

„Nun, so wollen wir sie um ihre Meinung befragen,“ entschied der Herzog.

Achatius fuhr zusammen. „Sie hat mich mit grausamer Strenge behandelt,“ sagte er zaghaft.

Herzog Albrecht blickte nachdenklich. „Die Strenge ist in der Hand von uns fehlbaren Menschen wie ein zweischneidig Schwert. Sie verletzt den, der sie übt, oft so schwer wie den, welchen sie trifft.“

„Aber sie hatte ein Recht, mich zu verurtheilen, “ klagte Achatius.

Der Herzog lächelte mild, „Wozu hätten wir das schöne Wort ,Vergebung’, wenn es nie gesprochen werden sollte?“ Dann fuhr er ernst fort: „Was aber Eure Entfernung vom Höfe betrifft, so befehlen wir, daß Ihr Euch für etzliche Zeit nach Reinhardsbrunn begebt. Alldort zeigen sich Wölfe. Ihr habt sonst den Schäfer gespielt; nun möget Ihr der Hirt sein, der unsre geplagten Unterthanen von dem Raubzeug befreit. Die Antwort der Jungfrau von Hellingen werden wir Euch senden.“

Achatius war entlassen. Mit tiefer Verbeugung zog er sich zurück. Das Blut sauste ihm in den Schläfen, daß er nicht sah, noch hörte, während er nach seinem Haus hinüberstürmte.

Er, der so viel Herzklopfen kalten Blutes über Frauen verhängt hatte, meinte jetzt, unter den eigenen Herzstößen ersticken zu müssen. Nicht die Verbannung ängstigte ihn mehr; auch nicht – es war schrecklich! – die Gewissensbisse über all das Frauenzimmer, welches er dahin gebracht hatte, daß es sich anhing wie Kletten.

Aber Gertrud! Was würde sie sagen zu seiner Werbung? Er meinte, den Blick voll Stolz und Reinheit zu sehen, mit dem sie ihn zurückwies, und glaubte in die Erde sinken zu müssen vor Scham. Nie, nie konnte er sich wieder vor ihr sehen lassen. Nun, Gott sei Dank! Es gab wieder Kriegsaussichten. Herzog Ernst dachte daran, sich unter die Fahne Gustav Adolphs zu stellen, wenn dieser den Evangelischen zu Hilfe kommen würde. Dann folgte er demselben wie einst dem Herzog Wilhelm ins Feld und, ruhte nicht, bis er todt geschossen oder gestochen war.

Bei diesem Entschluß besänftigte er sich. Doch stand ihm der Athem still, als die Hausglocke ging und der kleine Conz mit der Bestürzung fürstlicher Dienerschaft bei hereinbrechender Ungnade ein Brieflein überbrachte und eilig wieder davon flog.

Bis in die Lippen erbleichte Achatius, während er das Siegel erbrach. Dann erstarrte sein Blick. Er las noch einmal laut sich selbst vor: „Die Jungfrau von Hellingen erwartet Euch um sieben Uhr bei ihrer Mutter, damit Ihr bei selbiger Eure Werbung anbringen könnt. Sie ist gesonnen, Euch zu ihrem ehelichen Gemahl zu nehmen.“

Noch stand Achatius regungslos. Dann wischte er eine Thräne aus den Wimpern. Es war doch zu arg, daß ein Mann, der mehr als einmal Pulver gerochen hatte, weinte wie ein Kind. Er faltete die Hände, jetzt nicht zum Staat, sondern zu feierlichem Gelöbniß. Er wollte es ihr vergelten, so lange ein Athemzug in seiner Brust war.

(Schluß folgt.)


Karoline von Linsingen.
Aus dem Leben einer schwergeprüften Frau. Nach ihren Briefen und Aufzeichnungen.
Von Schmidt-Weißenfels.
(Fortsetzung.)

Prinz William reiste nach England. Er wollte seinen Eltern beichten und ihre Einwilligung zu der Ehe mit Karoline von Linsingen erstreiten. Siegesgewiß nahm er Abschied von ihr, hundertmal betheuernd, daß er ihr seinen Schwur halten und sie bald als seine Gattin öffentlich begrüßen werde. Sie glaubte ihm und seiner Liebe; aber es war doch Trauer in ihrem Herzen. Die Trennung erfüllte sie mit düsteren Besorgnissen. Es war ein Wendepunkt ihres Lebens, sie sah jetzt plötzlich die Wirklichkeit, die sie bangen machte.

Der General hatte die Entscheidung dem Könige anheimgestellt. Er selbst wollte nicht mit rauher Hand in das Liebesglück der beiden eingreifen; aber er fürchtete im Stillen, daß seine Tochter schwer werde büßen müssen.

Um sie unter den obwaltenden Umständen allen peinlichen Begegnungen zu entheben, reiste er mit ihr von Pyrmont ab und brachte sie nach dem stillen Driburg. Sie kam als eine Kranke dort an, und wie der fieberhafte Zustand, in den sie nun verfiel, verlaufen würde, war unberechenbar. Ein Arzt und Georg, der Diener, hüteten und pflegten sie, außer ihrem Vater. Wildes Phantasiren brach häufig bei ihr aus; aber es war nicht nur das einer schwer Kranken, sondern traumhafte Gesichtserscheinungen in ihrem magnetischen Zustand waren dabei. Sie sah William, die königliche Familie im Schlosse zu Windsor, Scenen darin mit ihm über sie, seine Gemahlin; sie sprach gleichsam mit hinein, liebeglühend und doch bereit, ihm zu entsagen, weil es von ihm seitens des Königs gefordert wurde. Wenn sie dann aus diesem Zustand des Hellsehens erwachte, so griff eine Erschöpfung ihres Körpers und Geistes Platz, in welcher sie regungs- und wortlos mit wunderbar großen und glänzenden Augen tagelang im Bette lag, wie wartend, wie ersehnend, daß die Visionen von neuem [815] kämen, von denen ihr nur dunkle Erinnerungen zurückblieben. Was sie sah und worüber sie derartig sich ausließ, spielte sich aber in der That im Schlosse zu Windsor zur selben Zeit ab. Prinz William hatte sich vertrauensvoll seiner Mutter zuerst entdeckt. Sie war erschrocken, doch sie zürnte ihm nicht. Sie erkannte theils ihre Mitschuld daran, daß das Liebesspiel ihres Sohnes mit Karoline, zu dem sie ja förmlich ermuntert hatte, so ernste Bedeutung und geheiligte Gebundenheit erhalten; theils konnte sie ihre merkwürdige Theilnahme für des Generals Tochter auch in diesem Fall nicht verleugnen; sie würde daher ihren Segen zu der Heirath gegeben haben. Doch der König! Bei seinem halsstarrigen Charakter und seiner strengen Denkart, bei seiner durch Wahnsinnsanfälle gesteigerten Reizbarkeit war nicht zu erwarten, daß er die Thatsache einer solchen Ehe seines dritten Sohnes ruhig hinnehmen werde, nachdem er eine ähnliche seines Erstgeborenen vor Jahren verflucht.

Die Königin übernahm es gleichwohl, für ihren William beim Vater ein gutes Wort einzulegen. Aber es kam, wie sie vorausgesehen. Der König war außer sich, erging sich in den härtesten Ausdrücken über seinen Sohn und auch gegen den abwesenden General von Linsingen, erklärte die Ehe für null und nichtig, und es war seine Art nicht, seinen Sinn zu ändern. Nicht, daß er hierbei den geistesgestörten Mann zeigte, seine Gründe waren unwiderleglich vernünftig. Das liederliche und verschwenderische Leben des Prinzen von Wales, seines ältesten Sohnes, und dessen heimliche Ehe mit der Witwe Fitzherbert[1] hatten so böses Blut im englischen Volke gemacht, daß man sogar forderte, derselbe solle der Nachfolge auf dem Thron für unwürdig erklärt werden. Vom zweiten Sohn, dem Herzog von York, versprach man sich ebenfalls nicht viel Gutes, wogegen Prinz William wegen seines freimütigen Charakters und weil er im Dienst der Flotte das Zeug zu einem Seehelden bewiesen hatte, ungemein populär war. So war er der Liebling der königlichen Familie, so war er auch bereits der Liebling des englischen Volkes, und für die Zukunft der Dynastie rechnete man daher unter den obwaltenden Umständen schon auf ihn. Durch eine Mißheirath seinerseits mußte man besorgen, daß er in den Augen des Volks starke Einbuße erleide und die dynastischen Interessen vollends zu Schaden bringe. Georg III. hatte einen sehr begreiflichen Ingrimm darüber, daß in seinem Hause solche unebenbürtigen Heirathen Mode werden zu wollen schienen. Er kündigte seine Entschließung dem Sohne an, aber Prinz William schwur, niemals in eine Scheidung zu willigen, lieber sich von seinem Vater enterben und verstoßen zu lassen. Es gab die heftigsten Scenen. Die Mutter sah endlich keinen anderen Ausweg, als sich an den General von Linsingen zu wenden, um seine Tochter zu bestimmen, ihren Rechten auf den Prinzen großherzig zu entsagen.

So blieb die Angelegenheit in der Schwebe, bis anfangs November an Brief von Lord Dutton, der in Hannover zurückgeblieben war, an William antraf und ihm von der Erkrankung Karolinens und ihrem Aufenthalt in dem stillen Städtchen Driburg meldete. Jetzt hielt es den Prinzen nicht länger bei den Seinen. Er sagte seiner Mutter, daß, wolle man ihn nicht zum Aeußersten treiben, er zu der Geliebten zurückkehren müsse. Die kluge Frau, auch voller Mitgefühl für ihn und Karoline, erachtete es fürs Beste, nachzugeben und des Königs Widerspruch gegen diese Reise damit zu beheben, daß sie als Zweck derselben eine gütliche persönliche Auseinandersetzung ihres Sohnes mit seiner Gemahlin wegen ihrer Entsagung vorschützte. Sie verlangte dies auch ausdrücklich von William und gab ihm Briefe sowohl an den General wie an Karoline mit, die so schonend als möglich ihnen die Notwendigkeit einer Trennung der Ehe zu Gemüth führen sollten, wofür Karoline das Opfer der Entsagung um des Glücks des Königssohnes in der Zukunft willen bringen und damit den höchsten Beweis ihrer Liebe geben möge.

Der Prinz eilte auf den Flügeln seiner Sehnsucht nach Driburg und trat mit dem General an das Bett Karolinens. In diesem Wiedersehen vergaßen sie die Welt.

William hatte die ihm mitgegebenen Briefe übergeben. Der General las das an ihn gerichtete Schreiben in der Stille seines Zimmers und als er eine Gelegenheit fand, ohne des Prinzen Anwesenheit mit seiner Tochter zu sprechen, wagte er, ihr den Inhalt mitzuteilen. Sie hörte es ruhig an und lächelte schmerzlich. Dann nahm sie ihren Brief der Königin hervor und las ihrem Vater folgende Stelle daraus vor:

„Ich baue als edles Weib fest auf das Herz eines anderen edlen Weibes; ich schicke Ihnen noch einmal meinen Sohn, ohne Furcht, denn ich weiß, Sie werden ihn mit Treue den mütterlichen Händen, seinen Pflichten und seinem Vaterlande zurückgeben.“

Ihr Vater schüttelte mit feuchtem Auge sein graues Haupt.

„Was wirst Du thun, mein armes Kind?“ fragte er sie dann und forschte in ihrem durchleuchteten, bleichen Gesicht.

„Das Rechte, mein guter Vater,“ antwortete sie ihm sinnend. „Ja, das Rechte!“

Mehr sagte sie nicht, und mit dem Prinzen sprach sie so wenig ein Wort darüber, wie er über die an sie gestellte Zumuthung seiner Eltern. Den ganzen Tag, einen nach dem andern, verbrachten sie in ihrem Liebesglück, als sei es unbedroht. Der General hatte nicht den Muth, sie daraus zu reißen. Oft sah er ihnen zu, wie sie Hand in Hand in wonneseligem Schweigen bei einander waren, und ahnend, daß die Prüfung nicht ausbleiben könne, seufzte er kummervoll. „Gott, gieb ihnen Kraft und Stärke!“

Drei Wochen blieb der Prinz in Driburg. Dann kam Lord Dutton aus Hannover; er hatte einen Befehl des Königs erhalten, William sofort zur Rückreise zu nöthigen und ihn zu diesem Behufe bis zum englischen Kriegsschiff zu geleiten, das ihn von Stade an der Elbmündung nach England bringen sollte. Der Prinz mußte sich nun wohl von Karoline trennen, die er in der Schwäche einer Schwerkranken gefunden und die in der Zeit seiner Anwesenheit von Tag zu Tag merkwürdig wieder erblüht war. In all ihrer lieblichen Schönheit, die Formen wieder gerundet, mit schwellenden Lippen und rosigen Wangen stand sie vor ihm, in süßer Scheu und mädchenhaftem Bangen. Und so von ihr scheiden! Er preßte sie stürmisch an sich und sie ließ ihr Haupt an seiner Brust ruhen. Er bat sie, stark zu sein, ihm zu vertrauen, ihm allein, durch nichts sich bestimmen zu lassen, ihre Einwilligung in eine Scheidung, wie es des Königs Wille sei, zu geben.

Still und ohne einen Einwand hörte sie ihm zu.

„Nein, theures Weib,“ fuhr er in flammender Beredsamkeit fort, „der Sturm darf uns nicht schrecken. Ich halte das Steuer in fester Hand und so theilt unser Lebensschiff die brausenden Wogen. Wir kommen ans Ziel, in den Hafen. Und wie glücklich werden wir unser Dasein gestalten!“

Er jubelte seiner erträumten Zukunft entgegen, mit ihr von der glänzenden Höhe seines Standes in die idyllische Friedseligkeit eines Privatlebens sich zu flüchten, und er schwor es, wenn man sich dem widersetze, jedes Band zu zerreißen, das ihn an Eltern, Verwandte und das Vaterland knüpfte, um sich dem Glück seiner Liebe, um sich der einzig Geliebten hinzugeben fürs ganze Leben.

Da kamen ihr Vater und Dutton herein. Traurig, als sei es eine Todesbotschaft, meldeten sie, daß der Wagen zur Abreise bereit stehe. Eine furchtbare Anstrengung hielt sie aufrecht in seinen Armen. Mit mühsam errungener Fassung erwiderte sie sein bebendes Lebewohl. Bewußtlos fast lag sie an seiner Brust, die Augen geschlossen.

„Karoline! Karoline!“ rief er sie leidenschaftlich zu sich.

Sie schlug die Augen auf und sah, daß der Schatten einer Ahnung in den seinigen war, einer Furcht vor dem Kommenden. Nur einen Moment; dann entwand er sich ihr, hoffnungsselig lächelnd, und ging. Aber er breitete noch einmal seine Arme gegen sie und eine unwiderstehliche Macht trieb sie, sich hineinzustürzen. Der Stern auf seiner Brust drückte schmerzhaft ihre Stirn dabei. Sie schreckte zurück; sie starrte auf diesen harten Metallstern. Ein glühendes Küssen noch, und er flog zur Thür hinaus.

Sie war allein. Eine gräßliche Einsamkeit, in der sie schauderte. Sie hörte die Pferde sich in scharfem Trabe entfernen, den Wagen schnell dahinraste. Ihre Kraft brach und sie sank auf einem Sofa zusammen.

„Vorbei!“ schluchzte sie. „Es ist vorbei!“

Als ihr Vater, der dem Prinzen das Geleit bis vor das Haus hatte geben müssen, wieder hereintrat, fand er sie leblos auf dem Sofa. War es nur Ohnmacht, oder wirklich der Tod? Der verzweifelnde Mann beugte sich über sie.

Kein Athmen, kein Schlag ihres Herzens. Er rief nach Hilfe, nach dem im Hause wohnenden Arzte. Man brachte Essenzen, Salze; der Arzt horchte an ihrer Brust und vernahm in Staunen um die Erstarrte ein unheimliches Knistern, auch ein Pochen im [816] Sofa. Er bestrich ihr kaltes Antlitz – und, gottlob! sie schlug die Augen auf und bewegte sich. Eine lange Ohnmacht war es, aus der sie endlich erstand.

Er war fort, der mit seiner Gegenwart einen magischen Zauber auf sie ausgeübt, wie sie auf ihn. Vorbei, vorbei! hatte sie im Herzensschrei ausgestoßen, als er sie verlassen. Das Rechte zu thun, hatte sie sich vorgenommen, als sie den Brief der Königin an sie gelesen, und ihr Entschluß war gefaßt unter all den Liebesbetheuerungen, die sie mit dem Prinzen austauschte. Ihn lieben, das war ein höheres Gesetz als ihr Wille; ihn ewig lieben, das war ihr Glaube, ihre Religion. Aber auf seinen irdischen Besitz verzichten, um seinem Aufsteigen zum Throne kein Hinderniß zu sein, seiner Person entsagen, um das höchste Opfer für ihn zu bringen – das war das Rechte, was sie thun mußte. Ihr Ideal sollte er bleiben – den Menschen, der es verkörperte, wollte sie aufgeben, festen Sinnes, unbedingt, um alles für ihn und für sich klar zu machen.

So erklärte sie ihrem Vater ihren Entschluß, so schrieb sie selbst der Königin ihre Entsagung der Rechte an den Herzog von Clarence. Vorbei! Jeden Brief, den sie seit der Trennung von William aus London erhielt, sandte sie unerbrochen zurück. Lord Dutton, der wieder nach Hannover zurückgekehrt war und den der Prinz gleichsam zu seinem Gesandten bei ihr bestellt hatte, versuchte, ihr dann Briefe desselben aufzunöthigen und, des Schwures in jener Augustnacht eingedenk, ein getreuer Posa seines Carlos zu sein. Aber auch des Freundes Vermittlung war umsonst. Karoline wies ihn sanft und bestimmt zurück.

„Dutton,“ sagte sie zu ihm, „erschweren Sie meine Prüfung nicht. Sprechen Sie seinen Namen nicht mehr aus zu mir; schreiben Sie ihm, daß er keine Briefe mehr an mich achte. Ich erbitte es von seiner Liebe. In meinem Herzen lebt er weiter, aber für die Welt ist er mir ein Todter, muß er es sein.“

Und der junge Lord ehrte ihren Willen, suchte er gleich, wo er nur konnte, ihr zu nahen und um sie zu sein.

Derweil betrieb die Königin in London unter ihres Gemahls strenger Aufsicht die gerichtliche Scheidung. Bei ihrer Kenntniß des Charakters Georgs III. war unmöglich anders zu handeln, und wenn sie die Angelegenheit in der Führung behielt, so war sie wenigstens im Stande, dabei so schonend als möglich zu verfahren. Der König hatte einen besonderen Gerichtshof für den Fall eingesetzt und demselben die Entsagungsurkunde Karolinens und die Zustimmung ihres Vaters übergeben. Das mußte genügen, denn mit Prinz William war in keiner Weise über die Sache zu reden. Er weigerte sich mit aller Entschiedenheit seines heftigen Charakters, in die Scheidung zu willigen und durch die Entsagungsurkunde Karolinens sich bestimmen zu lassen. Er wußte, daß die Arme von seiner Mutter bedrängt worden war und aus Liebe zu ihm das Opfer zu bringen sich entschlossen haben mußte. Seine Proteste, nahm sie dieselben auch nicht an, erhielt er auch alle seine Briefe an sie ungelesen zurück, hielt er dafür desto trotziger gegen seine Eltern aufrecht. Er hoffte unerschütterlich, zu siegen und dem geliebten Weibe doch die allein würdige Stellung an seiner Seite zu verschaffen, sobald die Verhältnisse sich nur günstig dafür gestalteten. Und dies konnte so jeden Tag möglich sein. Der König litt immer wieder von Zeit zu Zeit an Geistesstörung und seine grenzenlos starrsinnige Politik erhielt mehr und mehr Züge eines Despotismus, der in England verhängnißvoll werden konnte. Man sprach daher schon wieder von Einsetzung einer Regentschaft. Würde dieselbe dem Prinzen von Wales übertragen, so konnte William sicher sein, daß ihm sein Bruder nicht wehren würde, zu thun, was er selber gethan. Lebte der doch noch immer, trotz Fluch und Grimm des Vaters darüber, in seiner Ehe mit der schönen Fitzherbert. Zeit gewonnen, war also für ihn alles gewonnen.

Das Gericht handelte unterdessen nach dem Gebot des Königs. Eines Tages erhielt Prinz William das Urtheil einfach zugefertigt. In seiner Wuth zerriß er das Aktenstück und warf die Fetzen davon ins Feuer. Das Urtheil hatte keinen Werth für ihn. Aber diese Entscheidung regte ihn so sehr auf, daß er in dem Ungestüm seines Wesens sich durch ein wildes Genußleben zu betäuben suchte. Eine unglückliche Liebe ist leicht geneigt, in einer anderen Ersatz und wenigstens den Trost des Mitgefühls zu erstreben. William kannte seit der Zeit, daß er wieder in London lebte, die anmuthige junge Schauspielerin Dora Jordans. Jetzt übertrug er seine vom Ziel gewaltsam abgelenkte Leidenschaft auf sie. Aber weder der König noch die Königin beunruhigten sich deshalb; ein solches loses Verhältniß des Prinzen hatte nicht die folgenschwere Bedeutung einer Ehe, wie mit Karoline von Linsingen, und war unter Umständen sogar von Werth. Am liebsten hätte die Königin nun auch Karoline anderweitig gebunden gesehen, um die ihr dornenvolle Angelegenheit dadurch völlig ausgetragen zu wissen und keine Rückschläge mehr befürchten zu brauchen. Sie meinte es in dieser Hinsicht gut und aufrichtig mit der Tochter ihres alten Freundes und suchte auf diesen, nachdem er von dem richterlichen Scheidungsspruch unterrichtet worden, dahin einzuwirken, daß er eine andere Vermählung Karolinens vermittle, wofür sie so zartfühlend als möglich ihre Erkenntlichkeit in Aussicht stellte.

Karoline errieth diese Absichten, wie edel sich ihr Vater auch in seinen Versuchen benahm, sie schnell einer Wiedervermählung geneigt zu machen. Sie ahnte, daß er hierbei die Wünsche der Königin von England befolgte. Das Mißtrauen aber, welches diese damit gegen ihre freiwillige und großherzige Entsagung verrieth, empörte sie. Sie dachte auch nicht daran, einem der Bewerber um ihre Hand, deren es noch verschiedene gab, Gehör zu schenken. Die beiden früheren Verehrer von ihr, Alten und von dem Busche, waren freilich infolge der Entdeckung des Liebesverhälnisses zwischen Karoline und Prinz William zurückgetreten und auch nicht mehr die täglichen Gäste im Hause des Generals, aber nicht minder vornehme Partien waren es, die sich, trotz der Gerüchte über ihre unglückliche Liebe, Karoline darboten. Lange glaubte man, daß Lord Dutton auch zu diesen Bewerbern gehöre, und Karoline begünstigte sogar durch ihr Benehmen gegen den Mitwisser ihres Geheimnisses diese Täuschung über seine Absichten, weil sie dadurch andere Freier zurückhielt.

War es die Energie des Willens, welche Karoline für die Trennung von William aufgeboten hatte, sie erstarkte auch körperlich sichtlich, während doch die seelische Heimsuchung geeignet gewesen wäre, eine so zarte und sensitive Natur völlig zu zerrütten. Erst nach Jahr und Tag ergriff die still wuchernde Krankheit ihrer Seele auch den Körper. Ein schleichendes Fieber zehrte an ihr. Somnambule Zustände stellten sich dazu ein, die ihre Umgebung in Erstaunen und Furcht versetzten. Immer mehr griff die Schwäche um sich und niemand bezweifelte, daß sie bald durch den Tod erlöst sein werde.

Rathlos standen die Aerzte um ihr Krankenbett. In der That, sie sahen nur ihre Auflösung vor ihren Augen sich langsam vollziehen. Der Athem wurde schwächer und hörte dann auf. Bleich, regungslos lag sie da, das rührende Bild einer edlen Dulderin, die ausgelitten. Auf ihrem Todtenbett weinten Vater und Mutter, die Geschwister, die Freunde des Hauses. Die Anzeige ihres Hinscheidens wurde an Prinz William gesandt und an ihren Bruder Ernst, der zur Zeit den Feldzug in Frankreich mitmachte.

Man bahrte sie auf und bedeckte ihren offenen Sarg mit Blumen und Kränzen. Das feierliche Begräbniß sollte am Mittag stattfinden. Einer der Aerzte, der junge Doktor Meineke, hatte sich vorher in das Todtengemach begeben, um noch einmal die Verklärte zu betrachten. Seit ihrem Tode war er voller Unruhe, als mahne ihn sein Gewissen an eine Schuld. Er hatte den letzten Blick der Sterbenden gesehen und wie über diese großen, hellen, eigentümlich aufblitzenden Augen plötzlich die Lider sich zum Verschluß gesenkt. Warum, hatte er sich nachträglich gefragt, waren diese Augen nicht, wie immer bei Sterbenden, gebrochen, ehe sie sich schlossen? Dann erinnerte er sich seltsamer Erscheinungen in den letzten Nächten vor ihrem Tode, während er allein bei ihr gewacht. Im Bett der Kranken hatte er ein Knistern vernommen, ein Rauschen, während sie doch unbeweglich dalag. Es war dann still geworden; nachher aber vernahm er an der Wand, wo das Bett stand, wieder ein Rauschen und Scharren, ein Klopfen sogar, wie schwache Hammerschläge, bis er sich mit seinem Gesicht über die Schlummernde beugte, sein Athem unwillkürlich sie anhauchte. Dann hörte das gespenstische Geräusch auf. Doch da er keine vernünftige Erklärung für das Vernommene fand, so grübelte er nicht weiter darüber nach. Erst am Tage, der für die Beerdigung bestimmt war, kamen diese Erinnerungen wieder über ihn und beschäftigten ihn so lebhaft, daß er sich zu der Leiche begab, um seine angestiegenen Zweifel darüber zu beschwichtigen, ob sie denn wirklich todt sei. Und indem er sie lange aufmerksam betrachtete, glaubte er es nicht mehr.

(Schluß folgt.)
[817]

Originalgestalten in der heimischen Vogelwelt.
Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.
1. Herrscher: Stein- und Goldadler.

Wohl ebenso gut hätten wir überschriftlich sagen können: Stein- oder Goldadler, denn es sind trotz langem Hin- und Herstreiten, peinlichem Aufsuchen und Beschreiben von Abänderungen im Kleinen und Unbedeutenden bis jetzt mit schlagendem, überzeugendem Erfolge noch keine durchgreifenden, endgültigen Merkmale der Unterscheidung dieser Adler in zwei Arten aufgefunden worden.

Die Gesammtlänge des Adlers geht bis zu 90 cm, und die Flugspannung umfaßt beinahe das Zweieinhalbfache dieser Länge. Diese Maße zeigen schon, daß wir es mit einem Riesen der Vogelwelt zu thun haben, der mit seiner außerordentlich ausgestatteten Wehrhaftigkeit, seiner Kühnheit in Raub- und Mordsinn die Kolosse der Vogelwelt an Kraft und Bedeutung weit überragt. Wie der Löwe der König der Thiere überhaupt genannt wird, so ist der Adler der König der Vögel, ein Herrscher der Lüfte.

Wir wollen hier in allgemeinen Umrissen seine Charakterisirung nach unseren früheren Werken geben: „Schon in der Ruhe bekundet die aufrechte Haltung und vor allem sein großes, prächtiges Auge, der wahre Spiegel der Seele, das ungewöhnliche Thier. Das hellleuchtende Feuer in des Adlers Blick kündet Kühnheit und Majestät, während die Federn, die sich über den obere vorragenden Augenbeinrand die glänzende hochrothe Iris hold bedeckend, in wagerechter Linie ziehen, dem Auge den Ausdruck der Verschlagenheit, Wildheit und Raublust verleihen. Dieses große Auge voll herrlichen Glanzes ist der edelste Sinn dieser Könige der gefiederten Welt. Auf diesen Sinn sind sie, wie alle Raubvögel, wesentlich beim Auffinden ihrer Nahrung hingewiesen, weshalb er auch bedeutend entwickelt ist.“

Es interessirt gewiß höchlich, dies ausgezeichnete Gebilde hier in den Grundzügen seiner Einrichtung zur allgemeinen Verständnis gebracht zu sehen, weshalb es gestattet sei, jene in kurzen Umrissen zu zeigen, um so mehr, als in den meisten Werken davon ganz allgemein die Rede zu sein pflegt. – Obgleich der Augapfel selbst wenig oder gar nicht bewegungsfähig ist, so hebt diesen Mißstand die große Wendbarkeit des Halses auf. Die Form des Augapfels ist eine kegel- oder birnförmige, [818] nach hinten sich bedeutend verbreiternde, ein Vortheil, welcher Raum- und Gewichtsersparniß zur Folge hat. Der Kopf des Steinadlers ist ja verhältnißmäßig klein, und in ihm gestaltet sich dennoch ein wahres Master optischer Fähigkeit. Durch die plötzliche Erweiterung des Augenraumes nach hinten wird die Sehachse, das ist die Linie von der Mitte der äußeren Haut des Augapfels, der „Hornhaut“ (cornea), bis auf den Grund des Auges gedacht, möglichst lang und die bildempfangende Fläche im Augengrunde eine bedeutend breite. In der unter der Hornhaut befindlichen „weißen“ oder „Lederhaut“ (sclerotica) theilen sich zwei platte Aeste, die knochige, ziegelförmig in einander geschobene Ablagerungen aufnehmen in Gestalt eines Ringes, so daß hierin der Augapfel wie von einer oben und unten offenen Kapsel eingefaßt ist, die dem Auge Halt und Stütze verleiht. Eine flache Wölbung zeigt die Hornhaut. An ihrer inneren Fläche sitzen feine Muskelfasern, die durch ihr Anziehen die äußere Wölbung der Hornhaut noch mehr abflachen können, wodurch eine Kürzung der Sehachse entsteht. Ebenso erhält die Regenbogenhaut (Iris) durch ausgebildete Muskeleinrichtungen das Vermögen, sich zusammenzuziehen und auszudehnen. Hierdurch kann der von ihr eingeschlossene Sehraum der Pupille (des „Fensters“) – wie manche Forscher behaupten – jeden Augenblick nach Bedürfniß des Fern- oder Nahesehens erweitert oder verengert werden. Hinter der Hornhaut entwickelt sich noch ein anderes Hautsystem, die „Traubenhaut“, in welcher sich die „Aderhaut“ (chorioidea), nach innen mit einem dunklen Farbstoffe angefüllt, eine natürliche camera obscura) bildend, und der mit der Aderhaut verbundene Strahlenkörper (corpus ciliare), sowie endlich die schon erwähnte Iris absondert. Der Strahlenkörper umfaßt die Kapsel oder Hülle der Linie mit einem Kranze strahliger Muskelfasern, der Ciliarmuskeln, die – mit Hosch zu reden – wie ein Kautschukring das ganze Auge umgeben. Diese Muskelfasern mit ihren sich verzweigenden Fortsetzungen sind sogenannte quergestreifte Muskeln, die im thierischen Organismus die Rolle der dem freien Willen unterworfenen Bewegungen der Sinneswerkzeuge übernehmen.

Aus der Naturlehre weiß man, daß in der konvex-konvex gestalteten Linse, welche im vorderen Raume des Glaskörpers vom Auge sich befindet, die durch die Pupille gehenden Strahlen eines Gegenstandes gebrochen werden und durch den mit krystallheller Flüssigkeit angefüllten Glaskörper bis auf die im Augengrunde, im Brennpunkte der Linse befindliche Membran, die „Netzhaut“, gehen. Hier empfängt das Bild der Sehnerv, der sich, die erwähnte weiße und die Hornhaut durchbrechend, rechts und links bis an den Strahlenkörper verzweigt und das Bild dem Gehirne, das ist dem Bewußtsein, mittheilt. Ueber so manche Einrichtungen des Adlerauges sind die Forscher noch theils im Unklaren, theils getheilter Meinung. Die Annahme von Helmholtz ziehen wir so mancher anderen vor. Nach ihm erschlafft das Band, worin die Augenlinse hängt, wenn sich der Strahlenkörper um die Linse zusammenzieht. Hierdurch erhält dieselbe eine konvexere Form; geht der Strahlenkörperring wieder in den gewöhnlichen Zustand über, so spannt sich das Aufhängeband der Linse und diese wird an ihren Wölbungen flacher. Diese Muskelthätigkeit verleiht dem Auge die Fähigkeit der Accommodation oder der dem deutlicheren Erkennen von näheren und entfernteren Gegenständen sich anbequemenden Stellung des Auges. Diese Hauptvorrichtung hat noch eine zweite im Gefolge. Sobald sich die Muskelfasern des Strahlenkörpers zusammenziehen, schieben sie mit ihren Verzweigungen die Aderhaut und mit ihr die Netzhaut nach vorn, wodurch ein Druck auf die Flüssigkeit im Glaskörper nach vorn entsteht, dem auch die Linse folgt. Hierdurch flacht sich die letztere ab, eine Form, welcher sie oft in der großen Flughöhe des Adlers zum Fernsehen bedarf.

Ja, dieses optische Spiel ist die Folge der sich so schnell und vielfach verändernden Verhältnisse des Auges zu den Gesichtsobjekten im Fluge des Vogels. Was wäre der in den höchsten Flugregionen so oft sich bewegende Adler mit all seiner Wehrhaftigkeit ohne dieses natürliche Fernglas? Erst dies macht ihn zum Beherrscher der Lüfte, verleiht seinem Raubwesen den großartigen Stil, die ausgedehnte Gewalt, vermöge welcher er aus dem Aether und von den höchsten Bergesgipfeln die kleinste Beute bemerkt.

Das Adlerauge.
N Seite der Augenwölbung nach der Nase hin. S Seite der Augenwölbung nach den Schläfen hin. a Hornhaut. b Lederhaut. c Knochenring. f Ciliarmuskel. l Glaskörper. q Aderhaut. r Netzhaut. u Regenbogenhaut. v Linse. w Kamm oder Fächer. x Sehnerv. z Pupille („Fenster“).

Dem vorzüglichen Sehvermögen stehen zwei gleich ausgebildete Gliedmaßen zu Diensten: die mächtigen Schwingen und die großen, scharfbewehrten Füße, die „Fänge“. Mit jenen hebt er sich, seinem gewaltigen Drange zufolge, über die Sehweite des menschlichen Blickes hoch in die Lüfte, mit diesen packt er überwältigend und würgend die Beute. „Des Adlers Flug“ – sagen wir in unseren „Thieren der Heimath“ – „ist hochstrebend, majestätisch, dem ganzen Wesen des edlen Vogels angemessen; hehr und bewegungslos ist sein Schweben, rauschend und unwiderstehlich sein Herabstoßen.“

Doch beschäftigen wir uns mit seiner Lebensweise, um ein Gesammtbild von ihm zu bekommen. Der Steinadler wählt Gegenden und Orte, die ihm Sicherheit und Nahrung bieten, felsige Gebirgszüge, umfassende, große Wälder. Riesenthal giebt als ständige Brutorte die Gegenden von Breslau über Oels, Trebnitz, Ohlau nach Polen hin an, woselbst sich die reichen Jagdgebiete von Trachenberg, Polnisch-Wartenberg, Medzibor etc. öffnen, ferner die Wälder Oberschlesiens, Ost- und Westpreußens. Derselbe Kenner der einheimischen Raubvögel vergleicht drastisch unseren Vogel mit den Großen der Erde, welcher, wie diese zum befestigten Grundbesitz gehörend, seinem Standreviere und auch dem Stammschlosse, seinem Horste, treu bleibt. Während des Winters verbessert und vergrößert er ihn, so daß er im Frühjahr oft wohl um 20 bis 30 cm höher aufgebaut erscheint. Dies ist die auf Felseneinschnitten und Nischen erbaute mächtige, umfangreiche Brutstätte aus Holzknüppeln und Reisern, auf welcher sich nach Brehm ein Mensch bequem lagern kann.

Gewöhnlich weilt nur ein junger Adler im Horste, dem anfangs der hintere, flachmuldige Raum am Felsgestein, begrenzt nach der Tiefe von der bis 2 Meter hohen Holzschicht, angewiesen ist.

Zur Zeit der Paarung, von Mitte März bis Mitte April, fallen wüthende Kämpfe zwischen männlichen Adlern vor, denn kein Paar duldet ein anderes in seinem Brutbereiche. Die Kämpfe werden in der Luft ausgeführt und enden oft blutig, so daß die Streitenden sich ineinander verfangen und wirbelnd zur Tiefe fallen. Wir lassen Riesenthal weiter sprechen:

„Die außerordentliche Flugkraft des Adlers, seine Schnelligkeit und Gewandtheit, die furchtbare Gewalt im Stoß mit Flügeln und Krallen, kurz, die ungebändigte wilde Kraft, welche aus den blitzenden, im Zorn sich blutroth färbenden Augen sprüht, machen den Steinadler zum furchtbarsten Feinde der Thierwelt vom Reh bis zum Kaninchen und Murmelthier, vom Schwan und der Trappe [819] bis zu. Lerche hinab. Er frißt das geschlagene Thier oft schon an, ehe er sich die Mühe gegeben hat, es vollends zu tödten; wie berauscht von dem dampfenden Blut des Schlachtopfers steht er mit gesträubtem Gefieder auf ihm und kröpft sich oft so voll, daß er nur schwer auffliegen kann. Seine Stimme ist der des Bussards ähnlich, aber natürlich viel durchdringender und schärfer, und mit Entsetzen sucht das Wild schleunigst seine Schlupfwinkel auf, wenn er sie auf seinen Streifzügen ertönen läßt. Aengstlich schüchtern rennt das Rudel durcheinander, da! noch ein gellender Pfiff, und mit angelegten Flügeln herabbrausend, stößt er unter die verwirrte Schar und schleppt das Opfer in den Klauen mit Gedankenschnelle fort. Wenngleich der Steinadler nicht vermag, einen schnell fliegenden Vogel zu schlagen, so versucht er doch häufig mit Glück, ihn zu ermüden, bis er sich drückt und ihm verfällt. Dagegen entgeht ihm kein noch so schnell laufendes Thier. – Enten stößt er mit großer Vorliebe, indem er sie von der Wasserfläche aufhebt, wenn sie nicht schnell genug untertauchen. Vögeln rupft er vor dem Kröpfen die Federn aus. Auch Füchse schlägt er. Nicht allein mit den furchtbaren Krallen würgt er seine Opfer ab, sondern auch seine gewaltigen Flügelschläge betäuben und tödten dieselben.“

Der Mensch, als Beherrscher der Erde, hat schon seit langer Zeit gegen diesen Schrecken der Vögelschar und der kleinen und mittelgroßen Säugetiere den Vernichtungskrieg gerichtet, und der Herrscher der Lüfte muß allmählich in diesem Kriege erliegen.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

In der allgemeinen Hast und Aufregung wurde das Erscheinen des Präsidenten und seiner Begleiter kaum bemerkt, nur einige der Ingenieure traten heran und bestätigten achselzuckend die letzten Meldungen. Es wurde trotz des Unwetters mit fieberhafter Anstrengung gearbeitet, ganze Scharen von Arbeitern waren in der Nähe der Brücken beschäftigt, auch bei dem Stationsgebäude schien irgend etwas vorzugehen und dazwischen strömte der Regen und brauste der Sturm, so daß es oft nicht möglich war, die Zurufe und Befehle der Ingenieure zu verstehen.

Nordheim war vom Pferde gestiegen und näherte sich seinem ehemaligen Schwiegersohn, der gleichfalls seinen Posten verließ und ihm entgegenkam. Sie hatten beide geglaubt, jene Unterredung, in der sie sich endgültig trennten, werde ihre letzte sein, jetzt sahen und sprachen sie sich täglich und fühlten im Drange der Ereignisse kaum das Peinliche dieser erneuten Begegnungen. Sie wußten ja am besten, was hier zu verlieren, was theilweise schon verloren war, und die Gefahr des Unternehmens, an dem sie beide gleich beteiligt waren, kettete ihre Interessen wieder so unlöslich zusammen wie zu der Zeit ihrer engsten Verbindung.

„Du bist hier auf der oberen Strecke?“ fragte der Präsident mit angstvoller Unruhe. „Und die untere –?“

„Haben wir preisgeben müssen!“ ergänzte Wolfgang. „Es war nicht möglich, sie länger zu halten. Die Dämme sind durchbrochen, die Brücken fortgerissen. Ich habe nur die nothwendigsten Leute zum Schutze der Stationen gelassen und alle verfügbaren Kräfte hier zusammengezogen. Wir müssen die Wildbäche bändigen, um jeden Preis.“

Der unstete Blick Nordheims flog über die Brücke und nach dem Stationsgebäude hinüber, wo gleichfalls eine Anzahl von Arbeitern beschäftigt war.

„Und was geschieht dort? Du läßt das Haus räumen?“

„Ich lasse wenigstens das technische Bureau mit den Plänen und Zeichnungen in Sicherheit bringen, denn es droht Lawinengefahr vom Wolkenstein; er hat uns schon einige Warnungszeichen herabgesandt.“

„Auch das noch!“ murmelte der Präsident verzweiflungsvoll, und plötzlich fuhr er wie von einem Gedanken ergriffen auf.

„Um Gotteswillen, Du glaubst doch nicht, daß die Brücke –?“

„Nein!“ sagte Wolfgang mit einem tiefen Atemzuge. „Der Bannwald schützt die Schlucht und mit ihr die Brücke, den bricht keine Lawine nieder. Ich habe diese Möglichkeit schon bei der Anlage vorausgesehen und ihr vorgebeugt.“

„Es wäre auch furchtbar!“ stöhnte Nordheim. „Der Schaden ist schon jetzt unabsehbar. Wenn die Brücke fällt, ist alles vorbei!“

Die finstere Stirn des Chefingenieurs furchte sich noch tiefer bei diesem verzweifelten Ausbruch.

„Fasse Dich!“ mahnte er leise, aber mit vollem Nachdruck. „Wir werden beobachtet, alles sieht auf uns; wir müssen das Beispiel des Muthes und der Hoffnung geben, sonst halten die Leute nirgends mehr Stand.“

„Hoffnung!“ wiederholte der Präsident, der sich an das Wort wie an einen letzten Rettungsanker klammerte. „Hoffst Du denn wirklich noch?“

„Nein – aber ich kämpfe bis zum letzten Atemzuge!“

Nordheim blickte in das Gesicht des Sprechenden. Die bleichen, finsteren Züge waren eisern und unbewegt, sie verriethen nichts von dem Sturme, der in seinem Innern wühlte, und doch stand auch für ihn alles auf dem Spiele. Seit die stolzen Träume von Macht und Reichthum zerronnen waren, blieb ihm nur noch sein Werk, auf das er eine neue Zukunft gründen konnte, wenn er am Leben blieb; das wenigstens eine unverwischbare Spur seines Daseins hinterließ, wenn er von Waltenbergs Kugel fiel – jetzt ging auch das zu Grunde! Und doch stand er aufrecht und kämpfte, während der Präsident nur ein Bild haltloser Verzweiflung bot. Was fragte er danach, daß man seine Fassungslosigkeit bemerkte, daß man von einem Manne seiner Stellung das Beispiel des Muthes erwartete, er dachte nur an die ungeheuren Verluste, welche die Katastrophe ihm brachte, Verluste, die ihn stürzen konnten, wenn dem Verderben nicht schleunigst Einhalt geschah.

„Ich muß auf meinen Posten zurück!“ sagte Elmhorst abbrechend. „Wenn Du bleiben willst, so wähle Deinen Standpunkt mit Vorsicht, die Muhren und Erdstürze gehen überall nieder, wir haben schon Unfälle genug dabei gehabt.“

Er wandte sich wieder den Dämmen zu und bemerkte erst jetzt, daß Nordheim nicht allein gekommen war. Eine Minute lang schien sein Fuß am Boden zu wurzeln und sein Blick flog zu Erna hinüber. Er ahnte, was sie herführte; er wußte es ja jetzt, daß sie um ihn zitterte und bangte, aber er versuchte nicht, sich ihr zu nähern; denn neben ihr hielt der Mann, dem sie angehören sollte, der sie schon jetzt als sein unentreißbares Eigenthum betrachtete, stumm und unerbittlich, wie das Verhängniß selbst. Waltenberg sah den angstvollen Blick, der Wolfgang folgte, als dieser wieder zu den Arbeitern zurückkehrte und sich mitten auf den bedrohten Damm stellte, und wie zufällig faßte er den Zügel des andern Pferdes und hielt es mit eiserner Hand fest.

Da tauchte hinter den beiden die lange Gestalt Gronaus auf, der über und über durchnäßt und kotbespritzt, aber mit vollster Gemütsruhe herantrat.

„Da sind wir!“ sagte er grüßend. „Wir kommen direkt von Oberstein, sind aber allerdings mehr geschwommen als gegangen.“

„Wir?“ fragte Ernst. „Ist Doktor Reinsfeld mit Ihnen?“

„Jawohl, wir haben mit Mühe und Noth die Obersteiner wieder zu Verstand gebracht und sie überzeugt, daß ihr Nest diesmal nicht in Gefahr ist. Es war ein schweres Stück Arbeit, aber sie sahen es endlich ein, und kaum waren wir fertig damit, da kam ein Bote von dem Chefingenieur, um den Doktor herzurufen, es seien bei den Rettungsarbeiten ein paar Unglücksfälle vorgekommen. Der gute Doktor lief natürlich, als ob ihm der Kopf brenne, von einem Jammer in den andern, und ich lief mit, denn ich dachte mir, ein Paar kräftige Arme sind überall zu brauchen, und das war ein gescheiter Gedanke. Vorläufig habe ich mich dort drüben in dem Wärterhäuschen als Lazarethgehilfe etablirt und komme nur auf einen Augenblick, um mich zu melden, denn wir haben leider alle Hände voll zu thun.“

„Es sind also schon Unglücksfälle vorgekommen – doch keine schweren?“ fragte Erna hastig.

[820] Gronau zuckte mit bedenklicher Miene die Achseln.

„Einer der Leute ist von dem Wildbache fortgerissen und halb zerschmettert wieder aufgefischt worden; der Doktor meint, er würde schwerlich davonkommen; ein zweiter ist von einem niedergehenden Erdsturze am Kopfe getroffen, bei dem geht es gleichfalls auf Tod und Leben; die Verletzungen der anderen sind leichter Art.“

„Wenn Doktor Reinsfeld noch Hilfe brauchen sollte, ich bin zu jeder Dienstleistung bereit!“ erklärte das junge Mädchen und machte Miene, ihr Pferd nach dem bezeichneten Hause zu wenden.

„Danke, gnädiges Fräulein, wir schaffen es schon allein,“ versetzte Veit, während Waltenberg sich umwandte und seine Braut erstaunt ansah.

„Du, Erna? Dazu sind doch wohl andere Hände da! Du hörst es ja, daß Gronau den Doktor unterstützt. Warum also dieser überflüssige Heroismus?“

„Weil ich es nicht ertrage, allein müßig und theilnahmslos zu bleiben, wo alles arbeitet und ringt und die letzte Kraft einsetzt.“

Es lag ein harter Vorwurf in der Antwort, aber Ernst schien ihn nicht verstehen zu wollen.

„Nun, theilnahmslos bist Du wenigstens nicht, Du fieberst ja förmlich vor Erregung,“ bemerkte er kalt. „Aber es ist wahr, die Leute leisten in der That das Aeußerste, trotzdem sie bei der Arbeit fortwährend in Gefahr sind.“

„Weil der Chefingenieur ihnen immer voran ist,“ ergänzte Veit. „Wenn er nicht überall der erste wäre und ihnen zeigte, wie man die Gefahr verachtet, sie würden sich wohl bedenken und zurückbleiben; aber solch ein Führer reißt auch die Zaghaften fort. Da steht er wieder mitten auf dem Damm, den das wüthende Wasser jeden Augenblick fortreißen kann, und kommandirt, als könne er der ganzen Bergwelt befehlen! Seit drei Tagen schlägt er sich nun so mit dieser verwünschten Alpenfee herum, die diesmal einen förmliches Wuthanfall zu haben scheint, und ich glaube wahrhaftig, er bringt es fertig, sie zu zwingen. – Doch ich muß jetzt zurück zu dem Doktor! Gott befohlen!“

Er ging, und der Präsident, der jetzt erst zu seinen Begleitern zurückkehrte, sah ihn noch in der Thür des Wärterhäuschens verschwinden. Er zuckte unwillkürlich zusammen; das Erscheinen dieses Mannes war ihm eine Unheilsbedeutung mehr an diesem unheilvollen Tage; es erinnerte ihn daran, daß noch etwas anderes ihn bedrohte, was die jetzige Katastrophe nur zurückgedrängt hatte, und diese Katastrophe war schon furchtbar genug.

Die kurze Unterredung mit Wolfgang hatte Nordheim den letzten Hoffnungsschimmer genommen. Wenn auch die obere Strecke endlich preisgegeben werden mußte, was blieb dann noch von all den Bauten, die Millionen verschlungen hatten und die in derselben Weise wiederherzustellen wenigstens für ihn ein Ding der Unmöglichkeit war? Er war von Anfang an der Haupteigenthümer der Bahn gewesen und hatte in der letzten Zeit, mit Rücksicht auf den zu erhoffenden Gewinn bei der Abtretung, noch mehr in seine Hände gebracht, jetzt traf ihn der ganze ungeheure Verlust fast allein. Er wußte, daß sein Vermögen, das ja in vielfachen anderweitigen Unternehmungen steckte, einen solchen Schlag nicht aushalten konnte, und wenn Gronau setzt seine Drohung wahr machte und mit einer öffentlichen Anklage auftrat, war alles verloren. Der Millionär in seiner gesicherten Stellung hätte ihr vielleicht Trotz bieten können, dem Wankenden, Stürzenden mußte sie verderblich werden, Nordheim kannte die Welt, mit der er so oft kaltblütig gerechnet hatte.

Jetzt freilich hielten diese Kaltblütigkeit und Energie nicht mehr Stand. Der Mann, den das Glück so verwöhnt hatte während seiner ganzen Laufbahn, der immer nur erworben und gewonnen hatte, konnte es jetzt nicht fassen, daß sein Glück ihn so völlig verließ. Er war von jeher nur ein kühner, kluger Geschäftsmann gewesen, kein Charakter; vor diesem Schicksalsschlage sank er kläglich zusammen. In dumpfem, verzweiflungsvollem Brüten starrte er in den Regen und auf die Arbeitenden, deren Leitung der Chefingenieur wieder übernommen hatte.

Wolfgang war in der That überall, bald stand er hoch oben auf den Dämmen an der am meisten preisgegebenen Stelle, bald war er mitten auf der Brücke und stemmte sich gegen den Sturm, der an dem eisengefügten Gitterwerk rüttelte, als wolle er es zerbrechen, bald eilte er wieder nach dem Stationshause und gab dort seine Befehle. Sein ganzer Anzug triefte, das Wasser rann aus seinen Haaren, von seinem Mantel; er schien es nicht zu fühlen, schien weder Ruhe noch Erholung zu brauchen, und doch hielt ihn nur die furchtbarste Anspannung aller Seelen- und Körperkräfte aufrecht in diesem Kampfe, der nun dreimal vierundzwanzig Stunden dauerte. Es waren Stunden, in denen Wolfgang Elmhorst selbst seine ärgsten Gegner zur Anerkennung und Bewunderung nötigte.

Auch seinen Todfeind zwang er dazu! Aber dessen Haß und Eifersucht loderten nur noch glühender auf unter diesem Zwange. Waltenberg war ja auch vertraut mit der Gefahr; er hatte sie oft genug herausgefordert und mit ihr gespielt, tollkühn und zwecklos, wie man einen Sport treibt, aber es lag doch noch etwas anderes in dieser unbezwinglichen Energie, mit der Elmhorst seine Pflicht that. Er wußte, daß er auf einem verlorenen Posten stand, die eine Hälfte seines Werkes hatte er schon preisgeben müssen, die andere war auch nicht mehr zu retten, und doch vertheidigte er sie noch und schien entschlossen, eher zu fallen als zu weichen.

Und während dessen hielt Ernst Waltenberg drüben auf seinem Pferde als Zuschauer bei dem „hochinteressanten Anblick“; aber er fühlte es jetzt doch, zu welcher Rolle er sich selber verurtheilt hatte. Es war nicht absichtslos gewesen, daß er Erna veranlaßte, mit ihm nach der Bahn hinunterzureiten; dieselbe berechnende Grausamkeit, mit der er sie bisher durch sein Schweigen gefoltert hatte, diktirte auch diesen Vorschlag. Er wußte, sie würde ihn nicht zurückweisen, weil er ihr die Möglichkeit gab, Wolfgang noch einmal zu sehen und sie sollte ihn sehen, mitten in der Gefahr, der er sich so rücksichtslos preisgab, sollte zittern, sich zu Tode ängstigen und doch mit keiner Miene diese Angst verrathen dürfen. Elmhorst hatte recht: selbst die Liebe dieses Mannes war Egoismus, er fragte nicht danach, ob er ein geliebtes Wesen marterte und quälte, wenn er nur seine wilde Rachsucht befriedigte. Erna sollte laden, wie er litt, er war erbarmungslos gegen sie wie gegen sich selber.

Aber er unterschätzte doch die kühne, furchtlose Natur seiner Braut, wenn er glaubte, sie könne nur zittern in dieser Gefahr. Wohl hingen ihre Augen unausgesetzt an Wolfgang in angstvoller, athemloser Spannung, aber diese Augen flammten auch in leidenschaftlicher Bewunderung, in glühender, stolzer Genugthuung, als sie sah, wie er kämpfte, wie er der Alpenfee in das furchtbare Antlitz schaute und mit ihr rang auf Tod und Leben. In diesem Kämpfen und Ringen wuchs er ihr zum Helden empor, dem ihre ganze Seele zuflog. All die Schatten, die ihr so lange sein Bild verdunkelt hatten, zerrannen in diesem Lichte, er stand vor ihr, wie er damals vor Nordheim gestanden hatte, frei von all den Schlacken, mit dem Siege seiner besseren, seiner wahren Natur.

Ernst mußte es sehen, wie der Pfeil, den er so rachsüchtig abgesandt hatte, auf ihn selbst zurückprallte. Er hatte Erna die Gefahr des Geliebten zeigen wollen, und nun zeigte er ihr nur sein Heldenthum. Wohl hielt er wie ein Wächter an ihrer Seite, entschlossen, jede Annäherung zu hindern, aber er konnte die wortlose Sprache nicht hindern, in der die beiden miteinander redeten, die Blicke, die sich suchten und fanden durch Trennung und Entfernung, durch Sturm und Vernichtungsgraus, und in dieser Sprache sagten sie sich alles. Wolfgang fühlte es, daß in dieser Stunde die Schranke niedersank, die seine Werbung um Alice zwischen ihnen aufgerichtet hatte, und mitten in der düsteren Hoffnungslosigkeit, mit der er seine Pflicht that, leuchtete es auf wie an heller, verklärender Sonnenstrahl, freilich wie ein letzter Strahl vor dem Untergange der Sonne.

Es war ist der That, als ob von der Gegenwart, von dem Auge dieses einzigen Mannes das ganze Rettungswerk abhinge. Wo er stand, wo er selbst befahl und anfeuerte, rang man erfolgreich mit den Elementen, denn da wich keiner zurück, da ging jeder in die augenscheinlichste Gefahr. Die Leute holten sich Muth und Zuversicht aus dem unbewegten Antlitz, aus der unerschütterlichen Ruhe ihres Führers; sie meinten wie Gronau, er müsse das Unheil zwingen.

Und endlich schienen die furchtbaren Anstrengungen auch von Erfolg gekrönt zu werden. Es war gelungen, den gefährlichsten der Wildbäche, der unaufhörlich gegen die Bahndämme anstürmte, unschädlich zu machen. Elmhorst hatte einen tiefen Felseinschnitt benutzt, um der verderblichen Fluth eine andere Bahn zu schaffen, und sie hatte wirklich diesen Lauf genommen. All die Wasser- und Geröllmassen stürzten nun der Wolkensteiner Schlucht zu, wo sie tobend, aber unschädlich in die Tiefe niedergingen. Die nächste

[821]

Der Fleiß.
Originalzeichnung von A. Brunner.

[822] Gefahr war bezwungen und für den Augenblick schien auch das Unwetter nachzulassen. Der Regen hörte auf, der Sturm milderte sich und droben am Wolkenstein begann es lichter zu werden.

Auch die Arbeit ruhte einige Minuten. Der Präsident und Waltenberg, der gleichfalls abgestiegen war, schritten nach der Brücke, wo sich an Theil der Arbeiter versammelt hatte, um zu sehen, wie der bezwungene Wildbach seinen Weg in die Schlucht nahm. Alles athmete auf und schöpfte neue Hoffnung.

Nur der Chefingenieur stand noch seitwärts, abgesondert von den übrigen. Er hörte nicht die frohen Zurufe der Leute, sondern schien weit vorgebeugt auf irgend etwas zu lauschen, was aus der Höhe, aus den Lüften niederklang, wie fernes, fernes Meeresbrausen; er blickte unverwandt zu dem Gipfel des Wolkenstein empor und plötzlich wurde sein Antlitz fahl wie das eines Todten.

„Fort von der Brücke!“ donnerte er den Erschreckten zu. „Zurück – rettet Euch! Es gilt Euer Leben!“

Die letzten Worte wurden bereits verschlungen von einem dumpfen Rollen, das in wenigen Sekunden zum Donner anwuchs; aber der Warnungsruf war doch gehört worden. Die Leute stoben auseinander, sie fühlten es jetzt auch, daß irgend etwas Furchtbares nahte; es zu sehen und zu unterscheiden, dazu blieb ihnen keine Zeit, sie flohen in wilder Hast den beiden Endpunkten der Brücke zu.

Nordheim und Waltenberg wurden in dieser Flucht mitgerissen und der erstere erreichte auch wirklich den festen Boden, während Ernst gerade bei dem Brückenpfeiler strauchelte und stürzte. Neben und über ihm stürmten die anderen dahin; im Egoismus der Todesangst dachte jeder nur an die eigene Rettung, während er, betäubt von dem Sturze, am Boden lag, eine Minute lang völlig unfähig, sich zu erheben, und hier handelte es sich um Sekunden.

Da fühlte er plötzlich, wie ein kraftvoller Arm ihn packte und gewaltsam emporriß; er wurde festgehalten, eine Strecke fortgeschleift, endlich losgelassen und umfaßte nun taumelnd den Stamm eines Baumes, den er vor sich sah und der ihn aufrecht hielt.

Da kam es durch die Lüfte gezogen, heulend und brausend wie ein Orkan, gegen den all das Stürmen der letzten Tage nur leichtes Wehen war, und was in seinem Wege lag, das wurde niedergeworfen oder fortgerissen. Die Sturmesboten gingen der Alpenfee voran und schafften ihr Bahn, und nun kam sie selbst hernieder von ihrem Wolkenthrone. Es rollte wie tausendfacher Donner, auf allen Höhen, in allen Tiefen, als stürze die ganze Bergwelt zusammen; die Felsen schienen zu beben, die Erde zu wanken, als dies furchtbare Etwas weiß und gespenstig vorüberbrauste – das dauerte minutenlang, dann wurde es still – todtenstill.

Die Lawine hatte ihren Weg vom Gipfel des Berges direkt in die Schlucht genommen, einen Weg der Vernichtung. Der mächtige, schützende Bannwald am Fuße der Hochwand war verschwunden und der Abhang, wo er gestanden, zeigte nur ein wüstes, ödes Trümmerfeld. Der Lauf der Ache war gehemmt, die Schlucht zur Hälfte ausgefüllt mit einer eisigen, zerklüfteten Masse, aus der Felstrümmer und Baumstämme emporragten, und dort, wo die Brücke mit ihrer kühnen Wölbung sich von Fels zu Fels schwang, gähnte jetzt eine weite Leere. Zwei der riesigen Seitenpfeiler standen noch, die anderen waren ganz oder theilweise niedergebrochen und an ihnen hing noch ein Theil der Eisenrippen, verbogen und zerknickt wie dünne Rohrstäbe, alles andere lag da unten in der Tiefe. Sie hatte sich gerächt, die wilde Alpenfee – wie Splitter zusammengebrochen lag das stolze Menschenwerk zu ihren Füßen!




Dem furchtbaren Elementarereignisse folgte eine Scene der unbeschreiblichsten Verwirrung. In den ersten Minuten wußte überhaupt niemand, was eigentlich geschehen war, und als man es sich endlich klar machte, galt es vor allen Dingen, Hilfe zu bringen. Zwar hatte der Warnungsruf des Chefingenieurs das Schlimmste abgewandt; im Augenblick der Katastrophe hatte sich niemand mehr auf der Brücke befunden, aber ein Theil der Leute lag, von dem entsetzlichen Luftdruck niedergeworfen, betäubt am Boden, andere hatten durch die umherfliegenden Stein- und Eistrümmer mehr oder weniger Verletzungen erlitten; getödtet schien allerdings niemand zu sein und alles, was unversehrt geblieben war, stürzte jetzt herbei. Es gab zunächst nur ein wirres Durcheinander, ein Rennen und Rufen ohne Ende. Keiner wußte, was er zuerst thun sollte, bis es endlich den Besonneneren gelang, sich Gehör zu verschaffen.

Um so stiller ging es in einer Gruppe zu, die sich seitwärts um einen Schwerverwundeten gesammelt hatte und sich zusehends vergrößerte. Die Ingenieure, die Arbeiter, alles drängte heran; in den Mienen aller las man Bestürzung und ein banges, halblautes Flüstern ging wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund: „Der Präsident?“ – „Nordheim selbst?“ „So schafft doch um Gotteswillen den Arzt herbei!“

Es war in der That Präsident Nordheim, der hier am Boden lag, blutend, bewußtlos, fast ohne Lebenszeichen. Er hatte sich anscheinend bereits in Sicherheit befunden, als einer der auffliegenden schweren Eisentheile aus dem zerstörten Brückenpfeiler ihn traf und niederwarf. Erna und Waltenberg waren um ihn beschäftigt und von allen Seiten war man bestrebt, ihnen Hilfe zu leisten, als sich jetzt der Kreis öffnete und der Chefingenieur mit dem Doktor Reinsfeld herantrat.

Benno war etwas bleicher als gewöhnlich, aber vollkommen ruhig, als er niederkniete und die Wunde zu untersuchen begann. Der Schmerz der Berührung schien Nordheim wieder zu sich zu bringen, mit einem lauten Stöhnen schlug er die Augen auf und sein starrer Blick blieb an dem Antlitz des Mannes hängen, der sich über ihn beugte. Er mochte ihn wohl nicht erkennen und glaubte offenbar, die Züge des einstigen Jugendfreundes zu sehen, die sich in dessen Sohn wiederholten, denn sein Gesicht nahm den Ausdruck eines unverkennbaren Entsetzens an und mit einer krampfhaften Bewegung versuchte er, sich aufzurichten und die helfende Hand zurückzustoßen, aber das gelang ihm nicht. Mit einem zweiten qualvollen Aufstöhnen sank er wieder zurück und ein Strom von Blut schoß aus seinem Munde hervor.

Die Umstehenden sahen darin nur den Ausdruck des körperlichen Schmerzes, Benno allein errieth die Wahrheit, er beugte sich noch tiefer und während er sanft seine Hand unter das Haupt des Leidenden schob und es zu stützen versuchte, sagte er leise:

„Stoßen Sie meine Hilfe nicht zurück, ich biete sie gern – aus vollem Herzen!“

Nordheim war unfähig zu sprechen, und jene heftige Bewegung hatte seine Kraft erschöpft, er verlor von neuem das Bewußtsein. Der junge Arzt untersuchte so schonend als möglich die Wunde in der Brust, legte den ersten Verband an und wandte sich dann mit tiefernster Miene zu Waltenberg und Elmhorst.

„Du hast keine Hoffnung?“ fragte der letztere halblaut.

„Nein, hier ist jede Hilfe vergebens,“ versetzte Benno in dem gleichen Tone. „Wir wollen versuchen, ihn nach seinem Hause zu schaffen; wenn der Transport mit der äußersten Vorsicht geschieht, hält er ihn vielleicht aus. – Gnädiges Fräulein, ich möchte Sie bitten, vorauszugehen und die Tochter vorzubereiten, damit sie das Schreckliche nicht allzu jäh trifft. Wir dürfen es ihr nicht verhehlen, daß der Vater sterbend zurückkehrt, denn er wird die Nacht nicht überleben.“

Er trat zurück und gab die nöthigen Anweisungen. An helfenden Händen war kein Mangel; es wurde rasch eine Tragbahre hergestellt, einige Mäntel und Decken herbeigeschafft und der Verwundete mit äußerster Sorgfalt darauf gebettet, dann trat der traurige Zug langsam den Weg nach der Villa an. Erna war bereits vorausgegangen und Reinsfeld, der sofort nachzukommen versprach, wandte seine Sorgfalt den anderen Verletzten zu, bei denen es nur einer ersten Hilfeleistung bedurfte, in Lebensgefahr befand sich keiner von ihnen.

Waltenberg war gleichfalls zurückgeblieben , er stand unentschlossen da und schien mit sich zu kämpfen; als er aber sah, daß der Chefingenieur sich nach der Wolkensteiner Schlucht wandte, folgte er ihm und holte ihn mit wenigen Schritten ein.

„Herr Elmhorst!“

Wolfgang blieb stehen und wandte sich um, es lag eine starre, unheimliche Ruhe in seinen Zügen und seine Stimme war völlig klanglos, als er sagte: „Sie kommen, mich an das gegebene Wort zu mahnen? Ich stehe Ihnen zur Verfügung, zu jeder Stunde – meine Pflichten sind zu Ende.“

Ernst hatte eine solche Mahnung in diesem Augenblicke wohl nicht beabsichtigt, er machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Ich glaube, wir sind jetzt beide nicht in der Stimmung, unseren Streit auszufechten. Vor allen Dingen sind Sie es nicht.“

Elmhorst fuhr mit der Hand über die Stirn; jetzt, wo die furchtbare Anspannung seiner Nerven nachließ, fühlte er erst, wie erschöpft und todesmatt er war.

[823] „Sie mögen recht haben,“ sagte er mit demselben starren, unheimlichen Ausdruck. „Es kommt von der Ueberarbeitung. Ich habe seit drei Nächten nicht geschlafen, aber ein paar Stunden der Ruhe werden mich völlig wiederherstellen und ich wiederhole, daß ich Ihnen gänzlich zur Verfügung stehe.“

Ernst blickte schweigend in das Gesicht des Mannes, dem der heutige Tag alles vernichtet hatte – ihn täuschte diese Ruhe nicht. Er hatte augenscheinlich eine Entgegnung auf den Lippen, unterdrückte sie aber und sein Auge flog zu dem Ausgange der Brücke hinüber, wo er vorhin gestürzt war bei der Flucht. Gerade an jener Stelle war der Seitenpfeiler niedergebrochen und die Eisentheile desselben hatten sich tief in das Erdreich eingewühlt. Dort hätte auch er zerschmettert und zermalmt gelegen, wenn eine rettende Hand ihn nicht dem Verderben entrissen hätte, vielleicht war ihm diese Hand nicht so fremd, als es den Anschein hatte.

„Ich muß hinauf und sehen, wie es mit dem Präsidenten steht,“ sagte er hastig. „Doktor Reinsfeld hat versprochen, die Nacht über bei uns zu bleiben, wir senden Ihnen Nachricht.“

„Ich danke,“ sagte Wolfgang, der nur rein mechanisch zu hören und zu antworten schien; seine Gedanken waren nicht bei dem Gespräch, und als Waltenberg sich von ihm wandte, schritt er langsam weiter, dem Orte zu, wo die Wolkensteiner Brücke einst – stand! –

Es war eine furchtbare Nacht, welche die Familie und Umgebung Nordheims durchlebte. Der Herr des Hauses kämpfte den letzten Kampf, einen langen, qualvollen Kampf, der nicht enden wollte. Unfähig, zu sprechen oder sich zu regen, aber bei vollem Bewußtsein, sah und fühlte er es, wie der Sohn des verrathenen, betrogenen Jugendfreundes, den er der Armuth und Entbehrung preisgegeben hatte, während er selbst mit den Früchten der geraubten Arbeit zu fürstlichem Reichthum emporstieg, sich abmühte, seine Schmerzen zu lindern und ihm das Sterben, das er nicht abzuwenden vermochte, wenigstens zu erleichtern. Man konnte nicht schonender und aufopfernder seine Pflicht thun, als Benno sie hier that, und vielleicht war gerade diese Aufopferung die schwerste Strafe für den Sterbenden. Im Angesichte des Todes hielten Lüge und Betrug nicht mehr Stand, da zeigte nur die Wahrheit ihr unerbittliches Antlitz und hier war es ein vernichtendes. Das schwere qualvolle Ringen dauerte ja nur eine einzige Nacht, aber in diesen wenigen Stunden drängte sich die Qual eines ganzen Lebens und die Vergeltung für ein ganzes Leben zusammen.

Als der Morgen endlich anbrach, ein grauer, trüber Nebelmorgen, da waren Kampf und Qual zu Ende und da war es Benno Reinsfelds Hand, welche dem Todten die Augen zudrückte. Dann hob er sanft die schluchzende Alice empor, die an der Leiche des Vaters in die Kniee gesunken war, und führte sie fort. Er sprach kein einziges Wort der Liebe oder Hoffnung zu ihr; das wäre ihm in dieser Stunde wie Frevel erschienen, aber die Art, wie er den Arm um sie legte und sie stützte, zeigte, daß er das jetzt als sein Recht in Anspruch nahm und an keine Trennung mehr dachte. Er hätte dem Manne, der seinem Vater so Schweres angethan, niemals den Vaternamen geben können; das blieb ihm jetzt erspart, auch wenn Alice sein Weib wurde, und ihr Reichthum, der sich auf jenem Betruge aufbaute, war größtenteils zerronnen – jetzt stand nichts mehr trennend zwischen ihnen.

Auch Erna hatte sich, als alles vorüber war, in ihr Zimmer zurückgezogen. Alice bedurfte ihrer jetzt nicht, sie hatte einen besseren und näheren Tröster zur Seite.

Das junge Mädchen saß bleich und überwacht am Fenster und blickte hinaus in den grauenden Morgen, der auch nur Nebel und Wolken brachte. Wie fern ihr der Oheim auch gestanden, wie herb sie oft ihn und seinen Charakter beurtheilt hatte, die letzten schweren Leidensstunden hatten das alles ausgelöscht, es war nur noch der Bruder ihrer Mutter gewesen, den sie sterben sah.

Ihre Gedanken weilten freilich nicht mehr bei dem Todten, sie suchten einen Lebenden, der jetzt vielleicht im Nebelgrauen vor den Trümmern seines vernichteten Werkes stand. Sie wußte, was ihm dies Werk gewesen war, und fühlte den Schlag mit, der ihn getroffen. Erna hätte ihr Leben hingegeben für die Möglichkeit, jetzt an seiner Seite zu sein, ihn trösten und ermuthigen zu dürfen, und statt dessen mußte sie ihn allein lassen in seiner Verzweiflung. Sie beachtete es nicht, daß Greif sich zu ihr geschlichen hatte und bittend und schmeichelnd den Kopf in ihren Schoß legte, sondern starrte regungslos hinaus in das Nebelwogen.

Da wurde die Thür geöffnet. Waltenberg trat ein und näherte sich langsam seiner Braut, die, in ihre Träumereien versunken, ihn erst gewahrte, als er vor ihr stand und ihren Namen nannte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Eine Biographie Theodor Storms, ein Bild seines Lebens und Schaffens, ist jüngst von Feodor Wehl herausgegeben worden (Altona, Verlag von A. C. Reher). Nicht bloß das Bild des Dichters, auch das des Mannes, des Patrioten, tritt uns in dieser feinsinnigen Schilderung lebendig entgegen. Theodor Storm war ein echter schleswig-holsteinischer und deutscher Patriot – und das sollte dem vorzüglichen Dichter so stimmungsvoller Lebens- und Naturbilder, welche ein so begeistertes Publikum gefunden, nicht vergessen werden.

Selten war ein Dichter so ausschließlich von einem Heimathsgefühl beherrscht, das seiner Dichtung den beseelenden Odem gab. „Schleswig-Holstein,“ sagt Wehl, „suchte er beständig mit der Seele und sie lebte und webte, getrennt von ihm, doch nur in ihm mit allem Denken und Schaffen. Alle seine Geschichten spielen auf seinem Boden. Die Landschaften, die Städte, die Menschen, die darin geschildert werden, gehören alle nach Schleswig-Holstein; Schleswig-Holstein ist das Ein und Alles seiner Muse. Sie ist so schleswig-holsteinisch wie er selbst oder fast noch mehr. Er selbst konnte Schleswig-Holstein verlassen, seine Muse nicht. Sie hing an seiner Scholle und man ist entschieden nicht im Unrecht, wenn man behauptet, sie sei es besonders gewesen, die ihr poetisch die Zunge selbst und sie zum Sprechen gebracht hatte.“ War ja doch auch im Leben Theodor Storm ein echter Patriot; zwar hat er in den Tagen, als die Wogen der schleswig-holsteinischen Bewegung zuerst hochgingen, weder die Waffen noch das große Wort in den Versammlungen geführt, aber aus seiner deutschen Gesinnung nie ein Hehl gemacht. Seiner Freude, seinem Schmerz über die wechselnden Geschicke seines Vaterlandes gab er in markigen und kernhaften Gedichten Ausdruck. Nach der anfänglichen Niederlage der schleswig-holsteinschen Waffen sang er ergreifende Lieder der Klage, welche an Platens Polenlieder erinnern. Der Schluß des einen lautet:

„Und schauen auch vom Thurm und Thore
Der Feinde Wappen jetzt herab,
und rissen sie die Trikolore
Mit wüster Faust von Kreuz und Grab;
Und müssen wir nach diesen Tagen
Von Herd und Heimath bettelnd gehen:
Wir wollen’s nicht zu laut beklagen,
Mag was da muß mit uns geschehn.“

In einem andern Gedicht widmet er den gebliebenen Helden die schwunghaften Strophen:

„und sollte dieser heiße Lebensstreit
Verloren gehn wie euer Blut im Sande
und nur im Reiche der Vergangenheit
Der Name leben dieser schönen Lande:
In eurem Grabe, wenn das Schwert zerbricht,
Liegt deutsche Ehre fleckenlos gebettet;
Beschützen konntet ihr die Heimath nicht,
Doch habt ihr sterbend sie vor Schmach errettet.“

Das anheimelnde Lebensbild von Wehl, welches dem Dichter, dem Manne, dem Patrioten gleichmäßig gerecht wird, sei allen Freunden des Schleswig-Holsteinschen Poeten aufs wärmste empfohlen.
†     

Der Arzt. (Mit Illustration S. 813.) Eine ernste, eine sehr bedenkliche Miene hat der Herr Doktor heute gemacht! Ach – und wie aufmerksam hatten sie seinen Gesichtsausdruck beobachtet, sehnsüchtig daraus eine Belebung ihrer sinkenden Hoffnung erwartend! Aber nur härtestes Mißgeschick, unabwendliches Unheil steht dort zu lesen. Ja, eine tückische Krankheit ist’s, die das Haupt der Familie, den sorgsamen Ernährer, ergriffen, aber doch war bis heute noch die trostreiche Aussicht vorhanden, daß seine kräftige Natur die schwere Krisis überstehen, daß er zu neuem Leben genesen werde. Heute mußte die Wendung eintreten. Von schmerzlicher Ahnung aufs tiefste niedergeschlagen, folgen Mutter und Gattin dem Arzte, um aus seinem Munde Gewißheit zu erhalten. Die letztere wird schon an der Thür von ihrem Kummer überwältigt und lehnt sich, krampfhaft schluchzend, an den Thürpfosten, da sie kaum sich aufrecht zu erhalten vermag. Auch das kleine Töchterchen, das so früh eine arme Waise werden soll, scheint schon den schmerzlichen Verlust ahnend zu empfinden, der ihm bevorsteht. Nur die Greisin, welche schon so vieles Harte im Leben hat ertragen müssen, ist dem ärztlichen Rathgeber bis zur Straße gefolgt, und wenn auch mit bitterem Schmerze, so doch mit Fassung und Ergebung in das Unvermeidliche erfährt sie nun, daß sie auf das Schlimmste vorbereitet sein müssen, daß keine Hoffnung mehr vorhanden. Mit stiller Resignation horcht sie auf den tröstenden Zuspruch des biederen Arztes, der in der täglichen Erfüllung seines harten Amtes noch nicht das edle Mitgefühl eingebüßt hat, der nicht einseitig nur für die Krankheiten des Körpers ein offenes Auge, nein , der auch für die Schmerzen der Seele ein offenes Herz hat.

Hans Bachmann, der unsern Lesern schon durch sein vortreffliches Bild „Weihnachtssingen“ (siehe „Gartenlaube“ 1887, S. 824 und 825[WS 1]) bekannt [824] ist, bewährt sich in diesem gemüthvollen Bilde der Trauer als ein meisterlicher Darsteller der ernsten Seiten des Lebens. Er hat den Charakter des Volkes seiner Schweizerischen Heimath in seiner ganzen Gemüthstiefe studirt und bringt nun seine unmittelbaren Aufnahmen unverfälscht mit künstlerischer Vollendung zum bildlichen Ausdruck. Das wirkungsvolle Bild fand auf der Berliner Kunstausstellung von 1888 ehrenvolle Erwähnung.


Frische Blüthen zu Weihnachten. In Deutschland ist hier und dort die Sitte verbreitet, die Wohnung um die Weihnachtszeit mit blühenden Zweigen zu schmücken. Wir haben schon einmal derselben flüchtig gedacht; heute möchten wir einige praktische Regeln zur Erzielung dieses anmuthigen Blumenflors geben.

Nach den Bauernregeln soll man die Zweige von Bäumen und Sträuchen, wenn Sie zu Weihnachten blühen sollen, an gewissen Tagen brechen und Sie alsdann im warmen Zimmer in ein mit Wasser gefülltes Glas stellen. Als die geeigneten Tage werden je nach den Gegenden der Andreastag (30. November), St. Barbara (4. Dezember) und St. Nikolaus (6. Dezember) bezeichnet. Diese Bauernregel ins „Wissenschaftliche“ übertragen lautet, daß man die Zweige, wenn es schon einige Male gefroren hat, Anfang Dezember, brechen soll. Es empfiehlt sich in der That, dieselben zu brechen anstatt zu schneiden, weil die Bruchfläche das Aufsaugen des Wassers mehr begünstigt als der glatte Schnitt. Die Zweige sind in einem mit Wasser gefüllten Gefäß möglichst ans Licht zu setzen. Täglich ist frisches Wasser in das Gefäß zu gießen, damit es immer voll bleibt.

Das Bespritzen der Zweige mit einem Zerstäuber befördert das Treiben; zu vermeiden ist dagegen jäher Temperaturwechsel. Sinkt z. B. die Temperatur in dem am Tage geheizten Zimmer während der Nacht um ein Bedeutendes herab, so gehen die Zweige zu Grunde, am zuträglichsten erscheint eine Temperatur von 12° bis 15° R. H. Jäger bemerkt in seiner „Winterflora“, daß bei manchen Zweigen, wie z. B. denen der Traubenkirsche, die Blüthen sich vollkommener entwickeln, wenn man das Wasser kalt hält und zu diesem Zwecke immer ein Stückchen Eis in dasselbe legt.

Selbstverständlich muß man zu diesem Weihnachtsschmuck nur frühblühende Holzarten wählen. Die Auswahl aber ist dabei immer noch sehr reichhaltig. Zuvörderst sind alle Obstarten zu nennen, namentlich Kirschen und Aepfel. Aprikosen, Mandeln und Pfirsiche geben gleichfalls gute Resultate. Dann sind aber die duftenden Fliederarten zu berücksichtigen, und zwar besonders der weiße spanische Flieder und der persische (Syringa persica). Besonders dankbar erweist sich schließlich unser bekannter Waldstrauch Steinröschen oder Seidelbast, der sich durch seine purpurrothen wie Hyazinthen duftenden Blumen auszeichnet. Zweige desselben gelangen nämlich am frühesten zur Blüthe, in der Regel schon nach etwa 8 Tagen.

Man braucht jedoch diese interessante und Herz und Auge erfreuende Treiberei nicht ausschließlich auf die Weihnachtszeit zu beschränken. Auch im späteren Winter kann sie fortgesetzt werden, ja die Blüthen werden um so vollkommener, je später man die Zweige bricht und ins Wasser setzt.

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Briefkästen am Ocean. Im Süden des amerikanischen Festlandes, an der Küste von Patagonien, welches durch die Magellanstraße von dem Feuerlande getrennt wird, befindet sich ein Postamt, das zweifellos zu den primitivsten der ganzen Welt gehört, da es nicht einmal einen einzigen Beamten aufzuweisen hat. Dicht am Strande ist ein starker Balken mit der Aufschrift „Post office“ aufgerichtet und neben ihm liegt, an starker eiserner Kette befestigt, ein Faß mit verschließbarem Deckel. Die Schiffe, welche die Magellanstraße passiren, senden ein Boot an die Küste, lassen diejenigen Briefe, die auf dem einzuhaltenden Kurs befördert werden müssen, herausnehmen und dafür die eigenen Postsachen hineinlegen, um erstere in dem nächsten Hafen mit regelmäßiger Postverbindung zum Weiterversand aufzugeben. In der Torresstraße auf einer zu Australien gehörigen Insel befindet sich eine ähnliche Poststation, die trotz ihrer Einfachheit ebenfalls ihren Zweck erfüllt.


Das Denkmal der Völkerschlacht bei Leipzig. Der Gedanke, den gewaltigen Kampf, in welchem nach dreitägigem Ringen auf den blutgetränkten Ebenen Leipzigs der französischen Oberherrschaft über Deutschland ein Ende gemacht und der korsische Eroberer zu Boden geschmettert wurde, durch ein Nationaldenkmal zu verherrlichen, entstand bereits im Jahre 1814. Man hatte drei Entwürfe beschafft, die dem damaligen Zeitgeschmack in ausgiebiger Weise Rechnung trugen. Der erste Entwurf zeigte einen Sockel mit senkrecht darauf gestelltem Kolossalschwerte, die Spitze nach oben gerichtet. Auf dem zweiten Entwurfe trug der Sockel, quergelegt, Schwert und Landwehrkreuz, während auf dem dritten Entwurfe eine aus Lanzen gebildete Säule, mit einem Kreuze als Krönung, dargestellt war. Einen weiteren, wohl den besten Vorschlag in der Denkmalsangelegenheit, machte Kotzebue. Er wollte, daß die auf dem Felsberge, unweit Reichenbach im Odenwalde, liegende sogenannte „Römersäule“ auf dem Schlachtfelde bei Leipzig aufgerichtet würde, ein Denkmal, verfertigt von den ersten Unterdrückern Deutschlands und aufgestellt zur Erinnerung an den herrlichen Sieg über die letzten Unterjocher der deutschen Völkerstämme.

„Daß auf den Feldern bei Leipzig,“ schrieb damals Arndt, „ein Ehrenmal errichtet werden muß, damit auch die spätesten Enkel noch ersehen, was daselbst in den Oktobertagen des Jahres 1813 geschah, darüber ist in ganz Deutschland, ja wohl in der ganzen Welt, nur eine Stimme.“ Arndt machte dazu auch einen Vorschlag, aber niemand nahm sich der Sache ernstlich an, und so unterblieb die Ausführung.

Da kam das Jahr 1863 und mit ihm die großartige fünfzigjährige Jubelfeier der Leipziger Völkerschlacht, wozu mehr als zweihundert Städte Abgeordnete gesendet hatten und welcher noch Hunderte von Veteranen aus den Riesenkämpfen jener Tage beiwohnten. Auf der Höhe bei Stötteritz, unfern der Stätte, von welcher aus Napoleon am 18. Oktober die Entscheidungsschlacht leitete und in später Abendstunde sich zur Flucht wandte, wurde in Gegenwart einer unübersehbaren Menschenmenge der Grundstein zu einem Denkmal in die Erde gesenkt und dabei ein begeisterter Weiheakt vollzogen. Die politischen Verhältnisse der nächsten Zeit waren aber leider nicht dazu angethan, das Denkmalsprojekt weiter zu verfolgen.

Das alles hat sich ausgeglichen. Das deutsche Volk steht geeinigt und verbrüdert in allen seinen Stämmen, und so konnte auch mit der fünfundsiebzigsten Erinnerungsfeier an die Völkerschlacht der Gedanke, auf der Blutstätte, wo Deutschlands Rettung errungen wurde, ein Denkmal aufzurichten, neu erstehen und begeisterte Aufnahme finden. Hatten die unerwarteten Ereignisse, welche Jahr auf Jahr einander folgten, die Kämpfe der Gegenwart, der Dank für die Gefallenen und Kämpfer der neuen Schlachten, Blicke und Gedanken von den fast sagenhaft gewordenen Kämpfen der Vergangenheit abgelenkt, so einigte sich nunmehr Alldeutschland zu gemeinsamer Tilgung jener Dankesschuld. In Leipzig bildete sich ein Komité zur Errichtung eines Denkmals, und alsbald meldeten sich die Vertretungen von fünfzehn der bedeutendsten Städte, Augsburg, Berlin, Braunschweig, Bremen, Brünn, Cassel, Dresden, Graz, Hannover, Karlsruhe, Königsberg, Leipzig, Oldenburg, Posen und Weimar zur Annahme von Gaben für das Ehrenmal. Auch von vielen anderen Seiten wurden der Schöpfung eines solchen die wärmsten Sympathien entgegengebracht.

So darf man denn hoffen, daß in nicht ferner Zeit das von der ganzen Nation dargebrachte Erinnerungsmal über den blutgetränkten Gefilden der Völkerschlacht erglänzen werde, nicht allein als Zeichen der Dankbarkeit, sondern auch als Wahrzeichen deutscher Kraft und deutschen Muthes, die vielleicht gebeugt, aber nimmer gebrochen werden konnten und keinen Feind, wäre er auch der mächtigste, zu fürchten brauchen.

Otto Moser.



Damespiel-Aufgabe.
Von Erich Fabian.

Weiß zieht und gewinnt.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

M. H. in S. Daß die neue Garnisondienstvorschrift über 50 Fremdwörter durch deutsche Ausdrücke ersetzt hat, ist richtig. Statt „Funktionen“ heißt es jetzt Obliegenheiten, statt „lokal“ örtlich, statt „Revision“ Prüfung und Nachsehen; für „formiren“ sagt man „sich aufstellen“, für „cotoyiren“ begleiten, „visitiren“ nachsehen, „speciell“ besonders, für „aktiven Dienst“ Einberufung zur Fahne; das „Bureau“ heißt Geschäftsstube oder Geschäftsraum, die „Administration“ Verwaltungsbehörde, die „Wachtinstruktion“ Wachtvorschrift etc.

F. W. in K. Elise Polkos Artikel „Im Kinderhospital“ („Gartenlaube“ 1887, S. 855) ist erfreulicherweise nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen, das bezeugt nicht nur Ihre freundliche Zuschrift, für die wir bestens danken, sondern auch ein Brief, welcher der Verfasserin von jenseit des Oceans zugegangen ist. In Cleveland (Nord-Amerika) hat sich ein Verein gebildet, dessen Zweck die Gründung eines Kinder-Hospitals ist, und die Betheiligung an dem schönen Unternehmen ist eine sehr rege. „Der Deutsche und alle übrigen Ausländer“, heißt es in dem genannten Briefe, „wenden ihre Hilfe meist den Bedrängten ihrer eigenen Nation zu; doch in diesem Falle, bei der Gründung eines Kinderhospitals, vereinigen sich sämmtliche Nationalitäten.“ Möchten solche erfreuliche Nachrichten uns noch mehr zugehen!

D. A. in M. Wenn ihre Bewerbungen um eine Stelle Erfolg haben sollen, so müssen Sie in erster Reihe genau prüfen, welche Anforderungen gestellt werden und ob Sie im Stande sind, diesen voll und ganz zu entsprechen. Verlangt der Suchende Fertigkeit im Englischen und Französischen und Sie können nur die eine der Sprachen, so wird eine Bewerbung fast immer unnütz sein. – Die Zeugnisse schickt man nicht im Original, sondern stets in beglaubigter Abschrift, da niemand zur Zurücksendung derselben verpflichtet ist.

Fröbelfreund in Beuthen. Die bisher eingegangenen Beiträge zum Bau eines Ehrenthurms für Friedrich Fröbel haben insgesammt die Höhe von 2629 Mark 70 Pfennig erreicht. Diese Summe ist gewiß dankenswerth, reicht aber noch lange nicht hin, um die Baukosten, welche etwa 9000 Mark betragen, zu decken. Möchten deshalb gleich Ihnen noch recht viele Verehrer des unvergeßlichen Kinderfreundes dem Komitee für den Thurmbau (dem Vorsitzenden des Thüringerwald-Vereins Trautner in Oberweißbach) größere oder kleinere Beiträge zuweisen!




Inhalt: Deutsche Art, treu gewahrt. Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser (Fortsetzung). S. 809. – Versperrter Weg. Illustration. S. 809. – Karoline von Linsingen. Aus dem Leben einer schwergeprüften Frau. Nach ihren Briefen und Aufzeichnungen. Von Schmidt-Weißenfels (Fortsetzung). S. 814. – Originalgestalten in der heimischen Vogelwelt. Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller. 1. Herrscher: Stein- und Goldadler. S. 817. Mit Illustrationen S. 817 und 818. – Die Alpenfee. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 819. – Der Fleiß. Illustration. S. 821. – Blätter und Blüthen: Eine Biographie Theodor Storms. S. 823. – Der Arzt. S. 823. Mit Illustration. S. 813. – Frische Blüthen zu Weihnachten. S. 824. – Briefkästen am Ocean. S. 824. – Das Denkmal der Völkerschlacht bei Leipzig. Von Otto Moser. S. 824. – Damespiel-Aufgabe. S. 824. – Kleiner Briefkasten. S. 824.




Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. – Druck von A. Wiede in Leipzig.



  1. Vergleiche den Artikel „Die Frau eines Thronfolgers“ in Nr. 2 des Jahrgangs 1887 der „Gartenlaube“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: S. 808 und 809