Die Gartenlaube (1894)/Heft 9

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[133]

Nr. 9.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Im Val di Sasso bei Bordighera.
Nach einer Originalzeichnung von H. Nestel.


[134]

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(8. Fortsetzung.)


Sigenot ging mit der Axt auf seinen Jahrbaum zu und Rötli folgte ihm. Dreimal umschritt er den Baum, ihn jedesmal berührend mit der Hand. Dazu murmelte er:

„Der Baum wachst, der Baum lebt, ist gewachsen und steht,
Gradschlächtig und stark, gesund im Mark,
In der Wurzel fest, mit Laub und Aest’.
Heb’ Dich und streck’ Dich, hüt’ Dich und deck’ Dich –
Hast Sonn’ und Regen, nutz’ den Segen!
Wie die Steiner im Bach laufen die Jahr’ einander nach –
Eins gewinnst und eins verlierst –
Halt’ aus, daß die Kerb’ nicht spürst!“

Beim letzten Wort hatte Sigenot die Axt geschwungen und das blitzende Eisen schlug in den dreißigjährigen Baum, daß der schlanke Stamm erzitterte vom Wipfel bis in die Wurzeln. „Aber was thust denn? Was thust denn?“ stotterte Rötli und wollte den Arm des Bruders fassen. Doch da fiel schon der zweite Hieb, die Rindensplitter und Späne sprühten, und weiß, fast bis ins Mark hinein, klaffte am Baum die Kerbe.

„Aber schau doch, schau, Du hast ja Dein Bäuml bis hinein ins Leben geschlagen!“ jammerte Edelrot, und die hellen Zähren traten ihr in die Augen. Sigenot ließ die Axt sinken, starrte die klaffende Kerbe an und murmelte. „Wenn’s der Baum verwindet, verwind’ ich’s auch!“

Er wollte gehen; aber Rötli umklammerte seinen Arm. „Ja was hast denn auf einmal? Was ist Dir denn geschehen? Man möcht’ ja meinen, Du wärst seit gestern ein anderer worden! Ist Dir denn ’was?“

Wortlos schüttelte Sigenot den Kopf; doch als ihm Rötli den Weg vertrat, warf er die Axt beiseite, umschlang die Schwester und drückte sie mit zitternden Armen an die Brust. Sie war so erregt, so erfüllt von Angst und Sorge, daß sie weinen mußte. „Thu’ nicht weinen, Rötli, schau, ich bitt’ Dich, nur nicht weinen thu’!“ flüsterte er und streichelte ihr Haar. „Sei mir nur Du nicht harb, nur Du nicht! Schau, ein andermal vergeß’ ich nimmer, daß ich Dein Bruder bin!“

Sie blickte auf, und als sie ihm in die Augen sah, verstand sie seine Worten und da lächelte sie unter Thränen, hob sich auf die Fußspitzen und faßte sein Gesicht mit beiden Händen. „Wie magst nur denken, daß ich Dir harb sein könnt’! Hast mich denn nicht heimgeholt aus Wetter und Wasser? Hätt’ ich denn nicht versinken müssen ohne Dich? Wir all beid’ miteinander ... ich und die Recka?“ Sie wollte weiter sprechen, doch er drückte sie an sich, daß ihr der Atem fast verging, und schloß ihre Lippen mit einem Kuß. Dann ging er auf das Haus zu und nahm den langen fünfzackigen Näbiger[1] von der Balkenwand.

„Willst denn heut’ noch fort?“ fragte Rötli. „Schau, es geht ja schon auf den Abend zu.“

„Mich leidet’s nicht in der Ruh’, ich muß schaffen!“ sagte er und stieg, den Näbiger auf der Schulter, zum See hinunter.

Mit verlorenem Blick sah ihm die Schwester nach. Langsam streifte sie mit der Hand über die Stirne. „Wenn ich nur wüßt’, was er hat! Ich muß doch den Ruedlieb fragen!“

Sigenot erreichte das Ufer und löste den Waldschragen; mit dem einen Fuß das kleine aus Schilf und Stangen gefügte Floß betretend, stieß er mit dem anderen das leichte Fahrzeug von der Lände ab. Fast lautlos glitt der Schragen über das Wasser hin; mit der Stange des Näbigers trieb ihn der Fischer am Saum des Röhrichts entlang, gegen den Ausfluß der Ache hin, immer langsamer und leiser. Mit scharfem Blick spähte er in die klare Flut, deren nicht allzu tiefer Grund von Moos und Algen wirr überwachsen war; die dünnen blaßroten Stengel der Seerosen durchspannen das Wasser, gleich den Fäden eiues Netzes. Jetzt verhielt Sigenot durch einen Druck der Stange das Fahrzeug. Langsam und lautlos, den straff gespannten Körper kaum bewegend, hob er den Näbiger und drehte allmählich die eisernen Widerhaken nach unten, daß ihre scharfen Spitzen fast den Seespiegel berührten. Er zielte und warf. Das Wasser spritzte auf, und zischend fuhr der Näbiger in die Flut. Mit jähem Ruck riß Sigenot die Stange wieder in die Höhe – der Wurf war geglückt, am Eisen zappelte ein schwerer Hecht. Mit einem flink und sicher geführten Faustschlag tötete Sigenot den Raubfisch, löste ihn von den Haken und warf ihn hinler sich. Dann trieb er den Schragen weiter ...

Die Schatten wuchsen, und der rote Schimmer des Abends leuchtete über dem Thal. Edelrot hatte das zum Bleichen ausgelegte Hanftuch ins Haus getragen. Nun stand sie vor ihres Bruders Jahrbaum; sie füllte die tiefe Kerbe. welche Sigenot geschlagen, mit harzvermischtem Wachs und überband die wunde Stelle dicht mit Bast.

Wicho verließ den Hof, das Lägel auf dem Rücken; er trug die Ferchen davon, welche Sigenot am Morgen gefangen – sie waren für den Schönauer bestimmt, als Zahlung für einen Packen Hanf. Noch vor der Dämmerung erreichte Wicho die Schönauer Felder. Da blieb er stehen und lauschte. Ein leiser sanfter Klang kam aus der Ferne her durch die stille Luft geschwommen ...

Beim Lokistein tönte die Glocke.

Bruder Schweiker zog den Strang und läutete den ersten Feierabend ein. Er trug nicht die Kutte. sondern das Arbeitskleid, den kurzen ärmellosen Leinenjanker, und von allen mochte wohl er selbst des Feierabends und der Ruhe am meisten bedürftig sein. Wie ein Stier, wuchtig und ausdauernd, hatte er geschafft den ganzen langen Tag und mit Hilfe der Knechte ein tüchtiges Stück Arbeit zuwege gebracht. An die dreißig mächtige Fichten lagen am Waldsaum schon gefällt, entästet und zu Balken von jener Länge zerschnitten, wie sie der Klausenbau erforderte. Auch Pater Waldram hatte mitgeholfen bei diesem Werk; doch seinen von Kasteiung und Fasten entkräfteten Körper hatte, lange schon vor dem Abend, die Erschöpfung befallen; beim Schleifen eines Balkens war er ohnmächtig niedergesunken. Man hatte ihn ins Zelt getragen, aufs Moosbett gelegt und mit Trank und Speise gelabt; dann hatte tiefer Schlummer ihn überkommen, aus dem auch der Klang der Abendglocke ihn nicht zu wecken vermochte.

Auch Bruder Wampo hatte nicht gefeiert und manch ein Tröpflein frommen Schweißes vergossen; ihm war es zugefallen, die Zelle aufzurichten, die Mooslager zu rüsten, die Reisighütten für die Knechte und Saumtiere zu bauen, die Ballen auszupacken, ihren Inhalt zu bergen und in trockenem Grund eine Grube auszuwerfen, um darin das Fäßlein mit dem Meßwein und die Mundvorräte zu verwahren. Diese letzte Pflicht seines Amtes hatte er mit der größten Sorgfalt und mit ganz besonderem Eifer erfüllt. Nun stand er zwischen den Zelten beim flackernden Feuer und kochte den Imbiß für den Abend, ein mageres Mahl. Sterz mit Bohnenmus; doppelt mager, denn der Sterz war mit Wasser angerührt. Bruder Wampo hatte es sich und den Seinen wohl besser vermeint; doch als er mit der Kanne durch den Wald davonspringen wollte, hatte ihn Eberwein angerufen: „Wohin, Bruder?“

„Vom Hang dort oben hab’ ich eine Bauernhuf’ gesehen, die nicht gar weit liegt. Ich will hinüberspringen.“

„Weshalb?“

„Um für Gottes Dank ein Kännlein Milch zu begehren. Wir haben Sterz auf den Abend.“

„Bleib’ nur! Wir alle sind müd’ und hungrig von der Arbeit; da wird uns der Sterz auch mit Wasser schmecken!“

„Aber mit Milch ist er besser!“

„Mit Wasser gesünder. Und ich will nicht, daß die Leute im Gadem sagen sollen: Heut’ sind sie gekommen – man merkt’s, denn sie verlangen schon. Wir wollen geben, Bruder, nicht nehmen.“

Bruder Wampo blies die Backen auf und ging mit der Kanne zur Quelle, um Wasser zu schöpfen. „Geben?“ brummte er. „Möcht’ wissen, von was?“ Er warf einen langen Blick zu der Grube hinüber, in welcher die Vorräte geborgen lagen. „Zwei kurze Wochen, und wir haben selber nichts mehr. Dann werden wir halt doch wohl nehmen müssen ... oder die heilige Zeit geht an!“ Er seufzte tief. Als er mit der gefüllten Kanne zu den Zelten zurückkehrte, schien plötzlich auch er, der doch kurz zuvor noch so flink und hurtig gesprungen war, die Müdigkeit zu spüren; denn er ließ das runde Köpflein hängen und schlürfte mit den Füßen. Den Blick zur Seite gewandt, ging er an Eberwein vorüber, der die unterbrochene Arbeit schon wieder aufgenommen.

[135] Das erste, was der Pater nach der Messe begonnen hatte, stand lange schon vollendet: über dem zum Altar geweihten Heidenstein erhob sich das weiße Kreuz, in welches Eberwein den halb verbrannten Eichstamm mit der Axt verwandelt. Dann hatte er, Richtscheit und Meßschnur führend, den Grundriß der Klause und des Kirchleins abgesteckt und mit dem Spaten die Mauerfurchen ausgehoben; schwarz zogen sich die breiten Streifen durch den grünen Rasen und zeigten die Einteilung, welche die Klause erhalten sollte – einen größeren Mittelraum und ihm zur Rechten und Linken je zwei kleinere Kammern; an die Rückwand der Klause sollte das Kirchlein sich anlehnen, mit den Balkenmauern seiner länglichen Halle den zum Altar geweihten Heidenstein und das Kreuz umschließend. Als der letzte Stich mit dem Spaten gethan war, hatte Eberwein im Wald einen jungen Ahornstamm gefällt und aus ihm ein mannslanges Stück herausgeschlagen, mit zwei kreuzförmig stehenden Aststümpfen. Auf der Schulter hatte er das schwere Holz zu den Zelten getragen und begonnen, es mit Hammer und Meißel zu behauen. Und als jetzt der Abend dämmerte und Bruder Schweiker die Glocke zog, trat aus dem weißen Holze schon in rauhen Formen das entstehende Bildnis hervor – das Abbild des Gekreuzigten. Beim ersten Glockenton legte Eberwein Hammer und Meißel nieder und faltete die Hände im Schoß; seine Augen streiften die schwarzen Furchen, die er gezogen, das Gewirr der gefällten Bäume am Waldsaum, von welchem die Knechte mit geschulterten Beilen einherkamen, und den Blick zu dem vom letzten Sonnenglanz umflossenen Himmel erhebend, sagte er lächelnden Mundes: „Nisi Dominus aedificaverit domum, in vanum laboraverunt, qui aedificant eam.“[2]

Die Glocke schwieg; Eberwein erhob sich und trug das begonnene Schnitzwerk unter das Zelt. Als er dann mit den Brüdern den Imbiß genommen hatte, ordnete er für den kommenden Morgen die Arbeit an und begab sich zur Ruhe. Die Knechte schlüpften unter die Reisighütten. Schweiker und Wampo standen noch beim erlöschenden Feuer und spülten die Geschirre.

Die graue Dämmerung kam; am Waldsaum verstummten die letzten Vogelstimmen, und ein zarter Nebel dampfte aus dem Weiher; nahe seinem Ufer trat ein Reh unter den Bäumen hervor. Es stutzte beim Anblick der weißleuchtenden Zelte und des roten Feuerscheines, wandte sich mit langen Sprüngen zur Flucht, und laut schreckend verschwand es im dunkelnden Wald.

„Was war denn das?“ fragte Wampo.

„Ein Reh muß dagewesen sein.“

„So? Das ist aber auch alles, was heut’ gekommen ist.“

„Gelt? Ich hab’ auch schon dran gedacht!“ flüsterte Schweiker. „Nicht ein einziger hat sich schauen lassen. Wie man die Raitenbucher Klaus’ gezimmert hat, da war ich auch dabei, und da sind sie aufs erste Läuten haufenweis gekommen, Männer, Weiberleut’ und Kinder. Und heut’ keine Seel’! Was sagst?“

„Was ich schon lang’ gesagt hab’: eine schieche Gegend, das! Paß nur auf, was man da noch alles erleben wird! Es fangt schon gut an heut’!“ Mit unmutigem Griff packte Wampo eine hölzerne Schüssel und scheuerte mit dem nassen Grasbüschel drauf los, als hätte er die ganze böse Gegend unter seinen Händen. „Sterz mit Wasser … gleich am ersten Tag!“

Schweiker überhörte die letzten Worte; er starrte in die Kohlen, dann sagte er langsam: „Vielleicht hausen die Leut’ so weit auseinander, daß sie das Glöckl nicht haben hören können.“

„Laß mich aus! Das Glöckl ruft eine halbe Stund’ weit. Es hat halt keiner kommen mögen. Die Heidenschüppel, die unchristlichen! Denen wird man den Gottesglauben auch mit dem Muslöffel eingeben müssen.“

Schweiker schüttelte den Kopf. „Steht ja der Wald herum wie eine Wand … so eine Wehr frißt halt den Hall. Wirst sehen, sie haben das Glöckl nicht gehört. Wie die andern sind, weiß ich nicht, aber eine – wenn die das Glöckl gehört hätt’, die wär’ gekommen!“

Da lauschten sie alle beide. Ferne Stimmen klangen im Wald; es waren Wazemanns Söhne, die sich anriefen zum Heimritt. „Es müssen doch Leut’ in der Näh’ sein!“ murmelte Schweiker.

Während sie noch lauschten, tauchte hinter den fernen schwarzragenden Bergen die fast volle Scheibe des Mondes empor und warf einen blassen Schimmer über die Lichtung. „Lug’ hin, Bruder, lug’ hin,“ stotterte Wampo und deutete mit dem Arm, „sell rührt sich ’was!“

„Wo?“

„Beim Kreuz! Und schleichen thut’s wie ein Wolf!“

Schweiker packte die Axt und rannte mit langen Sprüngen hinaus in den Mondschein. Am Waldsaum sah er einen Schatten gleiten, er schwang die Axt zum Wurfe, doch mitten im Schwung hielt er inne, wie versteinert. Hinzula stand vor ihm. „So, schön … wenn ich jetzt geworfen hätt’!“ stotterte er. „Ja Dirnlein, sag’ nur, wie kommst denn Du daher?“

„Hast ja geläutet!“ lispelte das dünne Stimmlein.

„Aber ich hab’ doch auch geläutet zur Meß’ Warum bist denn nicht am Tag gekommen?“

„Da hab’ ich nicht her dürfen! Ich hab’ warten müssen, bis …“

Er unterbrach sie. „Aber das ist doch jetzt keine Zeit, bei der ein Kindl … will sagen: ein Dirnlein wie Du noch umlauft im wüsten Wald.“ Er trat zur Seite, denn sein Schatten fiel schwarz und breit über Hinzulas schmächtige Gestalt; doch auch im vollen Mondschein wurde ihr Gesicht nicht heller; wie ein dunkler Kohlklumpen war es anzusehen – nur die Augen glänzten.

Eine Weile standen sie schweigend voreinander; dann sagte er, einen salbungsvollen Ton versuchend: „Geh’ heim, Dirnlein, denn ich muß Dir sagen: es ziemet sich gar nicht für mich, daß wir da bei einander stehen in mondscheiniger Zeit … wenn auch gleich die guten Heiligen vom Himmel herunterschauen dürften auf uns all’ beid’. Geh’ heim! Und komm’ ein andermal bei Tag!“

„Thust morgen wieder läuten?“

„Wohl wohl!“

„Nachher komm’ ich!“ fuhr es mit flinkem Wort über ihre Lippen. „Ich fürcht’ mich nicht … und ich find’ schon einen Weg.“

Diese Worte waren freilich anders gemeint, als Schweiker sie deutete. „Brav, Dirnlein, brav! Gottes Weg’ darfst allweil gehen ohne Furcht! Ja, Dirnlein, komm nur! Dann will ich einmal scharf nachschauen, wie’s bestellt ist mit Deinem Seelgerät.“

„Mit was?“ stotterte Hinzula.

„Mit Deinem Seelgerät!“ wiederholte er mit ernstem Ton. „Denn ich mein’ schier, es müßt’ bei Dir einwendig nicht viel besser ausschauen als auswendig. Wohl wohl, ich hab’ schon allweil dran denken müssen. Und daß Du’s nur weißt: heut’ nacht hab’ ich geträumt von Dir.“

„Ich von Dir auch!“

„So? Aber mein Traum wird wohl der besser’ gewesen sein! Daß Du’s nur weißt: Gott, der liebe Herre, ist mir erschienen im Traum und hat mir aufgegeben als gutes Werk, daß ich Dich weißwaschen soll.“

„Das hab’ ich heut’ schon von selber thun wollen,“ sagte sie. „Aber die Mutter hat’s gemerkt, im hellen Zorn hat sie mich weggerissen vom Brunnen und hat gesagt, sie haut mir alle Knochen im Leib auseinander, wenn ich’s thu’.“

Bei der unerwarteten Wendung, welche Hinzulas Rede nahm, schlug Schweiker entsetzt die Hände zusammen und rief: „Dirnlein! Dirnlein! Wenn Deine Mutter den Teufel fürchten möcht’, wie sie den Dreck lieb hat, dann müßt’ sie eine gute Christin sein!“ Kopfschüttelnd nahm er die Axt wieder auf, die er hatte sinken lassen, und ging davon; nach einigen Schritten rief er über die Schulter zurück. „Geh’ weiter, Dirnlein, und mach’, daß Du heimkommst, so lang’ Dir der Mond noch auf den Weg scheint!“ Und den Zelten entgegenschreitend, murmelte er vor sich hin: „So eine Mutter! Alle Knochen im Leib! Ist das auch noch eine Mutter?“

Hinzula stand regungslos und blickte ihm nach.

Als Schweiker die Feuerstatt erreichte, auf welcher nur wenige Kohlen noch in der Asche glosteten, schlüpfte Bruder Wampo aus dem Zelt, in das er sich geflüchtet hatte. „Es muß doch kein Wolf gewesen sein … ich mein’, ich hätt’ Dich reden hören.“

Schweiker nickte nur.

„Wer ist denn nachher das gewesen?“

„Mein Saubartele!“

„Das Bartele!“ rief Bruder Wampo, als hätte er die freudigste Botschaft vernommen. „Ja warum hast mich denn nicht gleich gerufen?“ Mit hurtigen Händen tappte er auf dem dunklen Rasen umher, und als er einen Span erwischte, stieß er ihn zwischen die Kohlen und blies in die Glut.

„Aber was thust denn?“ fragte Schweiker.

Der Bruder gab keine Antwort; er blies und fauchte, bis

[136]

Feiertagsvergnügen.
Nach einer Originalzeichnung von Oscar Graef.

[137] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [138] ein kleines Flämmlein aufzuckte und knisternd den Span ergriff.

Mit der flackernden Leuchte rannte er davon. Schweiker wollte ihn zurückhalten, doch Bruder Wampos Beine waren flinker als Schweikers Arme. Wampo verschwand im Mondschatten des Waldsaumes, wie ein Irrlicht gaukelte das Spanfeuer zwischen den Bäumen, und leis rufend klang seine Stimme: „He! Du! Dirnlein!“

Nach einer Weile kam er wieder, vergnügt die Hände reibend.

„Was hast denn wollen von dem Kind?“ brummte Schweiker.

„Das wirst morgen auf Mittag schon merken, wenn ich die Milchsupp’ auftrag’ und die Butternocken.“

„Geh, Du Bettelsack! Weißt denn auch, ob dem Kindl seine Leut’ gern ’was geben?“

„Was geht denn das mich an! Um so lieber giebt das Dirnlein. Das muß ich sagen: gut stehst angeschrieben bei Deinem Bartele. Wie ich ihr gesagt hab’, daß ich Hunger leiden muß, das ist bei ihr gar nicht tief gegangen. Sie hat nur gefragt: ‚Gelt, der ander’ aber nicht?‘ Aber wie ich, gesagt hab’: ‚Wohl wohl, bey dem schreien auch schon die Frösch’ im Magen‘ – da hätt’st nur sehen sollen –“

„Das ist aber doch eine Lug gewesen!“ fuhr Schweiker auf.

„Aber eine fromme, Bruder, eine fromme! Und Du hätt’st nur sehen sollen, wie sie gewirkt hat!“

Die Art dieser Wirkung schien in Schweiker keine Spur von Neugier zu erwecken. „Laß mich in Ruh’!“ brummte er, streifte den Bruder mit einem zürnenden Blick und verschwand im Zelt.




12.

Herr Waze hatte mit Recka und seinen drei jüngsten Söhnen den Abendimbiß eingenommen. Als der Tisch abgeräumt wurde, ging Recka in ihre Kammer, ohne Wort und Gruß. Der Vater blickte ihr nach. „Was hat sie denn?“

„Was wird sie haben?“ lachte Otloh. „Sorgen, wo sie einen Mann hernimmt! Sie kommt in die Jahr’.“ Er spaltete einen frisch geschnitzten Pfeilschaft, um ihn mit einer Auerhahnschwinge zu fiedern.

„Sie könnt’ doch einen haben!“ brummte Herr Waze. „Der Pfleger von Hall, den wir auf der letzten Sauhatz an der Grenz’ getroffen haben, hat Augen auf sie gemacht wie der Fuchs auf die Spielhenn’. Ich mein’, der nähm’ sie vom Fleck.“

„Der wird sich hüten!“ rief Gerold, welcher hinter dem Lehmofen ausgestreckt auf der Bank lag. „Hast denn nicht gesehen, wie sie ihm mitgespielt hat? Wie er sie küssen hat wollen beim Umtrunk, hat sie ihm die Faust auf die Brust gestoßen, daß er vor ihr einen Fall gethan hat … aber nicht auf die Knie!“

„Ach was! Er hat doch gelacht dazu!“, meinte Herr Waze. „Wenn er ein Weib kriegen kann wie meine Dirn’, so nimmt er schon diemal einen Puff mit in Kauf. Mitgeben kann ich ihr freilich nichts – dafür haben Eure sieben Mäuler gesorgt. Und wenn wir die Kuttenlupfer nicht wieder hinausbringen aus dem Gadem, können wir alle übers Jahr das Maul an den Bindfaden hängen. Wie soll ich da der Dirn’ noch ’was mitgeben!“

„Sie hat’s in der Faust,“ sagte Otloh, eine Feder zwischen den Zähnen, „wozu braucht sie noch ’was im Sack zu haben?“

„Hast recht!“ lachte Herr Waze und streckte die Arme mit geballten Fäusten. „Die Rass’, die Rass’ an ihr … die schlag’ ich auf zwei feste Burgen an.“

Gerold kicherte hinter dem Ofen. „Ich mein’, dem Haller möcht’ die Leiter ausrutschen, wenn er die Burgen nehmen wollt’.“

Da lachten sie alle, sogar Eilbert, der die ganze Zeit über schweigend an einem der Fenster gestanden hatte, über den vom Mondlicht umfluteten Falkenstein hinunterspähend nach dem Fischerhaus. Jetzt rief ihn der Vater an. „Was stehst denn allweil? Bring’ das Brett!“ Er putzte die rauchenden „Räuber“ von den Kerzen, setzte sich an den Tisch und füllte die geleerte Bitsche aus einem mächtigen Zinnkrug.

Mit verdrossenem Gesicht brachte Eilbert das Spielbrett und die Steine. „Was soll das Spiel gelten?“ fragte er, sich setzend.

„Ich will Dir nichts abgewinnen,“ brummte Herr Waze und begann die Steine zu stellen.

„Aber ich Dir! Um gute Wort’ spiel’ ich nicht; da leg’ ich mich lieber schlafen.“ Er stand wieder auf.

„Wirst bleiben oder nicht!“ schrie der Alte mit dunkelrotem Gesicht und schmetterte die Faust auf den Tisch.

Eilberts Augen funkelten. „Willst wieder zuschlagen? Da mußt schon warten, bis ich wieder eine Fahlgeiß heimbring’.“

„So redst Du mit Deinem Vater? Dir will ich!“ Herr Waze stürzte auf seinen Buben zu. Aber Gerold und Otloh sprangen auf und warfen sich zwischen die beiden.

Aus dem Hof herauf klang Stimmenlärm und Pferdegetrappel. „Die Buben kommen!“ rief Herr Waze, und jählings allen Zorn und Streit vergessend, eilte er in die Vorhalle.

Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig stiegen von den Rossen. Sie kamen über die Freitreppe empor, auf welcher das helle Licht des Mondes lag, und da standen sie nun in der Halle beisammen, Herr Waze und all seine Buben. Henning erzählte. Keinen Schritt und keinen Beilhieb hatten die Klosterleute gethan, von welchem die vier Späher nicht zu berichten wußten.

„Und wie haben sich die Leut’ dazu gestellt?“

„Vier hab’ ich heimgeschickt,“ lachte Rimiger, „und mein’, das Wiederkommen wird ihnen verleidet sein.“

„Mir ist der Eigel in die Händ’ gelaufen,“ sagte Sindel.

„Mir auch!“ fiel Hartwig ein. „Aus der Strub sind die Leut’ heraufgestiegen, von der Aschau sind sie herübergekommen und gefragt haben sie mich auch noch, wo denn das Glöckl geläutet hätt’. Aber ich hab’ ihnen Füß’ gemacht!“

„Und Du, Henning?“

„Ich hab’ dem Greinwalder Schmierfink eins über das Fell gestrichen. Was ich sonst noch gethan hab’, das wird sich weisen … ich mein’, der Tag bringt’s auf.“ Lachend trat er in die Stube. Da stand seine Schwester Recka vor ihm und warf ihm die beiden Teile eines zerknickten Pfeilschafts vor die Füße.

„Schwester! Was soll das?“

Hinter Henning erschien Herr Waze in der Thür.

„Wenn Dein Aug’ die Pfeilbahn nicht messen kann,“ sagte Recka mit kaltem Ton, „so schieß’ ein andermal mit Hennenfedern. Die fliegen nicht weiter, als Du sehen kannst!“

Henning starrte die Schwester an; dann hob erden entzweigebrochenen Schaft von der Erde; seine Augen erweiterten sich … er erkannte seinen Pfeil.

„Soll ich bald wissen, was das bedeutet!“ schrie Herr Waze.

„Unter dem Lokistein, im Wald, hat er den Pfeil geworfen … ich weiß nicht, auf was. Aber gefehlt hat er, und der Pfeil ist hinuntergeflogen gegen die Ache, dem Fischer am Hals vorbei. Er hat ihn aus dem Wasser geholt, und zum Gespött hat er ihn heimgetragen auf der Kappe.“ Es zuckte um Reckas Lippen, sie wandte sich ab und verließ die Stube.

Herr Waze lachte. „Das hätt’ ich mir denken können! Wo Du hingreifst mit Deinen zwei linken Händen, da kommt allweil eine Dummheit heraus!“ Er trat auf Henning zu und dämpfte die Stimme. „Was hast denn gemacht?“

„Er hat geangelt und hätt’ mir nicht besser stehen können. Ich hab’ gemeint, der Schuß wirft ihn ins Wasser … es war eine reißende Stell’, das Wasser hätt’ ihn fortgetragen … und mir ist nach dem Schuß noch gewesen, als hätt’ ich ihn fallen sehen.“

„Und da hast Du Reißaus genommen, Du feiner Held? Und derweil ist der Fischer ins Wasser gesprungen und hat den Pfeil gefischt! Schäm’ Dich, Henning! Fehlen! Aber ich weiß schon … auf den Fischer hast gezielt, und seine Schwester hast im Aug’ gehabt, an die Du Dich nicht antraust, so lange der Bruder lebt!“

„Gieb mir vier Leut’, Vater,“ sagte Henning mit bleichen Lippen, „ich heb’ ihn aus in der Nacht!“

„Fällt mir ein! Damit morgen ein Geschrei wär’ im ganzen Gadem und die Kuttenlupfer gleich eine Ursach’ hätten, die Herren herauszudrehen und sich ins Mittel zu legen? Es geht nimmner auf geradem Weg – wir müssen Umweg’ machen. Soll’s geschehen, so muß es sein in der Still’. Paß ihn ab, wenn er über die Seewänd’ hinsteigt und die Legangeln …“

Hennings Brüder traten in die Stube, und Herr Waze verstummte. „Warum redest nicht weiter?“ flüsterte Henning. „Die andern dürfen doch wissen …“

Herr Waze schüttelte den Kopf. „Viele Hund’ stellen das Wild, aber viele Treiber verschreien die Jagd. Die Hund’ wider den da drunten mußt da drin haben.“ Er stieß mit der Faust an Hennings Stirn. „Du hast den Bären scheu gemacht – jetzt plag’ Dich auch und spür’ ihm die neuen Wechsel ab, die er suchen wird. Und noch eins! Laß die Dirn’ auf ihrer Meinung, als wär’s ein Zufall gewesen. Sie soll nicht wissen, was vorgeht.“ Ueber Wazes Lippen zuckte ein irres Lächeln, und sein Gesicht wurde düster. „Sie hat manchmal einen Blick, der mich [139] an ihre Mutter mahnt und es geht mir in die Gedärm’, wenn sie mich anschaut mit solchen Augen.“

Die alte Ulla trat in die Stube und deckte für die Nachzügler den Tisch. Die Krüge wurden gefüllt und auf den Lichtreif neue Kerzen gesteckt. Lärm und Gelächter füllte die Stube, während draußen die stille Mondnacht ihren schimmernden Zauber wob. Ein zitterndes Leuchten lag über dem See, den der laue Windhauch der Sommernacht mit winzigen Wellen überkräuselte. Manchmal ließ sich das Quaken einer Wildente hören, und im Schilf um denn Bidlieger raschelte es zuweilen und plätscherte das Wasser; eine fischende Otter stieg ein und aus – „Der Bid geht um“, hätte Rötli gesagt.

Stille Stunden vergingen und Mitternacht war nahe. Da knirschten Tritte im Sand der Lände, und ein Wanderer mit weitausholendem Stab überschritt den freien Platz. Eigel war es, der als Thingbot’ zu den Almen stieg. Auf rauhen Pfaden wanderte er, denn Falkenstein und Wazemanns Haus gegenüber, den steilen Hang der Seeberge empor; mit spärlichen Lichtern fiel ^ der Mondschein durch die Bäume auf seinen Weg.

Es wollte die Nacht sich schon zum Morgen neigen, als Eigel auf der abgeplatteten Höhe des Nerges die erste der Almen erreichte. An drei Hütten schritt der Kohlmann vorüber; über eine weite Halde führte der Weg zur nächsten Hütte, darin die beiden Sennen hausten, welche Sigenot, dem Fischer, hörig waren; Kühe lagen im Gras umher und drehten die Köpfe nach dem einsamen Wanderer. Mitten im Almfeld brannte ein loderndes Feuer, das vom Almenwächter die ganze Nacht hindurch geschürt wurde, um die streifenden Raubtiere zu verscheuchen.

Die Sterne begannen zu erlöschen und eine fahle Helle schlich über die östlichen Bergzinnen empor, als Eigel sich der letzten unter allen Hütten näherte. Ein rötlicher Feuerschein leuchtete aus der kleinen Fensterluke.

„Schau, das sind fleißige Leut’!“ murmelte der Kohlmann. „Die warten nicht, bis der Tag wecken kommt!“ Er beschleunigte seinen Schritt, und bald hörte er aus der Hütte den lauten Klang zweier Stimmen. Aber das war nicht die ruhige Zwiesprach’, wie man sie halten mag vor Beginn des Tagwerks, das klang wie Zank und Streit. Je näher Eigel kam, desto deutlicher unterschied er eine kreischende Weiberstimme und die rauhe Kehle eines Mannes, er hörte Schimpfworte, ausgestoßen in keifendem Zorn, er hörte das Rasseln fallender Holzgeschirre und ein Klatschen, als gäb’ es Hiebe. Eigel begann zu laufen, doch als er über den letzten Hang emporeilte zur Hütte, that die Thür sich auf. „Schlagen willst? Schlagen? Wart’, das vertreib’ ich Dir!“ klang die kreischende Weiberstimme, und über die vom Herdfeuer rot erleuchtete Schwelle kam ein schwarzer Klumpen herausgeflogen in die graue Dämmerung des Morgens. Die Thür wurde zugeschlagen und der Riegel knarrte, während Eigel den an die Luft Gesetzten mit beiden Armen auffing.

„Zeit lassen, Kaganhart, Zeit lassen!“ rief der Kohlmann lachend. „Das ist lieb von Dir, daß Du mir entgegenkommst! Aber gar so tummeln brauchst Dich nicht!“

Keuchend richtete der Bauer sich auf, hob die Fäuste und schrie gegen die Hütte. „Sö ein Schandweib! So eine Trud und Nachthex’!“

Eigel drückte ihm die Hand auf den Mund und zog ihn mit sich fort, um aus dem Hörbereich der Hütte zu kommen. Aber es währte lange, bis Kaganhart sich so weit beruhigte, daß er auf Fragen hörte und Antwort gab. Während sie nun auf dem Rand eines ausgehöhlten Baumstammes saßen, in welchem eine spärlich sickernde Quelle zum Trank für die Kühe gesammelt wurde, erzählte der Bauer: „Seit gestern mittag hat der Streit kein End’ mehr. Ich bin vom Schönauer heimgelaufen und hab’ gemeint, sie sollt’ ’was hergeben für die Gottesleut’ ... aber da bin ich schön angekommen! Geschrien hat sie und ist umgefahren im Haus wie eine Schwarzalfin im Feuerloch. Und wie wir heraufgestiegen sind auf die Alben – den ganzen Weg über hat ein Wörtl das ander’ gejagt.“

„Hast halt auch gebockt und ungut geredet, gelt?“

„Da soll einer stillhalten können! Ein Berg ist gewiß ein guter Kerl, der sich viel gesallen laßt – aber schrei’ einen Berg an, er schreit halt auch zurück! Ich sag’ Dir, die ganze Nacht war kein Fried’ nimmer, und kein Aug’ hab’ ich zugemacht. Auf die Letzt’, wie ich’s gar nimmer ausgehalten hab’, bin ich aufgesprungen,

und daß mir die Zeit vergeht, hab' ich Feuer geschürt. Und da springt sie auch wieder auf und fangt ein Schelten an, weil ich das Holz verbrenn’, das man so weit hertragen muß über die Alben ... und wie sie gar nimmer aufhört, fahrt mir der Zorn in die Fäust’ und ich pack’ einen Besen ...“

„Den Stiel aber, mein’ ich, hat sie erwischt und hat ihn umgedreht!“

Kaganhart brummte etwas, während der Kohlmann aus vollem Halse lachte. „Nur gut, Bauer, daß ich bei der Hand gewesen bin ... Steinplatten liegen vor Deiner Hüttenthür, da hätt’st mit Deiner Nas’ an einer harten Blum’ riechen müssen!“

„Vergelt’s, daß Du mich bewahrt hast davor!“ dankte der Bauer gutmütig. „Aber was führt Dich denn auf die Alben, mitten in der Nacht?“

Eigels Züge wurden ernst. „Schier mein’ ich, ich sollt’ eine Ausred’ sagen und bei Dir vorbeigehen. Denn wer nicht aufkommt wider sein Weib, wird auch nimmer seinen Mann stellen bei Thing und Rat.“

Der Bauer erhob sich. „Als Thingbot’ kommst? Thu’ mir keine Unehr’ an! Stell’ mich hin vor zehn Mannerleut’ und ich halt’ meinen Platz ... aber gegen die da drin kommt auch ein anderer nicht auf. Da kannst von Wutes Helden einen laden ... wenn meine Hilmtrud’ das Züngel vom Leder zieht, lauft er heim in den Untersberg, daß er die goldenen Panzerschuh’ verliert! Lad’ mich, Eigel! Thu’ mir keine Unehr’ an!“

Der Kohlmann zog das Messer aus der Kotze, berührte mit dem Heft die Brust des Bauern und sagte seinen Spruch. Kaganhart legte die Schwurfinger an das Messer. „Heut’ über zwei Nächt, wenn Vollmond einsteht! Ich hab’s gehört und schweig’. Fahr’ weiter, Thingbot’!“

Eigel wollte gehen, doch der Bauer hielt ihn an der Kotze zurück. „Kohlmann, thu’ mir eins zulieb! Geh’ mit hinein in den Kaser! Wenn ein Dritter dabei ist, halt’ sich mein Weib doch ein lützel im Zaum ... und ich komm’ über das erste Wörtl weg.“

„Meinethalben!“

Und sie gingen der Hütte zu. Kaganhart pochte an die Thür. „Thu’ auf, Weib! Thu’ auf!“ Nur das Geprassel des Herdfeuers ließ sich aus der Hütte vernehmen. Ungeduldig rüttelte der Bauer an den Bohlen. „Weib! Wirst aufthun oder nicht?“

Aber in der Hütte blieb es still, und der Riegel wollte sich nicht rühren. Unter einem zornigen Fluch schmetterte Kaganhart die beiden Fäuste gegen die Thür. In der Hütte polterte ein hölzernes Geschirr, während Eigel flüsternd sagte: „Wenn sie Dich so fluchen hört, thut sie freilich nicht auf. Geh’ weg, ich will ihr ein gutes Wörtl geben!“ Mit dem Ellbogen schob er den anderen beiseite, trat auf die Schwelle und legte den Mund an einen Spalt der Bohlen; im gleichen Augenblick aber that die Thür sich auf, und ein nasser Hanftuchfetzen, der zum Klären der Milch gedient, flog dem Kohlmann um die Ohren, daß es klatschte. Eigel duckte sich, um einem zweiten Schwertstreich zu entgehen, und die Arme zum Schutz über den Kopf erhebend, humpelte er eilig davon. Da konnte ihm nun der Bauer das Lachen und die Schadenfreude heimzahlen. Kaganhart hielt sich die Rippen, und es wollte ihm fast der Atem vergehen. Als die Bäuerin sein schallendes Gelächter hörte, erschien sie mit verdutztem Gesicht auf der Schwelle; ein festes Weib, noch jung, von stämmigem Wuchs, die niedere Stirn umzogen von dicken Blondzöpfen. Da sie merkte, daß ihre Rache niedergefahren war über ein unschuldig Haupt, begann auch sie zu lachen und zeigte zwischen den dicken Lippen zwei Reihen blinkender Zähne, so kräftig entwickelt wie ein Wolfsgebiß. Kaganhart schnappte nach Luft. „Den hast aber schön ausgezahlt!“ Lachend puffte er mit der Faust an den nackten Arm des Weibes.

„Wer war’s denn?“ fragte Hilmtrud.

„Der Kohlmann.“

„Wie kommt denn der auf die Alben? Was hat er denn wollen?“ Da stockte dem Bauer das Lachen und er wurde verlegen. „Ich weiß nicht!“ stotterte er und drückte sich in die Hütte.

Hilmtrud stemmte die Fäuste auf die breiten Hüften. „Ich möcht’ wissen, was er wollen hat von Dir?“

„Hör’ auf und frag’ nicht weiter, ich sag’s nicht!“

„So? Da muß. ich Dir halt die Zung’ lösen.“ Und sie warf die Thür zu, als wollte sie ihrem Opfer den Weg zur Flucht versperren.

(Fortsetzung folgt.)


[140]

Aus Oesterreichs Reichslanden.

Von Heinrich Renner. Mit Zeichnungen von D. Israel.

Der österreichische Kaiserstaat ist nicht arm an sogenannten „interessanten Ländern“, die interessantesten jedoch und dabei wahre Perlen an landschaftlicher Schönheit sind die Provinzen, welche Oesterreich-Ungarn nach dem Beschluß des Berliner Kongresses 1878 militärisch besetzt und in Verwaltung genommen hat, Bosnien und Herzegowina. Im Munde der südslavischen Völker wurde Bosnien schon in alter Zeit die „zlatna Bosna ponosna“ (die „goldene glückliche Bosna“) genannt, aber fast vierhundert Jahre, während deren das Land unter türkischer Herrschaft stand, war diese Bezeichnung in keiner Weise gerechtfertigt, und erst, als im August 1878 Oesterreichs Doppeladler auf den Mauern der Serajewoer Festung aufgepflanzt wurde, begann eine Zeit der Entwicklung, welche staunenswerte Erfolge gezeitigt hat. Heute ist Bosnien neben Bulgarien das vorgeschrittenste Land des Balkans, und um so anerkennenswerter ist dieser Fortschritt, als noch vor wenig Jahren diese türkischen Provinzen gänzlich abgeschlossen vom Weltverkehr und ebenso unzugänglich waren wie gegenwärtig das Innere von Albanien. Harte Arbeit im Dienste der Kultur wurde hier geleistet; die äußerst geweckte und auffassungsfähige Bevölkerung kam den Bestrebungen der Behörden mit Vertrauen entgegen, und durch die volle Gleichberechtigung aller Religionsgenossenschaften, durch den verständnisvollen Schutz des mohammedanischen Elementes trat bald jene Ruhe und Zufriedenheit ein, welche allein eine gedeihliche Arbeit verbürgt. Heute durchziehen prächtige Kunststraßen und kühne Eisenbahnen das ganze Land, von den nördlichen Savegrenzen bis zu den Felsenbergen Montenegros. Bergwerke sind im ganzen Lande erschlossen, Viehzucht und Ackerbau gehoben, die Tabakkultur ist auf die höchste Stufe gebracht worden. Und daneben sorgen höhere und gewöhnliche Volksschulen in allen Orten für die geistige Erziehung der Jugend.

Bosnisches Café.

Es ist nicht die Aufgabe dieser Zeilen, ein vollständiges Bild der gegenwärtigen Zustände in den „occupierten“ Provinzen zu geben; nur gestreift sollten dieselben in großen Zügen werden. Haben doch auch Landsleute aus Deutschland einen ganz erklecklichen Teil an Bosniens Entwicklung. Blühende deutsche Kolonien, wie Ober- und Unter-Windthorst, Maglaj am Vrbas – jetzt Rudolfsthal (in der Nähe von Banjaluka), Franz Josefsthal zwischen Gradacac und Brtschka, sind von Hannoveranern, Oldenburgern, Rheinpreußen, Schlesiern, Schwaben und Badensern gegründet worden; neben ihnen haben sich Deutsche aus Ungarn und auch Südtiroler niedergelassen und hochauf ragen heute die stattlichen Gehöfte unserer Deutschen. Schulen und Kirchen bieten deutschen Unterricht und deutsche Predigt und meilenweit breiten sich die blühenden Fluren aus. Geachtet und geschätzt von der Landesregierung, leben die Kolonisten im besten Einvernehmen mit ihren bosnischen Nachbarn.

In den Städten Bosniens kommt die deutsche Sprache schon bedeutend zur Geltung. Daß die Beamten deutsch sprechen, ist selbstverständlich, aber neben der zahlreichen fremden Geschäftswelt weist auch die einheimische Bevölkerung schon ganz anständige Bruchteile Deutschsprechender auf. Ohne jeden Zwang hat sich dies vollzogen, und wenn einige serbische Agitatoren dagegen eiferten, weil das Volk seiner Eigenart entfremdet werden könne, so hat der Erfolg bewiesen, daß dies in keiner Weise der Fall ist. Bosniens Volk ist kerngesund; es entäußert sich nicht seiner Sitten und Gebräuche, es pflegt noch seine malerische Landestracht, und darum bietet Bosnien auch jetzt noch den Eindruck eines ganz orientalischen Landes.

Wenn man mit der Bahn die Hauptstadt Serajewo erreicht, macht diese mit ihren vielen Neubauten in der Ebene allerdings zuerst einen recht europäischen Eindruck, aber die hundert Moscheen mit ihren schlanken Minareten, die bis hoch an die Berglehnen sich hinanziehenden Türkenviertel mit ihren malerischen Häusern inmitten grüner Gärten, das bunte Getümmel auf den Straßen läßt bald erkennen, daß man sich im echten und gerechten Orient befindet. Wohl giebt es ganze Straßen mit hohen europäischen Steinhäusern, mit prächtigen Läden, große Gasthöfe und glänzende Cafés, mächtige Regierungspaläste und Kasernen, eine stolze griechische Kirche und eine gotische katholische Kathedrale. Macht man jedoch nur wenige Schritte seitwärts, so befindet man sich mitten im vollen orientalischen Leben. Das Handelsviertel, die „Tscharschija“, hat sich mit seinen sechzig und mehr Gassen noch ziemlich unverfälscht erhalten. Es ist ein malerisches Winkelwerk, so recht für den Stift des Zeichners geschaffen. Nach der Straße zu ist der Geschäftsladen nur eine vorspringende Holzbude, in welcher der Verkäufer mit gekreuzten Beinen hockt, wo aber auch handwerksmäßige Arbeit verrichtet wird. Hier hausen die Mohammedaner, Serben und Spaniolen (Nachkömmlinge der einst aus Spanien vertriebenen Juden) friedlich miteinander und warten auf Käufer; wenn die verlangte Ware in einem der Läden nicht vorhanden sein sollte, wird der Suchende ohne weiteres an den Nachbar gewiesen. Es ist dies noch ein Stück der alten Duldsamkeit, die nur durch die fremden Kaufleute so manchen Riß erleidet. In der Tscharschija erhalten diese aber fast nie einen Laden. Hier [141] besitzt der „Wakuf“ seine Gründe und im Bazarviertel wie im Besistan – der uralten Verkaufshalle – duldet der mohammedanische Kirchenfonds nicht, daß sich Fremde festsetzen. Da muß jeder Mieter einheimisch sein, die Religion bleibt Nebensache. Der Wakufverwaltung kann dies nicht verdacht werden, denn mindestens in den gedeckten Gassen des bombenfesten Besistan, welcher den Brand der Stadt unter Prinz Eugen und die furchtbare Feuersbrunst 1879 glücklich überdauert hat, muß das heimische Gewerbe, die heimische Industrie, welche auch von der Landesregierung begünstigt wird, einen Schutz finden. Hier muß der Mohammedaner so weit sicher sein, daß er nicht neben sich einen europäischen Nebenbuhler findet, der ihm die Kunden vermöge seiner größeren Beweglichkeit vor der Nase wegschnappt. Für die Europäer ist die Franz Josefstraße, die Kaiser- und Theresien-, zum Teil auch die Tschemaluschastraße da. Dort grenzt Laden an Laden, und die eingewanderten Geschäftsleute haben alle Gelegenheit, ihre Leistungsfähigkeit in vollem Lichte erstrahlen zu lassen.

Der Marktplatz von Serajewo.

Zum Bazarviertel gehören auch jene zahlreichen Gäßchen, in denen je bestimmte Handwerke getrieben und die Erzeugnisse von der Werkstatt weg verkauft werden. Da giebt es, wie in vielen deutschen Städten des Mittelalters, eine Schmiede-, Schuhmacher-, Lederer-, Schneidergasse etc. Hierher muß man seine Schritte lenken, wenn man nationale Arbeit sehen, wenn man gute Einkäufe machen will. Da sieht man die prächtigen verzinnten Kupfergeschirre mit wundervollen Verzierungen, hier werden die schönen Filigranarbeiten, die Cigarrenspitzen, Broschen, Ohrringe und Haarnadeln hergestellt, die auch in unseren Ländern schon teilweise einen Markt gefunden haben, da werden die türkischen Schuhe (Paputschen), die weichen gelben Stiefel für die Frauen gefertigt, die weiten Hosen und die mit Stickerei verzierten Jacken genäht, welche einen Hauptbestandteil der Volkstracht bilden. Ein reges Leben, ein Gewühl von Menschen und Tieren herrscht in diesen Gassen. Neben den einheimischen Käufern sieht man solche aus den verschiedensten Teilen des Landes, aus dem Paschalik Novibazar und aus Albanien. Neben der schon halb französisch gekleideten Serbin besorgt die Türkin in langem dunklen Mantel, das Gesicht dicht verschleiert, so daß nur die Augen sichtbar werden, ihre Einkäufe. Frauen von Beamten und Offizieren suchen von den Preisen etwas abzuhandeln; ihre Aufmerksamkeit richtet sich meist auf die berühmte durchsichtige, oft mit Silberfäden durchwobene bosnische Leinwand, welche in den Harems angefertigt wird und die sich so gut zu duftigen Sommerkleidern eignet. Die Spaniolin ist auch heutzutage noch ganz orientalisch gekleidet; das Gesicht wird wohl nicht mehr verschleiert, doch trägt sie noch immer den grell geblümten Shawl in Form einer Binde um den Kopf, der außerdem mit Reihen von Goldmünzen geschmückt wird. Bosnische Bäuerinnen in weißen, farbig gestickten Leinenanzügen, stets Silberschmuck um den Hals und im Haare tragend, bieten Geflügel oder andere Erzeugnisse ihrer Wirtschaft aus, türkische Mädchen im rot-weiß oder grün-weiß gestreiften kattunenen Umhängetuch drängen sich durch die Menge; ihre frischen meist hübschen Gesichter, die bis zum Eintritt des heiratsfähigen Alters unverschleiert bleiben, bilden eine angenehme Abwechslung. „Kafedschijas“, welche den schwarzen Mokkatrank in kleinen Schalen ihren Kunden in die „Dutschans“ (Läden) bringen, eilen hin und her; Brotverkäufer, das flache Gebäck auf großen Brettern tragend, [142] rufen ihre Ware und den Preis derselben aus. Und durch das Gewühl winden sich Tragpferde von der kleinen bosnischen Gebirgsrasse, beladen mit Holz oder Holzkohlen.

Nur eine Eigentümlichkeit des alten Serajewo ist fast ganz verschwunden: die zahllosen herrenlosen Hunde, welche sich auf den Straßen aufhielten und die oft blutige Schlachten lieferten, wenn ein anderer Hund sich in eine ihm nicht zustehende Gasse verirrte. Die Einführung eines Abdeckers und die Hundesteuer haben die alte Sanitätspolizei – und diese üben die Hunde ja in der Türkei aus – fast verschwinden gemacht. Nur vereinzelte Exemplare sind noch da und verkriechen sich scheu, wenn sie einen Europäer nahen sehen. Dagegen sind die Katzen das Lieblingstier geworden. In jedem Laden sitzen ein oder zwei Exemplare von oft erstaunlicher Größe.

Der Marktplatz, welchen unsere Abbildung S. 141 zeigt, liegt auf dem alten Wege zur Festungsstadt, die sich hoch über der eigentlichen Stadt erhebt. Hier wird das Grünzeug verkauft, hier befinden sich Fleischbänke und der Fischverkauf. Auch mehrere „Hans“ (Einkehrwirtshäuser) sind in diesem Marktviertel und viele Garküchen. Diese bestehen nur aus einem Raume; darin steht der große Herd, auf dem es in verschiedenen großen Töpfen brodelt. Die bosnische Küche ist schmackhaft, wenn auch manche süß zubereitete türkische Speisen das Wohlgefallen eines europäischen Magens nicht finden.

Die Zahl der türkischen Kaffeehäuser ist Legion. Meist sind es kleine fast finstere Räume, in denen man sich vergeblich nach Tisch oder Sessel umschauen würde. Rings um die Wände ziehen sich hohe hölzerne breite Pritschen, auf denen die Gäste mit untergeschlagenen Beinen sitzen. Eine merkwürdige Ruhe herrscht in einem solchen Kaffeehause. Die Gäste grüßen gewöhnlich nur durch eine Handbewegung, die vom Herzen zum Munde und dann zur Stirn führt. Dieser Gruß wird von allen Anwesenden erwidert und höchstens ein „merhaba“ (sei glücklich!) hinzugefügt. Jeder Gast raucht einen Tschibuk, zu dem der Wirt bereitwillig mit der Zange die glühende Holzkohle bringt, oder sein Nargileh, seine Wasserpfeife, zu welcher persischer Tabak (Tumbeki), in größere Stücke geschnitten, gehört. Das jüngere Geschlecht hat sich schon an Cigaretten gewöhnt. In diesen Cafés, die im ganzen Lande ziemlich gleich ureinfach sind (vgl. die Abbildung S. 140), herrscht aber an Festtagen, in den von Christen besuchten auch manchmal sonst des Abends, reges Leben. Da treten Sänger auf mit der Gusla – einem eigentümlichen einsaitigen Musikinstrument, das einen dumpfen Ton hervorbringt – und tragen die alten Heldensagen des Volkes vor; dann glänzen die Augen der Zuhörer und reiche Geschenke sind meist des Guslar Lohn.

So oft ich in Serajewo weilte, zog mich mein Herz stets in die alte Stadt, in die Festung. In der türkischen Zeit durfte sich in diesem von Mauern umfriedeten Teil nie ein Christ ansiedeln; auch durchschreiten durfte er ihn nur auf der Hauptstraße. Heute ist dies anders geworden; aber das unverfälschte mohammedanische Gepräge hat der Ort behalten, wenngleich bei einem Kaffeehause deutsch aufgeschrieben steht: „Hier sind Tabak und Cigarren sowie Bier zu haben.“ Da wandert man noch durch die engen Gassen mit dem holprigen Pflaster und weicht den Pfützen aus, die sich vor einzelnen Häusern gebildet. Hin und wieder begegnet man einem Moslim; mit mißtrauischem Blicke mustert er den Eindringling, der sich ohnehin kaum getraut, die Augen auf die mit Holzstäben vergitterten Fenster zu richten, hinter denen vielleicht dunkeläugige Schönen ihr Dasein vertrauern. Selbst die jungen Mädchen ziehen hier das Tuch über das Gesicht, sobald sie dem Fremdling begegnen, der in die Abgeschiedenheit des mohammedanischen Mittelalters sich hineingewagt hat.

Wie heute so muß es hier schon vor Jahrhunderten ausgesehen haben; denn dieser Teil der Stadt blieb vom Brand verschont, damals unter Prinz Eugen und wieder vor 15 Jahren, als die Flammen über der unteren Stadt zusammenschlugen. Einen schönen Anblick von außen bieten diese Häuser nicht, aber im Innern ist man erstaunt über die peinliche Sauberkeit, welche in allen Teilen herrscht. Da begreift man, warum die Stiefel beim Betreten der Stiegen und der Wohnräume ausgezogen werden müssen, und unaufgefordert that ich bei Besuchen dasselbe. Blütenweiß ist alles gescheuert; im „Selamlik“ (Herrengemach) war nicht ein Stäubchen zu entdecken und eine deutsche Hausfrau hätte ein Vergnügen an dieser Reinlichkeit gehabt. Was mich aber an den alten Türkenhäusern der Festungsstadt besonders wohlthuend berührte, das waren die schönen gutgepflegten Gärten, die lauschigen Haine und Hecken, die man nie hinter den verfallenen Mauern vermuten würde. Dazu Vogelgezwitscher überall, in jedem Busch eine Nachtigall, kurz, ein Stillleben, wie es sich die arabischen Dichter nicht besser erträumten …

Doch bald ist der Fremde wieder ins europäische Dasein versetzt. Oesterreichische Soldaten halten die Thortürme besetzt und an der Einmündung des Vischegrader Thores steht ein Zolleinnehmer, welcher den Bauern das Vieh besteuert. Das ist sehr abendländisch, und wir schauen, daß wir wieder ins Freie kommen. Am Wege liegt ein altes Kaffeehaus, ein Lieblingsort der Muselmanen, in welchem auch die Kronprinzessin Stefanie 1888 einmal ein Täßchen Mokka trank. Eine Veranda hängt förmlich über einem Abgrund und eine vielhundertjährige Linde beschattet den ganzen Platz. Der Blick fällt von hier weit ins Miljackathal – an welchem Flusse auch die Stadt liegt – in die wundervolle Gebirgsgegend an der Kozija-Tschuprija, der kühngebauten Ziegenbrücke. Wie Silberstreifen schlängeln sich die Straßen nach Mokro und nach Rogatica am Bergabhange hin, während unmittelbar in der Tiefe unten ein klarer Gebirgsbach sein Wasser, Hunderte von kleinen Fällen bildend, der Miljacka zuführt.

Auf steilen Ziegenpfaden und dann auf der neuen breiten Festungsstraße kann der Rückweg nach der Unterstadt angetreten werden. Längs der Miljacka trifft man auf zahlreiche türkische Kaffeegärten. Da ist besonders Bendbaschi hochberühmt, wegen seiner lauschigen Gänge und Sommerhäuschen fast über dem Flusse, gerade dort, wo derselbe aus den Felsen hervor sich der Stadt zuwendet. Von hier sieht man eine Menge der prächtigen Steinbrücken, die über die Miljacka führen. In den Ramazannächten, wann die Mohammedaner ausschwärmen, herrscht hier das regste Leben; arabische Musik und Tänzerinnen treten auf, mit bunten Lampen ist der Garten illuminiert. Sobald aber der Muezzin bei Sabah (Morgendämmerung) von den Minareten zum Gebet ruft, verstummt das laute Leben, und auch der albanesische Kafedschija verrichtet in der Moschee seine Morgenandacht.

Bis zum Jahre 1854, wo eine Revolution der bosnischen Begs – der mohammedanischen Großgrundbesitzer – gegen den Sultan wegen Einführung gewisser Reformen durch Omer Pascha blutig niedergeschlagen wurde, residierte der Wali von Bosnien nicht in Serajewo, sondern in Trawnik, einer auf der Linie Banjaluka-Serajewo in romantischer Gebirgsgegend gelegenen Stadt von ungefähr 6000 Seelen, die auch heute ein ganz orientalisches Gepräge trägt. Das Bazarviertel, von welchem unsere Abbildung S. 145 einen Teil zeigt, ist nur klein. Das Gebäude zur linken Hand mit dem auf gewöhnlichen Holzbalken ruhenden balkonartigen Vorbau ist ein Han, ein Einkehrwirtshaus. Die unteren Räumlichkeiten werden zu Ställen benutzt; im Oberstock befindet sich stets ein Café; daneben liegen die Zimmer für die Reisenden; diesen wird freilich außer einem Teppich, der auf die „Minderluks“ – die hölzernen Pritschen – gebreitet wird, keine weitere Bequemlichkeit geboten. Bettzeug und Decken mußte der bosnische Reisende bis vor kurzem stets mit sich führen; erst die neueren Gasthäuser, die schon überall vorhanden sind, haben darin Abhilfe geschaffen.

Unverfälschtes bosnisches Leben ist es, welches unsere Bilder zeigen, und es dürfte noch lange währen, bis die eigentümlichen Bauten verschwinden, wie sie in diesem Teile der Balkanhalbinsel gebräuchlich sind. In Bosnien wird sich auch der Mohammedanismus erhalten, denn seine Bekenner werden in jeder Weise geschützt und zeigen sich des in sie gesetzten Vertrauens vollkommen würdig. Serbien und Montenegro haben die meisten ihrer mohammedanischen Unterthanen durch allerlei Chikanen zur Auswanderung gezwungen, in Bulgarien ist die Auswanderung der meisten Türken freiwillig vor sich gegangen, nur in Bosnien behauptet der Islam seine alte Stärke, denn seine Bekenner sind Söhne des gleichen Volksstammes wie die christlichen Bewohner des Landes, sie lieben den Boden ihrer Väter und unter dem Schutze Oesterreichs können sie sich frei entwickeln nach ihren Fähigkeiten. Es giebt mohammedanische Richter, Beamte, Soldaten und auch bereits einzelne Offiziere, ein Beweis, daß die mit der Occupation übernommene Kulturaufgabe nicht in engherzigem Sinne seitens des Kaiserstaates aufgefaßt wird.


[143]

Die Ringe der Gräfin von Monteval.

Von Eduard Schulte.

Die Geschichte, die wir erzählen wollen, hat sich in Frankreich im Jahre 1620 wirklich zugetragen. Wir schicken diese Versicherung voraus, weil der Leser auf Einzelheiten stoßen wird, die einer ungezügelten Einbildungskraft entsprungen zu sein scheinen, während sie doch durchaus geschichtlich sind.

Die im mittleren Frankreich auf dem rechten Ufer der Saône gelegene Herrschaft Beaujolais gehörte um jene Zeit einem Grafen von Monteval. Sein Schloß Beaujeu lag auf einer Anhöhe, an die das als Hauptort der Grafschaft geltende Städtchen Beaujeu sich anlehnte. Mit seiner schönen jungen Frau lebte er seit zwei Jahren in glücklichster Ehe; da wurde die Dame von einer schweren Krankheit befallen. Ein Fieber, das mit Ohnmachten und Krämpfen wechselte, verzehrte sie. Sie ertrug die heftigen Schmerzen, welche die Krankheit ihr brachte, mit Geduld und Ergebung; die Trostlosigkeit des Gatten, der ihr seine Besorgnisse um ihr Leben vergebens zu verbergen suchte, schien ihr mehr Kummer zu verursachen als ihr körperliches Leiden. Das Uebel verschlimmerte sich sichtlich, nach einigen besonders qualvollen Tagen traten die Anzeichen des letzten Kampfes ein, der Graf und der Arzt verließen die Kranke nicht mehr, und als diese nach dem erfolglosen Bemühen, sich aufzurichten, endlich regungslos zurücksank, sagte der Arzt zu dem seiner Sinne kaum mächtigen Gatten: „Sie hat ausgelitten.“

Nach drei Tagen wurde die Gräfin, nach der Sitte der Zeit mit einer Blumenkrone auf dem Haupte, in ein seidenes Gewand gehüllt und an der rechten Hand mit kostbaren Ringen geschmückt, unter dem Altar der Kirche von Beaujeu feierlich beigesetzt. Das ungünstige Wetter – man war im Dezember – hielt die Bewohner der Stadt von zahlreicher Beteiligung an der Beerdigungsfeier nicht zurück. War doch die Gräfin als Helferin und Trösterin der Armen und Kranken weit und breit geliebt und verehrt gewesen.

Am späten Abend des Beerdigungstages kehrte der Totengräber, der bei der Einsargung der Gräfin beteiligt gewesen war und dann stundenlang vergeblich versucht hatte, sich durch irgendwelche Arbeit einen Nebenverdienst zu schaffen, in seine vor der Stadt gelegene ärmliche Wohnung zurück. Sein kleines Töchterchen öffnete ihm auf sein Klopfen die Hausthür, indem es ihm klagte, daß es Hunger habe. Als er in das einzige Zimmer trat, das den Wohnraum der Familie bildete, erfuhr er, daß seine Frau einem Kinde das Leben gegeben habe. Diese Kunde fiel dem Armen schwer aufs Herz. Stets mit Nahrungssorgen kämpfend, war er zur Zeit völlig mittellos; er hatte nicht einmal Brot im Hause. In stummem Brüten starrte er eine Weile auf seine Frau, auf den Säugling und auf das heranwachsende Töchterchen. Dann erhob er sich, als wäre er plötzlich zu einem Entschluß gekommen, zündete die Handlaterne an, die ihm gewöhnlich beim abendlichen Graben von Gräbern leuchtete, und verließ das Haus mit der Aeußerung, daß er bald wiederkommen werde.

Der Arme lenkte seine Schritte nach der Stadt und durch die einzige Straße, welche der Ort aufwies. Auf dem Marktplatz von Beaujeu, wo unter Häusern, deren Front auf Pfeilern ruhte, ein dem Marktverkehr dienender hallenartiger Gang sich hinzog, blieb er stehen. Wieder unschlüssig geworden, lehnte er sich hier, wo er gegen den Sturm und Schnee der Wintermacht einigen Schutz fand, gegen einen Pfeiler. „Es ist Grabesschändung,“ murmelte er vor sich hin. „Aber Gott wird mir in seiner Barmherzigkeit vergeben. Er weiß, daß ich die That für mich nicht thun würde. Aber daß meine Frau und meine Kinder hungern und gerade jetzt hungern sollen, das kann ich nicht ertragen. Die verstorbene Gräfin war im Leben so gütig. Warum sollte sie mir ihre Diamantringe nicht lassen, die ihr nichts mehr nützen und die meine darbende Familie vor dem Hungertode bewahren werden.“

Er raffte sich auf und ging weiter nach der Kirche zu. Da er bei Aufbahrungen, welche in dem Gotteshause stattfanden, regelmäßig beschäftigt war, so verfügte er über einen Kirchenschlüssel, den er bei sich trug. Auf der Straße war in der vorgerückten Abendstunde und bei dem herrschenden Unwetter niemand zu sehen, und so gelang es ihm, die Thüre aufzuschließen und in die Kirche einzutreten, ohne daß ihn jemand bemerkt hätte. Gespenstisch beleuchtete der schwache Schimmer seiner Laterne den weiten Raum, und obwohl er möglichst geräuschlos vorwärts schritt, hallten seine Schritte doch unheimlich wieder. Einige aufgescheuchte Fledermäuse umschwirrten ihn. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, und als er sich dem Altar näherte, stand er unwillkürlich still. Würde er die Kraft finden, sein Vorhaben auszuführen? Sollte er es nicht lieber noch aufschieben?

Aber was er thun wollte, mußte bald geschehen, denn morgen das wußte er, sollte das Grab der Gräfin geschlossen und versiegelt werden. So ging er vorwärts. Er trat hinter den Altar, hob die dort angebrachte, in die Familiengruft der Monteval führende Fallthür, stieg die nun sichtbar werdende Treppe hinab und gelangte so in den unterirdischen, von Nischen umgebenen Raum, der die Gruft bildete. Der Sarg der Gräfin war in eine Nische geschoben, die noch offen stand; ein jetzt neben dem Eingang der Nische angelehnter Stein sollte am folgenden Tage vor diesen Eingang gerückt werden und ihn so für immer schließen. Der Totengräber setzte seine Laterne nieder, zog ein großes Einschlagemesser hervor, drehte damit die Schrauben des Sargdeckels auf und hob diesen ab. Dann ergriff er die erkaltete Rechte der Gräfin, um ihr die Ringe abzuziehen. Aber das wollte seinen erstarrten und auch ungeübte Fingern nicht gelingen. Nach kurzem Besinne nahm er sein Messer und schickte sich an, die Hand der Gräfin vom Körper zu trennen. Da fühlte er, daß diese Hand, die er fest anfaßte und für den Schnitt zurechtbog, in seiner Hand zuckte. Im ersten Augenblick glaubte er, daß er einer Selbsttäuschung unterliege, die durch seine Aufregung veranlaßt sei. Aber er täuschte sich nicht, die Hand zuckte noch einmal, die Lippen der Gräfin bewegten sich, und sie sagte mit leiser, aber vernehmlicher Stimme:

„O mein Gott, wie das schmerzt!“

Dem Totengräber raubte der Schrecken fast die Besinnung, doch er faßte sich schnell. Er sah, daß die Gräfin scheintot gewesen und jetzt unter Einwirkung des auf ihre Hand geübten Druckes von diesem Scheintod erwacht war. Hatte er bis jetzt die Stimme seines Gewissens gewaltsam zum Schweigen gebracht, ohne sich doch verhehlen zu können, daß er in der Ausübung eines schweren Verbrechens begriffen war, so redete er sich nun gern ein, daß Gott sich seiner zur Rettung der Gräfin habe bedienen und dem Retter und seiner Familie die dankbare Wohlthätigkeit des Grafen habe sichern wollen, und so erschien ihm vermöge einer Nachsicht, welche das menschliche Herz gegen sich selbst so leicht übt, seine Schuld in milderem Lichte. Er ergriff seine Laterne, verließ schleunigst die Gruft und die Kirche und eilte nach dem Grafenschlosse.

Die Gräfin von Monteval befand sich in dem Zustande eines Fieberkranken, der allmählich aus einem häßlichen wüsten, doch sehr lebhaften Traume erwacht und die Grenze, welche die Traumwelt von der Wirklichkeit scheidet, noch nicht sicher wiedergefunden hat.

Sie empfand, daß der Raum dunkel und kalt war, in dem sie verweilte, und sie hörte Seide rauschen, wenn sie sich bewegte; aber das alles konnte doch nur ein Traum sein! Weshalb sollte man sie, die Kranke, die mit so großer Liebe und Sorgfalt gepflegt würde, der Kälte aussetzen? Was für einen Anlaß konnte es geben, einer Kranken ein seidenes Kleid anzuziehen? So fragte sie sich vergeblich, indem sie sich aufrichtete. Sie war, wenn auch mit großer Mühe, imstande, sich von ihrem Lager zu erheben; tastend trat sie aus der Nische in die geräumigere Gruftkammer. Die Schneewolken hatten sich inzwischen verzogen, der Mond war aufgegangen und ein schwacher Strahl fiel durch die Chorfenster der Kirche und die geöffnete Fallthür in die Gruft. Diesem Lichtschimmer folgend, stieg die Gräfin, indem sie ihre ganze Kraft zusammennahm, die Treppe hinauf. Hinter dem Altar hervortretend, ließ sie sich erschöpft auf den Seitenstufen desselben nieder. Jetzt erkannte sie, wo sie war, und die Blumenkrone auf ihrem Haupte, die sie zufällig [144] berührte, erinnerte sie an ein Begräbnis. Aber sie wollte und konnte der dämmernden Erkenntnis noch nicht völlig recht geben. „Welch ein furchtbarer Traum!“ rief sie und wurde noch einmal ohnmächtig.

Indessen war der Totengräber, der beim Verlassen der Kirche die Mitternachtstunde hatte schlagen hören, vor dem Schlosse angekommen. Sein dringendes Begehren nach Einlaß fand Gewährung; der Graf saß, von Kummer und Sehnsucht erfüllt, noch auf und ließ ihn in sein Zimmer treten. Nachdem der Diener sich entfernt hatte, warf sich der Totengräber dem Grafen zu Füßen, eröffnete ihm, was er in der letzten Stunde gethan und erlebt hatte, bat ihn um Verzeihung und forderte ihn auf, ihn zur Kirche zu begleiten.

Jetzt war es an dem Grafen, für einen Traum zu halten, was er erfuhr; die Hoffnung, seine geliebte Frau lebend wiederzusehen, kämpfte in ihm mit der Befürchtung, daß man ihn täuschen wolle. „Wehe Dir. wenn Du mich betrügst!“ rief er dem Totengräber zu. „Aber wenn Susanne“ – so hieß die Gräfin – „mir wiedergegeben wird, dann möge Gott Dir verzeihen und die Wohlthaten segnen, mit denen ich Dich überhäufen will.“

Von einem Diener begleitet, begab sich der Graf mit dem Ueberbringer der seltsamen Botschaft ungesäumt zur Kirche. Niemand sprach ein Wort. Der Diener, den der Schrecken über den nächtlichen Kirchenbesuch fast lähmte, wurde an der Thür zurückgelassen. Ungeduldig schritt der Graf, dem Totengräber, der die Laterne trug, voraneilend, durch das Schiff der Kirche nach dem Chor. Zufällig gingen sie nicht an der Seite des Altars vorüber, wo die Gräfin niedergesunken war, und in der Eile und bei der dürftigen Beleuchtung wurden sie ihrer nicht gewahr. In der Gruft angekommen entdeckten sie mit Entsetzen, daß der Sarg leer war.

„Susanne!“ rief der Graf, „meine Geliebte, wo bist Du?“

Nur ein dumpfes Echo antwortete.

„Elender, grabschänderischer Schurke!“ wandte sich der Graf nun an den Totengräber. „Du hast mich betrogen!“

„Die Gräfin muß hier sein.“ beteuerte der Totengräber, der aus Furcht vor dem erregten Manne in die Knie gesunken war; „Gott nehme mein Leben auf der Stelle, wenn ich gelogen habe!“

„Der Eid komme auf Dein Haupt!“ antwortete der Graf und durchsuchte dann, seiner Besinnung fast beraubt, immer wieder die Gruft. Neben dem Sarge fand er das Messer, das der Totengräber dort hatte liegen lassen. Ein grimmiges Lächeln irrte über die Züge des Grafen. Er hielt jenem das Messer vor die Augen und sagte: „Sieh, Gott ist gerecht! Dies war das Werkzeug Deiner abscheulichen That, und er giebt es jetzt in meine Hand, damit ich an Dir Rache nehme. Sprich ein letztes Gebet!“ Dann umfaßte er mit der Linken den Knienden und holte mit der Rechten zum Stoße aus.

In diesem Augenblick wurde über ihm ein vernehmlicher Seufzer laut. Er ließ den Arm sinken und näherte sich aufhorchend der Treppe; der Totengräber folgte ihm. Da hörten beide noch einmal ein Aufseufzen, und während sie die Treppe hinaufstiegen, ein drittes Mal. Und nunmehr fanden sie, dem Laute nachgehend, die Gräfin. Der Graf warf sich über sie, und indem er sie umarmte und küßte, entdeckte er, daß sie atmete, daß ihr Herz schlug. In der Ueberschwenglichkeit seiner Empfindung rief er aus: „O mein Gott, habe Mitleid mit mir! Hilf mir, darum flehe ich Dich an, denn ich fühle, daß meines Geistes Kräfte mich verlassen.“ Zu seinem Begleiter sagte er: „Mann, mein Freund, Dir gehört mein Dank, mein Vermögen, mein Leben! ... Hier, faß meinen Mantel an! Schnell! Hüllen wir sie ein! Vorsichtig! Geh’ leise! Sie schläft. Daß wir sie nicht wecken!“

Die beiden Männer trugen nun die Gräfin aus der Kirche. Als sie mit ihrer Last vor die Thür traten, bekreuzte sich der Diener und wandte sich zur Flucht. Ein befehlendes Wort des Grafen rief ihn zurück. Er mußte die Laterne nehmen und den beiden Trägern auf dem Wege zum Schlosse voranleuchten.

Eine Stunde später lag die Gräfin, von der aufmerksamsten Pflege umgeben, tief schlafend in ihrem Zimmer. Der Graf lauschte ihren Atemzügen. Nach einigen Stunden erwachte sie, und in wenigen Tagen war sie völlig hergestellt.

Vierzehn Tage nach jener Beisetzungsfeier riefen die Glocken von Beaujeu die Bewohner des Städtchens wieder aus einem besonderen Anlaß zur Kirche. Der Graf und die Gräfin hielten das neugeborene Kind des Totengräbers, den die Großmut des Grafen zum wohlhabenden Manne gemacht hatte und der, da der Graf Gerichtsherr war, von jeder gerichtlichen Verfolgung verschont blieb, über die Taufe. Nachher fand auf dem überdeckten Schloßhofe eine Festlichkeit statt, zu der alle Bewohner von Beaujeu geladen waren. Die Kunde aber von dem Scheintod und der Rettung der Gräfin verbreitete sich durch ganz Europa und erregte allgemein begreifliches Aufsehen, obwohl damals der große Krieg, der dreißig schwere Jahre dauern sollte, die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.


Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.

     (8. Fortsetzung.)


Als Ilse die schmale und selten benutzte Thüre öffnete, um mit Herrn von Montrose auf den Altan des Schlosses zu gelangen, schlug ihnen eine dumpfe eingesperrte Luft entgegen und nahm ihnen den Atem. Es war dämmerig hier innen, nur ein mattes Licht kam durch die blinden runden Scheiben, die in die dicken Steinmauern eingelassen waren. Eine schmale Wendeltreppe mit engen Steinstufen führte empor. Da wo sie das stärkste Knie machte, hörte die schwache Beleuchtung ganz auf.

Ilse sah sich nach ihrem Begleiter um; er tastete sich vorsichtig weiter, aber jetzt blieb er stehen, offenbar fand er sich nicht mehr zurecht. Es blieb ihr nichts übrig, als ihm die Hand zu reichen. „Sie können nichts sehen, es ist finster hier – bitte, kommen Sie!“ Sie biß die Zähne übereinander, damit ihre Hand nicht zittern sollte, und zog ihn nach sich, Stufe für Stufe. Seine Hand war nicht kalt und hielt ihre Rechte nicht fest; dennoch war es ihr, als stiege eine tödliche Kälte im ihrem Arm empor, als hielte eine eiserne Klammer ihre Hand umspannt, der sie sich nie mehr entwinden könnte ... nie mehr!

Beim ersten matten und trüben Lichtschimmer ließ Ilse die Linke ihres Begleiters los und nahm die wenigen letzten Stufen im Eilschritt. Sie standen vor einer niedrigen eisenbeschlagenen Thür, die sich nur mit einiger Mühe öffnen ließ und widerwillig in ihren Angeln kreischte. In dem halbrunden Turmzimmer, das sie betraten, kam ihnen Clémence entgegen. Sie trat sehr nahe an Ilse heran und musterte sie dreist aus ihren müden, leicht ein wenig zwinkernden Augen.

„Sie gestatten Baroneß,“ sagte Montrose förmlich. „Ihnen meine Tochter Clémence vorzustellen!“

Ilse verneigte sich höflich, Clémence nickte nachlässig. Papa mit seiner übertriebenen Ritterlichkeit! Brauchte man soviel Umstände zu machen mit der Tochter eines heruntergekommenen Adligen, dem man um einen schönen Preis sein abgewirtschaftetes Gut abkaufen wollte; mit einem Mädchen, das in einem so billigen weißen Kleide einherging? Clémence kniff die Augen wieder ein: ja wahrhaftig, es war Battist, nichts weiter! Freilich schön war das Mädchen trotz alledem. Clémence mußte das zugeben. Ihre zudringlichen Augen gingen langsam vom Saum besagten weißen Batistkleides aufwärts bis zu dem schimmernden Haar, das wie ein Goldkrönchen auf dem stolzen Kopf geordnet war.

„Gut, daß Sie mit Papa heraufgekommen sind! Ich bin nämlich ein wenig kurzsichtig, da wollte ich sehen, ob Sie in der Nähe auch so – so überraschend ausschauten wie von oben, von dem kleinen Altan dort. Eh bien, Sie haben die Probe bestanden, Sie können’s wagen, sich in der Nähe betrachten zu lassen – mon Dieu, das werden Sie ja selbst wissen, j'en suis persuadée!“

[145]

Bilder aus Bosnien: Das Bazarviertel in Trawnik.
Nach einer Originalzeichnung von D. Israel.

[146] Clémence liebte es, französische Brocken in ihre Rede einzustreuen, sie spielte sich überhaupt mit Vorliebe auf die Französin hinaus und schwärmte von ihrem Pariser Pensionat, in dem sie „göttliche Zeiten“ verlebt haben wollte.

Ilse errötete und wandte leicht den Kopf ab. „Gefällt Ihnen unser Schloß, gnädiges Fräulein?“ fragte sie dann, einfach zur Tagesordnung übergehend.

„O ja, ein ganz stilvoller alter Bau, manches darin sogar überraschend hübsch. Den Stammbaum solltest Du sehen, Papa, und den Ahnensaal! Aber die Rüstkammer ist leider ganz leer; die muß doch eine Menge von interessanten alten Waffen enthalten haben – wo sind die denn alle geblieben?“

„Mein Vater hat sie verkauft,“ entgegnete Ilse ruhig und sah so stolz dabei aus, als gewährte es ihr ein ganz besonderes Vergnügen, gerade diese Antwort zu geben.

Ah vraiment? Sehr schade! Alte Waffen sind eine Specialität von mir!“

„So? Seit wann denn?“ fragte Herr von Montrose trocken.

„Ach, Botho hat mir das Verständnis dafür aufgeschlossen, Botho versteht viel davon, er hat sich ein besonderes Studium daraus gemacht.“

Herr von Montrose trat schweigend an eines der Fenster und hielt einen Rundblick. „Ein schönes Panorama! Darf ich fragen, Baroneß, was die roten Häuser sind, dort hinten, rechts hinüber – man sieht nur die Dächer!“

„Das ist Gnadenstein, eine kleine Besitzung, die früher gleichfalls zu ‚Perle‘ gehört hat, dann aber abgelöst worden ist.“

„Ah!“ machte er überrascht. „Ich dachte nicht, daß man das von hier aus sehen könnte!“

„Gnadenstein?“ rief Clémence dazwischen und hob eifrig das Lorgnon vor die Augen. „Das ist das Gut, wo Du unsere beiden Herren kaltgestellt hast, Papa? Sie müssen nämlich wissen,“ wandte sie sich an Ilse. „daß mein Bruder und mein Verlobter, zwei Husarenoffiziere, mit uns herausgefahren sind; aber Papa hat sie nicht mit hierher genommen, er hat sie einfach in diesem Gnadenstein gelassen.“ Sie hatte die letzten Worte in gereiztem Tone gesprochen und trat nun mit übellaunigem Gesicht an das andere Fenster. „Es giebt noch unendlich viel hier zu erneuern, auszubessern, anzuschaffen!“ sagte sie dann, sich wieder umdrehend. „Vieles hier im Schloß ist ganz altmodisch, absolument nicht zu gebrauchen. Tapezierer und Dekorateur werden vollauf Arbeit bekommen – ich hab’ mir schon eine Menge Notizen gemacht, willst Du sie sehen, Papa?“

„Später, später! Wenn es Ihnen recht ist, Baroneß, beenden wir jetzt rasch unseren Rundgang und Clémence wie ich rüsten zur Abfahrt!“

„Ganz wie Sie wünschen!“

Unter den drei Menschen wollte kein Gespräch mehr in Fluß kommen; eine einsilbige und erzwungene Unterhaltung zwischen den jungen Damen wurde nur durch Frau Köhler mühsam zusammengehalten. Es ging alles ruhelos, überhastet – die letzte Besichtigung des Schlosses wie der Abschied. Trotzdem konnte Ilse das Ende dieses Besuches kaum erwarten, und als Vater und Tochter endlich weggefahren waren, da stürmte sie in den Garten mit einer Hast, wie wenn jemand sie verfolgte. Sie mußte eine Weile mit sich allein sein, mußte versuchen, Klarheit in diese verworrene Stimmung zu bringen, mit der sie rang!

Was war ihr nur geschehen? Die „Perle“ sollte einen neuen Besitzer bekommen, sie hatte ihn gesehen, sein Anblick hatte sie frappiert, dies schmale feingeschnittene Gesicht mit den merkwürdigen Augen – und sie hatte sich unwillkürlich davor gefürchtet, dieses Gesicht wiederzusehen. Das aber war nicht zu vermeiden gewesen, sie mußte den Mann aufsuchen, mußte ihn bitten, unter einem Dach mit ihm leben zu dürfen. Er war vornehm und liebenswürdig gewesen, sie konnte das nicht leugnen, er hatte ihr die schwere Aufgabe erleichtert – sie war ihm Dank schuldig! Aber – und das fühlte sie mit der größten Deutlichkeit – sie wollte ihm nicht danken, wollte ihm nichts schuldig sein; alles in ihr bäumte sich dagegen auf. War das etwa Haß? Was hatte der Mann ihr gethan? Unerklärliche Abneigung? Die hatte ihre gesunde klare Natur bisher noch nie gefühlt, sie war bis jetzt immer imstande gewesen, sich Rechenschaft abzulegen über ihr Empfinden. Was konnte es also sein, das sie hier in so unerklärlicher Weise abtieß? Abstieß, und auch wieder anzog! Denn sie mußte unausgesetzt des Mannes denken, der diesen Zwiespalt in ihr heraufbeschwor. Immer sah sie seine Züge vor sich, den trauervollen Ausdruck seiner Augen, die es aufgegeben zu haben schienen, das zu suchen, was sie doch nicht fanden, nicht gefunden hatten in all den langen Jahren. Ilse atmete trotzig auf mit halboffenen Lippen. Was ging das alles sie an! Mochte er suchen und finden oder vermissen, was er wollte! Wie konnten die Gefühle des fremden Mannes Einfluß auf die ihrigen haben? Trug sie nicht den stärksten Talisman bei sich, die treue Liebe zu ihrem Albrecht? Hatte sie nicht erst kürzlich zu Onkel Erich gesagt, und wenn alles noch viel schlimmer und trauriger komme, sie selbst sei glücklich und geborgen in ihrer Liebe? Und war das nicht lautere Wahrheit gewesen? Was also hatte sie zu fürchten?

Und während sie das dachte, fühlte sie plötzlich mit heißer Angst, daß sie sich Albrechts Gesicht nicht deutlich vergegenwärtigen könne.

Sie hätte ihn andern genau zu beschreiben vermocht, seinen hohen Wuchs, das gebräunte Gesicht, die stolz und frei blickenden blauen Augen – aber sie sah das alles nicht wie sonst handgreiflich vor sich, es war etwas Fremdes dabei, sie fand den Gesamteindruck nicht, der ihr das Ganze lebendig machte. Wie angewurzelt stand sie mitten im hastigen Gehen still, knöpfte mit bebenden Fingern ihr Kleid auf und zog das Medaillon hervor, das sie beständig bei sich trug. Ein Druck auf den Deckel ... Heiße Thränen stürzten ihr aus den Augen, als sie das kleine Bild wieder, immer wieder an den Mund preßte. „Hilf mir, hilf mir!“ stammelte sie und wußte doch nicht, wozu sie seine Hilfe wollte. Es war dunkel, dunkel in ihr!

*      *      *

Herrn von Montroses englischer Kutscher verhielt die Rappen mit einem kraftvollen Zügeldruck, der ein „Kniff“ von ihm war, unweit des Gnadensteiner Pächterhauses. Clémence blieb im Wagen, ihr Vater stieg aus und wandte sich dem Wohnhause zu.

„Bleibst Du lange, Papa?“

„Nein – zehn Minuten, eine Viertelstunde höchstens!“

„Wenn Du Botho und Georges triffst, dann schick’ sie mir, bitte! Wir Drei dürften bei Deiner Unterredung mit dem Besitzer des Hofes über den Kaufschilling und ähnliche interessante Dinge vollkommen übrig sein. Ich will Georges ein wenig den Mund wässern machen, er wird sich ja wie ein Narr in das blonde Wunder auf ‚Perle‘ verlieben!“

Montrose runzelte finster die Stirn, erwiderte aber nichts.

„Augenblicklich hat er freilich die Brünetten in Affektion genommen, eine Prima Ballerina glaub’ ich – in Berlin hatte er auch schon immer Neigungen fürs Ballett.“

„Clémence! Es steht einer jungen Dame sehr schlecht an, eine solche Sprache zu führen!“

„Ach Papa, was Du von den jungen Damen denkst! Die reden oft noch ganz andere Dinge. Sich immer blind und taub stellen und die Unschuld spielen, das ist nichts für Deine Tochter. Um zu glauben, daß Georges ein Heiliger ist, müßte ich wirklich ein Kind sein!“

Herr von Montrose zog seine Hand vom Wagenschlag zurück und ging; er hatte, während seine Tochter sprach, unverwandt in ihr Gesicht gesehen, als wollte er es studieren. Ja, sie war ihre Mutter, Zug um Zug: dünkelhaft, kleinen Geistes, reizlos und malitiös, dieselbe hochfahrende Art, die Augenbrauen emporzuziehen, dieselbe Stimme, die in der Erregung so leicht umschlug, dasselbe Geschick, kleine Nadelstiche scheinbar harmlos auszuteilen ... aber gottlob nicht dieselbe Macht, ihn zu quälen!

Das hübsche Pächterhaus von Gnadenstein lag friedlich mitten im hellen Sonnenschein. Auf dem roten Dach war ein zierlich gearbeiteter Taubenschlag angebracht, die Tauben trippelten kokett auf den Querstangen umher und ließen ihr werbendes Gurren vernehmen. Aus einem Stall kam eine ältliche Magd mit einem blankgescheuerten Eimer voll schaumiger Milch, den sie langsam, den freien Arm weit von sich gestreckt, über den Hof trug. Aus der niedrigen Gartenpforte, über der [147] weißblühender Flieder sein Dolden schüttelte, traten die beiden jungen Herren, das Rollen des Wagens hatte sie herbeigezogen. Herr von Montrose hob zwei Finger an den Hutrand zum Gruß und ging dann auf das Wohnhaus zu, aus dessen Thür ihm ein behäbiger Herr in Stulpenstiefeln und Jagdrock geschäftig entgegenkam.

„Na, Gott sei gepriesen, daß Ihr da seid und uns die Aussicht bringt, aus diesem reizenden Idyll fortzukommen!“ rief Georges und lüftete einen halben Zoll hoch den Hut zur Begrüßung für Clémence. „Ihr seid unerlaubt lange weggeblieben, Du und Papa! Hier war es einfach zum Auswachsen. Ein dickes ältliches Ehepaar, zwei Jungen, die uns anglotzten wie die Oelgötzen, ein halbwüchsiges Mädel, braungebrannt wie ’ne Kaffeebohne, die Haare mit Stangenpomade nach rückwärts dressiert, saure Milch und Quarkkäse, Fliegen und junge Teckel in ungezählter Menge, kein weibliches Wesen zu erblicken, soweit das Auge, das trostlose, schweifte! Zuletzt flüchteten wir vor des Hausvaters wirtschaftlichen Fragen und dem Quarkkäse der Hausmutter in den Garten und spielten – kostet den Botho rund achtzehn Mark! Glück im Spiel, Unglück in der Liebe – das ist mein Los! So, Clémence, das wären unsere Thaten und Abenteuer – nun erzähl’ Du die Deinigen!“

Das Brautpaar hatte indessen seine Begrüßung ausgetauscht. Botho hatte den Handschuh von Clémence leicht mit den Lippen gestreift und ein paar Phrasen zum besten gegeben, seine Braut hatte sich aus dem halboffenen Wagenschlag gebeugt, ihm beide Arme um den Hals geschlungen und seinen dunklen Kopf zärtlich an sich gedrückt. Sie küßte ihn wiederholt, fuhr ihm schmeichelnd mit ihrem weichen Spitzentuch über Augen und Wangen und flüsterte allerlei Koseworte, die der glückliche Bräutigam mit der Miene eines Mannes ertrug, der eine übernommene Verpflichtung in ihrem vollen Umfang begreift und zu erledigen gedenkt.

„So laß doch den armen Kerl los, Kind, willst Du ihn denn bei sechsundzwanzig Grad im Schatten mit Deinen Küssen ersticken? Sag’ mir lieber etwas über unser künftiges Eigentum, diese berühmte ‚Perle‘!“

Clémence rückte ihr Hütchen zurecht, das sich bei der Umarmung verschoben hatte, und lehnte sich tief aufatmend in die Seidenpolster des Wagens zurück. „O, ich habe allerlei gesehen – ein altes stolzes Ritterschloß, sehr ausbesserungsbedürftig, aber es läßt sich viel daraus machen – Ahnengalerie, Stammbaum, Bankettsaal, alte feudale Erinnerungen auf Schritt und Tritt, Name und Wappen verherrlicht, wo nur immer möglich.“

„Schön, schön!“ unterbrach Georges sie ungeduldig. „Versteht sich aber alles ganz von selbst!“

„Dann auch noch etwas minder Selbstverständliches,“ fuhr Clémence langsam fort und sah den Bruder mit einem lächelnden Blick von unten herauf an, was ihren Augen etwas Lauerndes gab, „etwas für Dich, mein Lieber.“

„Ah! Etwas Weibliches?“ Er warf den Kopf hintenüber und richtete sich straff empor. „Wirklich? Beschreibe ’mal ein bißchen, Clémence!“

„Ein wunderschönes blondes Schloßfräulein.“

Blond? O weh! Im ganzen nicht mein Fall. Wenigstens goldblond?“

„Goldblond!“

„Hübsch gewachsen, was?“ Er warf mit einem Ruck das Monocle ins Auge, als sähe er die Betreffende schon vor sich.

„Tannengerade, sehr schlank.“

„Hm! Nicht allzu schlank?“

„Mir fällt ein,“ warf Botho dazwischen, „die Kameraden haben mir mehrfach von einer jungen Schönheit auf ‚Perle‘ erzählt – soll etwas Entzückendes sein.“

„So? Entzückend?“ Clémence runzelte die Stirne unter dem künstlich gekräuselten Haar, und ihre Augen zogen sich argwöhnisch zusammen. „Leute wie Du, mein lieber Botho, Leute, die eine Braut ihr eigen nennen, haben sich um andere Damen, gleichviel, ob hübsch, ob häßlich, gar nicht zu bekümmern!“

„Aber, aber, Liebchen!“ Der schöne Botho zog von neuem begütigend die behandschuhte Rechte seiner Braut an den Schnurrbart empor. „Ich berichte ja ganz unpersönlich, rein sachlich, was mir die Kameraden –“

„Die läßt man eben schwatzen!“ Sie war dnrchaus noch nicht besänftigt. „Könnt Ihr Offiziere denn von gar nichts anderem reden als von Karten und Damen?“

„Die Pferde nicht zu vergessen!“ fiel Georges ein. „Nein, wir können wirklich nicht, auf Ehre! Davon verstehen aber kleine Mädchen nichts. Wie musterhaft übrigens Dein Botho ist, beweist die Thatsache, daß er mir von besagter Goldblondine bisher noch kein Sterbenswort gesagt hat.“

„Na!“ brummte Jagemann zwischen den Zähnen und wirbelte sein glänzendes schwarzes Seidenbärtchen, „ich hab’s ja selbst erst vor ein paar Tagen gehört, und ich wußte doch auch, daß – na – daß Du augenblicklich anderweitig –“

„Mund halten! – Nun weiter, Clémence!“

„Ach, weiter nichts! Was ist da noch zu sagen? Eben ein hübsches Mädchen, das ist alles! Natürlich ein Benehmen wie eine Prinzessin von Geblüt, und Papa Zoll für Zoll Ritter ohne Furcht und Tadel – er ist wirklich manchmal komisch mit seiner überfrorenen Höflichkeit!“

„‚Ueberfroren‘ ist gut! Ich muß mir übrigens doch nächstens ’mal etwas in ‚Perle‘ zu schaffen machen, um mit eigenen Augen zu sehen – Damen haben ja bekanntlich über ihresgleichen kein Urteil! Auftrag von Papa oder so etwas; so ein kleiner Vorwand findet sich rasch, wenn man einen edlen Zweck im Auge hat. Ich reite vielleicht hinüber, was meinst Du, Botho – Distanzritt, Du auf dem ‚Standard‘, ich auf der ‚Prinzeß Cora‘?“

„Hast Du Deine ‚Prinzeß Nellie‘ jetzt plötzlich in ‚Cora‘ umgetauft?“

„Ja, warum nicht? Ist ‚Cora‘ nicht ein hübscher Name, was?“ Georges zwinkerte seinem künftigen Schwager lustig zu, dieser lachte verständnisinnig, während die Augen von Clémence unruhig und mißtrauisch vom einen zum andern gingen.

„Du kannst Botho bei dem Distanzritt zu Hause lassen!“ entschied sie. „Es bedarf übrigens gar keines Vorwandes für Dich, um da hinzukommen. Wie mir Papa unterwegs sagte, will er diesen Bettelbaron Doßberg ersuchen, seinen Administrator zu spielen und mitsamt seiner Familie im Verwalterhause auf ‚Perle‘ zu bleiben.“

Georges stieß einen Pfiff aus. „Das sieht wieder ’mal meinem unberechenbaren Herrn Vater ähnlich! Er hat wirklich ungesunde Ideen, obgleich die Sache auch wieder manches für sich hat! Man kann sich die fragliche Baroneß bequem in der Nähe besehen und den Leuten, wenn sie anfangen, unverschämt zu werden, den Daumen aufs Auge drücken. Na, Kind, Du scheinst mit der Geschichte keineswegs einverstanden zu sein. Mach’ ein anderes Gesicht, Clémence, die schmollende Miene steht den wenigsten Weibern. Und sieh nur, wie Dein armer Botho schon den Kopf hängen läßt, gleich der Blume, welcher der Sonnenschein ausgegangen ist! – Unserem geehrten Herrn Papa hat man offenbar im Gutshause gleichfalls saure Milch und Quarkkäse vorgesetzt, die Verhandlung dauert bedenklich lange!“

„Nein“ sagte Botho, der sich umgedreht hatte, um den Augen seiner Braut, die unausgesetzt an seinem Gesicht hingen, auszuweichen, „dort kommt er schon!“

Herr von Montrose erschien in der Hausthür, begleitet von dem behäbigen Inhaber des Gutes und einigen Teckeln, die seine Füße beschnupperten. Das runde rote Gesicht des dicken Landmannes strahlte wie ein Vollmond.

„Die sind einig!“ bemerkte Georges halblaut, während er dienstfertig für den näherkommenden Vater den Wagenschlag öffnete. „Papa scheint die ganze Gegend hier ankaufen zu wollen. Hm, hm! Was das wohl für ’n Loch in seine Finanzen reißt! – Willkommen, Papa! Alles zur Zufriedenheit erledigt?“

„Vollständig!“ Montrose reichte dem Oekonomen, der sich ehrerbietig verbeugte, die Hand zum Abschied und stieg in den Wagen. „Es ist alles nach Wunsch gegangen!“

Im Ton und in den Worten lag nichts Auffälliges, dennoch schauten die Drei, die im Wagen saßen, den Sprecher wie auf Verabredung erstaunt an. Er lehnte nicht wie sonst lässig in den Polstern, er saß aufrecht da, in elastischer Haltung, der ganze Mann sah aus, als habe er einen Verjüngungstrank genossen.

(Fortsetzung folgt.)

[148] ----

Blätter und Blüten.


Mithridat und Theriak. Zwei gewiß für viele fremdklingende Namen! Dennoch spielten sie einst eine hochwichtige Rolle und eine wahre Verehrung knüpfte sich daran. Das eine ist aus dem anderen hervorgegangen, beide galten als die weitaus berühmtesten Heilmittel und Jahrhunderte hindurch standen sie in höchstem Ansehen, ja selbst das 19. Jahrhundert zollte ihnen noch seinen Tribut.

Kein Geringerer aber auch als der mächtige König Mithridates von Pontus war es, der dem „Mithridat“ den Namen gab, er selbst war dessen Erfinder. Es kann dies nicht wunder nehmen; ist es doch geschichtlich bezeugt, daß der pontische König eine ungemeine Furcht vor Vergiftung hegte und daß er deshalb der Erforschung der Gifte und Gegengifte eifrigst oblag. An sich selbst zunächst, dann aber auch an Höflingen und Verbrechern erprobte er die Wirkung seiner Mittel, und er soll durch täglichen Gebrauch sich so an Gift gewöhnt haben, daß im entscheidenden Augenblick – als er im Jahre 63 v. Chr., von Pompejus besiegt, von seinem Sohne verraten, sich selbst vergiften wollte – die Giftwirkung versagte. Auf seinen Befehl mußte ein Sklave ihn töten.

Dem glücklichen Sieger Pompejus aber verfiel auch die Vorschrift zu dem damals bereits berühmten Heilmittel, dem „Mithridat“, ein Fund, wie Plinius berichtet, „bedeutender für die Gesellschaft als selbst der Sieg für den Staat“. Das „Mithridat“ zeigte eine äußerst verwickelte Beschaffenheit, über ein halbes Hundert Bestandteile enthielt es, und obwohl im Anfang nur als Gegengift berühmt, galt es doch bald als besonderer Schutz gegen alle ansteckenden Krankheiten.

Dieses „Allheilmittel“ nun suchte ein Jahrhundert später – um 60 n. Chr. – Neros Leibarzt Andromachus dadurch zu verbessern, daß er der latwergenartigen Mischung noch verschiedene andere Dinge, hauptsächlich aber Schlangenfleisch hinzufügte, und von da soll sich die Bezeichnung „Thyriak“, später „Theriak“ – nach der Schlange „Thyrus“ – herleiten. Wie dem auch sei, jedenfalls galt der Theriak bereits den Römern als hochgeschätztes, ja geweihtes Medikament, und durch fast zwei Jahrtausende bewahrte er seinen Ruf. Mit ganz besonderer Sorgfalt, unter obrigkeitlicher Aufsicht und unter Entfaltung großer Feierlichkeiten – Glockengeläute, Musik und militärischen Aufzügen – ward er bereitet, es war eine hochwichtige Staatsaktion, und geraume Zeit vorher schon waren alle Bestandteile dieses Wundermittels im unzerkleinerten Zustand zu jedermanns Einsicht ausgestellt. Die letzte mit allem Pompe umkleidete öffentliche Herstellung des „himmlischen Theriak“, wie er gepriesen wurde, geschah im Jahre 1754 in Nürnberg, und zwar in der noch heute bestehenden Kugelapotheke. Erwähnt auch die Geschichte von da ab keiner besonderen Feier mehr bei seiner Bereitung, so war er nichtsdestoweniger noch immer geschätzt, und die Vorschrift des Andromachus ging in alle Arzneibücher über, ja, die im Jahre 1880 ausgegebene „Pharmacopoea Germanica“, das Deutsche Arzneigesetzbuch, nahm noch Notiz davon, wenn auch nur im Auszug. Die Aerzte von heute aber verwenden das einst mit so wunderbarem Nimbus umgebene Mittel nicht mehr, völlig verschwunden aus dem Arzneischatz der Apotheken ist es jedoch immer noch nicht. Ab und zu verlangt noch ein Bäuerlein nach seiner heilwirkenden Kraft, hat er doch von seinem Großvater gehört, daß „Theriak“, mit Schnaps gemischt, ein vorzügliches Magenmittel sei, und daß er, in Warmbier gegeben, Pferden und Kühen wie überhaupt allen Stallbewohnern die Kolik vertreibe! Fragt ein Wißbegieriger schließlich nach der Zusammensetzung des Theriak, so mag er erfahren, daß er zur Zeit kaum ein Dutzend Bestandteile hat: Angelika, Baldrian, Meerzwiebel, Zimmet, Cardamomen, Myrrhe und Eisen, sowie geringe Mengen Opium; das Schlangenfleisch aber, woher er wie erwähnt seinen Namen erhielt, fehlt. Schmidt-Beerfelden.     

Feiertagsvergnügen. (Zu dem Bilde S. 136 und 137.) Ein Volk von unverwüstlicher Zähigkeit sind sie, die Bewohner des Hochgebirgs. Schwer und mühselig ist ihre Arbeit die Woche über, doch Sonn- und Feiertage finden sie immer noch aufgelegt zu den erklecklichsten Kraftleistungen. Davon wissen die Wirte, die Gendarmen und die Bader unserer Gebirgsdörfer manch heißes Stücklein zu erzählen, und auch unser Bild von Oscar Graef „Feiertagsvergnügen“ liefert dafür einen zum Glück harmloseren Beweis. Zwar die älteren gesetzten Männer ziehen es vor, in ruhiger Beschaulichkeit unter dem Vordach der Almhütte ihre Pfeife zu schmauchen. Die jungen Burschen aber haben sich das Vergnügen des Bockspringens zum Zeitvertreib erkoren, und wie sie mit Herz und Seele dabei sind, das sprüht dem vordersten von ihnen so recht aus den Augen und allen Muskeln seines guten derben Gesichts. Der Lohn für gelungene Leistungen bleibt aber auch nicht aus. Schallender Beifall aus dem Munde des zuschauenden Dirndls schlägt an das Ohr des Springers, und wenn die Reihe wieder an ihn kommt, dann werden seine Beine samt den schwerbenagelten Bergschuhen noch höher fliegen und seine Augen noch lustiger strahlen als diesmal.

Neue Gedichte von Anton Ohorn. Unter dem Titel „Brevier und Fiedel“ hat der unsern Lesern wohlbekannte Dichter Anton Ohorn eine neue Sammlung seiner lyrischen Erzeugnisse herausgegeben (Großenhain und Leipzig, Baumert und Ronge). Sie zerfällt in zwei Abschnitte „Im Festkreis des Jahres“ und „Lieder und Geschichten“. In dem ersteren werden Neujahr, Palmsonntag, Ostern, St. Johannistag, Pfingsten, Weihnachten, Sylvester besungen, und zwar sowohl nach ihrer religiösen Bedeutung, als auch nach den stimmungsvollen Naturbildern, von denen diese Tage gleichsam umrahmt sind. Indessen ist das, was uns Ohorn hier bietet, kein kalendarischer Singsang, es sind alles Lieder, die aus dem Gemüt hervorquellen; besonders gelungen sind die drei Gedichte „St. Johannistag“. In dem zweiten Abschnitt finden sich neben schlichten Liedern auch Gedichte auf die deutschen Kaiser, auf Moltke, auf Uhland und Körner, in denen ein vollerer Ton angeschlagen ist. Sehr anmutig sind die „Troubadourweisen“; sie sind einfach, aber es schwebt darüber ein poetischer Hauch, z. B.:

„Mein Herz ist gewandert jahrelang
Und konnte den Frühling nicht schauen;
Mit einmal kam er mit süßem Drang,
Mit Augen, lachenden, blauen;

5
Du bist mein Lenz so sonnenhell,

Bist meiner Lieder goldner Quell,
Du lieblichste der Frauen!“

In andern Liedern spricht sich eine tüchtige kernhafte Gesinnung aus, so in dem ersten Gedicht des Abschnitts „Habe Mut!“, das Ohorn seinerzeit für den „Gartenlaubekalender“ gedichtet hat und von welchem wir hier die zwei letzten Strophen mitteilen:

„Scheint in langen Winterwochen
Trostlos die Natur erschlafft,
Unterm Eise ungebrochen
Schlummert ihre Lebenskraft,

5
Und hält Siechtum dich umfangen,

So daß all dein Wünschen ruht,
Wieder färben sich die Wangen:
0 Habe Mut!

Jeder Lenz hat seine Blüten,

10
Die kein Sturm ihm knickt und bricht.

In des ärgsten Winters Wüten
Strahlt der Sonne mildes Licht.
Was des Jahres Lauf auch bringe,
Wechselnd steigt und fällt die Flut;

15
Stehe mannhaft, hoffe, ringe –

0 Habe Mut!“

†     

Unter den Palmen des Val di Sasso bei Bordighera. (Zu dem Bilde S. 133.) Bei den Dichtern, Malern und Wanderern aller Nationen genießt das durch seine Scheffel- und andere Palmen männiglich bekannte Städtlein Bordighera an der Riviera di Ponente den wohltönenden Namen des „italienischen Palmyra“, d. h. „Palmenstadt“, oder des „ligurischen Jericho“. Es ist schon richtig, man braucht kein besonders phantastisches Hirn zu haben, um sich hier alsbald nach Syrien oder Palästina zu träumen: unzählbare Palmbäume kommen uns zu Hilfe, Palmen, im Freien geboren und erwachsen.

Wie sie da stehen, einzeln, in Gruppen wie das Dutzend Scheffelpalmen um die alte Cisterne her, zu Gebüschen, zu Wäldern zusammengeschlossen, anspruchslos in ihren Standorten, nicht bleichsüchtig oder zimperlich und ausstellungskokett wie ihre warmhausgeborenen Schwestern, hier dicht gegen die Wellen vorschreitend, dort auf dem Hügel über die Oliven hinausragend, unter Orangen und Citronen gemischt, als Alleebaum, als Heckenpflanze, als Handelsartikel in Reih’ und – Kübel gepflanzt! Die Landschaft sieht fast nicht mehr italienisch aus; uns ist, als wären wir ins Morgenland versetzt, und die bräunlichen Mädchen von Bordighera, die da herabsteigen zu den palmenumschatteten Brunnen, das Wasser zu schöpfen, werden krügetragende Rebekken, zu denen wir als Eleazar aus dem Norden herantreten würden, sie um einen Trunk zu bitten, wenn der köstliche Wein der Küste nicht dem Cisternenwasser vorzuziehen wäre.

Am wirkungsvollsten erscheint die Palme allein und in der Einsamkeit: über eine Klippe meerwärts wie ein Pilger zum Trinken über den Bach geneigt, in den stillen Seitenthälern, wie eine Oase aus dem silbergrauen Meere der Olivenwaldungen hervorragend. Der verständnisinnige Wanderer steigt in die nahen Thäler hinein; bequem in das kleine Thal des Sasso, das östlich von der Stadt eine Strecke in die Hügel hineinbringt und sich eine Menge schöner Palmen mitgenommen hat. Seine Schwesterthäler sind Valle Crosia und Valle Nervina. Hundert Maler können nicht in hundert Jahren die Schönheiten malen, die hier sich unter der mächtigen Sonne zusammendrängen. W. Kaden.     

Fortschritte der Lebensversicherung in Deutschland. Nach der von Professor Conrad in Halle herausgegebenen Statistik bezifferte sich der Bestand der in Berechnung gezogenen 38 deutschen Gesellschaften Ende des Jahres 1892 auf 939 462 Policen mit einer Gesamtversicherungssumme von 4104 Millionen Mark. Mit anderen Worten: jeder zehnte Familienvater im Deutschen Reich hat seinen Angehörigen für den Fall seines Todes – oder auch früher – ein Kapital von durchschnittlich 4369 Mark sichergestellt. Das ist immerhin ein schöner Erfolg, wenn man rückblickend die Entwicklung der Lebensversicherung verfolgt.

1827 erscheint der erste schüchterne Versuch; die „Gothaische“ – noch heute mit 632 Millionen Mark Versicherungssumme an der Spitze marschierend – wird von Arnoldi gegründet. 1829 finden wir 2 Anstalten mit 1448 Personen und 8 Millionen Versicherungssumme; zehn Jahre später sind sie auf 6 Anstalten mit 17 978 Personen und nahezu 77 Millionen Mark angewachsen, 1849 haben wir 10 Anstalten, 34 734 Versicherte und 137 Millionen Mark Versicherungskapital. Während so der Bestand an Versicherten und die Gesamtversicherungssumme fortwährend und stetig steigt, zeigt der Durchschnittsbetrag, d. h. die durchschnittliche Einlage eines Versicherten, merkwürdige Schwankungen: vom Jahre 1829 ab, wo sie sich auf 5578 Mark belief, bis zum Jahre 1869, wo sie nur 2876 Mark aufwies, machte sich eine fortwährende Abnahme bemerkbar; von da ab fing sie wiederum an zu steigen, bis sie 1879 auf 3525 Mark, 1889 auf 4182 Mark, 1892 auf 4369 Mark angekommen war. Dies erklärt sich wohl dadurch, daß sich ursprünglich nur die besitzenden Klassen beteiligten, die größere Summen versicherten, später aber auch viele kleinere Leute beitraten; das Sinken des Geldwertes aber drängte dann wieder alle Stufen auf eine Erhöhung der versicherten Summen hin.


Inhalt:

[ Verzeichnis des Inhalts von Heft 9/1894 - hier nicht dargestellt.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Fischspeer, dessen langer Schaft zum Fortbewegen des Flosses diente.
  2. „Wo der Herr nicht das Haus bauet, so arbeiten umsonst, die dran bauen.“