Die Gartenlaube (1894)/Heft 8

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[117]

Nr. 8.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(7. Fortsetzung.)


Ruedlieb eilte, als Herr Waze davongeritten war, auf den Vater zu und erschrak bei seinem Anblick. „Was hast, Vater?“ stammelte er. „Hat er Dich gebüßt?“ Der Schönauer atmete tief auf und schüttelte stumm den Kopf. „Aber so red’ doch, Vater! Hab’ ich, am End’ was Schieches angerichtet, weil ich ihm gesagt hab’, wohin die Krax’ gehört?“

Wieder schüttelte der Bauer den Kopf. „Hast ja nur die Wahrheit gered’t!“

„Aber was ist denn gewesen?“ fragte der Bub’ in wachsender Sorge. „Er hat ja doch so freundlich mit Dir gered’t!“

Der Schönauer lachte heiser. „Hast das noch nie gehört: je schönere Farben die Natter spielt, so giftiger beißt sie?“

„Vater?“

„Frag’ nicht weiter, Liebli! Geh’ hinein ins Haus und thu’ Dich richten zur Albenfahrt!“

„Aber ich muß ja doch die Krax’ ...“


Der Altstadtmarkt zu Braunschweig mit der Martinikirche und dem Rathaus.
Nach einer Originalzeichnung von R. Püttner.

[118] „Laß Du die Krax’ in Ruh’!“ fiel der Bauer hastig ein. „Die besorg’ ich schon selber. Geh’, Bub’, geh’!“

Ruedlieb fragte nicht mehr; er schaute mit bekümmertem Blick seinem Vater ins Gesicht, dann wandte er sich zögernd ab und ging ins Haus. Als er drinnen in der Flurstube auf dem niederen Herdrand saß und die Riemen der Bergschuhe knüpfte, konnte er durch die offene Thür sehen, daß der Köppelecker den Hof betrat, mit einem Pack auf der Schulter. Der Schönauer redete mit dem Nachbar; dann ging der Köppelecker mit seinem Pack wieder davon. Der Reihe nach kamen auch die andern: der Kirngasser und Bärenlochner, einer der Winklerbuben, der Schwaiger und Waldhauser - der Schönauer redete mit ihnen, und da trug ein jeder wieder heim, was er gebracht hatte. Der Kaganhart blieb aus - er war wohl mit seinem Weib nicht auf gleiche Meinung gekommen. Einer aber erschien, den der Schönauer gar nicht erwartet hatte: Eigel, der Kohlmann.

„Hast gehört, Richtmann, hast das Glöckl gehört?“ fragte der Alte mit erregten Worten und deutete mit seinem Stecken gegen den Lokistein.

Der Schönauer nickte. „Deine Kohlstatt liegt nicht weit vom Stein ... Du bist wohl gleich drauf zugelaufen, gelt?“

„Das kannst Dir denken!“

„Und warum kommst zu mir?“

Der Kohlmann faßte den Schönauer am Arm und dämpfte die Stimme. „Sie haben schon einen Ring gezogen um den Stein.“

„Wer?“

„Die Wazemannsbuben. Auf jedem Weg zum Lok’stein ist einer dagestanden vor mir, auf der Untersberger Seit’ der Rimiger, hinter dem Kälberstein sein Bruder Sindel ... und wie ich mich von der Thalseit’ hab’ hinschleichen wollen, hab’ ich den Hartwig reiten sehen im Gehölz. Sie liegen um den Lok’stein herum wie die Wölf’ um den Geißstall.

„Hat Dich einer gesehen?“

„Der Sindel.“

„Aber ich hoff’ doch, Du hast leere Händ’ gehabt?“

„Warum?“

„Sei froh! Sonst hätt’ Herr Waze heut’ nacht geträumt von Dir! Komm, Eigel ... ich erzähl’ Dir ’was!“ Sie gingen den Eichen zu und fetzten sich auf die Steinbank.

Ruedlieb konnte sehen, daß sein Vater lange Zeit allein sprach; dann erwiderte der Kohlmann mit erregten Gebärden, als möchte er die Meinung bestreiten, die er hörte; aber der Schönauer schüttelte immer wieder den Kopf. Als nun der Bub’, für die Bergfahrt gerüstet, zu den Eichen kam, erhob sich der Schönauer und sagte zum Kohlmann. „Laß gut sein, Eigel, das reden wir zwei nicht aus miteinander! Bring’ alles vor beim Thing ... dann wirst ja hören, was die andern sagen.“ Er wandte sich zu Ruedlieb. „Wart nur bei der Hausthür, Liebli, ich komm’ gleich.“

Ruedlieb nickte dem Kohlmann einen Gruß zu und ging zur Hausbank. Da zog der Schönauer sein Messer aus dem Gürtel und gab es in Eigels Hand; es hatte einen Griff aus Horn mit eingeritzten Zeichen. „Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht. Kommst aus mit der Zeit?“

„Wohl wohl!“ sagte der Kohlmann und verwahrte das Messer. „Heut’ lad’ ich über die Schönau hinaus in die Ramsau, über Schwarzeck und Winkel zurück ins Engedein. Morgen über Unterstein auf die Alben und über den Jennar und Göhl wieder heimzu bis zum Vorderecker. Und am dritten Tag vom Greinwalder hinaus zum Gernroder, und über die Metzenleit und Aschau herunter in die Strub.“

„Lad’ nur wortfeste Leut’, die Unsicheren laß aus!“

„Wohl wohl!“

„Und in der Ramsau geh’ vorbei am Hiltischalk!“

Eigel schaute betroffen auf. „Richtmann! Ich mein’ doch, der Hiltischalk müßt’ dabei sein zu allererst!“

„Thu’, was ich sag’!“

„Wohl wohl, Du bist der Richtmann, Du wirst ja wissen, warum. Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht.“. Sie reichten sich die Hände und gingen dem Haus zu. Da hörten sie plötzlich ein dumpfes Rollen, es klang wie ferner Donner. Sie blieben stehen und blickten zum Himmel auf. Aber kein Wölklein trübte das reine Blau, und alle Bergspitzen waren nebelfrei. Eine Magd kam aus der Stallthür gelaufen, schaute verwundert umher, schüttelte den Kopf und verschwand wieder.

„Vater,“ rief der Bub’, „was war denn das?“

„Ich weiß nicht. Es hat gedonnert, und ich seh’ doch kein Wettergewölk.“

Da sagte der Kohlmann mit langsamen Worten. „Richtmann, ich mein’, es wär’ gar nicht in der Luft gewesen, sondern in der Erd’!“

„Was Dir nicht einfallt!“ Der Schönauer schüttelte den Kopf. Nun standen sie alle schweigend und lauschten; doch in den sonnigen Lüften störte kein Laut mehr die Stille. „Es muß wohl hinter dem Eismann ein Wetter liegen ... und die Tauern haben aus der Fern’ her den Donnerhall hereingeworfen ins Thal.“

„Meinst?“ sagte Eigel. „Dann müßt’ das Wetter kommen auf die Nacht. Wir haben Tauernwind[1]. Der müßt’ die Wolken hertreiben über den Eismann. Da darf ich schauen, daß ich den Weg hinter die Füß’ krieg’.“

„Zeit lassen!“ grüßte der Schönauer.

„Zeit lassen auch!“ nickte der Kohlmann und ging.

Zwischen Wiesen und Feldern, auf denen der Sommerroggen, reif zum Schnitt, dünn und mit mageren Aehren stand, wanderte Eigel dem nächsten Hag entgegen. Vor dem Thor, inmitten einer Wiese, schwang der Köppelecker die Sense. Eigel ging auf den Bauer zu, zog des Richtmanns Messer aus der Kotze, drückte dem Köppelecker das Heft an die Brust und sagte. „Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht! <poem> Fehl’ nicht! Thu’ nach Deiner Mannspflicht! Laß Dich nicht halten von Wetter und Wind, Von Weib und Kind, Laß Dich nur halten von Wassersnot, Von Feuer und Tod!“</poem

Der Köppelecker legte die Hand an das Messer. „Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht. Ich hab’s gehört und schweig’. Fahr’ weiter, Thingbot’!“ Eigel nickte und ging seiner Wege. Auf schmalem Pfad, zwischen dichten Hecken, kam ihm der ältere der Hanetzerbuben entgegen. Eigel blieb stehen und hob die Hand nach dem Messer; doch er ließ sie wieder sinken. „Zeit lassen, Hanetzer! Wohin so flink?“

„Nach meiner Alben hinauf. Und Du?“

„Meiner Arbeit nach!“ sagte Eigel und ging vorüber.

„He, Du!“ rief der andere ihm nach. „Hast vor einer Weil’ das Brummen nicht gehört?“

„Wohl wohl!“

„Was war denn das?“

„Ein Wetter kommt!“

Der Hanetzer blickte zum blauen Himmel auf und lachte. „Möcht’ wissen, woher!“

Der Kohlmann zuckte die Achseln und wanderte weiter. Beim Kaganhart fand er das Hagthor verschlossen. Er lud den Kirngasser und Bärenlochner, die Winklerbuben, den Schwaiger und Waldhauser. Beim Kinill und Grünsteiner ging er vorüber. Als er den Urstaller geladen hatte, stieg er über den Hang eines waldigen Hügels empor und kam zu einem halb zerfallenen Hag. Schief hing das Thor in den Weidenringen und dichtes Unkraut wucherte im Hof. Ein verschobenes, von Lücken klaffendes Strohdach deckte die morsche Hütte, deren faulendes Gebälk schon in allen Fugen gelockert war. Wo einst der Stall gestanden, lag ein wüster Haufe von Asche und halbverbrannten Balken. Neben dem verwahrlosten Gärtlein ragten fünf Eichenstrünke aus der Erde; die jungen Stämme waren mit der Axt gefällt und lagen dürr mit gebrochenen Aesten. Eine einzige Eiche, fast hundertjährig, stand noch zwischen den Strünken; ihr Wipsel war verdorrt, und die von schmarotzendem Moose fast erstickten Aeste trugen nur noch einzelne Büschel braungrünen Laubes; der Baum krankte an den tiefen Kerben, die seinem Stamme eingehauen waren; neben der Eiche, mit einem Hanfseil noch an den Stamm gebunden, lag eine tote, von einem Fliegenschwarm umsummte Ziege.

Inmitten des Hofes stand ein Baum in vollem Grün, ein Apfelbaum mit zahlreichen Mistelbüschen; doch hingen nur wenige Früchte noch an seinen Zweigen - der Sturm der vergangenen Nacht hatte Ernte gehalten und die unreifen Aepfel heruntergeschüttelt in das Unkraut. Im Schatten des Baumes saß der alte Gobl, mit dem Rücken an den Stammn gelehnt, das weißbärtige Kinn auf der Brust, die welken Hände im Schoß. Eigel trat [119] auf ihn zu und berührte ihn mit dem Messer. „Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht!

Fehl’ nicht!
Thu’ nach Deiner Mannspflicht!
Laß Dich nicht halten von Wetter und Wind ...“

Weiter kam Eigel nicht mit seinem Spruch. Der Greis hatte den Arm des Kohlmannes zurückgeschoben und sagte: „Ich hab’s gehört und schweig’. Geh’ an mir vorbei, Thingbot! Ich komm’ nicht. Heut’ hab’ ich den letzten Weg gemacht, und der reut mich schon. Ich mach’ keinen andern mehr. Wär’ schad’ um die Müh’!“

„Gobl, Gobl!“ mahnte der Kohlmann mit einer Stimme, als schliefe der Greis und er müßte ihn wecken. „Hörst denn nicht? Das Thing ruft!“

„Laß rufen!“

„Du bringst Unehr’ über Dich!“

„Unehr’?“ Ein Lächeln glitt über die dürren Lippen des Greises. „Die trag’ ich so!“ Er pflückte mit seiner zitternden Hand einen Grashalm und legte ihn auf sein Haupt. Unwillig wandte sich Eigel ab; aber schon nach wenigen Schritten kehrte er wieder zurück. „Gobl, es geht um unser aller Wohl und Weh'!“

Langsam hob der Greis die Augen. „Was red’st vom Wohl! Sag’: Weh’ - das eine Wörtl geht für alles. Und das kommt, wie’s will! Wozu denn raten, wo keiner wenden kann?“ Er hob einen wurmstichigen Apfel aus dem Unkraut und hielt ihn dem Kohlmann hin. „Da, nimm! Den kannst Dir braten am Thingfeuer! So hat’s doch einen Zweck!“

Eigel hatte den Apfel genommen; er drehte ihn zwischen den Fingern, ließ ihn wieder fallen und wanderte schweigend davon.

*      *      *

Ruedlieb, mit dem Grießbeil, und der Schönauer, die beladene Kraxe tragend, stiegen durch den Wald hinunter zur Ache. Der Bub’ blieb stehen. „Geh’, Vater, so thu’ mir doch den Willen und laß mich die Krax’ tragen!“ Der Schönauer schüttelte den Kopf, und sie gingen weiter. Als sie die Ache erreichten, teilte sich der Pfad. „Jetzt geh’, Liebli! Und Zeit lassen!“

„So laß mich doch mit hinaus zum Lok’stein!“

„Ich geh’ nicht hinaus.“

Der Bub’ machte verwunderte Augen. „Wohin denn? Hast ja doch die Krax’ für die Gottesleut’!“

„Frag’ nicht! Du sollst nichts wissen!“ Der Schönauer faßte die Hand seines Buben. „Und bleib’ auf der Alben, bis ich Dich wieder heimruf’! Und versprich mir’s: thu’ nichts gegen Wazemanns Will’ und Wort; laß keine schieche Red’ hören gegen die da droben, steig’ in keinen Bannberg ein und laß Dir nicht in den Sinn kommen, daß Du mit einer Hand ans Gewild rührst!“ Eine dunkle Röte flog über Ruedliebs Gesicht; er dachte an die Bärengrube, die er in der Reginwand ausgeworfen. „Versprich mir’s, Bub’!“ Ruedlieb nickte. „Halt’ Dein Wort, und sie können Dir nichts anhaben. Wenn’s aber doch so kommen sollt’, daß Dich einer fassen möcht’ ...“ die Augen des Richtmanns funkelten und seine flüsternde Stimme bebte, „dann greif’ nach dem Messer und stoß’ zu! Dann ist schon alles eins!“

„Vater?“ stammelte der Bub’.

Aber der Schönauer schob ihn gegen den Steg. „Jetzt geh’, Liebli! Und Zeit lassen!“

Ruedlieb fand keinen Gegengruß. Wortlos starrte er in das bleiche Gesicht seines Vaters, wandte sich zögernd ab und überschritt den Achensteg. Der Schönauer blickte seinem Buben nach, und als er ihn am andern Ufer der Ache zwischen den Bäumen verschwinden sah, drückte er die Fäuste auf die Brust und atmete tief auf. Langsamen Schrittes folgte er dem Waldpfad und erreichte nach kurzer Weile den Reitweg, welcher hinauf führte zu Wazemanns Haus. Auf dem Falkenstein fand er die Zugbrücke niedergelassen und das Thor offen. Ein Knecht trat ihm entgegen, mit verwundertem Blick.

„Da bring’ ich eine Krax’ voll Zeug,“ sagte der Schönauer und stellte seine Last nieder. „Ist der Herr daheim?“

„Nein, Richtmann!“

Der Schönauer atmete auf. „Nimm die Krax’ und lad’ das Zeug ab! Und wenn Herr Waze heimkommt, so sag’ ihm: ich hätt’ mich besser besonnen und der Herr sollt’ mit dem Zeug machen, was ihm lieb ist!“

Der Knecht trug die Kraxe ins Haus, und vor dem Thor setzte sich der Schönauer auf einen Stein am Wegrain, um auf die leere Kraxe zu warten. Im Zwinger schlugen die Hunde an, welche die Nähe eines Fremden witterten, mit vielstimmigem Echo warfen die nahen Felswände das Geheul zurück.

Ueber die auf steilem Hang sich senkenden Baumwipfel blickte der Schönauer hinunter nach der Seelände. Dort unten leuchtete ein langer weißer Streif im Sand. Es war ein frisch gewebtes Stück Hanftuch, das zum Bleichen in der Sonne lag.

Edelrot stand am Ufer, schöpfte mit einer hölzernen Kanne Wasser aus dem See und besprengte das Tuch. Da hörte sie einen knirschenden Tritt im Sand, und als sie sich umblickte, stand Ruedlieb vor ihr. Sie wollte lächeln, aber sie erschrak vor seinem blassen Gesicht. „Ruedlieb! Was hast denn?“

„Rötli!“ Er vermochte kaum zu sprechen. „Kann’s denn wahr sein, was ich gehört hab’?“

„Was?“

„Daß der See Dich schier verschlungen hätt’!“

Sie nickte wortlos. Langsam blickte sie über den stillen sonnglänzenden See hinaus, und ein stockender Atemzug erschütterte ihre junge Brust. „Wer hat’s Dir denn gesagt?“

Er hörte ihre Frage nicht. Seine feuchten Augen hingen an ihr, und seine Lippen zitterten. Sie mußte die Frage wiederholen, und da stammelte er: „Jetzt, wie ich hergegangen bin hinter dem Hag, hat’s Eure Magd, die Heilwig, mir zugerufen.“ Er faßte ihre Hände. „Weil Du nur lebst, Rötli! Weil Du nur lebst!“

Sie blickte lächelnd zu ihm auf. „Gelt, wenn’s anders hätt’ sein müssen, das wär’ doch zu früh gewesen für mich. Ich leb’ so gern! Aber viel hat nimmer gefehlt. Wär’ mein Bruder nicht gekommen und hätt’ zugegriffen, grad’ noch zur rechten Zeit, so wär’s hinuntergegangen! Ich hab’ schon das Wasser ...“ Mit leisem Schmerzenslaut unterbrach sie ihre Worte. „Geh’, druck mir doch nicht die Händ’ so fest, thust mir ja weh!“

Erschrocken ließ Ruedlieb ihre Hände fallen und stotterte: „Ich hab’ gemeint, ich müßt’ Dich halten.“ Eine Weile standen sie schweigend, dann atmete der Bub’ tief auf und fragte: „Aber wie hat denn nur so ’was geschehen können?“

„Komm! Ich erzähl’ Dir’s.“ Sie ging auf den Waldsaum zu und ließ sich im Schatten einer weitästigen Fichte nieder. Ruedlieb setzte sich an ihre Seite. Ein leises Rauschen webte in den Bäumen, über der Lände lag funkelnder Sonnenglanz, wie Perlen schimmerten die Wassertropfen auf dem ausgebreiteten Hanftuch, und in grünlichen Farben spiegelte der stille See den Falkenstein und Wazemanns Haus. Edelrot begann zu erzählen. Kaum hatte sie den Namen Reckas genannt, da ballte Ruedlieb die Fäuste. „Die also ist schuld!“ Seine Augen blitzten hinauf zum Falkenstein. „Allweil und allweil die da droben! Einmal der Alt’ und das andermal die Jungen! Wo ein Unheil wachst ... wer hat’s ausgesät? Die da droben!“

Beschwichtigend legte ihm Rötli die Hand auf die Lippen. „Mußt die Recka nicht schelten! Die hat mich lieb!“ Und sie fuhr fort in ihrer Erzählung. Mit großen Augen hörte Ruedlieb zu und blickte hinaus über das stille Wasser. Da glitt zwischen dem Schilf der Insel Bidlieger, aus dem Weitsee kommend, der Einbaum hervor. Wicho führte das Ruder, und vor dem Knecht saß Recka auf der Bank, in lichtem Gewand, das Gesicht und das den Hals und die Schultern umrieselnde Gelock von einem grauen breitkrämpigen Hut überschattet. Ruedlieb sprang auf, seine Fäuste ballten sich, und finster blickten seine Augen. „Muß denn die schon wieder da sein!“

„Seit dem Morgen ist sie schon draußen auf dem Weitsee,“ flüsterte das Mädchen, „sie hat ihre Stößer gesucht. Hat sie die Vögel, siehst ’was?“

„Wenn sie nur hin wären!“

„Aber geh’! Wie magst denn so reden! Was können denn die Vögel dafür ...“

Da klang über das Wasser her die Stimme der Wazemannstochter: „Rötli!“

„Recka!“ rief Edelrot und eilte auf das Ufer zu.

Ruedlieb stand mit finsterem Gesicht. „Allweil muß eins dazwischen kommen, wenn ich mit dem Rötli zu reden hab’!“ Eine Weile noch blieb er wartend stehen; doch als er sah, wie Edelrot an den landenden Einbaum trat, um der Tochter [120] Wazemanns beim Aussteigen behilflich zu sein, faßte er sein Grießbeil und verschwand im Wald.

Recka stieg aus dem Nachen, von Rötli gestützt.

„Ich seh’ die Stößer nicht. Hast sie denn nimmer finden können?“

„Nein. Alles Suchen und Rufen war umsonst.“ Recka nahm den Hut ab und schüttelte die Locken in den Nacken. „Sie haben sich nicht in den Wald verflogen ... sonst hätten sie mich hören müssen. Der Elbiß ist wohl untergetaucht, hat die Stößer, die an seinem Hals verschlagen hingen, mit hinuntergezogen und hat sich festgebissen auf dem Seegrund.“

Rötli schüttelte das Köpfchen und flüsterte. „Der ist Luft worden! Das kannst mir glauben!“

„Närrlein!“ lächelte Recka und strich mit sanfter Hand über Rötlis Haar.

Edelrots Blicke suchten den Buben. „Ja wo ist er denn?“ stammelte sie und spähte nach allen Seiten. Nirgends erblickte sie ihn; doch einen anderen sah sie, ihren Bruder. Auch Recka hatte ihn schon gewahrt; eine heiße Röte flammte über ihre Wangen, und hastig wandte sie sich, um das Federspiel, das sie zum Locken der Stößer mitgenommen hatte, aus dem Einbaum zu holen. Sigenot kam von der Ache hergegangen, die schwankende Angelgerte über der Schulter, das Lägel auf dem Rücken. Sein Gesicht war bleich, und seine Augen hatten einen fremden Blick. Wicho, welcher vom Ufer kam, das lange Ruder schleifend, nickte ihm zu und kniff mit einer vergnügten Grimasse die Augen ein ... aus ihm lachte die Schadenfreude über Reckas Verlust. Sigenot verstand diese stumme Sprache nicht und verhielt den Schritt. Da lief ihm die Schwester entgegen. „Denk’ Dir, sie hat die Stößer nimmer gefunden!“

„Schad’ um die Vögel!“ sagte der Fischer, ohne einen Blick auf Recka zu werfen. „Sie waren gut abgetragen.“

Vom herben Klang seiner Stimme befremdet, blickte Rötli auf. Da gewahrte sie auf ihres Bruders Kappe eine seltsame Zier: neben der Schwanenfeder war ein dünnschäftiger Pfeil mit verbogener Spitze durch das Otterfell gestoßen, fast so, wie man eine langstielige Blume auf die Mütze steckt.

„Ja was hast denn da auf Deinem Kappel?“

Sigenot lehnte die Angelrute an die Schulter, nahm die Mütze an und zog den Pfeil hervor.

Raschen Schrittes kam Recka herbeigegangen. „Was soll der Pfeil?“

Der Fischer hob langsam die ernsten Augen. „Warum fragst?“

„Weil es ein Pfeil aus Hennings Köcher ist.“

„Aus Hennings Köcher!“ wiederholte Sigenot mit halblauter Stimme.

„Ich kenn’ ihn am Gefieder. Wie kommst Du zu dem Pfeil?“

Sigenot wollte sprechen; da streiften seine Augen das Gesicht der Schwester, und er blickte gegen das Haus hinauf. „Hast nicht gehört, Rötli? Die Mutter hat gelacht.“

„Die Mutter? Ich hab’ nichts gehört.“

„Wohl wohl! Geh’ nur!“

Edelrot schüttelte verwundert das Köpfchen; aber sie eilte in den Hag und über den Hügel empor.

Mit fragenden Augen blickte Recka den Fischer an. „Warum schickst Du die Schwester fort?“

„Weil sie nicht zu hören braucht, wie ich zu Deines Bruders Pfeil gekommen bin.“

„Ich versteh’ Dich nicht. Wo hast Du den Pfeil gefunden?“

„Gefunden?“ Ein seltsames Lächeln zuckte um Sigenots Lippen. „Freilich ... man findet auch diemal, ohne daß man sucht. Da, nimm den Pfeil und bring’ ihn Deinem Bruder Henning wieder!“ Die Augen mit heißem Blick auf Reckas Antlitz heftend, legte er das gefiederte Rohr in ihre Hand. „Unter dem Lok’stein bin ich an der Ache gestanden und hab’ die Angel geworfen, da ist mir der Pfeil von hint’ her am Hals vorbei geflogen, daß mich die Feder noch gestreift hat, und ist vor mir ins Wasser gesurrt und auf einen Stein gefahren. So hab’ ich ihn gefunden.“

Von Reckas Wangen war alle Farbe gewichen. „Ein böser Zufall,“ sagte sie mit schwankender Stimme und hastigen Worten. „Henning muß nach einem Haselhuhn geschossen haben ... oder nach einem Auerhahn, der durch die Wipfel strich ... und der Pfeil ging fehl und flog durch die Bäume weiter.“

„Wohl wohl, kann schon sein!“ sagte der Fischer; doch er wandte die Augen ab.

„Henning ist ein ungestümer Schütze, der wilde Eifer macht ihn blind ... wär’ ein Unheil geschehen, es wär’ das erste nicht, das er angerichtet.“

„Da hast recht!“ Der Fischer nickte einen stummen Gruß, schulterte die Angelrute und wollte in das Hagthor treten.

Recka starrte mit verlorenem Blick auf den Pfeilschaft in ihrer Hand; dann hob sie die Augen und blickte dem Fischer nach. Wie quälende Unruhe schien es ihr Wesen zu befallen; sie that einen Schritt, und mit gepreßtem Laut, als geschäh’ es wider ihren Willen, klang Sigenots Name von ihren Lippen.

Er wandte das Gesicht. „Was willst?“

Sie zögerte; dann plötzlich hob sie das schöne stolze Haupt und trat auf den Fischer zu. „Sigenot! Ich werde meines Bruders Unverstand dem Vater klagen. Hätte dieser Zufall bös gespielt, es wär’ ein übler Vergelt für die Hilfe gewesen, die Du mir gestern gebracht hast in der Not. Ich bin Dir Dank schuldig. Nimm ihn!“ Sie streckte die Hand aus.

Eine dunkle Röte floß über Sigenots Gesicht; seine Hand zuckte und die Angelrute schwankte; doch er schüttelte den Kopf und langsam, mit herbem Klang, lösten sich die Worte von seinen Lippen: „Was ich an Dir gethan hab’, das hast Du vergolten an meiner Schwester. Da braucht’s keinen Dank. Wir sind auf gleich, und die Sach’ ist abgethan! Auch brauchst Deinen Bruder nicht verklagen. Wenn er merkt, wie der Pfeil geflogen ist, kränkt er sich schon von selber genug!“ Sigenot lächelte wieder und nickte. „Zeit lassen!“ Er wandte sich ab und trat ins Thor.

Reckas Brauen furchten sich, und ein zorniger Blick flammte aus ihren Augen. „Das war der erste Dank, den Du von mir gehört hast ... aber auch der letzte.“ Und während sie hastigen Ganges den Bäumen entgegenschritt, zerknickten ihre Hände den dünnen Pfeilschaft.




11.

Als Sigenot das Haus erreichte. kam Rötli aus der Thür. „Gelt, ich hab’ recht gehabt!“ sagte sie. „Die Mutter hat nichts wollen.“

„So hab’ ich mich halt verhört!“ Er lehnte die Angelrute an die Balkenwand, pfiff dem Knecht und übergab ihm das Lägel, damit er die Ferchen verwahre. Während Rötli hinunterging zum Ufer, um das bleichende Hanftuch zu besprengen, trat Sigenot in das Haus. Mutter Mahtilt nickte ihm lächelnd zu; er ging zu ihrem Stuhl und strich mit der Hand über der Mutter graues Haar. Sie redete mit den bleichen Händen; er verstand die stumme Frage und sagte: „Heut’ hab’ ich schlechten Fang gehabt.“

Sie blickte zu ihm auf. „Warum?“ fragte dieser Blick.

Er zuckte die Schultern. „Es geht halt nicht einen Tag wie den andern.“ Das sagte er wohl mit ruhiger Stimme; doch er wich dem Blick der Mutter aus und trat in seine Kammer.

Mutter Mahtilt erfaßte einen eisernen Zinken und schlug auf den Herdstein, daß er hellen Klang gab. Heilwig kam gelaufen, deckte für Sigenot den Steintisch und rief ihn zum verspäteten Mahl. Er kam und setzte sich an den Tisch, doch er genoß nur wenige Bissen. Lange saß er mit aufgestützten Armen und starrte vor sich hin. Einmal blickte er zur Wand empor, an der seine Waffen hingen, dann hinüber zur Mutter. Und wieder saß er in Gedanken versunken. Freundlicher Art waren diese Gedanken nicht - das verrieten seine Augen und Züge. Tief atmend erhob er sich endlich und nahm mit raschem Griff das Ringhemd von der Wand. Mutter Mahtilt hörte das Klirren und blickte verwundert auf.

„Ich muß die Wehr wieder einmal anschauen,“ sagte Sigenot und ging der Thür zu, „ich mein’, sie rostet.“

Vor dem Haus setzte er sich auf die Bank, nahm das eiserne Hemd über die Knie und begann das dichte Gewirr der Ringe zu mustern. Er fand keine Lücke in dem Gewebe, in den Fugen der Ringe kein Flecklein Rost. Zufrieden nickte er, und während er sich erhob, glitten seine Blicke hinauf zu Wazemanns Haus. „Jetzt, Henning ... jetzt kannst meinethalben ein andermal auch besser zielen!“ Er umschritt das Haus und schob das Ringhemd durch das offene Fenster in seine Kammer. Als er zurückkehrte, kam Rötli über den Hag heraufgestiegen. Sie

[121]

Othello und Desdemona.
Nach einem Gemälde von A. Muñoz Degrain.

[122] blieb vor dem Bruder stehen. „Was ich fragen hab’ wollen ... hast um die Mittagszeit das Rollen nicht gehört? Es ist gewesen, wie wenn’s ein Donner wär’.“

„Wohl wohl, und ich hab’ gemeint, ein Wetter käm’; aber es muß sich wieder verzogen haben.“ Er blickte zum Himmel auf. „Es laßt sich kein Wölkl sehen.“

Rötli schüttelte das Köpfchen. „Das ist kein Wetter gewesen ... ich weiß schon, was es war!“ Ihre Stimme dämpfte sich zum Flüstern. „Der Bid ist unmütig geworden drunten in der Seetief’ und hat aufgehaut im Zorn. Wie’s gerollt hat, bin ich drunten gestanden an der Länd’, und da hab’ ich gesehen, wie ein Zittern über den See gelaufen ist, grad so wie übers Wasser in einem Schaff, wenn einer dran hinstoßt mit dem Fuß.“

Sinnend blickte Sigenot hinunter auf den stillen See, über den schon die ersten Schatten des Abends fielen.

„Weißt, ich hab’ gleich was gethan dafür,“ flüsterte das Mädchen, „ich hab’ meine Halskett’ genommen ... sie war mir das Liebst’, was ich an mir gehabt hab’ ... und hab’ sie weit hinausgeworfen ins Wasser. Sie muß dem Bid gefallen haben. Gleich hat er Ruh’ gegeben.“ Sie atmete tief und wollte ins Haus treten. Doch auf der Schwelle wandte sie sich wieder um. „Noch eins! Hast denn vergessen heut’?“

„Was?“

„Daß Du eine Kerb’ in Deinen Jahrbaum schneiden mußt.“ Lächelnd trat sie auf den Bruder zu und faßte seine Hand. „Heut’ ist der Tag, an dem Dich Frau Hul der Mutter gebracht hat. Schau, ich wünsch’ Dir an Glück und Freuden so viel, als ich Haar’ auf dem Scheitel hab’.“

Mit schwermutsvollem Blick schaute Sigenot in das holde Gesicht der Schwester. „Glück und Freuden? Vergelt’s, Rötli! Aber ich mein’ schier, Du hast zu viel gewunschen.“ Er gewahrte die Axt, welche neben der Thür an der Balkenmauer lehnte, und faßte sie. „Komm, ich schlag’ die Kerb’ in meinen Baum.“

„Aber was willst denn mit der Axt?“ fragte Rötli verwundert. „Hast ja Dein Messer.“

„Das hat nicht Schneid’ genug für den heutigen Tag.“

(Fortsetzung folgt.)




Das kurzsichtige Geschlecht.

Man hat wohl allgemein eingesehen, daß die heutige Schule einseitig wirkt, daß sie zu Mängeln führt, welche die Gesundheit der Jugend schädigen. Der Staat hat auf dem Gebiete der Schulgesundheitspflege bereits viel gethan und ist fortgesetzt mit eingehenden Reformplänen beschäftigt. Aber an all dem Unglück, über das man so sehr klagt, an unserem nervösen blassen kurzsichtigen Geschlecht ist die Schule nicht allein schuld; wir wollen nicht abwägen, wer da mehr sündigt, die Schule oder das Haus – nur das eine wollen wir hervorheben, daß alle staatlichen Reformen nichts oder nur wenig nützen werden, wenn nicht auch das Haus reformiert.

Für heute wollen wir uns auf ein Beispiel beschränken, auf die Kurzsichtigkeit der Schüler.

Das Uebel ist eins der ersten, das man in der modernen Erziehung erkannt hat, und man hat es ganz und gar der Schule in die Schuhe schieben wollen. Die Schulkurzsichtigkeit bildet eine Streitfrage, in der die Meinungen heftig aneinander geraten sind; allein bei diesem Streite ist glücklicherweise soviel Sicheres festgestellt worden, daß wir planmäßig Maßregeln zur Verhütung des Uebels ergreifen können.

Kurzsichtige hat es zu allen Zeiten gegeben, aber die Zahl der brillentrageden Leute hat sich erst während der letzten Jahrzehnte in Deutschland überraschend stark gemehrt. Das kommt nun nicht etwa davon, daß die Brille billiger, sondern davon, daß die Augen des jüngeren Geschlechts wirklich geschädigt wurden.

Die Aerzte unterscheiden zwei Hauptformen von Kurzsichtigkeit: die eine umfaßt die höchsten Grade und ist in der Regel mit inneren Augenerkrankungen (Glaskörpertrübungen, Gefäßhautentzündungen etc.) verbunden, sie ist oft erblich; die zweite ist eine erworbene, eine Folge übermäßiger Naharbeit, das heißt einer Arbeit, bei der das Auge dem Gegestand, den es ansieht, zu sehr genähert wird. Gewöhnlich hält sich diese Art der Kurzsichtigkeit in niederen und mittleren Graden, ohne daß innere Augenkrankheiten hinzukommen, sie kann jedoch unter Umständen auch in die erste schwerere Form übergehen.

Aus den vielen Untersuchungen, welche in den Schulen von Fachärzten angestellt wurden, geht unzweifelhaft hervor, daß unsere Kinder vielfach während der Schuljahre kurzsichtig werden; bei den höheren Schulanstalten ist es auch ziffernmäßig erwiesen, daß die Zahl der kurzsichtigen Schüler in den unteren Klasse geringer ist als in den oberen, daß sie von Klasse zu Klasse steigt. Professor Schmidt-Rimpler, der im Auftrag des preußischen Kultusministers die Augen der Schüler an einer Anzahl von Gymnasien untersucht hat, ist dabei zu einem bemerkenswerten Ergebnis gelangt. Er hat zunächst 702 Schüler eines Gymnasiums untersucht und dieselben nach dreieinhalb Jahren einer zweiten Augenprüfung unterzogen; nach dem Maßstab ihrer Leistungen hat er sie hierauf in drei Klassen: die Fleißigeren, die Fauleren und die Faulsten eingeteilt. Nun fand er, daß die Fleißigeren im Durchschnitt etwas häufiger kurzsichtig wurden als die Fauleren; daß aber die faulsten Jünglinge sich mit Erfolg dem Einfluß der Schulschädlichkeiten entzogen hatten, denn von diesen wurde der geringste Prozentsatz kurzsichtig.

Das Schutzmittel der Faulheit entspricht aber weder den Anforderungen der Schule noch den Wünschen der Eltern. Die Schulhygieine muß andere Mittel zur Verfügung stellen, um das Uebel zu bekämpfen. Sie hat zunächst erwiesen, daß die heutige Erziehung der Jugend in der That Kurzsichtige schafft, ferner weiß sie, daß die Kurzsichtigkeit erblich ist, und erblickt darin eine drohende Gefahr für die Nation selbst; daraus leitet sie mit vollem Rechte ab, daß die Forderungen, die sie an die Schule stellt, unbedingt erfüllt werden müssen, selbst wenn die Ausdehnung des Unterrichts darunter leiden sollte; denn es wäre widersinnig, einen gewissen Bildungsgrad des heranwachsenden Geschlechtes durch Schädigung an dessen Gesundheit zu erkaufen. Nun können aber die Vorschriften, die für die Schule zu erlassen sind, nicht wirksam werden ohne ein gleichzeitiges Vorgehen der Eltern. Für diese erwächst die Frage, wie sie zu Hause die Augen ihrer Kinder schützen sollen.

Die nächste Antwort ist die: es muß für richtige Beleuchtung gesorgt werden, und zwar sowohl am Tage, wie abends beim Lampenlicht. Lichtmessungen oder Messungen der Helligkeit eines Arbeitsplatzes werden die Laien nicht ausführen können; für sie muß man ein praktisches Mittel angeben, das eine allgemeine Prüfung der Helligkeit ermöglicht, wenn es auch naturgemäß nicht ganz genau ist. Um also zu entscheiden, ob die Tagesbeleuchtung eines Arbeitsplatzes zu Hause genügend ist, mögen die Eltern, vorausgesetzt, daß sie selbst normalsichtig sind, ein Zeitungsblatt zur Hand nehmen und darin an dem Arbeitsplatz des Kindes einen in kleiner Schrift gedruckten Artikel lesen. Ist das Lesen in einer Entfernung von 30 cm bereits mit Schwierigkeit verbunden, so ist die Beleuchtung ungenügend und man muß einen besseren Arbeitsplatz beschaffen. Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß die Tagesbeleuchtung wechselt; ein Platz, der an hellen Tagen noch gut und zweckmäßig erscheint, wird an trüben Tagen nicht mehr den Anforderungen der Hygieine genügen. Am gefährlichsten sind die Abendstunden. „Wenn die Schüler ihre Arbeiten gemacht haben,“ schreibt Professor Schmidt-Rimpler, „benutzen sie gern die Dämmerung, um sich in ihre Privatlektüre zu vertiefen. Da diese in der Regel aber die jungen Köpfe etwas mehr erregt als die Schularbeiten, so kommt noch zu dem angestrengten Sehen die geistige Anspannung und der dadurch bedingte stärkere Blutandrang nach dem Kopfe hinzu. Es muß daher besonders darauf Gewicht gelegt werden, daß in der Dämmerung jede Augenarbeit überhaupt fortfalle. Man verdunkle nötigenfalls etwas früher und zünde Licht an.“

Damit stehen wir vor der Frage der künstlichen Beleuchtung im Hause. Professor Hermann Cohn hat die Bedingungen einer zweckmäßigen künstlichen Beleuchtung dahin zusammengefaßt: das Licht soll nicht blenden, nicht zucken, nicht zu heiß und nicht zu schwach sein. Die Petroleumlampe, wie sie jetzt gebräuchlich ist,

[123] entspricht am besten diesen Anforderungen. Mit Milchglasglocke versehen, blendet sie nicht, sie ist, in richtige Entfernung gestellt, auch nicht zu heiß, ihr Licht zuckt nicht; nur in einer Beziehung muß man auf ihre richtige Verwendung achten: sie muß so gestellt werden, daß sie genügende Helligkeit auf den Arbeitsplatz wirft. Das hängt wieder von der Leuchtkraft der Lampe ab. Zahlreiche Prüfungen der im Handel vorkommenden, für den Familiengebrauch bestimmten Lampen haben nun ergeben, daß eine gute Petroleumlampe in einem halben Meter Entfernung noch genügendes Licht giebt, darüber hinaus sollte man aber nicht gehen; sonst schädigt man das Auge durch eine zu schwache Beleuchtung. Nur bei wenigen Lampen wie z. B. bei den hygieinischen Normallampen oder bei den „Mitrailleusenbrennern“ kann man auch bei einer Entfernung des Lichts von 0,75 m und mehr genügende Helligkeit erzielen. Solche Lampen sind darum dort zu empfehlen, wo mehrere Kinder an einem Tische arbeiten. Das Ideal, daß jedes Kind seine eigene Arbeitslampe haben solle, wird sich im praktischen Leben nicht gut durchführen lassen.

Daß das Licht beim Schreiben stets von der linken Seite auf das Heft fallen müsse, ist so bekannt, daß man es hier nur zu erwähnen braucht.

Eine schlechte, namentlich eine zu schwache Beleuchtung übt hauptsächlich darum einen verderblichen Einfluß aus, weil das Auge durch sie gezwungen wird, sich dem Sehgegenstand übermäßig zu nähern, wodurch das Anpassungsvermögen des Auges überangestrengt wird. Diese Ueberanstrengung findet aber auch bei guter Beleuchtung statt, wenn wir unnötigerweise die Augen zu nahe an das Heft oder das Buch bringen. Auch in dieser Beziehung giebt es einen Maßstab für das richtige Verhalten.

Medizinalrat Rembold erklärt, daß eine Annäherung des Sehobjektes um mehr als 25 cm an das normale Auge unter allen Umständen als gefährlich zu bezeichnen ist; geschieht dies dauernd, so kann es zur Entwicklung der Kurzsichtigkeit Veranlassung geben.

Nun ist diese übermäßige Annäherung des Sehobjekts gerade bei Kindern am meisten üblich. Nach den Beobachtungen Rembolds, die sich auf über 500 Schulkinder im Alter von 6 bis 14 Jahren erstreckten, hielt nur ein Drittel derselben beim Schreiben die Augen 25 cm oder mehr von der Federspitze entfernt, zwei Drittel näherten ihre Augen dem Papier in unmittelbar gesundheitsschädlicher Weise. Je jünger die Kinder, desto schlimmer mitunter das Verhältnis; in einer Klasse sechsjähriger Mädchen hielt nicht ein einziges die Entfernung von 25 cm ein, fast alle kamen mit dem Auge auf 15 cm und noch näher heran. Beim Lesen ist es nicht besser: auch hier stecken die Kinder die Köpfchen viel zu tief in die Bücher hinein. So wird schon in den frühesten Jahren der Grund zur Kurzsichtigkeit gelegt.

Zu einem derartigen gesundheitswidrigen Lesen und Schreiben werden die Kinder in erster Linie durch unzweckmäßige Bänke, Stühle und Tische verleitet oder geradezu gezwungen. Darum ist zwischen Tisch und Stuhl eine richtige Uebereinstimmung herzustellen; ein Stuhl, der für ein Erwachsenes paßt, eignet sich nicht als Arbeitssitz für ein Kind. Es giebt nun eine ganze Anzahl von Arbeitstischen, die gleich mit verstellbaren Sitzen verbunden sind und für eine Reihe von Altersstufen ausreichen; aber abgesehen vom Kostenpunkt, lassen sich solche Möbel nicht immer zweckmäßig im Wohnzimmer unterbringen, namentlich da, wo eine kinderreiche Familie mit dem Raume sparen muß. Dagegen giebt es höher und niedriger zu stellende Stühle von so einfacher Einrichtung, daß selbst ein sechsjähriges Kind das Stellen besorgen kann. Dieselben kosten nur wenige Mark und lassen sich leicht in ein richtiges Verhältnis zur Höhe des Familientisches bringen. Einen solchen Stuhl sollte zu Hause ein jedes Kind besitzen.

Ist die Sitzfrage erledigt, so kommt es darauf an, daß das Kind auch dann noch die richtige Haltung bewahrt, daß es sich nicht überbeugt und das Auge so wieder dem Papier oder dem Buche zu sehr nähert. Um das zu verhüten, hat man eine ganze Anzahl Geradehalter, Kinnstützen u. dergl. empfohlen. Wir möchten denselben nicht das Wort reden, nur im äußersten Notfall sollte man zu ihnen greifen. Ebenso dürfte den wenigsten ein Vorschlag Schmidt-Rimplers annehmbar erscheinen, welcher lautet: „Mädchen kann man auch mit ihrem Zopfe an die Stuhllehne binden.“

Die Haltung des Körpers hängt ab von der Lage des Heftes und der Art der Schrift. In dieser Beziehung ist nun leider unter den Pädagogen keine Einigkeit zu finden. Bald wird die Schrägschrift, bald die Steilschrift empfohlen, bald wird das Heft so gelegt, daß dessen unterer Rand mit der Tischkante gleich läuft, bald so, daß er mit dieser einen Winkel von etwa 45° bildet.

Mit Rücksicht auf diese Verschiedenheit ist es zweckmäßig, im Hause diejenige Methode zu üben, die in der betreffenden Schule gehandhabt wird. Die Schule ist hier maßgebend, das Haus muß sich ihr unterordnen; denn die Einwirkung auf die Schüler muß einheitlich sein, damit keine Verwirrung entstehe.

Nun hat Professor Schmidt-Rimpler einen Vorschlag zur Bekämpfung der Kurzsichtigkeit gemacht, welcher die höchste und dringendste Beachtung verdient. Er lautet: „Den Eltern ist eine gedruckte Belehrung über gesundheitsgemäßen Sitz und Haltung der Kinder beim Arbeiten, über Subsellien und Beleuchtung zu geben. Es läßt sich das Wichtigste in einige Sätze fassen und es könnten dieselben der Schulordnung, die fast überall bei der Aufnahme den Schülern übergeben wird, beigefügt werden. Die ungünstigen Verhältnisse im elterlichen Hause schädigen sicher oft mehr die Augen als die Arbeit in der Schule; wenn man die Aufmerksamkeit hierauf besonders lenkt und die erforderlichen Maßnahmen angiebt, so wird recht oft der gewünschte Erfolg erreicht werden.“

Der Schutz der Augen, den die Eltern im Hause anstreben müssen, soll sich aber auch auf andere Beschäftigungen erstrecken, die mit den Schularbeiten nicht zusammenhängen. Man klagt über das Uebermaß der Arbeit in der Schule und für die Schule, überbürdet aber die Jugend mit verschiedenen Nebenstunden, von denen vor allem der Musikunterricht in Betracht kommt. Dieser sollte nur dann durchgesetzt werden, wenn wirkliche Begabung und Lust vorhanden sind. Auch allerlei Liebhaberkünste, welche die Schüler betreiben, können die Augen übermäßig anstrengen; hier ist ebenso darauf zu achten, daß des Guten nicht zuviel geschehe. Man verlangt, daß die Kinder die Nachmittage frei bekommen; aber diese Zeit soll dann nicht zum Stubenhocken verwendel werden. Die Jugend muß hinaus in die freie Natur, wo sich der Blick erweitert und stärkt, wo er an die Fernsicht gewöhnt wird.

Eine besonders gefährliche Rolle spielt die Privatlektüre der „reiferen“ Jugend, die Indianergeschichten und Erzählungen aller Art. Auch sie ist vom augenpolizeilichen Standpunkt zu überwachen. Bücher mit schlechtem Papier, auf dem der Druck von der anderen Seite durchscheint, sollten verbannt sein, ebenso solche mit kleiner Druckschrift. Diese augenmörderischen Erzeugnisse passen nicht für die Jugend; denn wir dürfen nicht vergessen, daß gerade das jugendliche Auge am leichtesten die Kurzsichtigkeit erwerben kann, und diese Empfänglichkeit reicht bis in das fünfzehnte und sechzehnte Lebensjahr, unter Umständen noch darüber hinaus.

Den Müttern gegenüber muß betont werden, daß auch die weiblichen Handarbeiten ebenso behandelt werden müssen wie das Lesen und Schreiben. Die Nähterin oder die Stickerin ist im frühen Alter der Gefahr, kurzsichtig zu werden, in erhöhtem Maße ausgesetzt.

Für die jugendlichen Fabrikarbeiter wird von allen Parteien ohne Ausnahme ein besonderer Schutz angestrebt. Diesen Schutz verdienen die kleinen geistigen Arbeiter um so dringender, denn die geistige Arbeit ist angreifender als die körperliche. Der Staat thut augenblicklich, was in seinen Kräften steht, überall wird die bessernde Hand angelegt, damit ein thatkräftiges, lebensfrohes, mit gesunden Sinnen begabtes Geschlecht herangezogen werde. Den Eltern fällt die dankbare Aufgabe zu, dieses Reformwerk zu Hause zu fördern. Der Gegensatz zwischen Haus und Schule, von dem mitunter so viel gesprochen und geschrieben wird, ist in der Natur der Sache nicht begründet. Schule und Haus müssen sich in ihrem Wirken ergänzen.

Alle Erfahrungen der hervorragendsten Aerzte haben erwiesen, daß ein Kampf gegen das weitere Umsichgreifen der Schulkurzsichtigkeit auf Erfolg rechnen kann, wenn Staat, Lehrer und Eltern sich zielbewußt vereinigen. „Aber,“ möchten wir mit den Worten Schmidt-Rimplers schließen, „man stelle dabei auch alle selbstsüchtigen Erwägungen, wer mehr zu leisten habe oder mehr verschulde, hintan und gehe in guter Kameradschaft und Energie dem Feinde zu Leibe!“ C. F.     


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Deutsche Städtebilder.

Braunschweig.
Von Dr. Eugen Sierke.0 Mit Zeichnungen von R. Püttner.

Das Residenzschloß mit dem Viergespann.

Es giebt ein altes berühmtes Lied, das von „Bronsewyck, der leiwen Stadt,“ zwei Dinge zu rühmen weiß. die „Mumme“, d. h. ihr Bier, und die Schlackwurst. Für die malerische Pracht und den poetischen Reiz mittelalterlicher Romantik, den die tausendjährigen Baudenkmäler der altehrwürdigen Hanse- und Residenzstadt in überreicher Fülle entfalten, hat der treffliche Sänger kein Wort des Preises. Wie so mancher die Schönheiten seiner Heimat mit einer beinahe an Gleichgültigkeit grenzenden Teilnahmlosigkeit betrachtet, so sind auch manchem weniger ästhetisch angelegten Braunschweiger diese stolzen Zeugen einstiger Bürgermacht und städtischer Selbstherrlichkeit „Wurst“. Und doch giebt es außer Nürnberg, Hildesheim und einigen kleineren Orten im Süden, wie z. B. Rothenburg, kaum eine zweite Stadt, die so reich an architektonischen Schätzen und bedeutsamen Erinnerungen an unsere deutsche Vorzeit ist wie gerade Braunschweig.

Wer Sinn für Romantik hat und sich gerne in längst vergangene Zeiten zurückträumt, der findet in Braunschweig die üppigste Nahrung für seine in die früheren Jahrhunderte zurückschweifende Phantasie; denn wie von einem Zauberbann gefesselt liegt die Stadt da in ihrer ganzen unveränderten Merkwürdigkeit, in der sie uns der Ausgang des Mittelalters hinterließ. Wie ein seltsamer Widerspruch mutet es uns an, wenn wir in den altertümlichen engen Straßen und Gassen modisch gekleidete Menschen mit großstädtischer Hast dahineilen sehen; und es will uns bedünken, als müßten aus den kleinen Häusern mit ihren treppenartig vorspringenden niedrigen Stockwerken und den klugen, hellen Fensteraugen, die ohne Pfeiler dicht aneinander gereiht die ganze Front einnehmen in jedem Augenblick ehrbare Matronen mit ihren sauberen Häublein und hochgepufften faltenreichen Gewändern heraustreten, um gottesfürchtigen Sinnes zur Andacht in eine der nahen Kirchen zu wandeln. Die bescheidene Genügsamkeit und das behaglich behäbige Stillleben bürgerlicher Wohlhabenheit mit ihrem stark ausgebildeten Sinne für Bequemlichkeit und handfeste Gediegenheit in allen Lebenseinrichtungen spricht aus diesen Wohnstätten auf Schritt und Tritt zu dem verständnisinnigen Beschauer, aber auch der Hang zu dem zähen Beharren bei dem Altgewohnten und von den Vätern Ueberkommenen, die Liebe zu der Urväter Hausrat und die Pietät für das durch die Jahrhunderte Geweihte.

Daß Braunschweig von jeher ein Sitz bürgerlichen Wohlstandes gewesen ist, das bezeugen die prächtigen Kirchen, die Rats- und Gemeindebauten, wie auch die für damalige Zeiten reiche Zier, mit der man die Fassaden der Häuser schmückte. Bunt bemalte, figurenreiche und mit Holzschnitzerei prunkvoll ausgestattete Häuserfronten waren überall, selbst in den weniger vornehmen Stadtvierteln, gäng und gäbe. Ja gerade dort, wo der kleine Bürger sich anzusiedeln pflegte, zeigte sich eine ausgesprochene Vorliebe für eine stattliche Außenseite. Auch der weniger begüterte Mann durfte es sich erlauben, hierin einen gewissen Luxus zu entfalten. auf den sein Bürgersinn stolz war, denn sein Heim war die Freude seines Herzens. Werfen wir einen Blick auf unser doppelseitiges Bild S. 128 und 129! Die enge Gasse, in deren Hintergrund wir einen der höchsten Türme Deutschlands, den schlank und kühn sich erhebenden Andreasturm, Braunschweigs Feuerwarte, mit dem davorliegenden Gebäude der Alten Wage erblicken, zeigt uns eine Flucht von Häusern mit staffelartig vorspringenden Stockwerken, die ehedem wie auch heute noch von den Kleinbürgern bewohnt sind. Wie einfach auch ihr Aussehen und wie bescheiden auch ihre Größenverhältnisse erscheinen mögen, in ihrem sauberen und gefälligen Aufputz und in ihrem artigen architektonischen Schmuck verkünden sie doch einen gewissen Grad von Wohlbehäbigkeit. Noch deutlicher erkennt man dies aus einer andern, dicht daneben wiedergegebenen Straßen anficht, der Hagenbrücke. die von der herrlichen Katharinenkirche, mit prächtig geschmücktem gotischen Hauptschiff, abgeschlossen wird. Hier hatten kleinere Handwerksmeister ihre Sitze, und sie strebten danach, auch nach außen zu bekunden, daß das Handwerk noch einen goldenen Boden habe.

Den Glanzpunkt und den Stolz des braunschweigischen Gemeinwesens bildete und bildet noch heute noch der malerische Altstadtmarkt (S. 117) mit seinem reich in Maß- und Figurenwerk geschmückten und von schon gewölbten, in reinstem gotischen Stil gehaltenen Arkaden umgebenen Rathause, dessen edle Gliederung

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  Burg Dankwarderode

Abtei Riddagshausen     

und schlank aufstrebende Giebel mit ihren zierlichen Fensterwölbungen und kunstvoll durchbrochenen Rosetten im Stil so gut mit der gegenüberliegenden ehrwürdigen Martinikirche harmonieren. Wer diesen wundervollen Platz, dessen Mitte ein mittelalterlicher Brunnen schmückt, betritt, ohne von den andachtsvollen Schauern einer schönheitstrunkenen Stimmung überrieselt zu werden, der ist für den göttlichen Funken, welcher in solcher „gefrorenen Musik“ liegt, nicht empfänglich und mag nur spornstreichs in das auf der andern Längsseite belegene uralte Wirtshaus zu den „Sieben Türmen“ gehen. um sich in ein ehrbares Bierbankgespräch zu vertiefen.

Eines der hervorragendsten Gebäude Braunschweigs, dessen Längsseite von den Gebäuden auf der vierten Seite des Altstadtmarkts verdeckt wird, ist das im Jahre 1590 erbaute Gewandhaus, ein sechs Stockwerke hoher Bau mit außerordentlich reich ausgestatteter Renaissance-Vorderseite. In demselben befand sich ehemals das Warenmagazin der Kaufmannsgilde, namentlich der Tuchhändler, die hier ihre Lagerräume hatten, ein beredtes Zeugnis für den Reichtum der Stadt, die es errichten ließ.

Da unsere Altvordern mit großer Lebensklugheit das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden wußten so ließen sie es nicht an Stätten ermangeln, wo man einen guten Tropfen trank. Während in den mächtigen Kellergewölben des Gewandhauses die gewaltigen Stückfässer lagerten, die mit dem edlen Rebenblut von den fernen, im Besitz des Rats befindlichen Weinbergen angefüllt waren, hatte man in einem kleinen Anbau zur Seite des Hauptgebäudes eine Weinstube eingerichtet, in welcher die vom nahen Rathaus kommenden Ratsherren und die Patrizier der Stadt eine preisliche Labung fanden. Die Stube war zwar so klein, daß wohl nur 20 Personen daselbst Platz finden konnten, aber da man damals auf langen Bänken an den Wänden zu sitzen pflegte und der Bürger weniger dem Wein und mehr der trefflichen Mumme und dem nicht minder beliebten Broyhan[2] nachging, so mag sie wohl für ihren Zweck ausgereicht haben. Später soll sie als Wachlokal benutzt worden sein. Heute aber ist sie – „stilvoll“ restauriert – ihrem ursprünglichen Zwecke zurückgegeben und mit der in den Kellerräumen befindlichen Weinhandlung verbunden, in der man nach Hauffschem Vorgange sich in gar liebliche Träume von dem einstigen Glanze und der Tüchtigkeit der „Guten alten Zeit“ versenken kann. Eine fidele Gesellschaft lebenskluger Zecher, die sich mit philosophischer Heiterkeit über des Lebens Unverstand hinwegzutäuschen weiß, ein Gegenstück zu dem bekannten Berliner Verein „Tunnel über der Spree“ und zur „Grünen Insel“ in Wien, hat hier ihren Stammsitz. Sie führt den originellen Namen „Die Kleiderseller“, nach den braunschweigischen Althändlern, und ihr weiser Nestor ist Wilhelm Raabe. –

Die Braunschweiger waren als Niedersachsen stets ein kräftiger, wehrhafter und auf seine Tüchtigkeit trutzender Volksstamm, [126] der den Herzögen viel zu schaffen machte, indem er ihnen oft die Unterwerfung versagte. Viele heftige Fehden sind darob zwischen den Bürgern und den Fürsten entbrannt und manche Erinnerung an diese Kämpfe hat sich bis heute an den öffentlichen und privaten Bauten der Stadt erhalten. Eine der bemerkenswertesten finden wir an der schmucklosen, aber durch ihr hohes Alter ehrwürdigen Magnikirche, der ältesten Braunschweigs, die durch die Ungleichartigkeit ihrer Türme auffällt. Den einen, der jetzt nur einen kümmerlichen Stumpf darstellt, ließ der Herzog Heinrich Julius im Jahre 1615 beschießen. Es sollen innerhalb acht Tagen nicht weniger als 1014 Schüsse auf diesen Punkt abgegeben worden sein, die aber sehr schlecht gezielt gewesen sein müssen, denn erst in den letzten Tagen gelang es, den Turm so zu beschädigen, daß die Hälfte von ihm in Trümmer fiel. Man hat ihn nicht wieder aufgebaut, sondern jenes merkwürdig ungeschlachte Dach darauf gesetzt, welches einer Tischglocke gleicht und in gar seltsamem Gegensatze zu dem Dachstuhl und Glockenhause des andern Turmes steht. Die Kirche wurde im Jahre 1031 vollendet, stürzte aber 1251 ein und mußte dann (1290) wieder aufgebaut werden. - Nach der bereits genannten herrlichen Katharinenkirche, die im Jahre 1252 begonnen und im Jahre 1379 vollendet wurde, ist der Dom das architektonisch bedeutsamste Gotteshaus Braunschweigs; im Jahre 1194 vollendet, ist er ein „Denkmal dauernder als Erz“, welches sich der Herzog Heinrich der Löwe, der Urheber der nochmaligen Größe Braunschweigs als Hansestadt, selbst gesetzt hat. Hier hat der Herzog auch seine letzte Ruhestätte gefunden und neben ihm sind in einem Gewölbe die Gebeine einer ganzen Anzahl von Fürsten, und Großen dieser Erde gebettet; deren Namen die Geschichte mit vollem Klänge nennt.

In der Mitte des Hauptschiffes befindet sich das Grabmal des Herzogs Ludwig Rudolph und seiner Gemahlin, der Großeltern der, Maria Theresia, ein prunkvoller Marmorsarkophag mit den Bildnissen beider in Zinkguß. In der Krypta im Chor sieht man die Särge von 45 braunschweigischen Fürsten nebst ihren Gemahlinnen und Anverwandten. Das Innere der mächtigen Kirche, die von einem gotischen Kreuzgewölbe überdeckt wird, macht einen mächtigen Eindruck durch die Schönheit der kühn sich erhebenden Bogen wie durch die Fülle des Bilderschmucks, den die neuere Zeit hinzugefügt hat.

Mancherlei Merkwürdigkeiten, die angeblich von Heinrich, dem Löwen aus dem Morgenlande mitgebracht wurden, werden hier aufbewahrt. Von eigentümlicher Massigkeit ist ein siebenarmiger Leuchter, der nach dem Muster des einst im Salomonischen Tempel befindlichen Urbilds hergestellt worden ist. Reiche gotische Ornamentik ziert auch außen das schöne Bauwerk, bei dem nur zu bedauern ist, daß es zwei unvollendete, das Glockenhaus kaum überragende Türme besitzt, die gar übel zu dem übrigen passen.

In dem Glockenhaus sind zwölf Glocken von ausgezeichnetem Klange aufgehängt, darunter eine von gewaltiger Tiefe, deren ernste Harmonie sich an Sonntagen durch die ganze Stadt vernehmbar macht.

Auf der Südseite des Domes erblickt man das traurig stimmende Sinnbild der älteren Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg, die alte Heinrichslinde, der man ein Alter von mehr als 800 Jahren beilegt, ein trübseliger Rest eines mächtigen Baumes, der jetzt im Absterben begriffen ist, einst aber zu den stolzesten seinesgleichen gehörte, denn sein Stamm besitzt einen Umfang von mehr als 5 Metern. Allen Bemühungen zum Trotz schreitet der Verfall so unaufhaltsam fort, daß in diesem Jahre wohl nur noch der blätterlose Stumpf übrig sein wird.

Auf der andern Seite des Domes steht auf hohem, ungeschlacht massigem Steinsockel das Wahr- und Merkzeichen der Stadt Braunschweig, der bronzene Löwe, den Heinrich der Löwe als Zeichen seiner Herrschaft errichtete, ein höchst seltsames Gebild der Metallgießerkunst, von so primitiver Form, daß man es zoologisch nur sehr schwer würde bestimmen können. Der Unterbau ist übrigens jüngeren Ursprungs; er wurde im Jahre 1721 hergestellt und 1858 erneuert. Eigentümlich berührt es, daß der Löwe der Stadt den Rücken wendet und mit dem Gesichte nach der Stätte gekehrt ist, wo einst die alte Burg Heinrichs des Löwen, das Schloß Dankwarderode sich erhob. Auch jetzt noch hat er die Burg vor sich, aber es ist ein Bauwerk, welches erst in den letzten Jahren entstanden ist. Prinz Albrecht, der Regent von Braunschweig, hat es dort errichten lassen, wo bisher nur eine alte verfallene Reitbahn stand, ein abscheuliches kaserneartiges Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert, das abgebrochen werden mußte. Einige Reste der alten Burg, die mit diesem Bau verschmolzen sich beim Abbruch vorfanden, und alte Pläne und Beschreibungen dienten dem Architekten als Wegweiser für die Wiederherstellung der Heinrichsburg und setzten ihn in stand, ein Bauwerk zu errichten, das wenigstens im Stil und in der Anlage der alten Burg des Löwenherzogs ähnlich sein dürfte. Dasselbe schließt sich rechtwinkelig an den Dom an, mit dem es durch einen Galeriegang verbunden ist, und soll als Ballei für die Johanniterritter dienen, deren Ordensmeister der Prinz Albrecht ist. Kenner des frühgotischen Stils rühmen von dieser neuen Herzogspfalz die Treue in der Nachahmung und die Strenge, mit der sie im Geiste der alten Zeit gehalten ist. Jedenfalls bildet sie eine architektonische Sehenswürdigkeit Braunschweigs, die ihrem geistigen Urheber, dem Stadtbaurat Winter, zur Ehre und den Braunschweigern zum Stolze gereicht.

Der Burg gegenüber liegt ein mächtiges Gebäude, das einem Herrensitze aus dem Anfang dieses Jahrhunderts ähnlich sieht, ein architektonisch unansehnliches, mit einem mächtigen, von Säulen getragenen Balkon versehenes, altersgraues und mürrisch dreinschauendes Haus, das allenfalls ein Regierungsgebäude vorstellen könnte. Es ist das Stammhaus des bekannten Verlegers Friedr. Vieweg, der, ein Schwiegersohn des nicht minder bekannten Pädagogen und Schriftstellers Joach. Heinr. Campe, hier eine Schulbuchhandlung errichtete und damit den Grundstock zu seinem späteren Reichtum legte. Das dicht daneben belegene Haus mit der mittelalterlichen Fassade und dem behaglichen Risalit, ein malerisches Stückchen Romantik, welches seltsam von dem nüchternen Nachbar absticht, gehört der Familie von Veltheim, und zwar der gräflichen Linie. Es zählt zu den Bauten der Stadt, vor denen der poetisch gestimmte Beschauer in der Regel mit dem stillen Seufzer verweilt: „Ach, wenn du wärst mein eigen!“ so heimisch, so lauschig mutet es an und so freundlich ladet es zum Eintritt ein.

Obschon Braunschweig der bedeutenden Männer eine ganze Zahl hervorgebracht hat, ist es doch merkwürdig arm an monumentalen Bildwerken. Erst in neuerer Zeit hat es mehrere solcher Zierden erhalten, unter denen das Lessingdenkmal von Rietschel eine Schöpfung ersten Ranges ist. Dasselbe verdankt seine Entstehung der Anregung des verdienstvollen Stadtarchivars Dr. Carl Schiller und ist aus freiwilligen Beiträgen entstanden. Lessings scharfer kritischer Geist, seine hohe Denkernatur wie sein Dichtergenius sind in dieser kraftvollen Gestalt, auf deren Stirn der Adel einer freien Gesinnung thront, in gleicher Vollendung zum Ausdruck gelangt. Unweit davon, am Egidienmarkt, liegt ein wohlerhaltenes Haus aus der Zopfzeit. in dem sich jetzt die braunschweigisch-hannoversche Hypothekenbank befindet. Hier hauchte Lessing in einem Zimmer des oberen Stockes seinen Geist aus. Ein anderer Denker, der die Gesetze des Weltalls ergründen half und neue Bahnen in der Welt der Zahlen fand, der große Mathematiker und Astronom Gauß, hat am entgegengesetzten Ende der Stadt ein Erzbild erhalten. An einem der schönsten Punkte der sich um den inneren Kern der Stadt herumziehenden mit Gärten und Villen geschmückten Promenade, vor dem sogenannten „Anatomieberge“, hat das Denkmal, das im Jahre 1880 nach einem Modell von Schaper durch den Erzgießer Howaldt ausgeführt wurde, einen idyllischen Platz gefunden. Auch dieses Standbild ist zur Hälfte aus freiwilligen Beiträgen bestritten worden; die noch fehlende Summe zahlte die Staatskasse. Zwei mächtige Reiterstatuen, die Kolossalbilder der Heldenherzoge Carl Wilhelm Ferdinand und Friedrich Wilhelm, die ihr Leben auf dem Felde der Ehre opferten, zieren seit 1874 den großen Schloßhof vor dem mächtigen Monumentalbau des im Jahre 1868 nach einem Brande teilweise wieder neu aufgeführten Residenzschlosses. Sie sind nach Modellen von Hähnel und v. Pönninger von Howaldt, Vater und Sohn, in Kupfer getrieben und gehören zu den vollendetsten Schöpfungen der neueren bildenden Kunst. Das in reinem griechischen Stil gehaltene Residenzschloß ist ein moderner Prachtbau vornehmster Gattung, dessen schöne Verhältnisse und großartige architektonische Gliederung die ungeteilte Bewunderung aller Sachkundigen finden., Eine von der „Brunonia“ geführte Quadriga, ähnlich der auf dem Brandenburger Thor in Berlin, krönt den [127] prächtigen Palast. Sie ist von Rietschel modelliert und von Howaldt in Kupfer getrieben. Die früher vorhandene ging bei dem Schloßbrande im Jahre 1865 zu Grunde.

So schlecht die Wasserverhältnisse Braunschweigs sind – es wird darüber mit Recht bitterste Klage geführt – so schön sind die Brunnen, deren sehenswertester der freilich erst aus neuester Zeit stammende Heinrichsbrunnen (mit dem Standbilde Heinrichs des Löwen) vor der Katharinenkirche ist, ein Werk der bildenden Kunst, das mit den besten seiner Art sich messen kann. Der Springbrunnen auf dem Kohlmarkt ist eine aus dem Mittelalter stammende „Wasserkunst“, die aber in neuerer Zeit zum größeren Teile umgestaltet worden ist und das Ueberladene der Spätrenaissance zeigt. Ein schönes Denkmal gotischer Kunst ist dagegen der im Anfang des 15. Jahrhunderts errichtete Brunnen auf dem Altstadtmarkte, der in trefflicher Stilharmonie zu dem Altstadtrathause und der Martinikirche steht.

Es ließe sich noch viel von interessanten alten Häusern mit merkwürdigen Bildwerken (auch der cynisch derbe Humor des Mittelalters ist dabei zur Geltung gekommen) erzählen, von der entzückenden Pracht, welche die Mondscheinbeleuchtung in unseren altertümlichen Gassen und Straßen dem empfänglichen Wanderer darbietet. Auch ein Blick in die Umgebung, auf die nur ein halbes Stündchen entfernte alte Cisterzienserabtei Riddagshausen mit ihrer schönen Kirche würde sich lohnen. Allein, was nützen Beschreibungen bei solchen Dingen, die man selbst anschauen und genießen muß, um sie richtig zu würdigen! Man reist jetzt viel, und jedermann glaubt es seiner Bildung schuldig zu sein, auch einmal in Nürnberg gewesen zu sein, um darüber mitreden zu können. Nun wohl, wer dieses Mekka der Romantiker sehen will, der möge auch Medina nicht unbesucht lassen! Auch in Braunschweig giebt es noch Genüsse, die über Honigkuchen, Schlackwurst und Spargel erheblich hinausgehen!




Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.
(7. Fortsetzung.)


Der Wagen, der Herrn von Montrose und dessen Angehörige ihrem künftigen Besitz entgegenführte, war eine richtige Stadtequipage, die Pferde zwei feurige Traber, ganz schwarz, ohne Abzeichen, der Kutscher ein graublonder Engländer, der tadellos fuhr und in korrektester Haltung auf seinem hohen Sitz thronte.

Im Fond des Wagens lehnte Herr von Montrose in seiner vornehmen, ein wenig lässigen Weise, die Augen halb gesenkt, gleichwohl die ganze Umgebung beobachtend, nichts außer acht lassend. An seiner rechten Seite saß seine Tochter Clémence, ein etwa zweiundzwanzigjähriges Mädchen, höchst elegant und für eine Fahrt über Land nicht ganz zweckmäßig in helle Seide gekleidet, ein reizendes Spitzenhütchen auf dem Kopf, einen kostbaren Spitzenschirm in der Hand. Trotz ihrer Jugend und Eleganz konnte man aber Clémence von Montrose nicht hübsch nennen, die Offiziere in St. hatten recht. Ein farbloses eckiges Gesicht, unruhige graue Augen, spärliches strohblondes Haar, eine oft bemerkbare Falte zwischen den Brauen und einen Mund, der auf starke Leidenschaftlichkeit deutete. Ihr gegenüber saß ihr Verlobter, der „schöne“ Botho von Jagemann, auch heute, da er sich nicht in Uniform befand, eine auffallend gute männliche Erscheinung, brünett, die Züge groß und regelmäßig geschnitten. In seiner Haltung wie im Ausdruck seiner Augen lag etwas Erzwungenes; er hörte verbindlich seiner Braut zu, die lebhaft auf ihn einsprach, und beantwortete ihre vielfachen Fragen so gut er konnte. Dann und wann streifte sein Blick scheu über seinen zukünftigen Schwiegervater hin, der sich nicht an dem Gespräch beteiligte. Wie ein glücklicher Bräutigam sah Botho nicht aus.

Georges von Montrose, gleichfalls in Zivil, ein hübscher blonder Mann, in dessen Gesicht nur der zudringliche, gleichsam alles in Besitz nehmende Blick der kalten grauen Augen störte, unterhielt sich damit, beim Vorüberfahren Blätter von den Bäumen am Wegrande abzureißen, sie in Fetzen zu zerpflücken und in den Wind zu streuen. An dem Gespräch des Brautpaars beteiligte er sich nur selten durch ein hingeworfenes Wort oder ein Achselzucken. Die ganze Fahrt langweilte ihn – seines Vaters Gutskauf interessierte ihn nicht im geringsten. Erwartete der Alte etwa, daß er fortan jeden Urlaub da draußen zwischen Kartoffelfeldern und Runkelrüben zubringen, daß er gar eines Tages selbst hier seinen Acker pflügen und seinen Kohl bauen sollte? Gräßlicher Gedanke! Aber einstweilen hieß es für Georges, den liebenswürdigen gehorsamen Sohn spielen, denn er war völlig abhängig von seinem Vater und wußte recht gut, daß mit diesem nicht zu scherzen war. Das hatte ihm seine Versetzung von Berlin hierher in dies „Nest“ bewiesen. Herr von Montrose hatte seinem Sohne kurz und trocken geschrieben, daß ein längerer Aufenthalt in der Reichshauptstadt ihm nicht dienlich sei, es fehle ihm die nötige Mäßigung und Selbsterziehung. Darauf war die Versetzung erfolgt, die Montrose für seinen Sohn erbeten hatte. Dieser hatte damals vor ohnmächtiger Wut geschäumt – er fand sich überaus schätzenswert, wenn er mit genauer Not, ohne sich strenge Rügen von seinen Vorgesetzten zuzuziehen, seinen Dienst versah, denn das war wahrlich schon Plage genug! Aber da man am Ende doch etwas „vorstellen“ mußte, ging es so noch am besten. Daneben „amüsierte“ er sich natürlich nach Kräften. Und nun diese Bevormundung, dies tyrannische Verfügen über ihn! Der Vater war doch ohne Zweifel schwer reich – freilich, wie reich, das wußten seine Kinder nicht, er hütete sich wohlweislich, sie einen Einblick in seine Vermögensverhältnisse gewinnen zu lassen! Da konnte es ihm doch auf ein paar tausend Thaler jährlich mehr für seinen einzigen Sohn nicht ankommen! Aber eben, es kam ihm ganz entschieden darauf an, und Georges mußte sich fügen. Daß er dies mit heimlichem Zähneknirschen that, schien sein Vater nicht zu beachten. Der junge Mann hatte sich nun in St. „zur Not“ eingelebt, hatte natürlich auch hier nicht aufgehört, sich zu amüsieren, denn das gehörte nach seiner Meinung notwendig zu seinem Dasein. Neue Schulden waren das Ergebnis gewesen, und Herr von Montrose hatte sie gleichmütig beglichen, mit der kurzen geschäftsmäßigen Bemerkung gegen seinen Sohn, daß er ihm diese Summe von seinem mütterlichen Erbe abgezogen habe. Empörenderweise hatte nämlich die Mutter ihren Gatten zum Vormund der Kinder eingesetzt und ihm den Nießbrauch ihres Vermögens zur freien Verfügung überwiesen – die Kinder waren mithin ganz abhängig vom Vater. Dadurch, daß Herr von Montrose die „Perle“ kaufen wollte, ein Gut, dessen ungefähren Wert man in den militärischen Kreisen recht gut zu schätzen wußte, war Georges in stand gesetzt, auf die väterlichen Verhältnisse einen Rückschluß zu ziehen, der ihn umsomehr mit stummem Ingrimm erfüllte, je weniger er den Vater seinen Ansprüchen geneigt fand.

Zwischen diesem Vater und diesen Kindern hatte es niemals ein inniges, kaum je ein leidlich gutes Verhältnis gegeben. Frau von Montrose war gestorben, als Georges zwölf, Clémence acht Jahre zählte; sie hatte beide Kinder in unvernünftiger Weise verhätschelt und ihnen jede Laune erfüllt, denn sie war eine schwache charakterlose Frau gewesen, die einzige Tochter ihrer in Pernambuco lebenden Eltern und die Erbin eines enormen Vermögens. Sie war gewöhnt, alles zu erhalten, was sie sich nur wünschte, und war daher auch weiter nicht erstaunt, Eugéne von Montrose, der ihr über die Maßen gefiel, zum Ehemann zu bekommen. Als sie sich aber außerdem auch noch seine leidenschaftliche Liebe wünschte und mit aller Heftigkeit ihres unerzogenen Naturells auf diesem Wunsch bestand, da mußte sie es erleben, daß dieser Artikel nicht zu erlangen war. Ihr Gatte behandelte sie rücksichtsvoll, umgab sie mit allem Luxus, aber ihrem unermüdlichen Werben um seine Liebe setzte er einen ebenso unermüdlichen Widerstand entgegen. Sie geriet in Verzweiflung, machte ihm die aufregendsten Scenen und verleidete ihm so vollends die Häuslichkeit. Dann kamen auch wieder Stunden der Selbstanklage über die Frau, sie bereute ihre Leidenschaftlichkeit, zerfloß in Thränen und bettelte auf den Knien um ein zärtliches Wort, eine Liebkosung ihres Mannes. Solcher Auftritte entsannen sich die Kinder noch recht wohl; sie wuchsen inmitten dieser Verhältnisse auf, sahen und hörten hundert Dinge, die ihnen noch jahrelang hätten verborgen bleiben müssen, und wußten, daß ihre Eltern in unglücklichster Ehe miteinander

[128]

Bilder aus Braunschweig.
Nach einer Originalzeichnung von R. Püttner.

Heinrichsbrunnen auf dem Hagenmarkt. Blick v. Nussberg auf Braunschweig. St. Andreas-Kirche. Alte Waage. Meinhards-Hof.
Magni-Kirche. Blick aus d. Hallengängen des Altstädter Rathhauses. Hagenbrücke m. d. St. Catharinen-Kirche. Burgplatz mit Löwendenkmal.
Lessing-Denkmal u. Sterbehaus. Brunnen auf dem Kohlmarkt. Gewandhaus. Dom und Heinrichs-Linde. Gauss-Denkmal und Geburtshaus.

[129] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [130] lebten. Im ganzen focht sie das aber wenig an, denn beide waren selbstische Naturen und zufrieden, wenn ihre kindischen Wünsche erfüllt wurden. Nach dem Tode der Mutter blieben sie nur gerade solange in Buenos Aires, als zur Uebergabe und teilweisen Auflösung des Geschäftes notwendig war, dann siedelten sie alle nach Europa über, wo die Kinder sofort in Erziehungsanstalten untergebracht wurden, während der Vater auf Reisen ging. Vater und Kinder sahen einander selten, die Entfremdung wurde immer größer, und obgleich sie jetzt schon längere Zeit zusammen lebten, waren sie doch innerlich einander fern geblieben.

„Sind Dir die Doßbergschen Familienverhältnisse näher bekannt, liebe Clémence?“ fragte Botho von Jagemann, der erst seit kurzer Zeit bei den Husaren in St. stand.

„Nur ganz oberflächlich – wir sind ja auch noch nicht lange hier. Soviel ich hörte, hat dieser Baron Doßberg viel Unglück gehabt – Mißernten und dergleichen Geschichten. Er soll sich gewehrt haben wie ein Verzweifelter, sein Gut zu halten. Mehr weiß ich nicht. Das ist für uns alles so Hals über Kopf gekommen. Gestern hörten wir von Papa das erste Wort über seinen beabsichtigten Gutskauf, heute hieß es, wir würden hinausfahren, uns den Besitz anzusehen. Hätte man nicht neulich in einer Gesellschaft zufällig etwas über diesen Doßberg und seine ‚Perle‘ gesprochen, dann tappte ich jetzt ganz und gar im Dunkeln.“

„Ja,“ sagte Georges mit Betonung. „Papa liebt es überhaupt, uns über seine Pläne und Absichten im Dunkeln zu lassen.“

„Allerdings!“ gab sein Vater gelassen zurück.

Das Gespräch verstummte hierauf. Beinahe jede Unterhaltung, die Vater und Kinder miteinander hatten, endigte mit einem Mißton.

„Wie schön – sieh, Clémence, dort ist die See!“ rief Botho plötzlich und erhob sich ein wenig von seinem Sitz.

Sie waren in einen Waldweg eingebogen; links traten die Bäume auseinander, und für eine kurze Weile blitzte das tiefe Blau des Meeres zu ihnen herüber.

„Wir fahren zunächst nach Gnadenstein,“ erklärte Herr von Montrose kurz. „Das hat früher zu ‚Perle‘ gehört, ist aber seit einiger Zeit abgelöst. Ich möchte suchen, es wieder mit dem Hauptgut zu vereinigen. Georges und Botho werden im Gnadensteiner Pächterhause bleiben, während ich mit Clémence nach ‚Perle‘ hinüberfahre, damit sie sich das Schloß ansieht. In einer guten Stunde etwa könnt Ihr uns zurückerwarten!“

„Ah, Du willst uns nicht mitnehmen?“

„Heute – nein!“ Georges faltete finster die Stirn. Dies „zwecklose Herumgekarre“ war durchaus nicht nach seinem Sinn. Was zum Teufel sollte er mit Botho auf Gnadenstein anfangen, und warum nahm Papa sie beide nicht ins Schloß mit? War das nichts weiter als eine Laune oder steckte etwas Besonderes dahinter?

„Botho, hast Du Karten in der Tasche?“ fragte er mißvergnügt seinen künftigen Schwager. „Mit irgend ’was muß man doch seine Zeit totschlagen!“

Herr von Jagemann fühlte in einer Tasche seines Ueberrocks nach und nickte befriedigt – gottlob, die Tröster waren zur Stelle!

Clémence war ebenfalls unmutig über die Trennung von ihrem Bräutigam. Was Papa mitunter für komische Einfälle hatte! Sie streckte Botho heimlich wie zum Trost die Hand hin – aber dieser sah es gar nicht, sondern blickte gelangweilt, verdrossen gerade aus. Sie nannte leise seinen Namen.

„Du befiehlst?“ fragte er, aus seinem Sinnen auffahrend, in verbindlichstem Ton.

Das Mädchen sah ihm mit beredten verlangenden Blicken ins Gesicht – er war so schön in ihren Augen, so schön, – aber wie zerstreut oft! Was mochte ihn beschäftigen? „An was dachtest Du?“ flüsterte sie vorsichtig, sich nahe zu ihm neigend.

„Das kannst Du fragen?“ gab er ebenso zurück und fing die suchende kleine Hand in der seinigen auf; der Ausdruck seiner Stimme hatte etwas Gemachtes. Ein flüchtiger Seitenblick aus den Augen des Vaters streifte die beiden; Geringschätzung und Mitleid lag darin – wie blind die Menschen oft waren, wie blind!

Der Gnadensteiner Pachthof war in Sicht; man ließ den Wagen ein Stück davon entfernt halten und stieg aus. – 000000000000000000

„Wenn der gnädige Herr so gütig sein wollten – unsere Baroneß wünscht, den gnädigen Herrn für eine kleine Weile zu sprechen, sie wartet im Garten!“ Fink, der in ehrerbietigster Haltung neben dem Wagen vor dem Portal des Schlosses stand, entledigte sich seines Auftrags mit einer gewissen Gezwungenheit – er kam ihm nicht recht schicklich vor. „Der Herr Baron ist noch über Feld,“ fuhr er zögernd fort, „die gnädige Frau Baronin ist sehr leidend, immer ans Bett gefesselt, und so hat Baroneß –“

„Also ist doch eine Tochter hier!“ unterbrach ihn Clémence.

Fink entgegnete ernsthaft: „Zu Befehl!“, aber er machte doch ein erstauntes Gesicht, daß jemand vom Dasein seiner Baroneß, solch einer Baroneß, nichts wußte.

„Es ist gut, ich komme,“ sagte Herr von Montrose, indem er den Wagenschlag öffnete. „Rufen Sie die Wirtschafterin, sie kann einstweilen meiner Tochter das Schloß zeigen!“

Frau Köhler, die Wirtschafterin, eine junge rüstige Witwe, erschrak nicht wenig, als Fink ihr im Milchkeller, wo sie gerade beschäftigt war, seinen Auftrag ausrichtete. War es denn wirklich schon so weit mit ihrer Herrschaft gekommen, daß sie fremden Leuten das Schloß zeigen mußte? Leise vor sich hinjammernd, wusch sie sich in Eile die Hände, that eine blendend weiße Schürze um und stand eine Minute später knixend, den riesigen Schlüsselbund am Gürtel, neben dem Wagen, in dem noch immer Clémence von Montrose nachlässig lehnte, vor den Augen ein Lorgnon an langem Goldstiel, durch das sie das Schloß und dessen ganze Umgebung mit hochmütiger Miene musterte. Herr von Montrose grüßte die atemlose kleine Frau höflich, winkte seiner Tochter einen Abschiedsgruß zu und schritt, von Fink geführt, nach dem Garten.

Durch die Büsche schimmerte ein weißes Frauenkleid, Fink wollte darauf zugehen und seinen Begleiter melden, allein dieser machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und wartete, bis der Bediente wieder hinter dem Gitter verschwunden war.

Warmer Duft kam Herrn von Montrose entgegen, eine lachende blühende Welt umgab ihn. Weiße Falter gaukelten über den niedrigen Büschen oder hingen regungslos an den Blumenkelchen, die Bienen summten mit einschläferndem Ton. Rosen und Lilien standen in weitem Halbkreis und hauchten ihren schweren süßen Duft in die schwüle Sommerluft hinein. Und mitten in all dieser Pracht die Maienkönigin! Denn so sah Ilse von Doßberg aus, obgleich sie ihr schönes Haar heute nicht frei herabwallen ließ, sondern es, zu einem Krönchen zusammengeflochten, auf dem Scheitel trug. Aber eitles Gold flimmerte um Schläfen, Stirn und Nacken. Goldlichter huschten über das schlichte weiße Kleid und irrten über die zarten Hände, die eben bemüht waren, eine herabhängende blasse Rose höher an den Stock hinaufzubinden. Der Beobachter sah das feine Profil, die sanftgeschwellten Lippen, die sich leise regten – er machte keine Bewegung, um dies Bild nicht zu zerstören. Aber plötzlich wandte Ilse sich um, gewahrte ihn, und in demselben Augenblick lag die herrliche Rose, die sie so behutsam aufband, dicht am Stengel abgeknickt, zu ihren Füßen. Mit zwei Schritten war er neben ihr, hob die Blume auf und reichte sie ihr hin, aber Ilse hatte die Hände schlaff niedersinken lassen und nahm die Rose nicht; sie war jäh erblaßt, mit einem ganz hilflosen Ausdruck sah sie ihm unverwandt ins Gesicht.

Er betrachtete sie ebenso beharrlich, während er ehrerbietig den Hut zog und mit seiner gedämpften Stimme sagte: „Es thut mir leid, Sie erschreckt zu haben, Baroneß, ich brauche Ihnen wohl nicht zu beteuern, daß das nicht in meiner Absicht lag. Sie wissen, wer ich bin?“

Ilse neigte wortlos das Haupt.

„Und Sie haben gewünscht, mich zu sprechen?“

Ja, sie hatte das gewünscht, sie hatte sich alles zurechtgelegt, was sie ihm sagen wollte, soeben noch – und nun plötzlich wußte sie kein einziges Wort mehr davon! Sie hatte die Empfindung, als ob die Gegenwart dieses Mannes, sein Blick sie lähme, als ob sie thun müsse, was er wolle. Ein Gefühl der Unfreiheit war über sie gekommen, von dem sie sich vergebens loszumachen strebte. Sie atmete hoch auf und setzte zum Sprechen an, aber es kamen ihr ganz andere Gedanken als die, die sie darlegen sollte. Ihr fiel des Landrats Ausspruch ein, Herrn von Montroses Sohn sei ein lockerer Gesell, und wie sie dazu so siegessicher gelächelt hatte – sie dachte, der Sohn werde gewiß dem Vater nicht ähnlich sein, denn zwei Menschen könnten unmöglich solche Augen haben, und warum sie die Rose nicht nehme, die der Gast in der Hand hielt – dazwischen sah sie eine kleine Elfenbeinfigur vor sich, die heute früh für ihre Mama angekommen war, die „Hoffnung“, eine reizende Mädchengestalt mit sehnsuchtsvoll [131] emporgehobenem Köpfchen und wie sie gestern Mama hatten vorlesen müssen, eine sentimentale Liebesgeschichte aus dem Englischen, die ihr so unglaublich süßlich vorgekommen war – und wie stark die Lilien um sie her dufteten, aber ihre Zeit war nun auch bald vorbei, die Linden fingen ja schon an zu blühen ...

Aber während sie all das dachte, hastig, ungeordnet, kam kein Wort über ihre Lippen, und sie wartete, daß Herr von Montrose etwas zu ihr sagen sollte. Er stand noch immer neben ihr, den Hut in der Hand – er sah von ihr weg, weil er merkte, daß sein Blick sie verwirrte, und ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, aber er selbst fühlte auch, wie dieser schwüle Mittagszauber ihn in seinen Bann schlug. Endlich brachte Ilse stockend hervor: „Wollen wir in die Laube gehen?“

„Gern. Ich stehe zu Ihren Diensten.“

Sie schritt ihm voran zwischen den Blumenbeeten hindurch, mit ihrem leichten Gang, der so gut zu dem anmutig getragenen Köpfchen stimmte. In der kleinen, mit wildem Wein überwucherten Laube setzte sie sich wie erschöpft auf eine Holzbank und faltete die Hände leicht im Schoß. Montrose ließ sich in einiger Entfernung von ihr nieder und blickte sie wieder unverwandt an. Sie saß ganz in der grüngoldenen Dämmerung, und die gezackten Schatten der Weinblätter liefen zuweilen in lebendigem Spiel über sie hin. „Ich – ich hab’ eine Bitte,“ fing Ilse endlich an, zugleich hob sie wie verwundert den Kopf. war das wirklich ihre eigene Stimme, die das sagte? „Man – man hat mir gesagt,“ fuhr sie stockend fort, da er nur eine verbindliche Bewegung aufmerksamen Zuhörens machte, „Sie, Herr von Montrose, wollten unsere Besitzung kaufen, die ‚Perle‘.“

„Hat Ihr Herr Vater Ihnen das mitgeteilt?“

„Nicht mit dürren Worten. Papa ist – er kann darüber nicht sprechen“ – die Worte kamen ihr jetzt williger und rascher – „es liegt wie eine schwere Krankheit über ihm, er kann den Gedanken nicht fassen, von hier fort zu müssen, Und ich weiß nicht, wir alle, die ihn lieben, wissen nicht, wie er das Leben fern von hier ertragen soll. Es giebt gewiß viele, die das gar nicht verstehen, die es lächerlich finden, ich weiß nicht, ob –“

„Nein, nein,“ sagte er ruhig und lächelte ein wenig, „Sie sollen nicht denken, daß Sie in mir solch einen Verständnislosen vor sich haben. Je älter man wird, je mehr man von Welt und Menschen sieht, desto mehr wird man trachten müssen, alles zu verstehen, auch das Fremde, der eigenen Natur Unbegreifliche. Und das ist hier nicht eimnal der Fall. Hätte ich eine Heimat gekannt, ich bin fest überzeugt, daß mir die Trennung von ihr unendlich schwer gefallen wäre.“

Mit einem raschen scheuen Blick sah Ilse den Sprecher an; ihre warmen dunklen Augen verrieten deutlich ihr Mitgefühl, aber sie blieben nicht haften auf ihm; wie erschrocken wanderten sie weiter und ruhten beharrlich auf einem blühenden Fliederbusch, der neben dem Eingang der Laube stand.

„Für den Fremden muß es den Anschein haben, als sei Papa kein tüchtiger Landwirt,“ fuhr Ilse fort, „denn die ‚Perle‘ ist ein schönes ertragfähiges Gut, und wir können uns doch nicht mehr darauf halten. Aber als mein Vater es bekam, stand es, wie ich jetzt weiß, schon nicht mehr gut damit, und er hätte sehr sparsam leben müssen, um allmählich wieder in die Höhe zu kommen. Das aber konnte er nicht. Für sich selbst brauchte er nicht viel, aber meine arme Mutter ... Sie wissen davon?“ unterbrach sie sich, da Montrose eine zustimmende Bewegung gemacht hatte.

„Ja, ich weiß! Und Sie irren auch, Baroneß, wenn Sie glauben, ich hielte Ihren Vater für einen schlechte Wirtschafter, weil er die ‚Perle‘ nicht länger halten kann. Ich weiß, daß er Tüchtiges leistet, und setze volles Vertrauen in seine Kraft und Fähigkeit!“

Ilses Lippen zitterten – wie wohl ihr dies Lob ihres Vaters that! Wahrlich, er, zu dem sie sprach, machte es ihr leicht genug, ihre Bitte vorzubringen, ... und dennoch dieser Alp, der auf ihr lag, dieser unerklärliche Zwang! Eine dumpfe Angst stieg von neuem in ihr auf, ließ ihr das Herz bis in den Hals hinauf schlagen und raubte ihr die Sprache; es blieb wieder eine Weile still zwischen ihnen. „Und Ihre Bitte?“ fragte er endlich leise.

Sie zuckte empor – jawohl, die Bitte! Was war sie denn für eine Tochter, daß sie im Grübeln über ihre „dummen unklaren Empfindungen“ das Wichtigste vergaß? Eine fliegende Röte kam und ging in ihrem Gesicht. „Es ist mir gesagt worden, Sie, Herr Baron –“

„Bitte,“ unterbrach er sie rasch, „einfach Montrose!“

„Herr von Montrose“ – es fiel ihr schwer, seinen Namen auszusprechen – „man hat mir gesagt, daß Sie die Leitung Ihrer neuen Obliegenheiten nicht selbst übernehmen wollen –“

„Können!“ betonte er, wieder mit seinem flüchtigen Lächeln. „Vielleicht würde ich es wollen, wenn ich mich nicht gänzlich unfähig fühlte, diese Aufgabe zu erfüllen. Was versteht ein Bankier vom Landbau? Ich würde gern einen tüchtigen Beamten haben, der mir einen Einblick gönnte, mich etwas lernen ließe. Würde Ihr Vater, Baroneß, dieser Beamte sein wollen?“

Da war ihre Bitte nun, und sie selbst hatte es nicht nötig gehabt, sie auszusprechen! Jetzt hätte sie ihm danken müssen für sein Entgegenkommen, das fühlte sie, statt dessen erwiderte sie nur: „Ich weiß das nicht, Papa hat keine Silbe darüber geäußert. Er ist so überaus reizbar, so wund in seiner Seele – ich glaube nicht, daß er an irgend jemand, er sei, wer er sei, eine solche Bitte richten könnte.“

„Nun, so will ich ihn bitten,“ sagte Montrose einfach.

„Sie – ach, wenn Sie das wollten!“

„Warum sollte ich nicht? Es ist der kürzeste Weg. Wollen Sie mir nur sagen, Baroneß, wo und wann ich Ihren Vater in nächster Zeit sprechen kann?“

„Papa führt ein merkvürdiges Dasein jetzt; er kommt nicht mehr regelmäßig zu den Mahlzeiten, wir müssen oft stundenlang auf ihn warten. Wenn ich ihm aber sage, Sie seien hier gewesen und wünschten ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen, so wird er selbstverständlich zu jeder Stunde, die Sie bestimmen, zu Ihrer Verfügung sein!“

„Gut! Sagen wir übermorgen nachmittag um sechs Uhr – meinen Sie, daß es so recht wäre?“

„Ohne Zweifel ist es das.“

Montrose erhob sich. „Ich hoffe, die Angelegenheit wird zu Ihrer Zufriedenheit geordnet werden.“

Auch Ilse war aufgestanden, sie suchte mühsam nach Worten. Es war ihr bisher nie schwer gefallen, sich zu bedanken, schon als Kind war sie freudig mit ausgebreiteten Aermchen auf jeden losgestürmt, der ihr ein Spielzeug, ein Naschwerk brachte, und auch später war es fast zum geflügelten Wort in ihrem kleinen Kreise geworden: man muß Ilse etwas zuliebe thun, damit sie sich bedanken kann! Warum fiel ihr heute, wo ihres geliebten Vaters Existenz in Frage kam, das so schwer, was ihr sonst ein unabweisbares Herzensbedürfnis gewesen war? Sie kam sich hart und gefühllos vor, sie war nahe daran, in ganz kindische hilflose Thränen auszubrechen; da warf sie den Kopf zurück und das schöne weichgeformte Gesicht nahm ungewollt einen hochmütigen Ausdruck an. „Ich habe Ihnen noch zu danken!“ brachte sie endlich heraus. Es klang hart und unverbindlich, sie fühlte das recht wohl, aber sie hätte es nicht anders sagen können, und wenn es um ihr Lebensglück gegangen wäre.

„Ich bitte, Baroneß! Es handelt sich ja auch um meinen Vorteil.“ Sie traten nebeneinander aus der Laube heraus und schritten dem Gitterthor zu. Als sie am linken Seitenflügel des Schlosses vorüberkamen, öffnete sich die Thür zu einem ziemlich niedrig angebrachten Altan, und Clémence von Montrose, von der Wirtschasterin begleitet, trat heraus. Ihr Gesicht bekam einen Ausdruck beinahe verblüfften Erstaunens, als sie das schöne Mädchen gewahrte, das an ihres Vaters Seite ging. Sie kniff die Augen zusammen, wollte die Lorgnette emporheben und riß ungeduldig an den Spitzen ihres Kleides, in die der goldene Stiel sich verwickelt hatte. Endlich hatte sie das Glas vor den Augen. „Sieh da, Papa! – Meine Liebe, wie heißen Sie doch gleich? – Giebt es da unten nicht irgendwo eine Thür, die hier zu uns heraufführt?“

„Ganz gewiß, gnädigstes Fräulein!“ entgegnete Frau Köhler, an welche die letzten Worte gerichtet waren, eifrig und wichtig. „Wir haben hier überall Zugänge. Gleich unten rechts ist eine kleine Pforte, Baroneß Ilse kennt sie ganz genau.“

„Sehr schön! Dann also bitte, Papa, komm herauf und laß mich Deine Begleiterin kennenlernen! Ich käme gerne hinunter, aber ich bin noch nicht zu Ende mit meiner Besichtigung, mir fehlt noch dieser Seitenflügel.“

Was blieb Ilse übrig, als die kleine Pforte zu öffnen und dem „neuen Herrn“, wie sie ihn beharrlich im Geiste nannte, voranzugehen, um auf den Altan zu gelangen!

(Fortsetzung folgt.)


[132] ----

Blätter und Blüten.

Theodor Billroth †. Von Abbazia am Adriatischen Meer brachte der Telegraph am 6. Februar die Trauerkunde, daß dort Professor Theodor Billroth, der berühmte Vertreter der Chirurgie an der Wiener Universität, unerwartet rasch seinem reichen Wirken durch den Tod entrissen wurde. Was der Verstorbene für seine Wissenschaft, für die leidende Menschheit geleistet, das hat Professor von Bergmann mit berufener Hand in Nr. 34 des Jahrgangs 1892 der „Gartenlaube“ ausführlich geschildert. Wir dürfen uns daher an dieser Stelle darauf beschränken, unsere Leser auf jenen Artikel und das Bild, das ihm beigegeben war, zu verweisen. Die medizinische Wissenschaft wird Billroth stets zu ihren leuchtendsten Sternen zählen.

Othello und Desdemona. (Zu dem Bilde S. 121.) Das Bild von Muñoz Degrain stellt uns die Scene dar, welche der Katastrophe des Shakespeareschen Trauerspiels „Othello“ vorausgeht: wir sehen den eifersüchtigen Mohren, wie er die Vorhänge des Bettes seiner Desdemona zurückschlägt, um ans Werk der Strafe, der Rache zu gehen. Hat doch der heimtückische Jago das unschuldige Weib Othellos schmählicher Untreue bezichtigt: das bei Cassio gefundene Schnupftuch war für Othello ein unwidersprechliches Beweisstück, daß Desdemona ihn verraten hatte. Und damit Cassio nicht widersprechen, nicht die Wahrheit enthüllen konnte, hatte Jago dafür gesorgt, daß ihm der Mund auf ewig geschlossen wurde. Othellos Eifersucht hat sich bis zum Wahnsinn gesteigert; er will die Schuldige strafen, wie sie es verdient. Und doch – als er sie so daliegen sieht, friedlich, harmlos mit dem Engelsangesicht, das von keiner Schuld, von keiner Unruhe der Leidenschaft spricht, da bannt ihn der Liebreiz des anmutigen Weibes, und wenn auch sein Entschluß, ein strenges Strafgericht zu halten, nicht erschüttert wird, so ist doch seine Seele auch von weichen Gefühlen bewegt, und indem er Desdemona immer wieder küßt, ruft er aus:

„O würz’ger Hauch, der selbst Gerechtigkeit
Ihr Schwert zu brechen zwingt! – Noch einen! einen!
Sei, wann du tot bist, so, dann töt’ ich dich
Und liebe dich nachher – noch einen und den letzten!
So süß war nie so tödlich. Ich muß weinen.
Doch sind’s grausame Thränen; dieser Schmerz
Ist wie des Himmels, strafend, wo er liebt.“

Der Maler hat uns diesen inneren Kampf in der Brust des schwarzen Feldherrn, diese plötzliche Hemmung des unerschütterlichen Entschlusses in der Haltung und den Gebärden desselben ebenso anschaulich dargestellt wie die Holdseligkeit und Unschuld der schlummernden Desdemona. †      

Auf dem Anschuß. Es war in der Nacht „eine Neue“ gefallen, ein Ereignis, welches jeder Jäger freudig begrüßt. Frischer Schnee ist für ihn ein interessantes Jagdregister, in das alle Waldgeheimnisse vom Wilde selbst mit leicht von jedem Jägerauge zu entziffernden Fährtenhieroglyphen eingetragen sind. Trotzdem war für mich, als ich mit meinem Freunde beim ersten Morgengrauen durchs Feld dem Walde zuschritt, der frischgefallene Schnee durchaus unerwünscht, weil er uns eine gute Schweißfährte, welcher wir auch ohne Hund leicht so hätten folgen können, drei Zoll tief bedeckt hatte. Aber mein Freund hatte wie immer guten Mut und erklärte, daß seine Blondine, eine rote Schweißhündin hannoverscher Jägerhofrasse, die Schweißfährte fast genau so gut ausarbeiten und uns zum Hirsche bringen würde, als wenn kein neuer Schnee auf den alten gefallen wäre. Die Geschichte war kurz folgende: Wir waren am vorhergehenden Nachmittag gegen die Dämmerung hin an eine Stelle gekommen, wo ein Hirsch ganz frisch aus hohen Fichten in lichten Wald getreten war, und da ich die Wechsel nicht kannte – ich war zum erstenmal auf diesem Revier – hatte mein Freund sich angestellt und ich folgte der Fährte, um „ihm den Hirsch anzugehen“ (zuzutreiben). So geräuschlos als möglich kroch ich unter den durch Schneeanhang heruntergebeugten und durcheinandergewirrten dünnen Buchenstangen hinweg der Fährte in allen ihren Windungen bergunter und bergauf nach. Jetzt kam ich an einen sehr spärlich mit Buschwerk bewachsenen Heidekopf, und sofort wurde mein Auge von einem grauen großen Felssteine angezogen, der unmittelbar hinter dem Rücken der Anhöhe zu liegen schien. Merkwürdig – es regte sich kein Lüftchen, alle Zweige hingen voll Schnee und trotzdem lag auch nicht der leichteste weiße Schimmer auf dem Felsblock. Ich war stehen geblieben und wollte mir gerade mit dem Glase den wunderbaren Stein genauer betrachten – – da bewegte es sich plötzlich vor demselben in die Höhe und frei vor der graukalten Abendluft hob sich Kopf und Geweih des Hirsches ab – kaum 80 Schritt von mir entfernt. Er stand halb spitz mit den Hinterläufen tiefer als vorn, so daß ich, als er den Kopf wieder zum Aesen gesenkt hatte, über den Heiderücken weiter nichts sehen konnte als das Blatt, welches wie ein fast dreieckiger grauer Fels aus der weißen Schneelandschaft sich abhob. Für mich war’s auch genug. Rasch lag der Kolben der Büchsflinte an der Backe und im schneegedämpften Knall flog der Hirsch in hoher Flucht über den Pulverdampf, jagte in wildester Hast der Berglehne entlang und war dann im dichten Gebüsch verschwunden.

Auf dem Anschuß.
Nach einem Gemälde von C. Reichert.

Auf dem Anschuß lagen Schnitthaare, und bei der zweiten Flucht war von beiden Seiten der Schweiß weit neben die Fährte gespritzt und leuchtete auf dem Schnee in der vom Weidmann so sehr geliebten rosigen Farbe. Mein Freund war bald zur Stelle, und da es zu dunkeln anfing und es zu spät zur Nachsuche war, wurde beschlossen, erst heute früh der Schweißfährte zu folgen.

Wir waren auf dem Anschuß. Alles verweht – keine Fährte, kein Schweiß. „Such’ verwundt, Blondine!“

Die Hündin schwärmte am abgedockten Schweißriemen die Stelle ab, wohin der Hirsch gezogen war, und setzte dann die Nase auf den Schnee, sich fest in den Riemen legend. Mein Freund faßte mit der Linken die Hündin in die Halsung, scharrte den Schnee etwas fort – – da lagen die roten gefrorenen Schweißkügelchen und mit: „Hast recht, Blondine – vorhin!“ gab er ihr Riemen und nun ging’s:

„Ueber Felsen und über Herte,
Ueber Dürre und über Gras.
Wohin der Hirz des Nachtes was
Gestrichen und geflohen vor – –“

wie Gottfried von Straßburg in „Tristan und Isolde“ bei ähnlicher Gelegenheit singt – – bis hin zu der Stelle, wo unter einer alten hohlen Eiche, halb in einen jungen Fichtenhorst gedrückt, verendet und steifgefroren, die Kugel mitten auf dem Blatte, der Zehner-Kronenhirsch saß. Karl Brandt.     


Inhalt:


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Tauernwind = Südwind, der über die Tauern (Berge) kommt.
  2. Eine Art Süßbier.