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Die Gartenlaube (1896)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 21.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Am Pfingstmorgen.
Nach einer Originalzeichnung von R. Püttner.

Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (20. Fortsetzung.)

Während Ehrwald und Sonneck in dem Hotel des Villenorts am See zusammentrafen, rollte der Wagen, in dem sich Lady Marwood befand, am Seeufer dahin. Man war bereits im September, aber es war ein glühend heißer Tag, wie mitten im Hochsommer. Die Sonne brannte und blitzte auf der weiten Wasserfläche, und drüben an den Bergen sammelte sich dunkles Gewölk, das auf ein Spätgewitter hinzudeuten schien.

Malsburg, die Hartleysche Besitzung, lag nur eine halbe Stunde entfernt. Es war eine große Villa, inmitten eines weiten schattigen Parkes, alles im vornehmsten Stil gehalten. Zenaide übergab dem Diener, der bei der Anfahrt des Wagens herbeieilte, ihre Karte und ließ sich bei dem Herrn des Hauses melden. Nach einigen Minuten erschien denn auch der ehemalige Lieutenant Hartley, jetzt ein stattlicher, ernster Mann, und begrüßte die Dame, zwar mit vollster Artigkeit, aber doch mit kaum verhehlter Verlegenheit und Bestürzung.

„Ah, Mylady, Sie selbst? Wir sind sehr erfreut – leider befindet sich Mistreß Hartley nicht wohl und ist außer Stande –“

„Ich bedauere!“ schnitt ihm Zenaide das Wort ab. „Ich will durchaus nicht stören, Mister Hartley; mein Besuch gilt nur meinem Sohne, der sich in Ihrem Hause befindet und den ich zu sehen wünsche.“

„Mylady, ich weiß nicht –“

„Den ich zu sehen wünsche!“ wiederholte sie mit vollem Nachdruck. „Ich bitte, mich zu ihm zu führen.“

Hartley sah in das Antlitz der schönen Frau, der auch er einst gehuldigt hatte. Ja, sie war noch blendend schön, aber eine andere war sie geworden, und jetzt stand in ihrem Antlitz ein Zug verzweiflungsvoller Entschlossenheit, der ihm zeigte, daß hier jede Ausflucht umsonst sei.

„Percy ist in der Obhut seines Vaters,“ entgegnete er, „und Sie wissen ja, welchen Standpunkt Francis einnimmt. Ich fürchte, Sie haben sich umsonst bemüht, Mylady. Ich selbst bin leider außer Stande –“

„Soll das etwa heißen, daß Sie mir den Eintritt in Ihr Haus versagen?“ fuhr Zenaide auf.

„Mylady, ich bitte Sie –“ Die Stimme des Hausherrn klang in peinlichster Verlegenheit. „Wie können Sie meine Worte so auffassen! Ich glaube doch Herrn Sonneck bewiesen zu haben, wie gern ich bereit bin, Ihnen meine Dienste anzubieten, aber ich habe wirklich nicht das Recht, hier eigenmächtig zu handeln, gegen den Willen Ihres Gemahls. Sie werden sich an ihn selbst wenden müssen.“

„Gut, so benachrichtigen Sie ihn von meiner Ankunft! Ich war gefaßt auf diese Begegnung, als ich hierher kam.“

Hartleys Miene verriet, daß er diese Begegnung fürchtete; doch es blieb ihm nichts übrig, als sich der mit so großer [342] Bestimmtheit ausgesprochenen Forderung zu fügen. Er verneigte sich daher und bot der Dame den Arm, um sie in das Haus zu führen. Hier geleitete er sie in einen Salon und ging dann unverzüglich zu seinem Freunde.

Zenaide hatte sich niedergelassen, aber schon in der nächsten Minute sprang sie auf und trat an das Fenster, um es gleich darauf wieder zu verlassen. Die lächelnde, sonnige Schönheit der Landschaft da draußen erschien ihr wie ein Hohn. In fieberhafter Unruhe begann sie in dem Gemach auf und nieder zu schreiten, man sah es, daß sie zum Aeußersten entschlossen war. Sie hatte es ja gewußt, daß sie sich das Wiedersehen mit ihrem Kinde erst werde erkämpfen müssen – nun gut, sie war zum Kampfe bereit!

Da öffnete sich die Thür und Lord Marwood erschien auf der Schwelle. Er war noch immer ein schöner Mann, fast unverändert in seiner äußeren Erscheinung, vornehm, kalt, hochmütig wie sonst, nur daß sich diese Kälte und dieser Hochmut noch schärfer ausprägten als früher, und jetzt vollends lag in seiner Haltung eine eisige Unnahbarkeit.

Er machte seiner Gemahlin eine Verbeugung, so förmlich und abgemessen, als stünde er einer völlig fremden Dame gegenüber. Sie erwiderte den Gruß nicht und sprach auch nicht, nur ihre Augen waren voll und finster auf den Mann gerichtet, der noch ihr Gatte hieß und der Vater ihres Kindes war. Er nahm zuerst das Wort.

„Sie wünschen mich zu sprechen, Mylady, wie ich von Hartley höre. Darf ich fragen, was mir die Ehre dieses unerwarteten Besuches verschafft?“

„Wollen wir uns die Komödie nicht lieber ersparen?“ fragte Zenaide herb. „Sie haben mir keine Wahl gelassen und mich gezwungen, meinen Sohn hier bei Ihnen aufzusuchen, haben mich zu dieser Begegnung gezwungen, von der ich befreit zu sein hoffte für alle Zeit. Sie erraten wohl, was mich das kostet – gleichviel, ich bin hier und will meinen Percy sehen! Ich fordere mein Recht, das Recht der Mutter, das Sie mir bisher in so unerhörter Weise versagt haben und das kein Gesetz mir abstreiten kann!“

„Das wäre doch noch die Frage,“ entgegnete Marwood kalt. „Als Sie England verließen, freiwillig verließen, da leisteten Sie Verzicht auf Ihre Rechte als Gattin und Mutter und es steht bei mir, ob ich sie noch anerkennen will.“

„Und das sagen Sie mir!“ rief Zenaide mit sprühenden Augen. „Sie, der mich zu diesem Schritte getrieben hat? Ja, ich bin einem Leben entflohen, das für mich zur Hölle geworden war – durch Sie! Ich habe die Fesseln zerrissen, mit denen Sie mich an die Welt ketteten, der Sie angehören, wo jede warme Regung, jedes Gefühl erstickt wird in kalten lügenhaften Formen. Hätte ich ahnen können, daß Sie das benutzen würden, um mir mein Kind zu nehmen, vielleicht hätte ich trotz alledem diese Hölle ertragen.“

Marwoods Antlitz blieb völlig unbewegt bei diesem leidenschaftlichen Ausfall und auch seine Stimme verriet nicht die mindeste Erregung, als er erwiderte: „Sie sind sehr aufrichtig, Mylady, aber Sie lieben es nun einmal, sich in excentrischen Ausdrücken zu ergehen. Jedenfalls haben Sie kein Recht, sich über diese ‚kalten lügenhaften Formen‘ zu beklagen, denn Sie haben sich von jeher in einer Weise darüber hinweggesetzt, die der Gesellschaft immer wieder von neuem Veranlassung gab, mich wegen meiner Wahl – zu bedauern.“

„Die Gesellschaft, jawohl!“ Zenaide lachte bitter auf. „Das ist für Sie das einzig Maßgebende in der Welt, und daß ich diese hochmütige englische Gesellschaft stets verachtet habe, das verzeihen Sie mir nicht! Weshalb warben Sie um mich mit solcher Beharrlichkeit? Sie wußten es ja, daß ich Sie nicht liebte, ich habe Ihnen nie ein Hehl daraus gemacht, und doch setzten Sie alles daran, mich zu gewinnen. Sie haben mich auch nie geliebt, Francis, jetzt hassen Sie mich und ich gebe Ihnen den Haß zurück aus vollster glühender Seele, denn Sie haben mich jahrelang gepeinigt und gemartert mit diesem kalten Hohn, der darauf berechnet war, mich zur Verzweiflung zu treiben! Sie haben es dahin gebracht, daß ich dem Tage fluchte, wo ich meine Hand in die Ihrige legte, daß ich diese unselige Ehe –“

„Mylady, ich bitte Sie, keine Scenen!“ unterbrach sie der Lord. „Das ist allerdings Ihre stärkste Seite, aber ich verabscheue sie nun einmal. Wozu denn überhaupt diese Vorwürfe? Wir sind ja vollkommen einig in dem Wunsche, unsere längst getrennte Ehe nun auch gesetzlich aufzuheben, und ich komme Ihnen darin durchaus entgegen. Sie wissen, ich stelle nur eine einzige Bedingung.“

Aus seinen Worten und seiner ganzen Haltung sprach in der That der „kalte Hohn“, gegen den seine Gemahlin sich so aufbäumte. Man begriff es nur zu sehr, daß dieser Mann die leidenschaftliche Frau zu einem Verzweiflungsschritte getrieben hatte. Sie brach auch jetzt mit furchtbarer Heftigkeit aus:

„Sprechen Sie mir nicht von dieser unmöglichen, dieser schmachvollen Bedingung! Ich soll jedem Anspruch auf meinen Sohn entsagen? Bin ich eine Verbrecherin, die das Recht verwirkt hat, ihn in die Arme zu schließen? Ich gäbe sonst alles darum, frei zu werden von der Kette, die mir noch am Fuße klirrt, aber um diesen Preis – nimmermehr!“

„Ueberlegen Sie sich die Sache, Mylady,“ sagte Marwood eisig. „Jetzt stelle ich Ihnen noch die Wahl, und wenn Sie nachgeben, vollzieht sich unsere Scheidung mit gegenseitiger Einwilligung, ohne peinliche Zwischenfälle. Im anderen Falle würde ich diese Bedingung gerichtlich stellen und mich auf das Gesetz berufen müssen. Sie haben mein Haus verlassen, gegen meinen Willen, und sind jahrelang fern geblieben, und die Art, wie Sie diese eigenmächtig genommene Freiheit brauchten, wird nicht gerade zu Ihren Gunsten sprechen in dem Scheidungsprozeß. Ich bin sehr genau unterrichtet darüber.“

„Haben Sie mich vielleicht mit Spionen umgeben?“ fragte Zenaide verächtlich. „Es scheint beinahe so. Ich weiß, daß man allerlei Klatschereien und Verleumdungen über mich ausgestreut hat – man hat gelogen!“

„Das wäre doch erst noch zu beweisen.“

„Glauben Sie Ihren Spionen mehr als den Worten Ihrer Gemahlin? Ich sage Ihnen, man hat gelogen!“

Der Lord zuckte statt aller Antwort die Achseln. „Wir wollen jetzt nicht darüber streiten, kommen wir auf die Hauptsache zurück! Sie haben doch wohl nie daran gezweifelt, daß ich meinen Sohn und Erben, den Stammhalter meines Hauses, selbst zu erziehen und ihn nicht von meiner Seite zu lassen gedenke. Sie haben Percy seit Jahren nicht gesehen und es dürfte Ihnen auch jetzt nicht schwer werden, darauf zu verzichten – Sie haben ja vollen Ersatz.“

„Ersatz? Wofür? Was meinen Sie?“

Um Marwoods Lippen spielte ein unglaublich verletzendes Lächeln. „Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich genau unterrichtet bin. Ich meine den Helden Ihrer romantischen Jugendliebe, der jetzt wieder aufgetaucht ist. Beruhigen Sie sich, ich bin nicht eifersüchtig, bin es eigentlich nie gewesen; ich fand es nur vermessen, daß der kecke junge Glücksritter seine Augen so hoch erhob. Nun er hat ja wirklich Glück gehabt in der Welt, er ist zu einer Berühmtheit geworden, und Sie sind frei, sobald Sie es wollen. Ich glaube, es kostet Ihnen nicht viel Ueberwindung, den Namen und Rang einer Lady Marwood mit dem einer – Frau Ehrwald zu vertauschen. Sie waren nie aristokratisch angelegt.“

Zenaide erwiderte keine Silbe, nur ihre Augen flammten drohend dem Manne entgegen, der sie mit jedem Worte, jedem Blicke verletzte. Sie raffte den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung zusammen.

„Genug! Machen wir ein Ende mit dieser Unterredung. Ich kam nicht, um mit Ihnen zu streiten, meinen Sohn will ich sehen – hören Sie, ich will! Und wenn Sie es mir jetzt noch verweigern, dann dringe ich gewaltsam in sein Zimmer und will doch sehen, ob man es wagen wird, die Mutter von seiner Schwelle fortzuweisen.“

Es lag eine so wilde Energie in den Worten, daß der Lord einsah, er könnte seine Weigerung nicht aufrecht erhalten, wenn er nicht eine peinliche Scene heraufbeschwören wollte, und er verabscheute ja die Scenen, zumal hier in dem fremden Hause, wo er nur Gast war. Er gab nach, aber um seine Lippen spielte ein kaltes, grausames Lächeln, das nichts Gutes verhieß.

„Es sei, da Sie darauf bestehen! Ich hole Percy.“

Er ging, Zenaide preßte beide Hände gegen die Brust und atmete tief auf. Nun war es endlich erzwungen, sie sollte ihr Kind, das sie jahrelang entbehrt hatte, wieder in die Arme schließen. Und dann? Sie dachte nicht über dies „dann“ nach, für sie drängte sich alles zusammen in dem einen Gedanken des Wiedersehens.

Nach etwa zehn Minuten kehrte Marwood zurück, den kleinen Percy an der Hand. Der siebenjährige Knabe war ein schönes [343] Kind, hatte indessen auch nicht einen einzigen Zug von seinem Vater. Das tiefschwarze Haar und die großen dunklen Augen gehörten nicht dem blonden, helläugigen Geschlechte der Marwoods an, und so kindlich das Gesicht auch noch war, es verriet doch schon eine unverkennbare Aehnlichkeit mit dem der Mutter. Man hatte es dem Kleinen wohl gesagt, daß man ihn zu seiner Mutter führe, aber er schien keine Erinnerung mehr an sie zu haben, denn er blickte scheu und fremd zu ihr hinüber und schmiegte sich fest an den Vater.

Zeuaide aber vergaß beim Anblick ihres Sohnes alles andere. Mit dem Aufschrei: „Percy, mein Percy!“ stürzte sie auf ihn zu, riß ihn in ihre Arme und bedeckte ihn mit heißen Küssen. Der Knabe, überrascht und bestürzt, duldete das im ersten Augenblick, dann aber sträubte er sich gegen die Liebkosungen.

„Laß mich!“ rief er und versuchte sich loszumachen. „Laß mich los! Du sollst mich nicht küssen, ich leide es nicht!“

Zenaide zuckte schmerzvoll zusammen bei diesem Tone und dieser Abwehr; aber freilich, das Kind hatte sie ja so lange nicht gesehen, die Mutter war ihm fremd geworden!

„Percy, kennst Du mich denn nicht mehr?“ schmeichelte sie mit stürmischer Zärtlichkeit. „Ich bin’s ja, Deine Mama, die Dich so grenzenlos lieb hat. O, das sind noch Deine großen Augen, das ist Dein süßes, süßes Gesichtchen! Mein Kind, mein Alles, endlich habe ich Dich wieder! Willst Du Deine Mama nicht lieb haben?“

Sie schloß ihn von neuem in die Arme und überströmte ihn mit leidenschaftlichen Liebkosungen. Die zärtlichen Schmeichellaute schienen in der That in dem Kinde eine Erinnerung an frühere Zeiten zu erwecken, wo die Mutter noch bei ihm weilte, es schaute sie groß an und wandte dann den Kopf fragend nach dem Vater zurück.

Lord Marwood stand einige Schritte entfernt, ohne das Wiedersehen zu stören, und jetzt sagte er, wie zur Antwort auf die stumme Frage: „Gewiß, Percy, es ist Deine Mama. Du weißt es ja, daß sie so lange fort gewesen ist.“

Die Worte klangen schneidend scharf und sie mußten wohl eine Bedeutung für den Knaben haben, denn er riß sich plötzlich ungestüm los.

„Nein, ich will Dich nicht lieb haben!“ rief er zornig. „Du hast mich auch nicht lieb. Du hast mich und den Papa allein gelassen und bist fortgegangen, weit fort. Du bist so bös! Ich will bei meinem Papa bleiben; geh wieder fort, ich mag Dich nicht!“

Zenaide war totenbleich geworden, ihr Auge suchte ihren Gatten, der scheinbar ganz unbewegt dastand, aber sie sah den Triumph in seinen Zügen und mit halb erstickter Stimme stieß sie hervor: „Das ist Ihr Werk!“

„Was, Mylady?“ gab er eisig zurück. „Daß Percy seinen Vater liebt, der ihn erzog, und nicht die Mutter, die ihn verließ? Ich meine, das ist nur natürlich.“

„Percy, komm zu mir!“ rief Zenaide außer sich. „Du sollst zu mir kommen, Du mußt mich lieben! Percy, hörst Du nicht?“

Es lag eine Todesangst in dem verzweifelten Ausruf, aber der Knabe hörte nur das Gebieterische darin und jetzt flammte sein ganzer Trotz auf.

„Nein – nein!“ schrie er mit einer Leidenschaftlichkeit, die nur zu sehr an die Mutter erinnerte, „ich will nicht zu Dir! Komm mir nicht nahe!“ Und als sie trotzdem versuchte, sich ihm zu nahen, schlug er nach ihr und floh zu seinem Vater, an den er sich anklammerte.

Marwood legte den Arm um seinen „Sohn und Erben“ und um seine Lippen spielte wieder dasselbe grausame Lächeln wie vorhin, als er ging, ihn zu holen. Er hatte ja den Verlauf der Sache vorausgewußt.

„Ich glaube, das erledigt unsern Streitpunkt,“ sagte er. „Sie werden schwerlich wünschen, daß sich derartige Begegnungen wiederholen. Es muß ja peinlich sein für Sie, und Percy leidet auch darunter. Ich bin überzeugt, jetzt werden Sie auf meine Bedingung eingehen, und dann – ich wiederhole es Ihnen – sind Sie frei und können ganz Ihren Neigungen leben!“

Er hatte kein Erbarmen mit der gequälten Frau und ersparte ihr selbst in diesem Augenblick nicht den hämischen Spott; aber das wurde nicht mehr gefühlt. Zenaide war verstummt, seit sich die kleine Hand dort gegen sie gehoben hatte. Nur ein Blick voll Todesqual fiel noch auf das Kind, dann brach sie zusammen und die furchtbare Erregung machte sich in einem Weinkrampf Luft.

War es jener Blick oder das verzweiflungsvolle Weinen, Percy schien jetzt erst zu fühlen, daß er der Mutter wehegethan hatte. Er blickte erst zu dem Vater empor, dann zu ihr hinüber und sagte endlich scheu und leise: „Mama weint!“

Der Lord runzelte die Stirn; Krämpfe und vielleicht gar Ohnmachten, das fehlte nur noch! Wollten die Scenen denn gar kein Ende nehmen? Er trat zu seiner Gemahlin.

„Ich bedaure, Mylady. Ich hatte gewünscht, Ihnen diesen Auftritt zu ersparen, aber Sie haben ihn erzwungen. Ich fürchte, daß meine Nähe Ihnen jetzt peinlich ist, und will Sie davon befreien. Komm, Percy!“

Er nahm die Hand seines Sohnes und wollte ihn hinausführen, aber Percy zögerte. Er blickte noch immer zu der Mutter hinüber und wiederholte fast bittend: „Mama weint so sehr!“

Die Falte auf der Stirn Marwoods vertiefte sich, er zuckte die Achseln.

„Mama ist unwohl, wir werden ihr Hilfe senden,“ sagte er kurz und zog den Knaben mit sich fort; dieser folgte auch, aber auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um und sah zurück. Es war, als habe das Kind eine Ahnung von der Grausamkeit, die bis auf den Tod verwundete Frau jetzt allein zu lassen. –

Es war Nachmittag geworden. In Malsburg war man soeben vom Tische aufgestanden, Mistreß Hartley hatte sich zurückgezogen und die beiden Herren gingen auf der Terrasse auf und nieder, während Percy mit dem großen Bernhardiner spielte. Bei Lord Marwood hatte die erregte Scene, die vor einigen Stunden hier stattgefunden, anscheinend gar keinen Eindruck hinterlassen, er gab sich mit voller Behaglichkeit dem Genuß seiner Cigarre hin. Hartley dagegen war ernst und nachdenklich und es lag ein Vorwurf in semer Stimme, als er jetzt sagte: „Ich fürchte, Du bist sehr hart gewesen, Francis. Lady Marwood sah furchtbar aus, als ich sie zum Wagen geleitete.“

„Ich bin nur fest geblieben und das ist solchen excentrischen Naturen gegenüber eine unbedingte Notwendigkeit,“ erklärte Francis gelassen. „Diesem ewigen Stürmen und Drängen nach dem Kinde mußte endlich einmal ein Ende gemacht werden.“

Hartleys Miene verriet, daß er mit seinem Freunde nicht einverstanden war, aber er schwieg und hob erst nach einem kurzen Stillschweigen wieder an: „Du willst also die Scheidung jetzt unverzüglich einleiten?“

„Gewiß, sobald ich nach England zurückgekehrt bin. Jetzt brauche ich mir den Alleinbesitz Percys nicht erst gerichtlich zu erstreiten und die Scheidung vollzieht sich ohne jeden Skandal – das ist die Hauptsache.“

Für Lord Marwood schien dies wirklich die Hauptsache zu sein. Er sah ungemein befriedigt aus, als er die blauen Wölkchen seiner Cigarre in die Luft blies, und ruhig zu einem anderen Thema übergehend, fuhr er fort: „Wie steht es denn mit unserer Bootsfahrt? Es wird nun wohl Zeit dazu, die Hitze hat ja nachgelassen und jetzt macht sich der Wind auf, gerade recht zum Segeln.“

Hartley blickte nach den Bergen hinüber, die sich immer mehr verschleierten, dann entgegnete er etwas bedenklich: „Da drüben scheint sich ein Wetter zusammenzubrauen, und wenn der Wind umspringt, faßt es uns gerade auf dem See.“

„Thorheit! Das Wetter droht schon den ganzen Tag und hier auf dem friedlichen Alpensee hat es doch überhaupt keine Gefahr.“

„Unser See ist nicht so harmlos wie Du glaubst. Du hast ihn noch nicht im Sturme gesehen; dann ist er so tückisch und gefährlich wie das Meer. Indessen, wenn Du Lust hast, ich bin bereit; aber ich denke, wir lassen Percy diesmal zu Hause.“

„Weshalb? Er freut sich immer so auf die Bootsfahrt.“

„Aber wenn sie stürmisch wird –“

„Nun, dann lernt er das eben kennen. Ich will keinen Weichling aus meinem Sohn machen, er hat ohnehin Anlage dazu, von der Mutter her.“

„Es wird auch nichts zu sagen haben,“ meinte Hartley, mit einem nochmaligen prüfenden Blick auf das Gewölk, „und im Notfall können wir anderswo anlegen.“

„Ich werde nach dem Boote sehen,“ sagte Marwood. „Geh hinauf, Percy, und laß Dich fertig machen, wir fahren bald.“

Er schritt die Stufen hinunter und ging nach dem Strande, wo das Boot lag. Hartley folgte ihm, blieb aber noch einen Augenblick bei dem kleinen Percy stehen, der heut’ ungewöhnlich still war. [344] Er jagte sich nicht wie sonst lustig mit dem Hunde umher, sondern streichelte ihn nur, und dabei waren seine Augen mit einem träumerischen Ausdruck auf den Weg gerichtet, der am Ufer hinführte.

„Nun, Percy, jetzt geht es auf den See hinaus, Du liebst das ja so sehr,“ sagte Hartley. Der Knabe pflegte das sonst stets mit hellem Jubel zu begrüßen, diesmal aber nickte er nur stumm, zur Verwunderung des Hausherrn, der befremdet fragte: „Was hast Du denn heute, mein Junge?“

„Papa hat mich gescholten, weil ich von Mama sprach,“ sagte Percy halblaut, und plötzlich drängte er sich dicht an Hartley und fragte dringend: „Ist es wahr, daß Mama so böse ist, daß sie mich gar nicht lieb hat? Sie hat doch so sehr geweint.“

Hartleys Stirn verfinsterte sich, er strich über das Haar des Knaben und sagte begütigend: „Frage nicht, Percy, das sind Dinge, die Du noch nicht verstehst. Geh jetzt hinauf und hole Dir Dein Matrosenhütchen und wenn ich neben Dir sitze, darfst Du auch das Steuer halten.“

Darüber pflegte Percy sonst entzückt zu sein. Er war ungemein stolz, wenn er die Hand am Steuer haben und sich einbilden konnte, das Schiff zu lenken; aber heute verfing auch das nicht. Die großen Augen des Kindes blickten wieder träumerisch in die Ferne und leise und traurig wiederholte es: „Mama hat so sehr geweint!“




Das Wetter war heraufgekommen, ein Spätgewitter, das von den Bergen heranzog und jetzt gerade über dem See stand, wo es sich mit voller Macht entlud. Dabei hatte sich ein Sturm aufgemacht, der in seiner Heftigkeit schon der Vorbote des nahenden Herbstes zu sein schien, und die vor wenig Stunden noch so lachende, sonnige Landschaft lag jetzt dicht verschleiert im Regensturm.

Der sonst so friedliche See war in der That tückisch und gefährlich bei solchem Wetter, das wußten alle, die mit ihm vertraut waren, und die zahlreichen Boote, die sich auf der weiten Wasserfläche befanden, flohen denn auch beim ersten Anzeichen der Gefahr mit vollen Segeln den Ufern zu. Es war nicht leicht, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, denn der Sturm brach fast plötzlich los und der große Dampfer, der in der Nähe des Hotels seine Haltestation hatte, kam erst nach einem heftigen Kampfe mit den Wogen und mit genauer Not an das Ufer. Dort landete er die geängstigten Passagiere, aber die nächste Fahrt mußte unterbleiben, das Schiff blieb einstweilen liegen. Auch im Hotel war alles von der Terrasse in das Haus geflüchtet und die Gäste blickten von den Fenstern auf den See, der in seinem wilden Toben ein schauerlich schönes Bild bot.

Nur in einem Zimmer sah und hörte man nichts davon. Lady Marwood hatte sich seit ihrer Rückkehr von Malsburg eingeschlossen und war den ganzen Nachmittag hindurch unsichtbar geblieben. Sonneck und Ehrwald, die sie bei der Ankunft empfingen, erschraken bei ihrem Anblick; aber sie wehrte jede Frage ab und nicht einmal Elsa durfte bei ihr bleiben, sie wollte allein sein.

Erst gegen Abend hatte sie Reinhart zu sich rufen lassen. Er stand jetzt vor der Frau, die wie gebrochen in einem Sessel lag und matt und tonlos sagte: „Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, aber es bedarf dessen nicht mehr. Ich wußte mir keinen Rat in meiner Verzweiflung und der kluge, weise Sonneck bewies mir ja immer wieder von neuem, daß alle meine Pläne unsinnig, unmöglich, unausführbar seien. Sie wären nicht davor zurückgeschreckt, ich weiß es, Sie hätten mir geholfen – das ist jetzt zu Ende!“

„Sie haben eine Begegnung mit Lord Marwood gehabt?“ fragte Reinhart.

„Ja!“

„Und Sie haben Ihr Kind gesehen?“

„Ja, mein Kind, das man gelehrt hat, seine Mutter zu hassen! Es wandte sich von mir, weil ich ‚so bös bin‘, es riß sich aus meinen Armen und schlug nach mir – o mein Gott, womit habe ich das verdient!“

In dem Ausruf lag ein so grenzenloses Weh, daß Reinhart unwillkürlich die Hand ballte. „Der Elende!“ murmelte er.

„Nicht wahr, das haben Sie auch nicht geglaubt?“ fragte Zenaide mit zuckenden Lippen. „Er – Marwood – forderte meinen Verzicht auf Percy als Preis meiner Freiheit. Ich bäumte mich auf dagegen und erklärte, nun und nimmermehr einzuwilligen – er hat trotzdem gesiegt. Ich werde den Preis zahlen, mein Kind ist mir ja doch verloren!“

Sie barg das Gesicht in den Händen und brach in ein wildes thränenloses Schluchzen aus; es schien, als wollte der Weinkrampf sich wiederholen. Ehrwald trat rasch zu ihr und beugte sich über sie.

„Zenaide, Fassung, Ruhe! Sie töten sich ja mit diesen endlosen Aufregungen! Ich habe es gefürchtet, daß diese Begegnung so endigen würde, ich eilte hierher, um Sie zurückzuhalten, und kam zu spät. Zenaide, hören Sie mich nicht?“

Seine Stimme und seine Nähe übten die alte Macht über sie aus, ihr krampfhaftes Schluchzen wurde zu einem leisen Weinen und willenlos überließ sie ihm ihre Hand, die er ergriffen hatte und fest in die seinige schloß, während er fortfuhr: „Sie hätten es ahnen können, daß Marwoods Feindseligkeit Ihnen nicht einmal die Liebe Ihres Kindes lassen würde – nun aber reißen Sie sich auch los von diesem Manne, um jeden Preis! Retten Sie sich Ihre Freiheit und wenn Sie sie todeswund erringen! In den Ketten stirbt man an der Wunde – in der Freiheit kann man davon genesen.“

Er sprach mit leidenschaftlicher, glühender Teilnahme. Er maß sich ja die Schuld bei an dem Unglück der Frau, die, als sie ihm entsagen mußte, den Verzweiflungsschritt that und diese Ehe schloß. Aus jedem Worte sprach die Angst um sie, das stürmische Verlangen, sie von der selbstgeschmiedeten Kette zu lösen. Zenaide sah und fühlte das und mitten durch Weh und Schmerz dämmerte es ihr auf wie die Verheißung eines fernen Glückes.

„Genesen?“ wiederholte sie. „Können Sie mir dazu helfen, Reinhart?“

„Wenn ich es könnte! Aber, Sie wissen es ja, ich muß fort, schon in den nächsten Wochen verlasse ich Europa.“

„Und ich mit Ihnen! Ich bleibe nicht länger auf diesem Boden.“

Sie schien sich plötzlich zu diesem Entschluß aufzuraffen. Ehrwald hatte ihre Hand losgelassen und sah sie betroffen und fragend an.

„Sie wollten zurückkehren –?“

„Nach Kairo, ja! Was glauben Sie denn, das mich festgehalten hat in diesem kalten, rauhen Norden? Ich wollte nicht eine so endlose Weite zwischen mich und Percy legen, ich wollte mir die Möglichkeit wahren, ihn wiederzusehen. Was soll ich jetzt noch hier? Ich kehre zurück in meine Heimat, in mein Sonnenland – unser Weg ist der gleiche.“

„Ich gehe in das Innere Afrikas, Zenaide,“ sagte Reinhart ernst. „Es kann Jahre dauern, ehe ich wieder nach der Küste zurückkehre.“

„Ich weiß,“ entgegnete sie leise. „Ich werde lange, lange allein sein und ich muß ja auch erst losgesprochen werden von jenem Band. Aber ich will geduldig harren, auf meine Freiheit und – auf Dich!“

Ehrwald erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie sah es nicht, denn in ihren Augen standen noch die heißen Thränen, als sie weiter sprach: „Du hast es ja nicht ausgesprochen, nicht aussprechen wollen, was wir doch beide wußten, und ich habe Dir oft gezürnt deswegen. Doch Du hattest recht – nun können wir uns ohne Vorwurf in die Augen sehen. Jetzt aber, wo wieder eine Trennung über uns verhängt wird, wo Du wieder hinausziehst in Kampf und Gefahr, jetzt muß es doch gesagt werden!“

Draußen jagten die schwarzen Gewitterwolken an den Fenstern vorüber, sie hüllten das Gemach in halbe Dämmerung und warfen ihren düsteren Schatten auf das Antlitz des Mannes, in dem es zuckte wie innerer Kampf und mühsam verhaltene Qual. Nun sollte er sprechen und der Frau, die so fest an seine Liebe glaubte, die sich daran klammerte wie an einen Rettungsanker, den Todesstoß geben! Sie war in diesem Augenblick so ganz wieder die Zenaide von einst, das holde Geschöpf, das noch unberührt von all den Stürmen, welche die Zukunft barg, mit so sehnsüchtigen Augen in das Leben hinausblickte und auf das Glück wartete. Es lag eine unendlich weiche, rührende Hingebung in ihrem ganzen Wesen, als sie, ohne sein seltsames Verstummen zu bemerken, sich erhob und zu ihm trat.

„Du hast mich geliebt, Reinhart, Du hast um mich geworben, aber Dein harter, böser Stolz wollte sich nicht beugen, und das haben wir beide so schwer büßen müssen. Nun stehst Du ja auf der einst erträumten Höhe und kannst Deiner Zenaide die Hand

[345]

Das Schmücken der Havelkähne zu Pfingsten.
Nach einer Originalzeichnung von W. Pape.

[346] bieten, die sie schon damals so gern, ach, so gern genommen hätte, als der junge, unbekannte Fremdling sie ihr bot. Diese Erinnerung allein hat mich ja festgehalten im Leben, in jener furchtbaren Zeit, wo ich an allem verzweifelte, sie allein hat mich bewahrt vor der Versuchung, wenn ich sah, daß so viele mir zu Füßen lagen, und ich war so grenzenlos allein. Du glaubst der Verleumdung nicht, Reinhart, ich weiß es, Du glaubst mir, wenn ich Dir sage, daß ich es wert bin, Dein Weib zu heißen! Nun, so nimm mich hin! Ich habe ja nichts mehr auf der Welt als Dich allein – Dich und Deine Liebe!“

Durch das Zimmer zuckte ein greller Blitz und ein lang’ anhaltender Donner rollte über den See hin. Reinhart hatte sich emporgerichtet, noch ein tiefer, qualvoller Atemzug rang sich aus seiner Brust empor, dann sagte er fest: „Zenaide – ich kann nicht lügen!“

Was war das für eine seltsame Antwort? Zenaide bebte zusammen und sah ihn groß und fragend an. Er zögerte noch eine Sekunde lang, dann kam das Geständnis dumpf und leise von seinen Lippen:

„Ich weiß es, was Du mir mit Deiner Hand bietest, weiß, was ich zum zweitenmal verliere. Vielleicht sollte ich es trotz alledem an mich reißen und Dich in Deinem Wahn lassen, aber ich will Dich nicht mit einer Lüge erkaufen. Du forderst von Deinem künftigen Gatten die volle, heiße Liebe, und die kann ich Dir nicht geben – ich liebe eine andere!“

Nun war es ausgesprochen … Es folgte eine lange, schwere Pause, draußen zuckten die Blitze unaufhörlich und um das Haus tobte der Gewittersturm. Hier drinnen aber war es totenstill geworden. Zenaide fuhr nicht auf, regte sich nicht, sie stand da, als habe eine Eiseshand sie berührt und alles, was von Leben in ihr war, erstarren lassen.

„Nun weißt Du es,“ hob Ehrwald endlich wieder an. „Ich war Dir die volle Wahrheit schuldig, und wenn sie grausam ist Zenaide, hörst Du mich nicht?“

Sie strich langsam mit der Hand über die Stirn, als wollte sie die Gedanken zurückrufen, und wiederholte mechanisch, mit völlig ausdrucksloser Stimme: „Ja, ich höre – Du liebst eine andere – wer ist es?“

„Erlaß mir das, ich bitte Dich! Ich werde sie nie besitzen, sie ist unnahbar, unerreichbar für mich, und wenn ich jetzt hinausziehe in die Ferne, sehe ich sie niemals wieder. Verzeih’ mir dies Geständnis – ein Glück hast Du mir nicht zu verzeihen, es ist mir verloren wie Dir.“

Zenaide stand noch immer da und sah ihn an, als wollte sie in seinem Gesichte den Namen lesen, den er ihr verschwieg, auf einmal aber zuckte die Wahrheit vor ihr auf.

„Elsa!“ schrie sie auf. „Sie ist es!“

Er schwieg und senkte den Blick zu Boden.

„Sprich, ich will es wissen! Du liebst Elsa?“

„Ja – das Weib meines Freundes! Und schon der Traum von Glück ist Verrat an ihm. Ich muß fort, für immer.“

Zenaide raffte ihre ganze Kraft zusammen, sie wollte nicht zusammenbrechen vor seinen Augen.

„Geh!“ sagte sie kaum hörbar. „Laß mich allein!“

Er trat wie in aufflammender Reue einen Schritt näher.

„Hätte ich schweigen sollen? Bin ich denn dazu verdammt, Dir immer nur Weh und Schmerz zu bringen – es ist wie ein Verhängnis zwischen uns!“

„Geh!“ wiederholte Zenaide mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit. „Verlaß mich! Ich kann nicht mehr! Sei barmherzig und laß mich allein!“

Reinhart sah es in der That, daß er ihr jetzt nicht nahen durfte. Gehorchen war die einzige Schonung, die er üben konnte; er wandte sich zum Gehen.

„Vergieb – ich konnte nicht anders – lebe wohl!“

Die Thür schloß sich hinter ihm, Zenaide war allein. Aber diesmal folgte kein leidenschaftlicher Ausbruch, dieser letzte, schwerste Schlag hatte zerschmettert, was noch von Kraft in ihr war.

Diese nie vergessene, nie überwundene Jugendliebe hatte sie wie ein Heiligtum in ihrem Innern gehütet, und so bitter sie auch Reinharts Stolz anklagte, der die Trennung verschuldet hatte, an seiner Liebe hatte sie nie gezweifelt, daran hatte sie fest und unverbrüchlich geglaubt. Nun lag auch das in Trümmern – sie fühlte es in diesem Augenblick, er hatte sie nie geliebt!

Also Elsa! Sie hatte ihn die Leidenschaft kennen gelehrt. Freilich, er hatte ja schon unbewußt das schöne wilde Kind geliebt, weil es ihm widerstand, weil es ihm trotzte, und jetzt liebte er die schöne herbe Gattin seines Freundes, die ihm so eisig kalt gegenüberstand. Sie war ihm verloren, aber er opferte ihr doch die Frau, die ihm mit so grenzenloser Hingebung ihr ganzes Dasein bot, er wollte kein anderes Glück.

Der Sturm riß plötzlich das nicht fest geschlossene Fenster anf, die Flügel schlugen klirrend auseinander und der Regen sprühte herein. Zenaide blickte auf, sie erhob sich langsam und schritt dorthin. Ihre großen, dunklen Augen leuchteten geisterhaft aus dem totenblassen Antlitz, als sie sich an das Fenster lehnte und hinausblickte auf den stürmenden See … Wie wild die Wogen brausten und schäumten! … Aber unter ihnen war die Tiefe – die Ruhe!

Es war nicht das erste Mal, daß Zenaide Marwood diesen zugleich lockenden und drohenden Stimmen Gehör gab. Sie raunten in ihr oft genug und suchten sie in einen Bannkreis zu ziehen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab, aber sie verstummten immer wieder vor einer Erinnerung, die nie erloschen war. Das junge Mädchen hatte auch einst geträumt von einem großen, endlosen Glück, und es war ja auch erschienen, wie eine leuchtende Fata Morgana – und wieder entschwebt. Aber die Sehnsucht danach war geblieben und flüsterte immer wieder, daß es noch nicht zu Ende sei, daß das Glück wiederkehren werde mit dem, der es mit sich genommen hatte in weite Ferne. Nun war der Mann ihrer Liebe zurückgekehrt und mitten aus Weh und Schmerz tauchte das Traumbild wieder auf, goldig und verklärend. Sie streckte die Arme danach aus, sie wollte sich daran klammern – da zerfloß höhnend das Truggesicht und sie war allein, allein in der pfadlosen Wüste!

Zenaide richtete sich empor mit der Ruhe eines unabänderlichen Entschlusses. Sie fühlte in diesem Augenblick nichts mehr von der Qual der letzten Stunden, in ihr war alles leer und tot. Nur einmal noch zuckte ein dumpfes Weh auf, als sie nach Malsburg hinüberblickte, wo ihr Kind sich so ungestüm aus ihren Armen gerissen, wo seine Hand sich zum Schlage gegen sie erhoben hatte. Nun, Percy sollte seine Mutter nicht mehr hassen, man würde es ihm ja bald sagen, daß sie tot sei!

Sie holte aus dem Nebenzimmer ihren dunklen Reisemantel, hüllte sich darein, zog die Kapuze fest über den Kopf, um möglichst unerkannt zu bleiben, und trat dann den letzten Gang an.

(Fortsetzung folgt.)




Karl Goldmark und seine Oper „Das Heimchen am Herd“.

(Mit dem Bilde S. 353.)

Am Herde des Herrn Goldmark, der vor sechzig, siebzig Jahren die Stelle eines Gemeindeschreibers im kleinen ungarischen Städtchen Keszthely bekleidete, fehlte meistens weit mehr als nur ein – Heimchen.

Vierundzwanzig Kinder waren dem braven Manne nach und nach erwachsen. Das sagt alles! Der drittälteste aus der Schar, Karl Goldmark, ist der heutzutage weltbekannte Komponist. Dieser ist entweder 1830 oder 1832 geboren. Zwei Familienpapiere machen nämlich über das Datum verschiedene Angaben. Von den Mühen und Anstrengungen geregelten Schulunterrichtes fast gänzlich verschont geblieben, verlegte sich der Knabe schon frühzeitig auf das Violinspiel, nahm dann in Oedenburg – wohin er mit Geige und Noten zwei Stunden weit zu laufen hatte – ordentlichen Unterricht und konnte 1843 bereits als der beste Schüler in einem Musikvereinskonzerte daselbst öffentlich auftreten, bei welchem Anlasse er auch etwas ihm bisher völlig Unbekanntes sah – ein Klavier (Pirkhert aus Wien hatte ein Konzert gespielt). Bald nach diesem Ereignisse erhielt Goldmark auch die ersten, großen [347] theatralischen Eindrücke, indem er auf der damals unter Pokornys, des bekannten Wiener Theaterdirektors, Leitung stehenden Oedenburger Bühne Raimunds „Verschwender“ und Weigls „Schweizerfamilie“ zu hören bekam. 1844 berief der in Wien Medizin studierende, bald darauf durch seine Anteilnahme an der Wiener Revolution bekannt gewordene älteste Bruder Goldmarks den Jungen zu sich. Hier wurde der künftige Meister in die Geheimnisse des Schreibens, Lesens und Rechnens eingeweiht und konnte eine Zeit lang bei Jansa Violinstunden nehmen, deren Fortsetzung jedoch wegen Geldmangels bald unterbleiben mußte. Eine Zeit härtester Entbehrungen begann (1846). Der Bruder erklärte, für Karl nur dann wieder etwas thun zu wollen, wenn dieser die Absicht, Musiker zu werden, aufgebe und die zum Eintritte in das Technikum nötige Prüfung aus den Mittelschulgegenständen mache.

Alsbald stürzte sich der wißbegierige Junge auf die realen Studien und bestand glücklich im Jahre 1847 in Wiener-Neustadt die Prüfung, worauf im Oktober desselben Jahres der Eintritt in das Technikum und gleichzeitig ins Konservatorium erfolgte. So hörte der junge Musikus bei Prof. Spitzer Algebra, geigte, und studierte Harmonielehre bei Preyer, dem noch lebenden Wiener Domkapellmeister. Die Wirren der Revolution, welche den Abgang Dr. Goldmarks von Wien zur Folge hatten und eine Zeit lang auch unseren geigenden Techniker in ihren gefährlichen Wirbel zogen, machten allem Studium ein Ende und Goldmark sah sich gezwungen, im Winter 1848 bis 1849 eine Violinistenstelle am Oedenburger Theater anzunehmen. Hier trat er auch einmal mit Erfolg als Konzertsolist auf. 1849 bis 1850 finden wir ihn als Violinspieler am Theater in Ofen, in einer Stellung, welche er, ohne anderweitige bestimmte Absicht auf Gründung einer Existenz, aufgab, um sich nach Wien zu wenden. Im Winter 1850 bis 1851 zuerst durch etliche Monate Mitglied des Josefstädter Theaterorchesters, vertauschte er diese Stellung im Sommer 1851 mit einer gleichen am Carl-Theater und behielt dieselbe durch sieben Jahre inne.

Um sich in weiteren Kreisen Geltung zu verschaffen, gab Goldmark 1857 ein Kompositionskonzert, das ihm allgemeine Anerkennung eintrug. 1858 zog er sich nach Pest zurück, nur seinem Schaffen lebend. Schon im nächsten Jahre finden wir ihn wieder in Wien, wo er nun Schlag auf Schlag Erfolge und eine erste Stellung als Komponist erringt. Schon die „Sakuntala“-Ouverture (etwa 1870 erschienen) hatte den Namen des Meisters weithin getragen, noch mehr aber die große Oper „Die Königin von Saba“, deren erste Aufführung in Wien am 10. März 1875 stattfand und die einen Ruhmeszug über die Bühnen der alten und neuen Welt antrat. Weniger Glück hatte Goldmark mit seiner zweiten Oper „Merlin“ (Text von Siegfried Lipiner), die am 19. November 1886 in Wien das Lampenlicht erblickte, ohne mehr als vorübergehende Wirkung zu üben. Auch eine teilweise Neubearbeitung, die am 4. März 1893 ihre Erstaufführung erlebte, gestaltete das Werk nicht lebensfähiger.

Erst mit seiner dritten Oper, „Das Heimchen am Herd“, machte Goldmark wieder einen „Treffer“. Sie ist am 21. März dieses Jahres am Wiener Hofopernhaus zuerst in Scene gegangen und hat dabei eine ungemein warme Aufnahme gefunden.

Dickens’ rührendes gleichnamiges Hausmärchen, das längst auch in Deutschland zu großer Volkstümlichkeit gelangt ist, lieferte dazu den Stoff, den Dr. A. Willner, ein genauer Kenner des Theaters, den Anforderungen der Bühne entsprechend umgestaltet hat. Der leitende Gedanke, das Heimchen als einen kleinen Hausgott aufzufassen, welcher die Vorgänge im Hause mit treuer Teilnahme begleitet, sich als Warner einstellt, wenn Unrecht geschieht, und fröhlich mit aufjubelt, wenn Freude das Herz bewegt, birgt in sich ein ergiebiges musikalisches Motiv für opernhafte Gestaltung.

Den Mittelpunkt des Märchens bildet Frau Perrybingle, von ihrem um vieles älteren Manne, dem Postillon John Perrybingle, für gewöhnlich mit dem Kosenamen „Dot“ angesprochen. Vor wenigen Monaten wurde die trotz des Unterschieds der Jahre sehr glückliche Ehe durch die Geburt eines Kindes gesegnet. Es gab nun kein seligeres Paar in Old-England als Herrn John und Frau Dot. Da will es der Zufall, daß der brave Fuhrmann eines Abends einen tauben alten Herrn mitbringt, der für ein paar Tage nur Obdach ersucht. Es ist Eduard, ein Jugendgespiele Dots, der, nach jahrelanger Abwesenheit in die Heimat zurückkehrend, in dieser Verkleidung das beste Mittel erkennt, um, von den andern unbeobachtet, ein wichtiges Geschäft, seine Verbindung mit Mariechen Fielding, zu betreiben. War er auch als erklärter Bräutigam des geliebten Mädchens von dannen gezogen, so hatte dieses inzwischen doch viel von den zudringlichen Werbungen des reichen Spielwarenhändlers Tackleton zu leiden, der von der Mutter Mariechens, einer eitlen, zänkischen Frau, als willkommener Werber begünstigt wurde. Das erfuhr Eduard in der Fremde, deshalb kehrte er zurück. Frau Dot soll ihm beistehen, ihr giebt er sich plötzlich zu erkennen. Sie schreit laut auf …. vor ihrem Manne verbirgt sie aber den Grund ihrer Erregung. John macht sich Gedanken, die aber erst dann den Charakter quälenden Mißtrauens annehmen, als er seine Frau im heimlichen Gespräche mit dem „Fremden“ erspäht, wobei dieser seine weiße Perücke in der Hand trägt … Seine Frau hält es also mit einem andern, einem jungen …! Der verzweifelte John langt nach seiner Flinte, faßt sich aber wieder und wird gar anderen Sinnes, als sein guter Hausgeist, das Heimchen, ihm zuredet und viel Süßes von der Treue seiner kleinen Frau zu sagen weiß. Es kommt zu einer Aussprache zwischen den Eheleuten, einer Scene, wie sie inniger und herrlicher kaum je ein Dichter geschrieben. Frau Dot enthüllt das Geheimnis und erklärt dem braven John, daß sie „des Wahnes Faden“ gelenkt und – Eduard und Mariechen ein Paar werden. Das geschieht denn auch, Tackleton muß auf seine Angebetete verzichten und findet sich schließlich noch ganz liebenswürdig in das Unvermeidliche.

Der Textdichter von Goldmarks Oper hat die Fabel dieser Erzählung mit praktischer Hand dramatisch gestaltet, durch heitere Volksscenen und blendende Bühnenbilder belebt und dadurch möglich gemacht, daß die zarte, intime Geschichte überhaupt in den prunkvollen Rahmen einer modernen Oper gefaßt werden konnte. Das Heimchen ist als Bühnenerscheinung zu einer Elfe geworden und diese Umwandlung wurde zum Anlaß von glänzenden Elfenballettscenen. Doch ist der Oper auch viel von dem schlichten idyllischen Charakter des Dickens’schen Märchens erhalten geblieben, so auch die rührende Versöhnungsscene des Schlusses, welche unser Bild auf S. 353 vergegenwärtigt. Sie kommt damit einer Wandlung des Geschmacks entgegen, die sich überhaupt gerade jetzt in weiteren Kreisen zu vollziehen scheint. Man lenkt nach der Seite des Einfacheren, Volkstümlichen ein, was unter allen Umständen als ein Gewinn bezeichnet werden muß.

Zu dem mit vielem Geschicke zugerichteten Buche Willners hat nun Goldmark eine durchweg effektvolle, stellenweise auch bedeutende Musik geschrieben, die vor manchen seiner früheren Sachen den stärker anklingenden Gemütston voraus hat. Eine so herzinnige Stelle wie Frau Dots Liedchen: „Hab’ Dich auch ohne Geschmeide gern“, kommt in keiner früheren Goldmarkschen Oper vor, etwas so Warmes wie das Duett zwischen Mary und Eduard im dritten Akte nur selten. Diese Stücke und noch manche andere zeigen den Meister von seiner besten Seite. Da ist er ganz Goldmark, ganz Original.

In vielen Partien der Oper, namentlich in den komischen, hat der Komponist – mit Absicht – Töne angeschlagen, die zwar dem dramatischen Zweck vollkommen entsprechen, aber nicht so sehr aus dem innersten, uns wohl bekannten Wesen des Meisters hervorquellen. Es sind altwienerische und oberösterreichische Klänge, die dem abwechselnd in Wien und Gmunden lebenden Künstler im Laufe der Zeit vertraut und lieb wurden. Von solchen Elementen sind die Ouvertüre, sämtliche Lieder Tackletons, der Entreakt und die prächtige Spottscene im dritten Akte, sowie vieles andere förmlich durchtränkt. Die Instrumentation der neuen Oper gehört zum Allerschönsten, was auf diesem in neuerer Zeit doch mit größtem Raffinement gepflegten Gebiete geleistet wurde. Ein Glanz sondergleichen strahlt vom Orchester aus, dem der Meister eine Menge bisher nicht erhörter Klänge zu entlocken weiß, von dem er aber auch stellenweise das Seltenste, Kühnste, Schwierigste verlangt. Die Gesangspartien sind dagegen verhältnismäßig leicht auszuführen und lohnen reichlich die darauf verwendete Mühe. R. Heuberger.     




[348]

Anhalts Schlösser.

Von Professor Dr. Büttner Pfänner zu Thal.0 Mit Illustrationen von O. Günther-Naumburg.


Schloß zu Ballenstedt.

Den Garten Deutschlands hat man das wald- und wiesenreiche Anhaltland genannt, und in der That, von den Höhen des Harzes bis zu den schattigen Ufern der Elbe wechseln Feld und Wald so wohlthuend und verleihen der weiten großen Ebene einen so hohen landschaftlichen Reiz, daß wohl auf wenig Gegenden des deutschen Vaterlandes besser als auf diese die Worte des Dichters angewandt werden können:

Das Korn wächst dort in langen schönen Auen
Und wie ein Garten ist das Land zu schauen!

Ja, jede Stadt, jeder Marktflecken und fast jedes Dorf bietet so mannigfaltige Naturschönheiten, daß es sich lohnte, dort ein Schloß oder ein „fürstlich Lusthaus“ anzulegen, und nur daher kann man es sich erklären, daß die Zahl der im Herzogtum Anhalt sich erhebenden Burgen und Schlösser die Hundert weit übersteigt. Es ist nun aber auch gerade dieses Land seit altersher ein Mittelpunkt der Kultur gewesen, und schon die vielen Hünengräber bei Bernburg und Köthen sowie die zahlreichen Urnenfelder bei Dessau und Zerbst geben Zeugnis von der hohen Bedeutung desselben zur Zeit der Uranfänge deutscher Geschichte. Später, nach der Völkerwanderung, wurde es der Zankapfel zwischen Sachsen und Schwaben und der mit dem Schwerte der Karolinger eingeführte Glaube an den Erlöser faßte gerade hier festen Fuß, um unter dem Kreuzeszeichen eine weithin wirkende segensreiche Thätigkeit für Wissenschaft und Bildung zu entfalten. Schon im Jahre 806 war Bernburg und besonders das ihm an der Saale gegenüberliegende Waldau so bedeutend, daß Karl der Große dorthin eine große Fürstenversammlung – den ersten deutschen Reichstag – einberief, und ein Jahrhundert später blühten unter dem mächtigen Scepter des Markgrafen Gero und seiner Nachfolger, besonders in der Harzgegend, reiche Klöster wie Frose, Gernrode und Thankmarsfeld empor.

Mit dem Aussterben der alten Markgrafen der Ostmark im Jahre 1034 erscheint der Stammvater des Askanischen Fürstengeschlechtes, Graf Esico. Er war ein Verwandter des großen Gero und seine Herrschaft erstreckte sich vom Harz bis zur Mulde. Neben seiner Stammburg in Aschersleben, von der sein Geschlecht den Namen Ascanier führt, hielt er es für geboten, noch zwei andere feste Plätze, die Burgen Anhalt und Ballenstedt, im Harz zur Sicherung seiner Grafschaft anzulegen. Während er die letztere zu seinem Hauptsitz machte, galt ihm die tiefer im Harz auf einem steilen Bergkegel gelegene Burg Anhalt mehr als Festung, auf die er sich im Kriegsfalle zurückziehen konnte. Erst sein Neffe Otto der Reiche baute dieselbe weiter aus und verlegte seinen Wohnsitz hierher, nachdem er Ballenstedt in ein Benediktinerkloster verwandelt hatte.

Das Schloß in Dessau.

Nur wenige Zeugen sind hier noch aus jener Zeit vorhanden. In dem alten festen dreigiebeligen Turme befindet sich die Gruft des anhaltischen Fürsten Adelbert, der durch die meuchlerische Hand Eginos von Konradsburg auf der Jagd erschlagen wurde. Noch heute soll, wie die Volkssage berichtet, in des Jahres letzter Stunde der Mörder erscheinen, um am Grabe seines Opfers im Gebet Ruhe zu finden. Aber die Stunde der Erlösung ist noch nicht gekommen: alle Fenster und Thüren sind verschlossen und er muß unverrichteter Sache wieder abziehen. In demselben Turme ruht auch jener gewaltige Kriegsheld, der einst in der Mark Brandenburg den Grund legte zu jenem herrlichen Bau, den die Hohenzollern weiter geführt und mit der deutschen Kaiserkrone gekrönt haben. Es ist Albrecht der Bär, der hier mit seiner Gemahlin Sophie beigesetzt ist. Je ein großer Stein, in welchen Höhlungen für Körper und Kopf eingehauen sind, und der mit einer Steinplatte geschlossen ist, bildet den Sarg.

Außer dem großen Turm haben nur noch einige wenige Reste der Krypta sowie das alte Refektorium der Mönche dem Sturme der Zeiten getrotzt. Der Bauernkrieg bereitete wie allen Burgen und Klöstern im Harz so auch dem Ballenstedter ein jähes Ende, und die prächtige Kirche, welche, den Resten nach zu schließen, wohl der gewaltigste Bau der romanischen Zeit in dieser Gegend [349] gewesen ist, wurde 1748 von Fürst Viktor Friedrich von Anhalt-Bernburg, der seine Residenz hierher verlegte, niedergerissen. Auf ihren Grundmauern sind Wohnräume und eine kleine Schloßkapelle aufgebaut, und an Stelle der alten Klosterräume traten im 17. und 18. Jahrhundert große schmucklose Gebäude mit Portalen im Zopfstil. Das Schloß war bis zum Aussterben der Linie Bernburg, 1863, Residenz derselben und wird nun wegen seiner herrlichen Lage am Abhange des Harzes und besonders der wundervollen Umgebung halber vom jetzt regierenden Herzog Friedrich von Anhalt im Frühjahr und Herbst bewohnt.

Wenden wir uns ostwärts von Ballenstedt dem Mittelpunkt des Landes zu, so tritt uns an den Ufern der Saale auf steil zu dieser abfallenden Anhöhe der imposante Bau des Bernburger Schlosses entgegen. Einen geradezu märchenhaften Eindruck macht dies Schloß auf den Beschauer vom gegenüberliegenden Ufer aus. Tritt man aus den dichten Laubwäldern an den Fluß heran ins Freie, so erhebt es sich wie hingezaubert schroff über den bewaldeten und mit Zinnen gekrönten Terrassen in stolzer Majestät mit seinen vielen Giebeln, Türmen und Erkern. Der alte Burgweg zog sich dicht an der Saale entlang in starker Befestigung bis zur Zugbrücke steil empor. Links von dieser ist der Bärenzwinger, in dem heute noch, an den Namen der „Bärenburg“ erinnernd und zum Wahrzeichen, eine Bärenfamilie erhalten wird. Ueber dem Eingang zur Burg erhebt sich der alte viereckige Thorturm, an den sich der älteste Teil der Burg, noch mit Resten einer romanischen Kapelle, anschließt. Nach der Saale zu tritt dann der 1894 niedergebrannte und in alter Form nun wieder aufgebaute Christiansbau hervor. Gegenüber zieht sich das „lange Gebäude“ mit den vielen Giebeln und Erkern hin. Nach der Stadtseite zu erhebt sich der dicke runde Bergfried, der früher frei im Hofe stand, jetzt aber mit dem Hauptteil durch einen Brettergang verbunden ist. Er heißt im Volksmunde der „Eulenspiegel“ und die Sage weiß zu berichten, daß der lustige Spaßmacher hier eine Zeit lang gehaust hat und Wächter und Turmbläser gewesen ist. Daher soll sich der Name von ihm auf den Turm selbst übertragen haben. Die Anlage dieses mächtigen Kolosses ragt wohl auch in das graue Mittelalter zurück und manche Erinnerung an prunkende Turniere und fröhliche Zechgelage, aber auch an manch harten Kampf und Strauß werden in ihm wach, wenn der Mond, der alte Zaubermeister, nachts heraufsteigt und über die vergangenen Zeiten mit ihm plaudert.

Das Schloß in Bernburg.

 Der Bärenzwinger.

Vor allem der Dreißigjährige Krieg brachte hier gar buntbewegtes Leben zur Entfaltung, da bald Kaiserliche, bald Schweden auf der Burg hausten und die Stadt brandschatzten. Aber auch viel glückliche segensreiche Stunden hat die alte Uhr vom Turme verkündet, besonders zu den Zeiten der Reformation, wo Fürst Wolfgang, der Freund Luthers, mit bewundernswürdigem Freimut von hier aus der neuen Lehre den Weg bahnte. Er hat auch in dem westlichen Teil, den er erbaut und der nach ihm der Wolfgangsbau genannt wird, dem Reformationswerk ein bleibendes Denkmal gesetzt, indem er an der einen der Leuchten die Portraits der Reformationsfürsten und ihres Gegners, Kaiser Karls V., anbringen ließ und auf dem ersten der nach dem Burghof zu stehenden Erker die vier Tugenden der Reformation, fortitudo, fides, spes und caritas, also Tapferkeit, Treue, Hoffnung und Barmherzigkeit zur Darstellung brachte.[1]

Im ersten Stock dieses Gebäudes sind die Zimmer des Herzogs, und wenn man den Blick über die Felder und Wiesen, Wälder und Auen schweifen läßt, die sich in smaragdener Herrlichkeit tief unten ausbreiten, dann glaubt man es dem Chronisten gern, wie der Große Kurfürst, der hier öfter wohnte, sich „dermaßen hierin vergnüget befunden, daß er es vor einen der schönsten Prospecten gehalten, so er jemals angetroffen“. Nach der Stadtseite zu war die Burg einst auch mit tiefen Gräben umzogen, sie sind aber längst zugeworfen. Auf der großen freien Terrasse außerhalb vor dem „langen Gebäude“ ließ Fürst Viktor Amadeus, der durch große [350] Bauten und Anlage vieler segensreichen Verkehrswege dem vom dreißigjährigen Kriege ausgesogenen Lande wieder zu neuer Blüte verhalf, einen Orangeriegarten anlegen und sein Sohn erbaute dalelbst 1732 ein Orangeriehaus mit künstlerisch vollendeter Sandsteinfassade in französischem Stile.

Das Schloß in Coswig i. A.

Von den andern Schlössern der Herrschaft Bernburg ist noch das zu Coswig von Bedeutung. Es gehörte zuerst zum Fürstentum Zerbst und fiel nach Erlöschen der dortigen Linie als Erbteil an Bernburg. Auch seine Schicksale sind mannigfacher Art. 1547 wurde es von den Spaniern eingenommen und zerstört; aber Fürst Wolfgang baute es wieder auf und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in stiller Zurückgezogenheit daselbst. In der späteren Zeit wurde es mehrfach Witwensitz anhaltischer Fürstinnen, welche die prächtige Aussicht auf die Elb-Auen und den Strom dem glänzenden Hofleben vorziehen mochten. Nun ist es, seiner Pracht entkleidet, zur Strafanstalt geworden und im Volksmunde hat es eine eigentümliche Bedeutung, wenn man von jemand sagt: er residiert in Coswig. Den Schlössern in Plötzkau und Nienburg a. d. Saale ist es nicht viel besser ergangen. Das eine wurde zur Domäne geschlagen und das andere in eine Fabrik verwandelt. Die Schlösser zu Zerbst und Dornburg, welche als Stammland der Kaiserin Katharina II. von Rußland eine weite Berühmtheit erlangt haben, gehören ihrer Bauart nach der Rokokozeit an. In ihnen finden wir noch die wunderbarsten Stuckarbeiten eines Simonetti und Knobelsdorff, die mit den besten Erzeugnissen ihrer Zeit auf gleiche Stufe gestellt werden können.

Das alte Schloß in Köthen hat sein Aussehen stark verändern müssen, seit die dortige Fürstenlinie ausgestorben ist und das Gebäude der Regierung zur Benutzung überlassen wurde. Die frühesten Anlagen des fürstlichen Hauses wurden 1547 ein Raub der Flammen, und erst Fürst Johann Georg I. ließ an dieselbe Stelle 1597 bis 1602 durch die Schweizer Baumeister Peter und Franz Niuron aus Genf, welche auch beim Dessauer Schloßbau thätig waren, den größten Teil der jetzt noch stehenden Gebäude aufführen. Einen Anblick, derselben gewährt uns der untere Teil unseres Bildes auf S. 351, während der obere den Neubau zeigt, der unter dein vorletzten Herzog Heinrich, welcher zum Katholicismus übertrat, gebaut wurde. Das ganze Schloß war von einem breiten Graben, über den vier Zugbrücken führten, umgeben und außerhalb dieser Gräben legte Fürst Ludwig in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die seiner Zeit weit berühmten Gärten an, welche sich in großer Ausdehnung um das nchloß herum zogen und mit ihren Laubengängen, Bosketten, Tempeln, Lusthäuschen und andern „ergötzlichen“ Anlagen in Deutschland nicht ihresgleichen hatten. Der jetzige Schloßgarten ist nur ein kleiner Rest dieser Herrlichkeiten und in demselben ragt noch eine mächtige Eiche empor, unter welcher einst der für Poesie und Litteratur begeisterte Fürst Ludwig von Anhalt mit den Mitgliedern der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ seine Tafelrunde hielt. Er hatte diesen Orden ins Leben gerufen nach dem Vorbild der berühmten „Accademia della Crusca“ in Florenz, deren Name (crusca heißt Kleie) auf den Zweck hinwies, „die Sprache von Fehlern zu reinigen wie das Mehl von der Kleie“; auch die „Fruchtbringende Gesellschaft“ sollte den Zweck haben, „daß man die Hochdeutsche Sprache in ihrem rechten wesen und stande, ohne einmischung frembder ausländischer Wort, aufs möglichste und thunlichste erhalte etc.“ Als Sinnbild wählte er den Indianischen Palmbaum und die Mitglieder trugen jeder eine goldene Medaille, auf deren einen Seite der Palmbaum mit der Ueberschrift: „Alles zu Nutzen“ und der Unterschrift: „Die Frucht bringende Gesellschaft“ abgebildet war, während auf der anderen sich das Sinnbild mit dem Sinnspruch und der Gesellschaftsname des betreffenden Trägers befand. Fürst Ludwig selbst hatte den Namen „der Nährende“ und als Sinnbild ein Weizenbrot mit dem Wahlspruch: „Nichts Besseres“ angenommen. Der Palmorden fand bald große Verbreitung über ganz Deutschland und neben hohen Herren und Fürsten – selbst der Große Kurfürst hatte sich unter dem Namen „der Untadelige“ eingetragen – bekannten sich die meisten namhaften Gelehrten und Dichter der damaligen Zeit zu dem edlen Panier, das für die Erhaltung der „teutschen Muttersprache“ errichtet war. Im Schlosse zu Köthen aber befand sich der große Sitzungssaal; seine Wände waren mit Teppichen ausgehängt, in welche die Sinnbilder, Namen und Wappen jedes einzelnen Mitgliedes eingewebt waren. Wenn nun auch von all diesen äußeren Dingen nichts mehr im Schlossse zu finden ist, so hat doch der Lauf der Jahrhunderte die Spuren der großen Zeit nicht verwehen können und der Same, den sie ausgestreut in den deutschen Landen, hat reichlich tauseudfältige Frucht gebracht. –

Die Line Anhalt-Köthen war 1847 erloschen und als 1863 der letzte Herzog von Bernburg die Augen schloß, wurde das ganze Land zum Drittenmal seit Bestehen der Askanischen Herrschaft wieder [351] vereinigt, diesmal unter der segensreichen Hand des 1871 verstorbenen Herzogs Leopold Friedrich von Dessau; somit wurde Dessau Residenz des ganzen Landes.

Seit jeher erfreut sich die Stadt des besten Rufes im deutschen Lande. Herrlich ist ihre Lage an der Mulde, unweit der Mündung des Flusses in die Elbe. Rings um sie ziehen sich dichte prachtvolle Wälder, lachen grüne Wiesen und zahlreiche Gärten, Baumalleen und Parkanlagen beschatten die breiten Straßen und die zahlreichen Plätze der Stadt, die von pensionierten Beamten und Ruhebedürftigen aus nah und fern gern zum Wohnsitz gewählt wird. Schon Goethe hat die Naturschönheiten Dessaus gerühmt und glücklich den Fürsten geschätzt, dem die Natur und die Götter es vergönnt haben, einen Sitz von träumerischer Schönheit zu schaffen. Die Stadt ist auch reich an geschichtlichen Erinnerungen; nach ihr wurde der Fürst Leopold von Anhalt-Dessau der „Alte Dessauer“ genannt. Erst vor kurzem hat die „Gartenlaube“ das Grab des eigenartigen Soldatenfürsten, das von zwölf Grenadieren in Zinnguß umgeben ist und in der Schloßkirche zu St. Marien am alten Markt sich befindet, ihren Lesern in Bild und Wort vorgeführt. Früher (vergl. Jahrg. 1880, S. 51) ist in diesem Blatte die geschichtliche Entwicklung der Stadt und namentlich der Aufschwung, den sie unter dem Landesfürsten Franz genommen, ausführlich geschildert worden. Auch die Kunst blüht in ihren Mauern, dank der Freigebigkeit, mit welcher die Herzöge seit langen Jahren das Hoftheater und die berühmte herzogliche Kapelle unterstützen.

  Der alte Teil.   Der Neubau.
Das Schloß in Köthen.

Das Schloß (vgl. die Abbildung S. 348) war anfangs wie das in Köthen anf einem von tiefen Gräben umgebenen Viereck erbaut, brannte aber 1467 nieder. Der älteste Teil ist der vom Eingang rechts liegende Flügel mit achtseitigem Treppenturm, dessen Aufgänge mit kunstvollem Maßwerk und Treppengeländer verziert sind. Der imposante renaissanceartige Vorbau birgt das Treppenhaus für den Mittelteil, welcher jetzt zusammen mit dem linken Flügel die Wohn- und Prunkräume des seit 1871 regierenden Herzogs Friedrich enthält. Dem Schlosse gegenüber liegt die Hauptwache und daneben die frühere Schloßapotheke, in der einst die schöne Apothekerstochter Anna Luise Föse heranblühte. Eine edle Mädchengestalt war es, mit üppiger Fülle goldigen Lockenhaars, mit seelenvollen blauen Augen und reinem Engelsgemüt, die einzige, die es verstand, den rauhen wilden Sinn des Soldatenfürsten Leopold zu sänftigen. Er liebte sie ehrlich und machte seine „Anneliese“ zu seiner Gemahlin und Landesfürstin. Außerdem befindet sich in der Hauptstraße dem Theater gegenüber das neuerbaute Erbprinzliche Palais, wie denn überhaupt in der Stadt noch vier und in den umliegenden Wäldern, die meilenweit parkartig die Stadt umgeben, fünf weitere Schlösser in anmutig schattigen Gärten liegen. Einen ganz eigentümlichen Reiz von höchst malerischer Wirkuug hat denselben der Fürst Franz oder „Vater Franz“, wie er im Volksmunde noch heißt, der Zeitgenosse und Freund Karl Augusts und Goethes, durch die Anlage von Tempeln, Ruinen, Obelisken und sonstigen kleinen stimmungsvollen Bauten verliehen. Die ganze prächtige Natur erscheint dadurch in poesievolle Landschaftsbilder verwandelt, wie sie uns der geniale Landschaftsmaler Claude Lorrain nicht schöner auf die Leinwand zaubern konnte. So großartig aber nun die Natur ist, die alle die Schlösser umgiebt, so Prächtiges bietet die Kunst auch, die in ihnen ihre Tempel aufgeschlagen. Die Fülle und Mannigfaltigkeit der Gemälde in den einzelnen Galerien läßt uns keinen Namen der bedeutendsten Meister aller Zeiten und Länder vermissen und die Sammlung sowohl antiker wie moderner Kunsterzeugnisse wetteifert mit diesen in Schönheit und künstlerischer Bedeutung.

Das wertvollste Kleinod aber ist und bleibt der im Schlosse zu Dessau aufbewahrte Ring der „Frau Kröte“, der durch die Sage und Prophezeiung schon seit Jahrhunderten einen märchenhaften Zauber ausgeübt hat. Vor vielen vielen Jahren nämlich lebte im Schloß zu Dessau eine gute und fromme Fürstin, welche die Armut linderte und wohlthat, wo sie nur konnte. Auch für die Tiere und Vögel hatte sie ein freigebiges Herz und nach den Mahlzeiten sammelte sie die Brosamen und streute sie den Hungernden vors Fenster. Nun hauste aber in einem dunklen Kellerloch unter jenem Fenster der frommen Fürstin eine häßliche Kröte, die jedesmal, wenn die Krumen auf die Erde fielen, hervorgekrochen kam und sie begierig auflas. Eigentlich war sie aber keine Kröte, sondern eine verwunschene Fee, die erst erlöst werden konnte, wenn eine edle, gottesfürchtige Seele sie mit Brosamen fütterte. Das war nun erfüllt und so geschah es denn in einer herrlichen Maiennacht, daß der Fürstin, als sie auf ihrem Lager lag und schlummerte, eine weiße schöne Gestalt mit wallendem Mantel und einer Leuchte in der Hand erschien und erzählte, daß sie durch die Wohlthätigkeit der Fürstin erlöst sei. „Zum Dank dafür,“ sprach sie, „nimm diesen Ring, er wird Dir und Deinen Nachkommen Segen bringen, Dein Stamm wird nie erlöschen, so lange der Ring in seinem Besitz ist, und ich selbst will Euch immerdar schützen.“ Darauf verschwand sie, und als die Fürstin am Morgen erwachte, hielt sie den Ring in den Händen. So die Sage; der Ring aber wird noch wohl verwahrt im Schlosse und bis zum heutigen Tage ist er ein Sinnbild der Liebe und Treue des Volkes zu seinem Fürstenhause und dadurch ein Talisman für dieses selbst. Der stete Edelmut und die hochherzige Opferfreudigkeit der Fürsten von Anhalt, deren gegenwärtiges Oberhaupt Herzog Friedrich (geb. am 31. April 1831) am 22. Mai d. J. sein 25jähriges Regierungsjubiläum begeht, ist zum Segen geworden für sein Volk, die Prophezeiungen haben sich bis auf den heutigen Tag bewahrheitet und so möge es bis in die fernsten Zeiten bleiben!




[352]

Ein unbedachtes Wort.

Novelle von M. Misch.
(1. Fortsetzung.)


Der nächste Morgen brachte herrliches Wetter. Ein lauer Wind hatte die Nässe vom Boden aufgetrocknet. Die Sonne bemühte sich, nach Kräften noch ein wenig Wärme auszustrahlen. Hell und warm schien sie auf die beiden Lindenbäume nieder, die vor einer reizenden Villa am Ende der Stadt ihre Zweige ausbreiteten, und ließ die großen gelben Blätter durchsichtig schimmern, als wären sie aus flüssigem Gold.

Ringsum herrschte vornehme Ruhe, und selbst der alte Straßenkehrer am oberen Ende der Straße scharrte das abgefallene Laub mit seinem Besen so vorsichtig zusammen, als scheute er sich, die tiefe Stille durch das raschelnde Geräusch zu unterbrechen.

Die kleine, einstöckige, in zierlichem Renaissancestil gebaute Villa gehörte Wolf von Schindler. Er hatte sich dieselbe vor einem Jahrzehnt nach dem Tode seines Vaters bauen lassen. Das große Gut, auf dem er geboren war, gab er in Pacht. Erst müsse er mindestens vierzig Jahre alt sein, ehe er sich „ins Joch“ spanne, erklärte er damals den alten Freunden seines Vaters, die ihm diskret zu verstehen gaben, daß ihm eine Beschäftigung not thäte. Dann war er auf Reisen gegangen und erst nach Jahren wieder heimgekommen. Das Gut blieb verpachtet, und die kleine Villa wurde nun der Schauplatz einer auf Junggesellen sich beschränkenden Gastlichkeit, von welcher sich die nachsichtigen Mitbürger ganz Erstaunliches zu erzählen wußten.

Die alten Freunde seines Vaters, soweit sie noch am Leben waren, zuckten über dieses Treiben die Achseln. Wolf von Schindler war nun bereits sechsunddreißig Jahre alt, alt genug, um zu arbeiten, wie die Väter – alt genug, um zu heiraten, wie die Mütter meinten. Wolf aber kümmerte sich weder um die einen noch um die anderen; er lebte, wie er wollte, und wartete, bis er seiner Freiheit überdrüssig werden würde. –

Durch die kalte, klare Luft drangen gerade neun Schläge von der großen Turmuhr herüber, als ein Fensterflügel im ersten Stock der Villa aufgestoßen wurde und Schindlers rotblonde Mähne zum Vorschein kam. Im braunsammetnen Morgenjackett, das ihm vortrefflich zu Gesichte stand, beugte er sich weit hinaus und sog in tiefen Zügen die frische Morgenluft ein. Die Sitzung im Klub mußte wohl lange gedauert haben; er sah müde und abgespannt aus, und einige kleine Fältchen um die Augen ließen ihn älter aussehen, als er war.

Welch herrlicher Morgen! Keine Spur war von dem gestrigen verfrühten Schnee übrig geblieben. „Die Sonne, die gegen ihn zu Felde zieht wie eine schöne Frau gegen den ersten Schnee auf ihrem Haupte, hatte ihn hinweggefegt“ – dachte er sich. Wolf von Schindlers Stärke bestand im allgemeinen nicht in poetischen Bildern; deshalb schüttelte er sorgenvoll das Haupt, als er sich bei obigen Gedanken überraschte.

„Nächstens fange ich noch an zu dichten,“ murmelte er bekümmert. „Schauderhafter Gedanke!“

Der alte Straßenkehrer war indes mit seiner Arbeit immer weiter vorgerückt und näherte sich langsam der Villa. Als er Schindlers ansichtig wurde, beeilte er seine Schritte und blieb unter dem Fenster stehen.

„Guten Morgen, Herr Baron!“

Die Hand mit dem dicken Fausthandschuh legte sich salutierend an das rote Sacktuch, das er sich zum Schutz um die Ohren gebunden hatte.

„Morgen, Josef! Wie geht’s der Frau?“

„Danke scheen, Herr Baron, sie jeht, weil se nich fahren kann! Aber Spaß beiseite, ich soll von ihr dem Herrn Baron millionenundeenmal danken wejen dem Wein. Aber wat wahr is, muß wahr sind: der Wein, sagt der Doktor, den der Herr Baron die Jüte hatten, meiner Ollen zu schicken, bringt sie wieder uff’n Damm. – Des is eine von die neien Schauspielerinnen“ – wechselte er plötzlich das Thema, als er, dem Blicke Schindlers folgend, die Straße herauf eine junge Dame kommen sah. „Ich kenn’ sie, weil sie meinen kleenen Friedel zum Korbtragen ins Theater engaschiert hat. Eene sehr anständige Dame – hat meinem Friedel umjehend eine Mark und’n Theaterbillet jeschenkt“ …

„Gehen Sie zum Teufel, Josef, und machen Sie, daß Sie da von meinem Hause wegkommen!“ sagte Wolf halblaut, sein Monocle einklemmend.

Josef hob verblüfft seinen Besen auf und marschierte auf die andere Seite, von wo er mit gekränkter Miene zu Schindler hinüber sah. Die schlanke hohe Mädchengestalt näherte sich elastischen Schrittes und wollte eilends vorübergehen, als Josef sie aufhielt.

„Hat Friedel den Korb jut getragen, Freilein?“ fragte der gesprächige alte Bursche und fügte auf den verwunderten fragenden Blick der jungen Dame hinzu: „Ick bin nämlich der Vater von Ihrem Korbjungen.“

„Ah so! O ja, es scheint ein gefälliger, braver Junge zu sein! Geht es hier nach dem hohen Aussichtspunkt?“

Sie zeigte mit der elegant behandschuhten Hand die lange Allee hinauf, in welche die Straße mündete.

„Jawoll, immer jrade aus, den Pappelbäumen nach!“ bestätigte eifrig der glückliche Vater, worauf Marie lächelnd und ihm freundlich zunickend ihren Weg fortsetzte.

Wolf von Schindler hatte die Scene aufmerksam beobachtet und trat nun hastig zurück. Ein Druck auf die elektrische Klingel rief seinen Diener herbei.

„Karl, ich will ausgehen!“

Mit Karls Hilfe machte der Baron Toilette. Alles, was er anlegte, entsprach der neuesten Mode, von den spitzen Lackstiefeletten angefangen, bis zu der langen, moosgrünen Krawatte aus indischer Seite, die er gewandt zu einem kunstvollen Knoten schlang. Schnell und ohne seinen Gebieter mit Fragen zu belästigen, brachte Karl den für so einen frühen Ausgang geeigneten Ueberrock, spritzte einen Strahl feinsten Parfums darüber, legte einen weichen Hut, dicke Handschuhe und ein kleines Stöckchen auf den Tisch.

„Cigaretten!“ befahl Schindler kurz.

Er trat vor den hohen Spiegel und musterte sich befriedigt. Verschwunden war das übernächtige, verdrießliche Aussehen. Frisch, elegant, selbstbewußt blickte ihm sein Spiegelbild entgegen. Den Stock zwischen den Fingern drehend, eilte er hinunter. Vor der Thür, in einem großen Haufen welker Blätter stochernd, stand Josef, der die Kränkung bereits wieder vergessen hatte und ihm diensteifrig zulächelte.

„Zur ‚Scheenen Aussicht‘ is sie,“ flüsterte er mit verständnisvollem Augenzwinkern, hatte aber auch diesmal kein Glück bei seinem Gönner, der ihm in barschen Tone zurief: „Kümmern Sie sich um Ihre Straße, Josef!“ Wolf schritt elastischen Ganges die Allee hinauf, deren Bäume in der Sonne in herrlichstem Gelb und Rot leuchteten.

Gewöhnlich lag er um diese Stunde noch unter der seidenen Decke, um den Schlaf nachzuholen, den er des Nachts im Klub versäumt hatte. Heute war er ausnahmsweise früh aufgestanden. „Der Zufall kommt ihr zu Hilfe,“ murmelte er lächelnd und fühlte sich merkwürdig mild und reuevoll gestimmt.

Die „Schöne Aussicht“ befand sich auf dem Plateau eines mäßig hohen Berges, um den sich der Weg in weiten Windungen und fast unmerklichen Steigungen hinaufschlängelte.

Am Nachmittag pflegte hier die Gesellschaft der Stadt zu lustwandeln. Ein gutgeführtes Restaurant krönte die Höhe. Um diese frühe Zeit aber war es hier meist ganz einsam. Auch heute begegnete dem rasch Dahinschreitenden kein Mensch, und mit Entzücken genoß er die köstliche Ruhe, den tiefen Frieden ringsumher, den nur hier und da das lärmende Gezwitscher zankender Spatzen oder das rauhe Gekrächze einer Krähe unterbrach.

Vor der letzten Windung des Weges blieb er stehen. Noch ein paar Schritte, und er war oben. Aber was, zum Teufel, wollte er eigentlich hier? Etwa die Schauspielerin um Entschuldigung bitten? Nein, das denn doch nicht! Doch wozu ihr dann nachlaufen? Er spitzte die Lippen zu einem leisen Pfiff, strich sich verlegen über den Schnurrbart und suchte an anderes zu denken.

Als er das Plateau erreicht hatte, sah er sie am Fuße eines Denkmals auf einer kleinen Bank sitzen, die schlanke biegsame Gestalt in sich zusammengesunken, den Ellbogen auf das Knie gestützt. So starrte sie träumerisch in die Weite. Sie war eigentlich nur heraufgestiegen, um hier in Ruhe eine Rolle zu lernen. Aber das Heft war ihren Händen entglitten, ganz versunken bewunderte sie das herrliche Landschaftsbild. Sie ahnte nicht, daß

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Scene aus Goldmarks Oper „Das Heimchen am Herd“.
Das Heimchen erscheint dem wieder versöhnten Ehepaar.
Nach der Aufführung im Hofopernhaus zu Wien gezeichnet von W. Gause.

[354] wenige Schritte hinter ihr sich jemand besand, der sie nicht minder aufmerksam betrachtete. Plötzlich fuhr sie erschrocken auf und erhob sich unwillkürlich. Wolf von Schindler stand mit seiner gewohnten blasierten Hochmutsmiene vor ihr und lüftete leicht seinen Hut.

„Mein Fräulein!“

„Mein Herr?“

„Wie gefällt Ihnen die Aussicht?“

Marie, deren bleiches Gesicht eine helle Röte überzog, richtete ihre Augen mit einem befremdeten, stolzen Ausdruck auf den Sprecher.

„Danke, gut!“ sagte sie kühl und trat von ihm fort an die Steinbarriere, welche das Plateau umsäumte.

Schindler folgte ihr lächelnd. Teufel, die Kleine war bei Tage bedeutend hübscher als auf dem Theater, wo ihre feinen Züge nicht so augenfällig wirkten wie manches gröber geschnittene Gesicht! Sie besaß wohl nicht die landläufige Schönheit mit dem weichen Gesichtsumriß, dem Kindermund und kleinem Näschen, sondern eine Anmut von feinem seelischen Reiz, jene durchgeistigte Schönheit, die auf eine vornehme Denkungsweise und auf Charakter schließen läßt. Auch die ruhige damenhafte Haltung unterschied sich auffallend von der Manier so mancher Kollegin. Zögernd blieb er in einiger Entfernung stehen und überlegte. Es war doch verdammt peinlich, von der heikeln Sache selbst anzufangen und sich als Grobian zu bekennen, dem jede Entschuldigung fehlt … Ohne alle Not noch dazu, denn erkannt hatte sie ihn offenbar nicht! Warum also ihr eine unangenehme Aufregung und sich selbst einen höchst wahrscheinlich sehr fatalen Rückzug bereiten? … Je mehr er sie betrachtete, um so weniger geneigt fühlte er sich zu solcher Aufopferung im Dienste der Wahrheit. Es ging auch ohne das.

Also, ganz einfach – vorläufig eine kleine Unterhaltung anknüpfen! Das übrige findet sich dann von selbst. Diesen Schlußgedanken begleitete ein leichtes, frivoles Lächeln, dessen Ursprung in den Erfahrungen lag, welche Wolf mit einzelnen Damen vom Theater gemacht hatte.

„Sie haben gestern reizend gespielt, mein Fräulein,“ begann er, an ihre Seite tretend, leichthin.

Wieder der große, befremdete Blick aus den braunen Augen, der ihn beinahe in Verlegenheit setzte! Aber nur beinahe! Als er keine Antwort erhielt, wurde er ärgerlich.

„Haben Sie heute keine Probe?“ frug er von oben herab und sah ihr hochmütig ins Gesicht.

Wieder keine Antwort! Statt dessen wandte sich die junge Dame kurz ab und schritt, nicht zu schnell und nicht zu langsam, just als gäbe es gar keinen Wolf von Schindler, der ihr die Ehre seiner Unterhaltung hatte gönnen wollen, an ihm vorbei und über den freien Platz hinweg. An der ersten Biegnug des Weges verschwand sie im Walde.

„Das ist stark,“ murmelte der Baron verblüfft. „Laufe ich am frühen Morgen hier herauf, um dieser kleinen Schauspielerin etwas Angenehmes zu sagen, und sie dreht mir einfach den Rücken zu. Nun aber auch genug damit!“ Mit einer heftigen Bewegung warf er sich auf die Bank und begann, die Landschaft zu betrachten.

Die klare, reine Luft gestattete den Ausblick bis zu den Höhenzügen, die wie aus blauem Dunst gebildet ihre vielgestaltigen Häupter gegen den Himmel streckten. Dazwischen im Thal, so weit man sehen konnte, die Spuren menschlicher Kultur und menschlichen Fleißes – Dorf an Dorf, Feld an Feld.

„Ebensogut könnte ich eigentlich vom Berge herunter meine eigene Scholle betrachten,“ dachte er. „Es ist, weiß Gott, kein besonderes Vergnügen, in diesem langweiligen Nest seine Tage zu versitzen. Mein Alter würde es nicht leiden, wenn er noch lebte, soviel ist gewiß! Aber Krautjunker werden und bei seiner ‚tüchtigen Thätigkeit‘ so allmählich verbauern – brr! … Dazu muß man jung schon angehalten werden. Früher hätte ich’s einfach nicht gekonnt, da trieb es mich zu stark in die Welt. Jetzt kommt’s mir manchmal vor, als habe ich genug davon gesehen … Wenn ich ein ‚Muß‘ hätte, wie die da drunten, die ihre Felder mit Mühe und Schweiß bebauen, wär’ mir’s vielleicht auch recht … Ob die wohl arbeiteten, wenn sie nicht müßten? Kaum! Der Mensch ist von Natur zur Faulheit geboren, lehnen wir uns also nicht gegen die Naturbestimmung auf!“

Er blickte noch eine Weile dem Silberstreifen des Flusses nach, der zwischen Feldern und Wäldern sich schimmernd dahin wand, dann erhob er sich.

Genug des Nachdenkens und der Naturbetrachtung! Dazu war er nicht hierher gekommen; die eigentliche Expedition war mißglückt. Die Kleine lief davon wie ein scheues Reh. Schien merkwürdig empfindlich zu sein! Wolf hatte Schauspielerinnen kennengelernt, die bedeutend weniger zart besaitet waren. Nun, wie sie wollte!

Eine Operettenmelodie pfeifend, die Hände in den Taschen seines Ueberrocks vergraben, wandte er sich zum Gehen, als sein Blick auf ein weißes Heft fiel, das neben der Bank auf dem Boden lag. Zögernd hielt er inne. Lange konnte es noch nicht auf der Erde liegen, dafür war es zu sauber, also war es wohl von der Kleinen bei der schnellen Flucht vergessen worden. Mit zwei Fingerspitzen nahm er es mißtrauisch auf und betrachtete es von allen Seiten.

Mit großen Buchstaben stand auf dem Titelblatt: „Maria Stuart“, darunter ganz klein: „Fräulein Marie Sinders, Titelrolle.“

Richtig, das Eigentum der Schauspielerin! Das Heft langsam umblätternd, setzte er sich wieder auf die Bank. Er hatte zwischen den leidenschaftlichen und rührenden Reden der verstorbenen schottischen Königin, oder vielmehr des ebenfalls längst verstorbenen Schiller, welche ihn gerade jetzt nur wenig interessierten, kurze Aufzeichnungen der noch lebenden, ihm eben davongelaufenen anderen Maria entdeckt, und diese interessierten ihn viel mehr.

„Wird wohl kaum orthographisch schreiben können!“ lachte er leise und begann zu lesen.

Die Anmerkungen der jungen Künstlerin waren wegen des geringen freien Raumes ziemlich klein an den Rand der einzelnen Blätter gekritzelt, und es kostete ihn Mühe, sie zu entziffern: aber die Handschrift war nicht übel und die Orthographie tadellos. Wolf las mit immer größerem Interesse die Einschaltungen, welche Geist und volles Verständnis der dichterischen Absicht verrieten.

Als er die letzte Seite umwandte, fiel ihm ein kleines Heft entgegen. Ohne viel über die Berechtigung zum Weiterlesen nachzudenken, schlug er es auf und fand in Form von kürzeren und längeren Aphorismen eine ganze Menge von klugen und hübschen Sätzen über Menschen und Leben. Sie beobachtete gut, diese junge Person, und hatte eine merkwürdige Treffsicherheit im Ausdruck. Und keine Gefühlsduselei! Nichts von Liebesklagen und Herzensschmerzen: dies erfüllte den Leser mit besonderer Hochachtung. Aber hier, auf dem letzten Blatt, was war das?! … da stand:

„Gegen den Schicksalsschlag können wir uns waffnen mit Geduld und Ergebung, der gemeinen Roheit gegenüber sind wir wehrlos. O trauriger Stand der Schauspielerin! Die freche Beleidigung ins Gesicht empfangen und nicht mit der Wimper zucken dürfen, angstvoll erwarten, ob Direktor oder Publikum sich durch das Urteil eines solchen ‚Tonangebenden‘ nicht einschüchtern lassen; im Fall dies zutrifft, wieder den Wanderstab weiter setzen … o Gott, wie bitter ist dies alles! Wo soll ich in dieser furchtbaren Gedrücktheit die Kraft hernehmen, die ‚Maria‘ zu spielen, von der alles abhängt? Und wer soll mich schützen vor neuen Beleidigungen, wenn …“

Hier brach die Schrift ab. Schindler hielt sie in Händen und starrte darauf nieder, er brauchte lange Zeit, um die wenigen Zeilen noch einmal zu lesen. Hochrot im Gesicht, mit dem Gefühl des Horchers an der Wand, der seine eigene Schande eben gehört hat, klappte er endlich das Heftchen zu und legte es zwischen die andern Blätter hinein. Gemein und roh hatte sie ihn genannt! An diesen starken Ausdrücken richtete sich sein verwundetes Selbstgefühl zuerst wieder auf und allmählich fühlte er einen ganz gehörigen Zorn in seinem Innern aufsteigen. Er war wütend über den Zufall, der gerade ihm dieses Heft in die Hände spielen mußte, wütend über sich selbst und über „diese Person“, die so entsetzlich empfindlich war und aus der harmlosen Sache eine tragische Begebenheit zusammenphantasierte. Zwar konnte ihm die ganze Geschichte höchst gleichgültig sein, da er das dumme Mädel außer auf der Bühne vermutlich nie mehr wiedersehen und nie mehr sprechen würde. Im übrigen wußte sie ja auch nicht, daß er der „Tonangebende“ gewesen, und würde es hoffentlich auch nie erfahren. Und wie gesagt, es war ihm schließlich auch ganz gleichgültig!

Damit hatte Wolf von Schindler seine kühle Ruhe wiedergewonnen und machte sich hastig auf den Heimweg. Es war ihm plötzlich eingefallen, daß der Verlust bereits entdeckt sein müßte und die Verliererin sehr bald zurückkehren würde. Er hatte keine Lust, ihr wieder zu begegnen, der rabiaten, kleinen Person! Suchend schweifte sein Auge über den Weg hin, ohne indes die geschmeidige, schlanke [355] Gestalt zu erblicken. Das ärgerte ihn eigentlich, denn er sagte sich nicht ganz mit Unrecht, daß die junge Dame wohl deshalb nicht zurückkäme, weil auch sie eine Begegnung mit ihm vermeiden wolle.

Zu Hause angelangt, beauftragte er seinen Diener, das Rollenheft, das er säuberlich einpackte, Fräulein Sinders mit seiner Karte zu überbringen. Die Adresse solle er im Theater erfragen.

„Und nun fertig mit dieser Dummheit!“ beendigte er die Angelegenheit bei sich selbst. Etwas ermattet von der ungewohnten Morgenpromenade und der unerwarteten Aufregung, warf er sich in seinem Arbeitszimmer auf das Ruhebett, das ein riesiges Tigerfell bedeckte, um in behaglicher Ruhe die neuesten Morgenzeitungen zu studieren.




Am Nachmittage desselben Tages läutete es an der Wohnung des pensionierten Hauptmanns von Schmidtlein. Das öffnende Dienstmädchen sah eine ältere Dame vor sich.

„Die gnädige Frau zu Hause?“

„Jawohl.“

„So bringen Sie ihr meine Karte!“

Die Dame entnahm einem eleganten, goldgestickten Juchtentäschchen eine Visitenkarte, auf welcher das Dienstmädchen während des Hineingehens mühsam den Namen „Erna von Sindsberg“ entzifferte.

„Herein, schnell herein!“

Fanny von Schmidtlein warf die Weste ihres Gatten, an welcher sie eben genäht hatte, beiseite und eilte freudig dem Gaste entgegen. „Willkommen, Erna, in meinem Heim!“

„Guten Tag, Fanny!“ erwiderte diese und schlug herzlich in die dargebotene Hand. „Ich komme ein wenig schnell, aber Du wirst das begreifen, wenn Du bedenkst, daß ich nur noch in den alten Erinnerungen lebe; und ein Teil derselben, sogar einer der schönsten, hängt ja mit Dir zusammen!“ Die Dame streifte dabei ihre Handschuhe von den überaus zarten Händen, an welchen mehrere schöne und kostbare Ringe funkelten.

„Es geht Dir gut, Erna; das freut mich,“ sagte Frau von Schmidtlein, hielt aber befremdet inne, als ihr Gast in ein schrilles Lachen ausbrach.

„Gut!?“ rief die Dame aus. „O, wie sehr Du Dich irrst! Mir geht es so schlecht wie möglich. Als wir uns heute vormittag in dem Geschäftsladen trafen, mochte ich Dir nichts von meinen Verhältnissen erzählen, weil ich mir die Freude, Dich wiederzusehen, nicht verderben wollte. Aber ich hätte es doch thun sollen, Du würdest Dich dann vielleicht gehütet haben, mich einzuladen!“

„Erna!“

„Na, man kann nicht wissen; ich habe schlechte Erfahrungen gemacht. Im übrigen brauchst Du mich morgen schon nicht mehr zu kennen, ganz nach Belieben!“

„Ich begreife Dich nicht, Erna! Habe ich das verdient?“ fragte Frau von Schmidtlein ganz erschreckt und schlang den Arm um die Freundin.

Diese wehrte kühl ab. „Laß diese Zärtlichkeiten, meine Liebe, bis ich Dir alles gesagt habe! Weißt Du, wen Du hier vor Dir siehst? Eine Theatermutter! Verstehst Du? Eine alte Frau, die mit ihrer Tochter von Bühne zu Bühne heimatlos herumzieht. Ja, so weit habe ich es gebracht, oder vielmehr nicht ich, sondern andere!“ Ein hysterisches Schluchzen hinderte die Sprechende, fortzufahren.

„Aber Erna, ich begreife nicht,“ fragte kopfschüttelnd Frau von Schmidtlein, die ganz fassungslos dasaß.

„O, Du begreifst es schon, wenn Du bedenkst, daß mein Alex, mein guter Mann, gestorben ist und mir nichts hinterlassen hat!“ antwortete diese, sich die Augen trocknend. „Absolut nichts als eine kleine Pension und sehr viel Schulden. Ich will damit keinen Vorwurf gegen den armen Mann aussprechen, nein, gewiß nicht! Er hat die Schulden nur meinetwegen gemacht; ich war von Hause so sehr an Luxus gewöhnt, und er liebte mich so! Mit seiner Hauptmannsgage konnte er keine großen Sprünge machen, das weißt Du am besten, Fanny, und so ging er eben zum Wucherer. Dann starb er plötzlich und ließ mich hilflos zurück mit Marie und Paul.“

„Aber ich verstehe nicht, wieso Du jetzt beim Theater –?“

„Ach so! Nun, ganz einfach! Als alles zu Ende war und wir unsere ganze Habe verkaufen mußten bis auf meine Schmucksachen, die ich noch rettete, da zogen wir nach Berlin, weil wir dort in der Weltstadt unser Elend am leichtesten verstecken konnten. Die Verwandten steuerten eine Kleinigkeit zusammen, und so konnte ich mit den Kindern wenigstens leben. Meine Marie malte auf Porzellan, während sie noch zur Schule ging, und verdiente ein Paar Pfennige und ich – ich weinte über unser Unglück. Ich habe ja sonst nichts gelernt! Es war ein jämmerliches Leben, das wir in Berlin führten, aber wir hatten wenigstens ein Heim. Da kommt meine Marie plötzlich auf die Idee, zum Theater zu gehen. Das heißt, nicht plötzlich, denn schon als Kind war sie ganz theatertoll. Sie studierte und studierte, lernte alle Rollen auswendig und wenn sie ja einmal einen Wunsch aussprach, war’s um ein Billet für die Galerie. Schließlich nahm sie Unterricht, und auch der Professor meinte, daß sie ein großes Talent besäße. Was hätte ich thun sollen? Meine Marie setzt durch, was sie will! Sie ist nun Schauspielerin. Hoffentlich wird sie jetzt auch bald berühmt. Ich habe es satt, von einem Engagement ins andere zu reisen. Die Gagen sind klein, die Toilettenansprüche furchtbar, kurz, es ist ein schreckliches Leben!“

Frau von Schmidtlein sah überrascht auf. Jetzt fing sie an zu begreifen.

„Deine Tochter ist hier engagiert?“ fragte sie gespannt.

„Ja, unter dem Namen ‚Sinders‘!“ – Errötend fügte Frau von Sindsberg hinzu: „Ich verlange nicht, daß Du meine Tochter zu Dir einladest, trotzdem sie an Bildung und Takt sich mit jedem Mädchen aus der Gesellschaft messen kann.“ Das feine, bleiche Gesicht der Dame, das noch Spuren großer Schönheit zeigte, sah bei diesen Worten so gedemütigt und traurig aus, daß Frau Fanny sich schmerzlich berührt fühlte. Innig schlang sie den Arm um die Freundin und küßte sie herzlich.

„Du und Deine Tochter, Ihr seid mir stets von ganzem Herzen willkommen, und ich hoffe, Du kommst recht, recht oft zu mir. Ich habe sie übrigens gestern auf der Bühne gesehen, sie ist reizend!“

„So? Findest Du? Sie sieht meinem armen Alex ähnlich; aber sie ist sehr gut und lieb und verhätschelt mich, auch hat sie seine schönen Augen!“

Frau von Schmidtlein dachte bei diesen Worten an Wolf von Schindlers beleidigende Aeußerung über das Aussehen der jungen Künstlerin und freute sich innerlich auf seine verblüffte Miene, wenn er einmal die Damen bei ihr träfe. Vorläufig aber war die Reihe, verblüfft zu sein, an ihr, als Frau Erna plötzlich mit harmloser Miene fragte: „Kennst Du einen Herrn von Schindler?“

„Jawohl, wie kommst Du auf den? Kennst Du ihn denn?“

„Nein, er hat uns mit einem von Marie verlorenen und von ihm gefundenen Buch seine Karte geschickt.“

Mariens Mutter ließ in der so entstandenen Pause ihre Augen forschend durch den behaglichen Raum gleiten und seufzte dabei tief auf. „Ihr seid auch arm, aber es ist doch etwas anderes! Wo ist denn Dein Mann?“

„Er geht jeden Nachmittag ins Kasino, um die Zeitung zu lesen und Kaffee zu trinken. Das letztere wollen wir nun auch thun!“

Der Kaffee kam, und die Damen setzten sich an den gedeckten Tisch und schwelgten in alten Erinnerungen aus der Pensionszeit, wo man sie die beiden Unzertrennlichen genannt hatte. Sie hatten sich sehr lieb gehabt, trotzdem oder vielleicht weil sie so grundverschieden waren. Fanny nicht schön, aber energisch und thatkräftig, Erna ein reizendes, anschmiegendes, aber haltloses Geschöpfchen, das stets andere für sich sorgen ließ!

Leider ähnelten sich ihre späteren Schicksale mehr, als für ihre verschiedenen Temperamente gut war. Beide Töchter vornehmer, aber armer Familien, heirateten sie junge Offiziere, denen es gleichfalls an Vermögen fehlte. Der Unterschied zwischen ihnen zeigte sich bald. Fanny kämpfte mit frohem Wagemut gegen die Sorgen an und bereitete ihrem Gatten mit dem Wenigen, was sie besaßen, ein behagliches Heim. Erna hingegen stand allen Geldfragen verständnislos gegenüber. An Luxus gewöhnt, forderte sie ihn auch in ihrer neuen Lebensstellung, ohne sich über das „Woher“ den Kopf zu zerbrechen.

„Ich hätte nur einen Millionär heiraten dürfen, Fanny,“ versicherte sie ihrer Freundin, eine Wahrheit, von welcher diese jetzt nach all dem Gehörten erst recht durchdrungen war.

(Fortsetzung folgt.)


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BLÄTTER UND BLÜTEN.


Das Schmücken der Havelkähne zu Pfingsten. (Zu dem Bilde S. 345.) Dem Frühling bleibt nirgendwo mehr zu thun übrig als in der sandigen Mark, die zur Winterszeit schmucklos wie kein anderer deutscher Gau daliegt. Aber dafür weiß man ihm hier auch lebhafteren Dank denn irgend sonstwo, und unzählig sind die hübschen, beziehungsreichen Gebräuche, mit denen sein Einzug und sein Triumph gefeiert werden. Die meisten verleugnen ihren wendischen Ursprung keinen Augenblick. Sleipnirs, des starken Gottes, geschmücktes, mit Blumen und Bändern umwundenes Roß spielt noch überall – wenn auch den Festteilnehmern unbewußt – seine Rolle; Wettrennen zu Pferde, feierliche Umzüge mit bunt herausstaffierten Puppen in Lebensgröße sind noch in vielen Ortschaften beliebt. Die christliche Kirche hat es verstanden, diese unausrottbaren Gebräuche in ihren Dienst zu stellen. Womit die Altvorderen den vollendeten Sieg des Frühlings begrüßten, damit erhöhten ihre zum Christenglauben bekehrten Enkel den Glanz des lieblichen Pfingstfestes. Einen dieser anmutvollen Bräuche zeigt uns heute der Künstler im Bilde. Wenn man in den Pfingsttagen an der seenreichen Havel entlang wandert und sich dem Dorfe Caputh, dem Schiffahrts- und Handelsemporium dieser Gegend, nähert, winken einem fröhlich hundert bunte Flaggen und Maienbüsche aus der Höhe ein Willkommen. Capuths „Hafen“ mit seinem starken Durchgangsverkehr – gewaltige Ziegeleien befinden sich in der Umgegend und versorgen die Hauptstadt – wimmelt um diese Zeit von den plumpen, aber solid gebauten und tragfähigen Steinkähnen, und darunter ist keiner, dessen Mastspitze nicht der Birkenbusch krönte. Der „kleine Hydriot“, der sich bereits werkeltags auf Vaters Fahrzeug nützlich zu machen weiß, hält es für seine Ehrenpflicht, durch den feiertägigen Schmuck des „Baumes“ alle Kameraden zu übertreffen. Und während die Kirchenglocken übers Gelände rufen und die frommen Alten zum Hause des Herrn ziehen, opfert die Jugend, ohne es zu wissen, der gestürzten, längst vergessenen Gottheit. Das Band, mit dem sie flatterndes Birkengrün an den Masten befestigt, und das farbige Fahnentuch verknüpfen mit der goldenklaren Gegenwart dieses Pfingstmorgens alte Wunder und Träume ferner grauer Vergangenheit. N.     

Die Stellenvermittlung des Allgemeinen deutschen Lehrerinnenvereins. Unter den vielen durch thatkräftige Frauen bereits getroffenen Veranstaltungen zur Selbsthilfe nimmt die obengenannte Stellenvermittlung für Lehrerinnen jeder Art, deren Centralleitung sich in Leipzig, Pfaffendorfer Straße 17, befindet, einen ganz bedeutenden Rang ein. Erst 1890 gegründet, aber gleich vortrefflich organisiert, zählt der Allgemeine deutsche Lehrerinnenverein heute 10 000 Mitglieder und steht in engem Verband mit den Vereinen deutscher Lehrerinnen in England, Frankreich und Italien. Hierdurch ist es den von Lehrerinnen als Ehrenamt ausgeübten Agenturen ermöglicht, jede Stellesuchende an den richtigen Platz zu bringen, anderseits haben Familien und Schulleitungen die Garantie, nur wirklich Empfehlenswerte, deren Leistungen geprüft und genügend befunden sind, zu erhalten. Im Jahr 1895 besetzte der Verein 788 Stellen, 508 durch das Leipziger Centralbureau und seine Agenturen in Deutschland, 280 durch die verbundenen Vereine im Ausland, darunter allein 200 in England. Die Gehalte wachsen mit den nachzuweisenden Fähigkeiten, beginnen für ganz junge Erzieherinnen mit 440 Mark bei freier Station, für ebensolche Lehrerinnen mit 900 Mark ohne dieselbe. Das Durchschnittsgehalt der älteren ist 900, bez. 1240 Mark. Selbstverständlich werden sich künftig die Gehalte für akademisch gebildete Haupt- und Oberlehrerinnen bedeutend höher stellen. Es ist also jungen Mädchen, welche dieses Ziel anstreben, der baldige Eintritt in den Verein zu raten, damit ihnen nach abgelegten Prüfungen die gewichtige Empfehlung der Vereinsleiterinnen zur Seite steht. Anderseits sollten, wo nicht sichere, sachverständige Prüfung auf privatem Wege die Gewißheit einer guten Wahl giebt, Eltern und Schulvorsteher sich statt an unwissende, nur ihren eigenen Nutzen suchende Geschäftsagenturen an die gewissenhaft arbeitenden des Vereins wenden. Wo so hohe Güter in Frage kommen wie die geistige und sittliche Bildung unserer Mädchenjugend, da darf nur das Beste gut genug sein! – Wer Näheres über den deutschen Lehrerinnenverein und seine umfassende Thätigkeit zu erfahren wünscht, findet dies in dem interessanten Artikel von M. Loeper-Housselle „Die Lehrerin in Deutschland“, Jahrg. 1895 der „Gartenlaube“, S. 58. A.     

Das Wasserwerk von Chapareillan. Kraft aus Nichts zu erzeugen, ist bekanntlich ein unfruchtbares Problem, an dessen Lösung nur noch die „Erfinder des Perpetuum mobile“ sich die Köpfe zerbrechen. Wie weit es dagegen die Technik bereits in der Kunst gebracht hat, sehr große Kräfte aus unscheinbaren Quellen zu gewinnen, beweist das Wasserwerk zu Chapareillan. Weit oberhalb dieses im französischen Departement Isère gelegenen Gebirgsdorfes fließt ein Bach von ziemlich geringem Wassergehalt, dessen einziger Vorzug vor anderen darin besteht, einen so steilen Lauf zu haben, daß er nur wenige Kilometer gebraucht, um 600 m in die Tiefe zu gelangen. Wegen dieses Umstandes wurde er von der Elektrizitätsgesellschaft in Lyon ausersehen, ein großes elektrisches Werk zu treiben. Bedeutende Wassermengen sind nicht vorhanden, deshalb war an einem möglichst hohen Gefälle alles gelegen, und das ließ sich hier so günstig wie selten erreichen. 612 m über dem Dorfe, in welchem das Turbinenwerk errichtet wird, ist mittels eines künstlichen Reservoirs der ganze Bach abgefangen, und aus diesem Behälter, der bei einem so geringen Wasserzufluß sehr klein angelegt werden konnte, wird das Wasser in einem Fallrohr von 3200 m Länge nach Chapareillan geführt, wo es vermöge des großen Höhenunterschiedes unter einem gewaltigen Druck ankommt. Wenn man sich den Wasserdruck am Boden eines Sees von 600 m Tiefe vorstellt, so hat man denselben Druck, mit dem hier der Inhalt des Rohres sich in die Turbine ergießt: er beträgt rund 60 Atmosphären. Natürlich muß die Wandung des Rohres, um diesen Druck auszuhalten, eine gehörige Stärke haben; während sie oben, wo das Wasser einfließt, nur wenige Millimeter stark ist, wächst ihre Dicke unten, wo eine Spannung gleich der sechsfachen eines Lokomotivkessels herrscht, zur Stärke eines Fingers an. Im Innern ist das Rohr 35 cm weit. Und durch dieses einfache Mittel erreicht man es, etwa 1000 Pferdestärken aus einem Bach zu gewinnen, der oben, wo man ihn gefaßt hat, kaum 20 Pferdekräfte wert ist. Jedes Liter Wasser, welches durch dies Gefalle stürzt, liefert ungefähr fünf Pferdestärken. Bw.     

Durchschossene Luftballons. Mit der zunehmenden Verwendung des Ballons im Militärdienste gewinnt die Frage an Interesse, wie sich ein den Feind beobachtender Fesselballon – freischwebende werden selten angewandt und sind fast unerreichbar – gegen ein starkes feindliches Feuer halten kann. Man stellte deshalb im letzten Sommer auf dem österreichischen Schießplatz zu Steinfeld Versuche an. Ein großer, 10 bis 14 m breiter Fesselballon wurde, in 800 m Höhe und 5 km Entfernung aufgestellt, aus einer Batterie von 8 Geschützen mit Schrapnells beschossen. Um dem beschießenden „Feind“ die Sache nicht zu leicht zu machen, wurde der Ballon, sobald es den Anschein gewann, als ob die Batterie sich eingeschossen hätte, ein wenig in der Lage verändert. Das Resultat war, daß bald 80 Schrapnells verfeuert waren, der Ballon aber so ruhig wie zuvor schwebte. Von 10 000 Kugeln und Sprengstücken hatten drei ihn ein wenig verletzt, was seinen Auftrieb nicht im geringsten störte. – Wie viel Löcher in der That ein Luftballon vertragen kann, haben Schießversuche aus nächster Nähe gelehrt. Ein 400 m hoch schwebender stillstehender Fesselballon sank langsam nach 16 Schüssen, von denen 10 getroffen hatten. Ein anderes Mal aber sank er nicht, obwohl ihn schon 18 Sprengstücke zerrissen hatten. Bei sehr glücklichen Treffern kann es freilich auch schneller gehen: einmal hielt der Ballon 40 Schuß aus, der vierzigste war der erste, der traf, aber so wirksam, daß der Ballon sofort und schnell sank. Als man den Geflickten 800 m hoch schweben ließ, brauchte er 65 Schüsse aus weniger als 4 km Entfernung, der letzte brachte ihm zwei lange Risse bei und machte ihn schnell sinken. Es müssen eben schon immer unglückliche Streifschüsse sein, die die Hülle mehr schlitzen als löchern, wenn sie dem Ballon ernstlichen Schaden zufügen sollen; an gewöhnlichen Löchern kann er eine ganze Portion vertragen, und in der Hand geschickter Aeronauten, die den Feind nicht erst zum Einschießen gelangen lassen, ist der Kriegsballon fast unüberwindlich. Bw.     

Ein Scheidegruß. (Zu unserer Kunstbeilage.) Der schwere Abschied ist genommen, im Beisein von Mutter und Schwestern; denn noch kann der Liebende nicht um sein Mädchen werben, er muß erst eine Zeit lang in die Welt hinaus. Sie hat, um sich ungestört ausweinen zu können, die Bank am Gartenende aufgesucht, und des Geliebten gedenkend, ist sie hier mit geschlossenen Augen tief ins Träumen geraten, das Buch, das sie zum Vorwand mitgenommen, ist längst ihrer Hand entfallen. Plötzlich – ein Geräusch: über den Zaun her greift eine Hand, reicht ihr schnell eine blühende Rose, sie hört ein paar geflüsterte Worte, und ehe sie das Unerwartete fassen und von ihrem Sitze in die Höhe fahren kann, klingen draußen Hufschläge und die Stelle am Zaun ist leer … Die ganze Erscheinung ist wie ein Schatten verschwunden. Aber die Rose bleibt und mit ihr die Hoffnung auf ein glückseliges Wiedersehen! Bn.     


KLEINER BRIEFKASTEN.


(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

P. in K. Sie wünschen von uns eine Erklärung der seltsamen Erscheinung, daß man die Bewegung seiner eigenen Augen im Spiegel nicht sehen kann. Blickt man in einen Spiegel und fixiert mit beiden Augen bald das Bild des rechten, bald das des linken Auges, so bewegt man die Augen; man fühlt die Bewegungen selbst und Zeugen, die uns ansehen, können es bestätigen; aber die Augen erscheinen im Spiegel unbeweglich. Diese Erscheinung ist schon wiederholt der Gegenstand genauer Nachforschungen gewesen, aber eine einwandfreie Erklärung konnte bis jetzt nicht gegeben werden. Die neuesten Erklärungsversuche finden Sie im „Archiv für Ophthalmologie“, Band XLI, 3 und in der Revue scientifique, Jahrg. 1896, Nr. 15.


manicula Hierzu die Kunstbeilage VI: „Ein Scheidegruß.“0 Von H. Vogler.

Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge und Illustrationen. Z. Zt. nicht dargestellt.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No. 21. 1896.



Die Krönungsburg der Zaren. Zu großartigen Festtagen werden sich die letzten Tage des Monats Mai für die alte Zarenstadt Moskau gestalten; denn in der alten Burg, dem Kreml, der mit seinen vielen Türmen und Kuppeln das Häusermeer der Stadt überragt, wird am 23. Mai die feierliche Krönung des Zaren Nikolaus II. und der Zarin Alexandra stattfinden. Auf einem etwa 40 m hohen Hügel am Ufer der Moskwa gelegen, birgt der Kreml eine große Anzahl geschichtlich denkwürdiger, reich ausgestatteter Bauten. Ja, er ist mehr als eine Burg; eine Wunderstadt kann man ihn nennen, in der die Pracht des Ostens und Westens, asiatische und europäische Kunst sich die Hände gereicht haben, um etwas ganz Eigenartiges und Großartiges zu schaffen. Eine 2 km lange, 20 m hohe, mit 18 Türmen und 5 Thoren versehene Mauer umgibt im Fünfeck diese Stadt von Kirchen, Klöstern und Palästen. Unsere Abbildung zeigt den Kreml von Südosten, vom Moskwaflusse aus gesehen. In der Mitte ragt über alle Kuppeln der Glockenturm „Iwan Welikij“ (der große Iwan) hervor. Im Jahre 1600 erbaut und 82 m hoch, enthält er in 5 Stockwerken 34 Glocken, deren eine gegen 7000 Pud (etwa 1100 Zentner) wiegt. Am Fuße dieses Turmes steht die bei einem Absturz vom Gerüste beschädigte Riesenglocke „Zar-Kolokol“, deren Gewicht auf 4320 Zentner geschätzt wird. Links hinter dem „Iwan Welikij“ schaut die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale hervor. Den viereckigen Bau schmückt eine große, 42 m hohe Kuppel, die von vier kleineren umgeben ist. Ein italienischer Baumeister, Fioraventi aus Bologna, hat gegen das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts diesen Prachtbau aufgeführt. Sein reich mit Gold und Edelsteinen geschmücktes Innere birgt das berühmte wunderthätige Muttergottesbild, das laut der Sage vom heiligen Lukas gemalt wurde. In dieser Kathedrale fand am 3. Februar 1498 die erste Fürstenkrönung statt, die Rußland überhaupt gesehen hat. Damals ließ der Großfürst Iwan III. seinen Enkel Demetrius krönen, indem er dadurch kundbar machte, daß er ihn zu seinem Nachfolger ernenne. Am 16. Januar 1547 fand die zweite Krönung statt. Iwan IV., der später den Zarentitel annahm, ließ sich hier die Krone aufs Haupt drücken. Seitdem wurden alle Kaiser und Kaiserinnen Rußlands in derselben Kirche und nach demselben Zeremoniell gekrönt.

Der Kreml in Moskau.

Weiter links von der Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale sehen wir die Kathedrale zu Mariä Verkündigung und die des Erzengels Michael. Die letztere, die Archangelskij-Kathedrale, wurde schon im Jahre 1333 gegründet und 1505 bis 1509 von dem Mailänder Alefisio Novi umgebaut. In ihr ruhen die Gebeine der russischen Großfürsten und Zaren von Iwan IV. bis zu Peter dem Großen. Weiter links von diesen Kirchen erstreckt sich der riesige kaiserliche Palast nebst der Schatzkammer mit ihren unermeßlichen Reichtümern. Rechts vom Turme des „Iwan Welikij“ auf unserem Bilde wendet sich die Ringmauer des Kreml gegen Norden. Wir sehen hinter ihr eine Reihe von Palästen und Klöstern und zuletzt den hohen Turm des Erlöserthores, durch welches das russische Kaiserpaar seinen Einzug in den Kreml halten wird. An der äußeren rechten Seite des Bildes steht inmitten der Häuser, die nicht mehr zum Kreml gehören, die Kathedrale Wassilij Blashennij, eine der merkwürdigsten Kirchen Moskaus.

Für die Krönungsfeierlichkeiten sind die ehrwürdigen Bauten des Kreml erneuert worden. Man hat eine großartige Illumination der Zarenburg vermittelst elektrischen Lichtes vorbereitet, und in ein Meer von Licht gehüllt, wird sie am Krönungstage des jungen Zaren in noch nie gesehenem Glanze gleich einer Märchenburg erstrahlen.

Dr. Ferdinand Goetz.

Dr. Ferdinand Goetz in Leipzig-Lindenau, der Vorsitzende der Deutschen Turnerschaft, begeht am 24. Mai seinen 70. Geburtstag. Nur wenige Männer haben sich um das deutsche Vereinsturnwesen so hervorragende Verdienste erworben wie der trotz seiner hohen Jahre noch rüstig schaffende Lindenauer Arzt. Am 24. Mai 1826 in Leipzig geboren, wandte er sich im Jahre 1845 dem Turnen zu und blieb ihm treu bis auf den heutigen Tag. Am 1. Juli 1858 übernahm er die Redaktion der „Deutschen Turnzeitung“ und führte dieselbe bis zum Jahre 1864. Mit dieser Thätigkeit verknüpfte er die Verwaltung des Archivs der Deutschen Turnerschaft, die ihn im Jahre 1860 zu ihrem Geschäftsführer und vor Jahresfrist zu ihrem Vorsitzenden wählte. Ueber fünfzig Jahre hat somit Dr. Goetz der Turnkunst mit Leib und Seele gedient; er förderte dieselbe mit Rede, Schrift und That, und verstand es, dem Idealen praktischen Boden zu bereiten. Im Verein mit seinem treuen Freund Georgii gelang es ihm, das gewaltige Werk der Organisation der deutschen Turnerschaft zu vollbringen und das Ansehen der deutschen Turnkunst wirksam zu fördern. W. M.     

Nikrischs Notenklemmer.

Nikrischs Notenklemmer. Seit einiger Zeit ist in Musikalienhandlungen ein kleines Instrument zu haben, das zum Festhalten bez. Einklemmen einzelner loser Notenblätter und -Bogen dient und dem musizierenden Publikum sehr willkommen sein wird. Die Benutzung des Instrumentes, das von B. Nikrisch erfunden wurde, ist sehr einfach. Man schiebt die am oberen Ende des Notenklemmers befindliche Drahtnase herunter, dann hebt sich die Nadel selbstthätig von ihrer Unterlage ab. Nun legt man das Musikstück auseinandergeschlagen mit dem Knick unter die Nadel, drückt diese wieder an und schiebt sie hoch.

[356 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Vergl. „Anhalts Bau- und Kunstdenkmäler“ vom Verfasser dieser Schilderung.