Die Gartenlaube (1896)/Heft 7

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[101]

Nr. 7.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (6. Fortsetzung.)

Heiße Sonnenglut lag über den gelbschimmernden Wogen des Nils, die Felder des Fruchtlandes drüben am jenseitigen Ufer leuchteten in hellem Grün und die kahlen, gelbgrauen Höhenzüge der lybischen Gebirge, die hier nahe an den Fluß traten, hoben sich in scharfen Linien ab von dem tiefblauen Himmel.

Auf der Terrasse des großen neuerbauten Hotels in Luksor saß eine kleine Gesellschaft, Fräulein Ulrike Mallner mit ihrer Schwägerin und einem Herrn im hellen Touristenanzuge. Sie sprachen deutsch, das heißt Ulrike sprach und die andern beiden hörten pflichtschuldigst zu; nur der Herr erlaubte sich bisweilen eine kurze Antwort oder eine Bemerkung, während Selma sich ganz schweigsam verhielt.

Sie war eben damit beschäftigt, auf ihrem Hut einen blauen Schleier zu befestigen, zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht, und man brauchte sie nur anzusehen, um dem Doktor Walter recht zu geben, wenn er von einem überraschenden Erfolge sprach. Das schmale blasse Gesichtchen war voller und rosig geworden, der müde Ausdruck der Augen hatte sich verloren, ebenso wie die matte gebeugte Haltung. Die junge Frau blühte sichtlich auf in diesem Klima, das für sie die beste Arznei war. Nur ihre Schüchternheit schien sich nicht gemindert zu haben, trotz des Reiselebens und all seiner wechselnden Eindrücke. War doch auch die gestrenge Schwägerin immer an ihrer Seite und zog einen förmlichen Bannkreis um sie, den nur wenige Auserwählte überschreiten durften. Der Herr, der den beiden Damen Gesellschaft leistete, gehörte offenbar zu diesen Auserwählten und er verdankte diesen Vorzug in erster Linie dem dringenden Bedürfnis des Fräulein Mallner, deutsch zu sprechen. Zu ihrer großen Entrüstung befanden sich auch hier im Hotel vorwiegend Engländer und Amerikaner, da wurde die sehr bescheidene Annäherung des Landsmannes, der sich ebenso vereinsamt fühlte, in Gnaden angenommen.

Es war ein Mann von einigen vierzig Jahren, eine kleine, ziemlich unbedeutende Erscheinung mit einem freundlichen, gutmütigen Gesichte und einem ungemein höflichen Wesen. Trotz der erst achttägigen Bekanntschaft stand er aber bereits vollständig unter dem Scepter seiner energischen Landsmännin, die ihn regelrecht kommandierte, ihm ihrer Gewohnheit nach die rücksichtslosesten Dinge ins Gesicht sagte und ihn bei Spaziergängen und sonstigen Gelegenheiten ohne weiteres ins Schlepptau nahm. Sie hatte eben einen längeren Vortrag gehalten und machte jetzt notgedrungen eine Pause, die er benutzte, um auch einmal zu Wort zu kommen.

„Unsere berühmten Landsleute gönnen sich heute einen Ruhetag,“ hob er an. „Die gestrigen Forschungen waren freilich sehr anstrengend, wir waren bis zum späten Abend in Theben.“

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Als Urgroßmütterchen.
Nach einem Gemälde von G. Zaak.

[102] Er betonte das „wir“ mit einem gewissen Selbstbewußtsein, aber das trug ihm nur ein Achselzucken von seiten des Fräulein Mallner ein, die in ihrer derben Weise sagte: „Jawohl, Herr Ellrich, Sie waren natürlich auch drüben. Sie sind ja so lange um die Herren herumscherwenzelt, bis Sie mitgenommen wurden.“

Herr Ellrich schien den Ausdruck „herumscherwenzeln“ übelzunehmen, er erwiderte in etwas empfindlichem Tone: „Ich glaube nicht, daß es Vorwurf verdient, wenn man große Männer bewundert und die Gelegenheit benutzt, sich ihnen anzuschließen. Dieser berühmte Sonneck, der seine verwegenen Züge in das Herz von Afrika so gemütsruhig unternimmt, wie wir eine Landpartie machen, dieser gelehrte Professor, der mit den jahrtausendalten Mumien sozusagen auf du und du steht –“

„Und dieser naseweise Ehrwald,“ fiel Ulrike ein, „der weder berühmt noch gelehrt ist und doch immer thut, als ob ihm die ganze Welt gehöre! Herrn Sonneck lasse ich gelten, allenfalls auch noch den Professor, obgleich er eine wahre Manie hat, in dem alten Heidengerümpel herumzustöbern.“

„Heidengerümpel?“ wiederholte Ellrich entsetzt. „Aber mein Fräulein, das sind Funde von unermeßlicher Wichtigkeit, Denkmäler einer mächtigen Vergangenheit, Zeugen einer untergegangenen Kulturepoche –“

„Jawohl, so steht es im Reisehandbuch, und da haben Sie es wahrscheinlich auswendig gelernt,“ fiel ihm Fräulein Mallner ins Wort. „Ich weiß auch Bescheid damit, wir haben uns in Kairo im Museum die ganze Herrlichkeit angesehen und nur heidnisches Gerümpel gefunden. Und was nun vollends die alten Mumien betrifft, so ist es geradezu eine Sünde, sie aus dem Wüstensande, wo sie schon ein paar tausend Jahre liegen, wieder herauszuwühlen.“

„Bitte, sie lagen in den Felsengräbern, drüben in Theben,“ schaltete der angehende Forscher mit großer Sachkenntnis ein.

„Meinetwegen! Ich krieche nicht hinein, und ich würde es mir überhaupt verbitten, wenn man mich nach meinem Tode wieder ausgraben und öffentlich ausstellen wollte, dergleichen Unverschämtheiten ließe ich mir ein für allemal nicht gefallen. Gott sei dank, bei uns in Martinsfelde kann dergleichen nicht passieren, da wird man wenigstens anständig begraben.“

„Guten Tag, meine Damen!“ klang es plötzlich in deutscher Sprache, aber der Gruß hatte eine eigentümliche Wirkung auf die beiden Damen. Die ältere richtete sich kerzengerade auf und starrte den Fremden an, der eben in die offene Thür des Speisesaales getreten war, als sähe sie ein Gespenst. Die jüngere dagegen wurde dunkelrot, der Hut, mit dem sie noch beschäftigt war, entglitt ihren Händen und fiel zu Boden – glücklicherweise, denn während sie sich bückte, um ihn aufzuheben, konnte sie ihre vollständige Fassungslosigkeit einigermaßen verbergen. Der neue Ankömmling schien aber doch etwas davon bemerkt zu haben, denn seine Augen leuchteten auf, als er rasch näher trat.

„Also glücklich angekommen, meine Damen? Das freut mich. Wie befinden Sie sich, gnädige Frau? Ich habe die Ehre, Fräulein Mallner, wir sind ja alte Bekannte.“

Er machte Miene, der „alten Bekannten“ freundschaftlich die Hand zu schütteln, aber sie wich mit einer sehr entschiedenen Bewegung aus und rief mit einer Entrüstung, die sie sich keine Mühe gab, zu verbergen: „Herr Doktor Bertram – sind Sie schon wieder da?“

Der Empfang war nicht gerade ermutigend, aber Doktor Bertram lächelte so verbindlich, als habe man ihn mit offenen Armen aufgenommen.

„Ja, ich bin wieder da. Ich bin gestern abend angekommen, es ist doch merkwürdig, daß wir immer wieder zusammentreffen, wirklich sehr merkwürdig!“

Er hätte diese Merkwürdigkeit damit erklären können, daß auf dem Dampfer, den die beiden Damen benutzten, kein einziger Platz mehr verfügbar gewesen war, daß er deshalb zu seinem großen Mißvergnügen auf das nächste Schiff hatte warten müssen, mit dem er nun schleunigst nachgefahren war, aber er verschwieg das weislich und wandte sich grüßend an Herrn Ellrich, der neben der jungen Frau saß.

„Ein Landsmann, wie ich vermute? Ich hörte, daß Sie deutsch sprachen, als ich heraustrat. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle – Doktor Bertram.“

„Mein Name ist Ellrich,“ versetzte dieser, indem er sich artig erhob, aber da hatte der Doktor schon einen leeren Stuhl an der Hand, schob ihn dem Höflichen zu und ergriff die Lehne des neben Selma freigewordenen, während er sagte:

„Bitte, bemühen Sie sich nicht. Sie wollen mir Ihren Platz abtreten? Das ist wirklich zu liebenswürdig –“ Damit saß er schon neben Selma und machte ein außerordentlich vergnügtes Gesicht.

Herr Ellrich sah etwas betroffen aus, als er sich auf den neuen Sitz niederließ. Inzwischen blickte Fräulein Mallner den Eindringling wütend von der Seite an und bemerkte in grollendem Tone: „Ich denke, Sie sind längst wieder auf Ihrem Schiffe. Das ist ja eine merkwürdige Stellung, die Ihnen erlaubt, wochenlang in Aegypten herumzureisen, während der ‚Neptun‘ regelmäßig seine Fahrten macht.“

Bertram seufzte und nahm eine melancholische Miene an.

„Ich habe leider Urlaub nehmen müssen, ganz gegen meinen Willen. Ich bin nämlich leidend.“

Selma hob erschrocken die gesenkten Augen empor; glücklicherweise war das Aussehen des Herrn Doktors so durchaus beruhigend, daß Ellrich verwundert äußerte: „Sie sehen ja aber aus wie die Gesundheit selbst.“

„Ja, es ist ein Herzleiden,“ erklärte der junge Arzt. „Das kann man dem Patienten nie ansehen, aber es ist sehr gefährlich, besonders wenn es so hochgradig auftritt wie bei mir. Doch Sie haben mir noch gar nicht auf die Frage nach Ihrem Befinden geantwortet, gnädige Frau. Erlauben Sie, daß ich von meinem ärztlichen Vorrechte Gebrauch mache,“ und damit ergriff er die Hand der jungen Frau und begann die Pulsschläge zu zählen.

„Doktor Walter ist unser Arzt!“ fuhr Ulrike mit voller Schärfe dazwischen, aber Bertram ließ sich in seiner ärztlichen Beobachtung durchaus nicht stören.

„Ich weiß, mein Fräulein, aber Kollege Walter hat mir seine Patientin ausdrücklich empfohlen, als er hörte, daß ich nach Luksor ginge. Ich habe versprochen, ihm genauen Bericht zu erstatten. Nicht wahr, Sie haben Vertrauen zu mir, gnädige Frau?“

Er zählte noch immer gewissenhaft die Pulsschläge und fand es dabei für nötig, seiner jungen Patientin angelegentlich in die Augen zu sehen. Selmas Gesicht war wieder wie in Glut getaucht, aber sie ließ sich dies Anschauen ganz ruhig gefallen und machte auch keinen Versuch, ihre Hand zurückzuziehen. Das trug ihr allerdings einen niederschmetternden Blick der Schwägerin ein, die höhnisch die Achseln zuckte.

„Vertrauen? Sie können ja nicht einmal Ihr eigenes Herzleiden kurieren und wollen anderen helfen? Aber so sind die Aerzte! Sie wissen und verstehen natürlich alles und werfen immer mit großen Worten um sich, aber gesund machen können sie niemand!“

Es half ihr aber nichts, daß sie ihre Zuflucht zur äußersten Grobheit nahm, der geschmähte Arzt nickte ihr freundlich zu und sagte im gemütlichsten Tone:

„Ja, so sind wir nun einmal! Aber die Menschheit braucht uns leider und muß uns hinnehmen, in unserer ganzen Erbärmlichkeit. Sie sind ein Original, Fräulein Mallner, und ich freue mich täglich mehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben! Es ist wirklich herzerfrischend, in unserer Zeit der Redensarten und der Heuchelei noch eine solche Offenheit und Aufrichtigkeit zu finden. Sind Sie nicht auch der Meinung, Herr Ellrich?“

Herrn Ellrich wurde es etwas unheimlich bei dem Gespräch, er begriff natürlich nicht den Zusammenhang, aber er sah es doch, daß die Stimmung seiner verehrten Landsmännin eine gewisse Aehnlichkeit mit einem Pulverfaß hatte, das eben explodieren will. Er suchte deshalb möglichst abzulenken und entgegnete: „Fräulein Mallner und ich sind nur leider ganz verschiedener Meinung über Aegypten. Ich bewundere die mächtige Vergangenheit des Pharaonenlandes, die großartige Einförmigkeit seiner Landschaften –“

„Großartig langweilig sind sie, weiter nichts!“ schnitt ihm Ulrike das Wort ab, die sich auf diesen neuen Gegenstand des Gespräches förmlich stürzte, um ihre mühsam zurückgehaltene Wut daran auszulassen. „Rechts die arabische und links die lybische Wüste, wo gar nichts wächst, und in der Mitte dieser Nil, von dem sie so viel Wesens machen und der ebenso langweilig ist. Sandbänke hat er, wir sind auf der Herfahrt zweimal sitzen geblieben, aber Brücken und sonstige Kultureinrichtungen hat er nicht. Mit der Kultur ist es hier überhaupt jämmerlich bestellt. Und nun sitzen wir hier, eines Hustens wegen, der gar nicht mehr da ist. Selma ist ganz gesund, und wenn Doktor Walter vernünftig gewesen wäre, hätte er uns längst nach Hause reisen lassen. Aber als ich auf der [103] Abreise bestand, that er ja, als wäre das ein Verbrechen, und drohte mir wieder mit Selmas Lungenflügeln, die noch immer nicht in Ordnung sein sollen. Nun gut, ich habe auch noch dies Opfer gebracht, aber es ist das letzte. Wenn wir erst in Martinsfelde sind und es kommt mir wieder eine sogenannte ärztliche Autorität über die Schwelle, dann –“

Sie vollendete nicht, aber der Blick, mit dem sie den gerade anwesenden Repräsentanten des verhaßten Standes anschaute, hätte diesen eigentlich vernichten müssen; statt dessen verbeugte sich Bertram mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

„Sie überschätzen mich, Fräulein Mallner,“ versicherte er. „Ich bin keineswegs eine Autorität, nur ein ganz bescheidener Jünger Aeskulaps, aber ich bin Ihnen unendlich verbunden für Ihre schmeichelhafte Meinung.“

Ulrike stand plötzlich auf, sie war zu Ende mit ihrem Vorrat an Grobheit, diesem Menschen war nicht beizukommen. Sie erklärte deshalb, es sei zu heiß auf der Terrasse und man müsse hineingehen. Selma und Herr Ellrich erhoben sich gleichfalls, aber Doktor Bertram that genau dasselbe und trat mit in die große Halle, als gehörte er zu der Gesellschaft.

„Unser Hotel ist vollständig besetzt!“ sagte das Fräulein mit unverkennbarer Schadenfreude.

Bertram hatte diese betrübende Thatsache schon gestern abend erfahren, wo er vom Dampfer schleunigst hergestürzt war, um sich ein Zimmer zu sichern; sie überraschte ihn also nicht, und er versetzte mit heiterer Unbefangenheit: „O, ich bin in dem meinigen recht gut untergebracht. Ich will nur eine Nachricht für meinen Freund Ehrwald zurücklassen, der hier wohnt. Er ist leider ausgeritten, aber ich werde am Nachmittage wiederkommen. Ich werde ihn überhaupt sehr oft besuchen, denn es gefällt mir hier ausnehmend.“

Mit dieser tröstlichen Versicherung empfahl er sich nun endlich und ging, um dem schwarzen Pförtner eine Karte für Ehrwald zu übergeben. Es war wohl nicht bloßer Zufall, daß Selma gleich darauf so eilig die Treppe hinauflief, um ihren Hut und das Arbeitskästchen nach ihrem Zimmer zu tragen. Ulrike blieb mitten in der Halle stehen, wo sich zum Glück sonst niemand befand, sah ihren Landsmann an und fragte mit dumpfer Stimme: „Was sagen Sie dazu?“

Der Landsmann sagte vorläufig gar nichts. Er hegte eine dunkle Furcht, daß sich das Pulverfaß gegen ihn entladen werde, wenn er irgend eine unliebsame Antwort gebe, endlich erwiderte er vorsichtig: „Sie scheinen den Herrn Doktor Bertram nicht besonders gern zu sehen.“

„Diesen Menschen?“ rief das Fräulein mit einem krampfhaften Auflachen. „Freilich, Sie haben ihn ja heute zum erstenmal gesehen und wissen nicht, daß er uns schon wochenlang verfolgt. Von Alexandrien ist er uns nach Kairo gefolgt, von Kairo nach Luksor. Ich habe alles mögliche versucht, ihn loszuwerden, zuerst versuchte ich es mit der Grobheit, und ich kann sehr grob sein, das versichere ich Ihnen!“

Sie schaute den kleinen Herrn herausfordernd an, ob er sich etwa erlaube, daran zu zweifeln, er machte aber nur eine zustimmende, etwas ängstliche Verbeugung, die hinreichend ausdrückte, daß er diese hervorragende Eigenschaft der Dame in ihrem vollen Umfange kannte und schätzte, und dadurch befriedigt, fuhr sie fort:

„Aber bei dem verfängt das nicht! Seit wir ihm damals in der Muski begegneten, heftet er sich förmlich an unsere Fersen. Wir gehen aus, um noch ein paar Einkäufe für die Reise zu machen, da taucht er plötzlich auf, gesellt sich zu uns und behauptet, er müsse auch einkaufen. Wir sind bei dem Doktor Walter, um uns zu verabschieden, da erscheint er auf einmal, sagt dem Diener: ‚Ich muß den Kollegen augenblicklich sprechen, eine dringende medicinische Angelegenheit!‘ und dabei marschiert er in das Sprechzimmer, wo der Doktor sich mit Selma befindet, während ich draußen sitze. Wir gehen an Bord des Dampfers, da steht er schon auf dem Verdeck und erklärt, er wolle uns Lebewohl sagen. Er blieb denn auch bis zur letzten Minute und kam nur noch mit genauer Not ans Land. Hier in der Wüste glaubten wir wenigstens vor ihm sicher zu sein, und jetzt ist er schon wieder da – es ist furchtbar!“

„Aber welchen Grund hat denn dieser Herr, Sie so unausgesetzt zu verfolgen?“ fragte Ellrich, der bei dieser Schilderung ganz ängstlich geworden war.

Ulrike antwortete nicht sofort, obgleich es ihr nachgerade klar geworden war, welcher Magnet den jungen Arzt anzog. Sie hatte sich lange gesträubt, daran zu glauben, daß irgend ein Mensch und wäre es selbst ein Arzt – sich bis zu der Höhe des Frevels versteigen könne, um die Witwe des seligen Martin zu freien und sie ihrer Witwenschaft abwendig zu machen; aber schließlich sah sie doch ein, daß diese Frevelthat wirklich beabsichtigt war, und seitdem war ihr ganzes Dasein ein ununterbrochener Kampf dagegen gewesen.

„Auf meine Schwägerin hat er es abgesehen!“ brach sie endlich aus. „Und alle Welt kommt ihm zu Hilfe. Auch Herr Sonneck findet gar nichts so Ungeheuerliches an dieser Heirat.“

„Ah so, heiraten will der junge Mann!“ rief Ellrich erleichtert. „Weiter nichts?“

„Ist das etwa nicht genug?“ Das Fräulein rückte ihm bei dieser Frage so drohend auf den Leib, daß er ängstlich zurückwich.

„Ja gewiß – natürlich – aber wenn nun Frau Mallner damit einverstanden ist?“

„Das wollte ich ihr nicht raten, und diese himmelschreiende Undankbarkeit traue ich ihr denn doch nicht zu! Als blutarme Waise haben wir sie aufgenommen, jetzt ist sie eine vermögende Frau und auf ihr Vermögen allein hat es dieser Doktor abgesehen, das habe ich Selma schon hundertmal gesagt.“

„Weiß er denn überhaupt davon?“ warf Ellrich ein.

„Nein, aber er spekuliert darauf,“ behauptete Ulrike in höchst unlogischer Weise. „Aber noch bin ich da und ich werde dafür sorgen, daß der schändliche Plan nicht gelingt. Mein seliger Martin würde sich ja im Grabe umdrehen, er würde im Jenseits keine Ruhe haben, und wenn er wiederkommt – dieser Spekulant, dieser Intriguant, dieser –“ Fräulein Mallner suchte nach Worten, die eine noch höhere Verachtung ausdrücken sollten, fand sie aber nicht und wiederholte deshalb drohend: „Noch bin ich da – und Sie, Herr Ellrich, Sie werden mir helfen, Selma zu bewachen, wir dürfen sie nicht eine Minute allein lassen!“

Herr Ellrich schien nicht gerade erbaut zu sein von der ihm zugewiesenen Rolle und machte einen Versuch, sie abzulehnen.

„Aber ich werde in den nächsten Tagen gar nicht hier sein. Professor Leutold und Herr Sonneck haben mich so freundlich eingeladen, sie zu begleiten, und da kann ich doch nicht –“

„Sie bleiben hier!“ unterbrach ihn Ulrike gebieterisch. „Sie werden uns beistehen als Landsmann und Deutscher, als Mann überhaupt, denn wir sind zwei verlassene hilflose Frauen, ohne Schutz – das versteht sich ganz von selbst!“

Der kleine Herr blickte mit kläglicher Miene zu der „verlassenen hilflosen Frau“ empor, die von ihm verlangte, er solle sie als Mann und Deutscher schützen, und ihn dabei so ingrimmig ansah, als wolle sie ihn im Weigerungsfalle gleich übern Haufen werfen. Vollständig eingeschüchtert versprach er alles, was sie nur begehrte. Sie nickte ihm gönnerhaft zu und stieg dann die Treppe hinauf, um das Strafgericht über ihre Schwägerin abzuhalten. Herr Ellrich blieb unten stehen und sah ihr nach.

„Eine merkwürdige Frau!“ sagte er halblaut, mit scheuer Bewunderung. „Ich möchte wohl wissen, ob Doktor Bertram mit ihr fertig wird!“




An dem hohen Uferrande des Nils lag eine Gruppe von Dattelpalmen, deren mächtige Kronen Schutz gewährten vor den sengenden Strahlen der Sonne. Es war ein glühend heißer Tag, wie er in dieser Jahreszeit selbst hier zu den Seltenheiten gehört, und die hier weilenden Europäer hielten sich meist in den kühlen Zimmern eingeschlossen.

Am Fuße einer der Palmen saß Lothar Sonneck, der, längst an dies Klima gewöhnt, die Hitze kaum zu empfinden schien, das Skizzenbuch auf den Knien, und zeichnete. Er besaß ein ausgesprochenes Talent dafür, wenn sein Reiseleben ihm auch nie Zeit und Muße gelassen hatte, es wirklich künstlerisch auszubilden, aber seine Mappen bargen eine Fülle von Motiven und Entwürfen, um die ihn jeder Maler hätte beneiden können. Augenblicklich zeichnete er den Landsitz des Herrn von Osmar, der sich in geringer Entfernung auf einem Vorsprunge des Ufers erhob, von schönen Dum- und Dattelpalmen umgeben. Er war eben mit seiner Skizze fertig geworden und schloß das Buch, als Schritte hinter ihm ertönten. Gleich darauf stand Reinhart Ehrwald neben ihm und reichte ihm ein Telegramm.

„Eine Depesche aus Kairo, wahrscheinlich von unserem [104] Agenten,“ sagte er hastig. „Vielleicht bringt sie endlich die ersehnte Nachricht, wir warten ja täglich und stündlich darauf.“

„Und da hast Du es natürlich nicht ausgehalten, bis ich zurückkam, und bist im Sturmschritt hierhergelaufen,“ tadelte Sonneck, mit einem Blick in das glühend erhitzte Gesicht des jungen Mannes. Doch dieser unterbrach ihn mit stürmischer Ungeduld: „Schelten Sie mich nachher, aber jetzt, bitte, lesen Sie!“

Lothar öffnete das Telegramm und durchflog es, dann reichte er es seinem jungen Gefährten, der mit äußerster Spannung in seinen Zügen zu lesen versuchte.

„Nun ja, Du hattest recht, es ist die erwartete Nachricht. Der Agent teilt mir mit, daß die letzten Schwierigkeiten gehoben sind. Wir können aufbrechen.“

„Endlich! Endlich!“ jubelte Reinhart laut auf. „Es war auch die höchste Zeit.“

„Das war es allerdings, wir haben fast zwei Monate verloren und müssen uns beeilen, wenn wir das Versäumte wieder einbringen wollen. Ich werde zurücktelegraphieren, daß unsere Leute mit dem Gepäck sofort aufbrechen sollen. Wenn sie für die Hälfte des Weges die Bahn benutzen, können sie in drei bis vier Tagen hier sein und dann –“

„Dann geht es hinaus in die Weite,“ ergänzte Ehrwald mit strahlenden Augen. „Hinein in das Reich der Fata Morgana!“

„Du jubelst ja wie ein Kind bei der Weihnachtsbescherung,“ sagte Sonneck. „Wird es Dir wirklich so leicht, von Luksor zu scheiden, ich meine – von dort?“

Er wies hinüber nach dem Landsitz des Generalkonsuls, der junge Mann lächelte flüchtig.

„Nun, man braucht ja nicht auf immer zu scheiden, man kann sich ja sagen: Auf Wiedersehen!“

„Gewiß, und das hängt wohl nur von Dir ab, aber mir scheint, als hättest Du das Osmarsche Haus in der letzten Zeit eher gemieden als aufgesucht. Das ist von gewisser Seite sehr ungnädig bemerkt worden und ich bin beauftragt, Dir deswegen den Text zu lesen.“

„Beauftragt – von wem? Doch wohl nicht von dem Herrn Konsul?“ fragte Reinhart scharf.

„Nein, von Zenaide, aber weshalb fragst Du?“

„Weil Herr von Osmar sein Benehmen gegen mich geändert hat. Er ist ja höflich genug, aber die Güte und Vertraulichkeit fehlt, mit der er mich sonst behandelte. Bisweilen habe ich sogar das Gefühl, als seien ihm meine Besuche überhaupt lästig und als nehme er sie nur um Ihretwillen hin.“

Sonneck hatte längst die gleiche Beobachtung gemacht, aber er erwiderte mit vollster Gelassenheit: „Er wird wohl entdeckt haben, wie es zwischen Dir und Zenaide steht. Hast Du etwa erwartet, er werde Dich mit offenen Armen aufnehmen, Dich, der nichts in die Wage zu legen hat als seine Zukunft, während auf der andern Seite ein Bewerber steht wie Lord Marwood? Du mußt darauf gefaßt sein, um die Braut zu kämpfen, und Du liebst ja sonst den Kampf so sehr, scheust Du ihn hier allein?“

„Den Kampf mit dem Vater – nein!“ sagte Reinhart heftig. „Aber den mit dem reichen Manne, der in mir vielleicht nur eine Art Glücksritter sieht und mich als solchen verachtet – der Gedanke schießt mir oft heiß durch den Kopf! Wenn ich das jemals empfinden müßte, dann freilich hätte ich das Osmarsche Haus zum letztenmal betreten!“

„Das heißt also – Du würdest Zenaide aufgeben?“

Die Frage klang ernst und vorwurfsvoll. Der junge Mann antwortete nicht, aber in seinen Zügen prägte sich ein herber Trotz aus.

„Wenn Du das kannst, dann liebst Du sie nicht,“ fuhr Sonneck mit Nachdruck fort, „und dann ist es allerdings besser, Du scheidest ohne Erklärung. Lord Marwood wird Dir sehr dankbar sein, wenn Du ihm den Platz räumst.“

Es trat eine Pause ein, Reinhart schien mit sich zu kämpfen, endlich sagte er halblaut: „Halten Sie es für möglich, daß Zenaide einem Manne wie diesem Marwood die Hand reichen könnte?“

„Wenn sie ihren Jugendtraum begraben muß und der Vater in sie dringt – wahrscheinlich! Eine Konvenienzheirat ist ja gewöhnlich das Los von ihresgleichen. Zenaide wollte freilich lieben und geliebt sein! Doch ich möchte Dich da nicht beeinflussen. Es ist immer schwer und verantwortungsreich, in ein Menschenschicksal einzugreifen, am schwersten dann, wenn es nicht die gewöhnlichen Bahnen des Alltagslebens geht. Wenn wir Luksor verlassen, muß die Entscheidung ja doch gefallen sein – so oder so!“

Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. „Ich werde jetzt unverzüglich die Depesche nach Kairo aufgeben. Kommst Du mit?“

„Nein,“ versetzte Ehrwald einsilbig, „ich möchte hier bleiben.“

Sonneck winkte einen kurzen Abschiedsgruß und entfernte sich, während sein junger Gefährte sich auf den Boden niederwarf und träumerisch in die Kronen der Palmen hinaufblickte.

Liebte er denn Zenaide wirklich? Er war nicht gleichgültig geblieben dem schönen Mädchen gegenüber, gewiß nicht, aber der geschmeichelte Stolz, der allein Bevorzugte zu sein, wo sich sonst niemand eines Vorzuges rühmen konnte, hatte wohl auch seinen Anteil an dieser Empfindung. Vorhin, als die Nachricht von dem nahen Aufbruch eintraf, da hatte er aufgejubelt in stürmischer Freude. Jetzt endlich that sich die ersehnte Ferne vor ihm auf wie ein goldenes Zauberland, und jetzt empfand er es fast wie eine Fessel, daß er einer Frau Wort und Treue verpfänden sollte, sich binden sollte für die Rückkehr. Mochte der Besitz noch so kostbar sein, eine Fessel blieb es doch!

„Ich glaube, ich tauge nicht für die Liebe!“ sagte er halblaut. „Da liegt es nicht, was ich ersehne, das große, das märchenhafte Glück – aber wo dann?“

Da ertönte helles Kinderlachen in unmittelbarer Nähe. Am Rande des Ufers, das hier ziemlich hoch und steil gegen den Nil abfiel, tauchte ein Köpfchen auf, von einem breitrandigen Strohhut beschattet, dann wurde eine kleine, zierliche Gestalt sichtbar, die sehr geschickt emporkletterte und sich endlich leicht wie ein Vogel auf das Ufer schwang, und nun jubelte eine Kinderstimme: „Ich bin doch die Erste! Komm, Hassan, komm! Ich bin schon oben!“

Reinhart hob den Kopf und gewahrte die kleine Elsa von Bernried, die dort drüben stand und mit beiden Händchen winkte; jetzt zeigte sich auch eine zweite, dunkelfarbige Gestalt, die nicht größer war und eiligst nachstrebte. Sie gewann gleichfalls das Ufer und nun rannten die beiden Kinder erhitzt, atemlos, aber mit lautem Jauchzen den Palmen zu.

„Elsa, wie kommst Du hierher?“ rief der junge Mann erstaunt, die Kleine außerhalb des Osmarschcn Gartens und ohne jede Aufsicht zu sehen. Elsa gewahrte erst jetzt den Daliegenden, zeigte aber keine besondere Ueberraschung bei seinem Anblick. Sie verstand es sonst, einen sehr zierlichen Knix zu machen, und man hatte sie gelehrt, jeden fremden „Onkel“ damit zu begrüßen. Reinhart Ehrwald gehörte aber in ihren Augen nun einmal nicht zu dem weitverbreiteten Geschlechte der Onkel, sie war nie zu bewegen gewesen, ihm diesen Namen zu geben. Sie zog trotzig ihren kleinen braunen Gefährten mit sich in den Palmenschatten und antwortete:

„Wir sind fortgelaufen. Wir sollen immer im Garten spielen und nie an den Nil hinuntergehen! Das ist so langweilig! – Aber heute wurde Fatme in das Haus gerufen und kam nicht wieder, da rief ich den Hassan und husch! waren wir fort.“

„Das war sehr unartig,“ sagte Reinhart strafend.

„Ja, aber es war so lustig,“ versetzte die Kleine, die sich sehr über den Streich zu freuen schien. „Wir haben so schön gespielt und das Lustigste war das Hinaufklettern, nicht wahr, Hassan?“

Der kleine Aegypter stand ungefähr in dem gleichen Alter wie seine Spielgefährtin; besonders schön war er gerade nicht, aber das dunkelbraune Gesichtchen mit den schmalgeschlitzten, pechschwarzen Augen und den wulstig aufgeworfene Lippen hatte einen ungemein drolligen Ausdruck. Man hatte zwar das Möglichste gethan, um ihn zu verschönen, und ihm nach morgenländischer Sitte den winzigen braunen Schädel ganz kahl geschoren. Nur an beiden Seiten, über den Ohren, waren zwei Haarbüschel stehen geblieben, die einsam emporstrebten und ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit einem jungen Uhu gaben. Seine Kleidung bestand in einem Hemde von blauem Baumwollenstoff, das nur leider viel zu lang geraten war, es schleppte am Boden nach und war sehr hinderlich beim Gehen. Dies einzige Kleidungsstück wurde mit vieler Würde getragen, aber das ganze braune Kerlchen war trotzdem behend und flink wie ein Aeffchen.

Die beiden Kinder sprachen ein ganz merkwürdiges Kauderwelsch, aus arabischen und deutschen Brocken gemischt, die sie wohl im gegenseitigen Verkehr gelernt hatten, aber sie verstanden sich vollkommen und wo die Worte nicht ausreichten, nahmen sie eine höchst ausdrucksvolle Zeichensprache zu Hilfe.

[105]

Die Papierschlacht.
Nach einer Originalzeichnung von Oskar Gräf.

[106] Elsa hatte ihren Strohhut abgenommen und setzte sich nun, ihr Röckchen sorgsam aufhebend, auf den Boden. Es konnte nicht leicht einen größeren Gegensatz geben als die kleine Europäerin, in dem luftigen weißen Kleidchen, mit dem rosigen Gesicht und dem offenen Blondhaar, sonnig und licht wie eine Elfe, und dem dunkelfarbigen kleinen Afrikaner, der sich an ihrer Seite niedergekauert hatte und sie unverwandt anstarrte wie ein treuer Pudel, der das Auge nicht von seinem Herrn läßt. Auch Ehrwald drängte sich dieser Kontrast auf.

„Du hast Dir ja da einen echt afrikanischen Kavalier ausgesucht,“ spottete er. „Viel Staat kannst Du gerade nicht mit ihm machen, aber ich glaube, ich habe dies kleine Affengesicht schon einigemal in Eurem Garten gesehen.“

„Hassan ist kein Affe!“ belehrte ihn entrüstet die Kleine, die diese Bezeichnung ihres Spielgefährten sehr übelnahm. „Er ist der Sohn unsres Gärtners und ich spiele immer mit ihm, denn er thut alles, was ich will.“

„Und das ist Dir jedenfalls die Hauptsache,“ ergänzte Reinhart. „Also durchgegangen seid ihr und habt trotz des Verbotes unten am Nil gespielt? Da wird Tante Zenaide Dich schelten.“

„Tante Zenaide schilt nie,“ sagte Elsa. „Sie ist sehr, sehr gut, aber auf Dich ist sie böse, weil Du gestern nicht gekommen bist. Sie hat geweint darüber.“

„Geweint?“ Der junge Mann richtete sich halb auf und stützte sich auf den Ellbogen. „Woher weißt Du das?“

„Ich habe es gesehen. Ich glaube, Tante Zenaide mag Dich leiden, aber der Onkel Konsul mag Dich gar nicht.“

„O, Du siebenjährige Weisheit, hast Du das auch schon herausgefunden?“ lachte der junge Mann. „Magst Du mich denn jetzt, kleine Else?“

„Nein!“ kam es mit herber Entschiedenheit von den Lippen der Kleinen, die sich jetzt zu Hassan wandte und mit ihm zu plaudern begann.

„Ich gehe nun sehr bald fort,“ erklärte sie. „Weit fort über das Meer, viele hundert Meilen weit, zu meinem Großpapa nach Deutschland und dann können wir nicht mehr miteinander spielen, Hassan, denn Du kannst nicht mitreisen und mußt in Afrika bleiben. Hast Du das verstanden?“

Hassan verstand die größtenteils deutsche Erzählung durchaus nicht. Er hörte mit offenem Munde zu und grinste höchst vergnügt seine Spielgefährtin an, die sich darob sehr beleidigt fühlte.

Sie wiederholte daher die Worte „Weit, weit fort!“ in der Landessprache und bemühte sich, ihm halb arabisch, halb pantomimisch die bevorstehende Trennung klarzumachen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der kleine Aegypter das begriff, er hatte es aber nicht sobald gefaßt, als er auch sofort in ein lautes Geheul ausbrach und unter fortwährendem stoßweisen Schluchzen immer wieder „La! La!“ schrie.

„Er sagt Nein,“ triumphierte Elsa mit einem Blick nach Ehrwald hinüber. „Aber das hilft Dir nichts, Hassan, ich gehe doch fort und Du darfst nicht so schreien darüber. Du bist ja ein Bub’! Schäme Dich doch!“

Der Appell an sein Ehrgefühl fand gar keinen Anklang bei Hassan. Er brüllte weiter, faßte mit seinen schwarzbraunen Händchen den Arm der Spielgefährtin, als wollte er sie festhalten, und brach bei jedem Versuche, ihn zu beruhigen, in ein erneutes Jammergeschrei aus. Elsa war offenbar sehr befriedigt von diesem Eindruck. Sie wollte ihr Taschentuch hervorziehen, um die Thränen abzutrocknen, die über die Wangen des kleinen Aegypters kugelten, vermißte es jedoch.

„Mein Tuch!“ rief sie. „Wo hast Du es gelassen, Hassan? Ich hatte es Dir ja über den Kopf gebunden, weil die Sonne gar so arg brannte und sie Dir alle Haare abgeschnitten haben. Hast Du es verloren?“

Da sie diesmal gleich die Pantomime zu Hilfe nahm, so verstand Hassan sofort, er hörte auf zu schreien und griff sehr betroffen nach seinem Kopfe, wo das Tuch sich nicht mehr fand.

„Dann liegt es unten am Wasser,“ rief die Kleine. „Geh’ gleich hinunter und hole es mir!“

Das war jedoch nicht nach dem Geschmack Hassans, er wollte hier im Palmenschatten bleiben und wehrte sich auf arabisch gegen die nochmalige Rutsch- und Kletterpartie in dem glühenden Sonnenbrand. Da kam er aber übel an bei der kleinen Tyrannin.

„Du gehst und suchst das Tuch!“ befahl sie aufspringend und zeigte gebieterisch auf die Stelle, wo sie emporgeklommen waren. „Du hast es verloren, Du mußt es mir wiederbringen. Lauf, Hassan, lauf!“

Hassan gab den ferneren Widerstand auf. Er trottete ab wie ein gehorsamer Pudel, setzte sich glatt auf den Uferrand und fuhr rittlings hinab in die Tiefe.

„Du bist ja sehr befehlshaberisch angelegt, kleine Else,“ sagte Reinhart, der, obgleich er ganz andere Gedanken im Kopfe hatte, es nicht lassen konnte, sie wieder zu necken. „Aber dies Spielen am Nil sollte man euch ernstlich verbieten. Dem Hassan schadet es nichts, wenn er ins Wasser fällt, der puddelt wieder heraus wie ein junger Hund, Du aber würdest ertrinken, wenn ich nicht zufällig in der Nähe wäre, um Dich herauszufischen.“

„Du sollst mich nicht herausfischen, das leide ich nicht!“ fuhr die Kleine entrüstet auf, aber ihr Zorn reizte den jungen Mann nur noch mehr zum Lachen.

„Oho, ist die Feindschaft so groß, daß Du lieber ertrinken willst? Trotzkopf! Hast Du den Kuß von damals noch nicht vergessen?“

Elsa antwortete nicht, aber sie blitzte ihn feindlich an mit ihren dunkelblauen Augen. Doch Reinhart schien nun einmal ein eigenes Vergnügen daran zu finden, in diese feindseligen Kinderaugen zu blicken, und er that das auch jetzt unverwandt.

„Also Du reisest nun fort?“ hob er wieder an; die Kleine nickte.

„Ja, zu meinem Großpapa nach Kronsberg.“

„Kronsberg!“ Es legte sich wie ein finsterer Schatten auf die Stirn Ehrwalds und er wiederholte das Wort mit einem eigentümlich grollenden Ausdruck.

„Und da ist es sehr schön, sagt Onkel Sonneck,“ fuhr Elsa fort. „Er weiß es vom Großpapa. Bist Du auch schon einmal dagewesen?“

„Ja!“ sagte Reinhart kurz und hart.

„O – erzähl’ mir davon!“

Die Neugier der Kleinen überwog ihre Abneigung, sie kam näher, stellte sich vor den jungen Mann hin, und als er noch immer schwieg, drängte sie ungeduldig: „So erzähl’ mir doch! Ist es schön da? So schön wie hier?“

Er hatte sich erhoben und strich langsam mit der Hand über die Stirn, während sein Auge hinausschweifte in die sonnendurchglühte Landschaft.

„Es ist anders, Elsa, ganz anders! Dort sind hohe Berge, viel höher als hier, sie reichen bis an den Himmel und auf ihren Häuptern liegt Eis und Schnee. Und weite Wälder sind ringsumher, dunkle Tannen, in denen es rauscht und weht und flüstert. Von den Bergen stürzen die Wasser, schäumend und tosend, an den Felswänden jagen die Wolken hin, und wenn die Stürme brausen um die Schneegipfel und durch die Thäler, dann wird es Frühling – in der Heimat!“

Er sprach halblaut und träumerisch, mehr zu sich selber als zu dem Kinde, das ihn nur halb verstand, aber es wehte etwas wie Sehnsucht hervor aus den Worten. Die Schilderung regte trotzdem die Phantasie der Kleinen an, vielleicht dämmerte auch in ihrem Köpfchen eine dunkle Erinnerung an das Land auf, wo sie geboren war und von dem ihr der Vater erzählt haben mochte. Sie hörte gespannt zu und fragte dann lebhaft:

„Und da wohnt der Großpapa? Wirst Du auch wieder hinkommen?“

„Nein – niemals!“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich es hasse!“ brach Reinhart plötzlich mit wilder Heftigkeit aus. Er dachte nicht mehr an das Kind.

Seine Stirn war finster wie die Nacht und seine Augen flammten drohend, während er die Worte zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorstieß. Der jähe, wilde Ausbruch hätte ein anderes Kind sicherlich erschreckt, aber die kleine Elsa glich nun einmal nicht andern Kindern. Sie hatte dem jungen Manne bisher die vollste Abneigung gezeigt, jetzt schien sie seltsamerweise zutraulich zu werden. Sie kam dicht an seine Seite und fragte angelegentlich: „Waren sie bös mit Dir, die Leute dort?“

„Ja, sehr bös,“ sagte Ehrwald herb. „Ich habe ihnen freilich auch Schlimmes angethan!“

„Und da hast Du geweint?“ fragte mitleidig die Kinderstimme. Reinhart lachte laut auf, aber es war ein grelles, höhnisches Lachen.

„Geweint? Nein, kleine Elsa, da weint man nicht. Man beißt die Zähne zusammen und schlägt um sich, gleichviel, wohin es trifft. Man macht sich Bahn durch das Gesindel und geht [107] davon auf Nimmerwiederkehr. So habe ich es gemacht, und das hat mir die Freiheit eingebracht, die goldene herrliche Freiheit. Jetzt soll es einer versuchen, sie mir wieder zu nehmen!“

Der Mann, der in seiner sprudelnden Heiterkeit, seinem kecken Uebermut jedem nur als die Verkörperung heißer, stürmischer Lebensfreude erschien, war wie verwandelt in diesem Augenblick. Es that sich da plötzlich eine dunkle, drohende Tiefe auf, die sich sonst vor aller Welt verschloß, selbst vor dem väterlichen Freunde, der ihm ein so großmütiges Vertrauen bewies. Jetzt öffnete sie sich vor einem Kinde, das nichts davon verstand und in der nächsten Stunde schon den seltsamen Ausbruch vergaß; aber was da auf dem Grunde ruhte, versunken und halb vergessen, das brach nun plötzlich mit elementarer Gewalt hervor, als müßte es sich Luft machen um jeden Preis. Das Kind blickte halb scheu, halb mitleidig zu ihm auf, es begriff nichts von dem allem, aber es fühlte instinktmäßig, daß der Mann dort litt.

Die Mittagsstunde nahte und die Luft wurde immer schwüler und drückender. Luksor lag seitwärts hinter den Palmen, die es den Blicken entzogen.

Dort über der fernen Wüste lagerte es wie eine Wolke von glühendem Dunst, die anfangs farblos und gestaltlos erschien, aber allmählich sich goldig zu färben begann. Bisweilen schien es, als wollte der Dunst sich lichten, und dann zeigten sich seltsame Bilder darin, schwankend und schleierhaft, aber sie zerflossen, sobald das Auge sie festzuhalten versuchte.

Die ganze Landschaft ringsum war wie in brennende Sonnenglut getaucht. Gelb leuchteten die kahlen Wüstenberge drüben am jenseitigen Ufer, gelb schimmerten die Fluten des Nils, die langsam in kaum sichtbarer Bewegung dahinzogen, und dort, wo seine Windungen sich in der Ferne verloren, dehnte sich das gelbe Sandmeer der Wüste aus. Alle anderen Farben schienen zu erblassen und zu erlöschen in dem grellen blendenden Lichte der Mittagssonne, selbst die Palmenwälder standen grau und farblos in der heißen flimmernden Luft.

Reinhart stand unbeweglich an den Stamm der Palme gelehnt und blickte hinaus in die Ferne. Die gelbe Dunstwolke dort am Wüstenrande schimmerte jetzt im tiefen Goldton, es leuchtete und zuckte darin wie von verborgenen Strahlen, und wieder zeigten sich jene Bilder, anfangs nur wie lichte Schemen, aber sie wurden immer klarer, immer deutlicher. Es war, als hebe sich langsam ein Schleier von einer fremden, geheimnisvollen Welt, die sich hinter jenem glühenden Nebel barg.

Da formten sich Kuppeln und Türme, und eine ganze Märchenstadt von schimmernden Palästen dämmerte hervor aus der goldigen Lichtflut. Riesenpalmen hoben ihre mächtigen Fächer in die Luft, und dahinter ragten hohe Berge empor, deren Gipfel verschwammen im schneeigen Glanz. An ihren Fuß schmiegte sich ein See mit leuchtender, wogender Flut und nun erglühte das Ganze im rosigen Scheine, als sei es angestrahlt von Morgengluten. Das erträumte Wunderland, das Land voll Glanz und Licht, da stand es, fern, fern am Horizont, in unerreichbarer Weite, aber geisterhaft schön!

„O, was ist das?“ fragte die kleine Elsa verwundert und entzückt. Reinhart verharrte noch immer regungslos an seinem Platze, aber sein Auge hing wie gebannt an dem schimmernden Luftgebilde und leise, als könnte ein lautes Wort den Zauber zerstören, sagte er: „Das ist die Fata Morgana!“

„Fata Morgana?“ sprach das Kind nach und dann schwieg es gleichfalls und schaute, weit vorgebeugt, mit großen Augen auf das Wüstenbild.

Das dauerte Minuten oder Viertelstunden – sie wußten es nicht, dann entschwebte die Erscheinung, langsam und geheimnisvoll, wie sie aufgetaucht war. Die hohen Berge verdämmerten im rosigen Duft, der See schien sich weit und immer weiter auszudehnen, er wurde zum uferlosen Meere und darin versanken die Palmen und die schimmernde Märchenstadt. Jetzt erblaßte auch der rosige Schein und alles zerfloß und zerrann in eine einzige Goldflut. Aber auch sie wurde matter und matter, dichter ballte sich der Nebel zusammen, nur jenes seltsame Leuchten zuckte noch bisweilen hindurch. Endlich erlosch auch das, und über der fernen Wüste lagerte wieder der glühende Dunst.

„Das schöne Land – jetzt ist es fort!“ rief die kleine Elsa. Reinhart fuhr auf, wie aus einem Traum erwachend. Er sah auf das Kind und dann umher, als müßte er sich erst besinnen, wo er sei.

„Ja, jetzt ist es verschwunden!“ sagte er mit einem tiefen Atemzuge. „Aber ich habe es doch geschaut – nun werde ich es auch zu finden wissen!“

Elsa sah ihn zweifelnd an, sie mochte doch das Unirdische jenes glänzenden Luftbildes ahnen, das in den Wolken zu schweben schien, und schüttelte das Köpfchen.

„Es ist aber sehr, sehr weit! Können wir denn hinkommen?“

„Wir? Willst Du mit, kleine Else?“ fragte Reinhart, bei dem jetzt wieder der alte stürmische Uebermut aufflammte. „Dann nehme ich Dich vor mich aufs Roß und wir jagen hinein in die Wüste, jagen Tag und Nacht, immer weiter und weiter, bis wir es erreicht haben, das Wunderland, wäre es auch mit einem Ritt auf Leben und Tod!“

Die Augen des Kindes strahlten. Es war noch ganz märchengläubig und hatte ja eben erst einen Blick in eine Märchenwelt gethan – da erschien ihm dieser phantastische Ritt, den es natürlich buchstäblich nahm, durchaus glaubhaft. Es schlug jubelnd in die Hände und rief: „Ja, ja, ich will mit!“

„Mit mir? Ich denke, Du magst mich nicht leiden,“ neckte der junge Mann. „Hast Du jetzt Frieden mit mir gemacht? Aber ich fürchte, ich kann Dich trotzdem nicht mitnehmen, denn Du reisest ja fort, weit über das Meer, nach Deutschland.“

Das Gesicht der Kleinen wurde sehr nachdenklich, sie überlegte augenscheinlich, ob der versprochene Wüstenritt nicht doch am Ende der Fahrt über das Meer vorzuziehen sei, endlich versetzte sie etwas kleinlaut: „Onkel Sonneck sagt, ich müsse heim zum Großpapa.“

„Heim – jawohl!“ wiederholte Reinhart in einem eigentümlich verschleierten Tone. Er beugte sich nieder und sah tief in die blauen Kinderaugen, während er fortfuhr: „Und wenn Du heimkommst, zu den hohen Bergen und den dunklen Wäldern, den stürzenden Wassern, dann – dann bringe ihnen einen Gruß, hörst Du, Elsa!“

„Von wem?“ fragte die Kleine unbefangen. Da hob sie Ehrwald mit beiden Armen empor und preßte sie fest an sich, sie fühlte ein paar heiße, zuckende Lippen auf den ihrigen und eine bebende, halberstickte Stimme flüsterte: „Von dem verlornen Sohn!“

Seltsam, diesmal sträubte sich das Kind nicht gegen die ungestüme, fast wilde Liebkosung, es schaute mit seinen großen Augen unverwandt in das Gesicht des jungen Mannes und sagte ernsthaft:

„Siehst Du – nun weinst Du doch!“

Reinhart zuckte zusammen und setzte mit einer heftigen Bewegung die Kleine wieder auf den Boden.

„Nein, ich weine nicht!“ sagte er rauh.

Elsa strich mit den kleinen Fingern über ihre Stirn, wo ein paar heiße brennende Tropfen zurückgeblieben waren, und sah dann wieder empor; sie schien nicht recht an die Ableugnung zu glauben. Da ließen sich Stimmen in einiger Entfernung hören, von denen die eine in arabischen Lauten abwechselnd schalt und jammerte, während eine Kinderstimme in derselben Sprache antwortete. Die Kleine horchte auf.

„Das ist Fatme, sie sucht mich und den Hassan hat sie schon gefunden.“

In der That wurde jetzt an einer anderen, minder abschüssigen Stelle des Ufers Hassan sichtbar, mit dem glücklich gefundenen Tuche, das er gewissenhaft wieder über den Kopf gebunden hatte, und hinter ihm eine alte Negerin, die, sobald sie Elsa erblickt hatte, schleunigst auf sie zustürzte und sie halb scheltend, halb liebkosend an sich zog.

„Ja, da sind sie, die beiden Durchgänger,“ sagte Reinhart, gleichfalls auf arabisch. „Das nächste Mal gieb besser acht, Fatme, sonst laufen sie Dir wieder davon.“

Fatme erschöpfte sich in Entschuldigungen und Beteuerungen, dann nahm sie die Kleine fest an die Hand, als fürchtete sie ein erneutes Fortlaufen, und führte sie davon, während Hassan der Spielgefährtin eiligst nachlief. Elsa folgte willig, aber nach einigen Schritten wandte sie sich um, blickte zurück und rief beinahe triumphierend: „Und Du hast doch geweint!“

Reinhart blieb allein. Er stampfte wie zornig über sich selbst mit dem Fuße. „Daß man sie doch nicht los wird, die alten Erinnerungen! Man wird noch ganz und gar zum Schwächling dabei und schämt sich dann vor einem Kinde. Pah, was hat es verstanden davon!“

Er warf mit einer energischen Bewegung den Kopf zurück und richtete sich empor. „Fort mit der Vergangenheit, ich habe sie abgeschworen! Hinter mir Nacht – vor mir Tag und was für ein herrlicher goldener Tag! Du hast mir den Weg gezeigt, du leuchtende Fata Morgana – ich komme!“

(Fortsetzung folgt.)


[108] 0Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

„Zweiter Jüte.“

Eine Berliner Droschkenstudie von Hans Kraemer. Mit Bildern von Colanus.


Mit Windeseile flog der Eilzug der Kaiserstadt an Spree entgegen; schon war er an Potsdams herrlichen Schlössern vorübergebraust, und neben die blanken Schienen der Hauptlinie, die den Süden des Reiches mit dem Norden verbindet, reihten sich bereits die Geleise der Vorortbahnen. In kurzen Abständen rollten vollbesetzte Lokalzüge an uns vorüber, Tausende von Berlinern, die in den zu Städten aufgeblühten Dörfern der Umgebung sich angesiedelt haben, dem heimischen Herde zuführend. Allmählich verlangsamte sich dann der Lauf des fauchenden Dampfrosses; an die Stelle der schmucken, baumbeschatteten Villen, die bisher die Eisenstraße umsäumt hatten, traten hohe, unförmliche Mietskasernen, mit grell gemalten Reklamen an den Giebelwänden und düsteren, schmutzstarrenden Höfen. Auf festgefügten Brücken wurden Straßen und Wasserläufe fast lautlos überschritten; dann ein schriller Pfiff, mit scharfem Ruck griffen die Bremsen an die rasch sich drehenden Räder, und eine Minute später wölbte sich über uns die kühn gespannte Halle eines der größten Bahnhöfe im Herzen der Metropole. Schiebend und stoßend drängte die bunte Menge dem engen Ausgang zu, an dem die Fahrkarten abgefordert wurden, und halb betäubt ließ ich, der schüchterne Kleinstädter, der damals auf der Jagd nach dem flüchtigen Glück zum erstenmal Berlin betrat, mich von der Menschenwoge vorwärts tragen. Inmitten eines dichten Knäuls sah ich die Helmspitze eines Polizisten blinken und hörte, wie Männlein und Weiblein ihm abwechselnd zuriefen: „Erster!“, „Zweiter!“, „Gepäck!“; ich sah, wie sie eine große, weiße oder gelbe Blechmarke erhielten, jede mit einer eingeprägten Nummer, die sie alsbald mit aller Lungenkraft auf einen mit Wagen dicht besetzten Platz hinausschrieen. Sparsamkeit sollte mein oberstes Gesetz sein, drum bat ich, als die Reihe an mich gekommen war, entschlossen: „Zweiter!“ und rief dann in das Gewühl die Nummer 6543 … Ein weithinschallendes Hier! war die Antwort, und im Hintergrund sah ich eine dicke Gestalt mit struppig rotem Bart die Peitsche schwenken. Ich drängte mich zwischen den wiehernden Pferden und scheltenden Kutschern, die in langen Reihen den weiten Platz füllten, der Stimme folgend durch und sah mich nach einigem Suchen, bei dem mich die Zurufe anderer Rosselenker verwirrten, verblüfft vor einem Gefährt, das schlecht zu meinen Großstadtträumen paßte.

Auf hellblauen Rädern ein plumper, grünlackierter Wagenkasten, auf dessen Schlag mit Riesenlettern, schwarz auf weiß, die Nummer aufgemalt war und dessen Inneres an die alten Postchaisen entlegener Gegenden erinnerte; zwei schmale, hartgepolsterte Sitze, mit verblichenem, speckigem roten Plüsch bezogen, und davor, zwischen dem Kutschbock und dem Hauptteil des Wagens, eine komische Wand, oben durch Glasscheiben unterbrochen, unten mit geschmacklos gemustertem, bräunlichem Wachstuch benagelt. Und ich schaute nach rechts und schaute nach links und sah überall mit schreienden Farben bepinselte gelbe, grüne oder rote Räder und Wagenkasten in allen Nüancen der Musterkarte eines Dorfraffael, überall die schäbigen roten, seltener blauen Plüschpolster und ein durch Staub und Alter grau und rissig gewordenes Verdeck – wahrlich, so mochten die vielbestaunten ersten Mietskutschen ausgesehen haben, die unter Ludwig XIV. aufkamen und Fiaker genannt wurden, weil sie in der Rue St. Fiacre ihren Standplatz hatten.

Und zu dem aus der Großvaterzeit stammenden Gefährt paßten Kutscher und Roß aufs beste. Ein vierschrötiger, von Wind und Wetter dunkel gebräunter Mann, über dessen rundem Bäuchlein eine schmutzigrote Weste sich spannte; in einen halblangen, mit gelben Litzen benähten Livreerock gehüllt, dessen ehemals blaue Farbe sich mit einiger Phantasie noch ahnen ließ, und den dicken Kopf mit einem schwarzen, von gelbem Band umzogenen Lackhut bedeckt, der zerbeult war wie ein Reiterhelm nach 20 Schlachten. Und endlich equus caballus, das Pferd! Lächelnd und doch auch mitleidig beschaute ich die magere Mähre mit den dünnen, krummen Beinen, an denen die Gelenke wie dicke Wülste hervorstanden, und dem melancholisch zur Erde gesenkten Kopf; das war genau die Karikatur, wie sie in den illustrierten Witzblättern aller Länder zu finden ist. Ein brummiges „Hü, Alte!“ erklang, ein Peitschenhieb ergänzte den Weckruf und, was ich nie geglaubt hätte, der magere Schimmel schlug einen flotten Trab ein, der mindestens drei Straßen weit anhielt. Dann freilich ging er in Schritt über und entsprach endlich, überhaupt nur unter den nachdrücklichen Ermahnungen der Peitsche, kaum noch dem Tempo eines guten Fußgängers, während der Wagen, seitdem wir den glatten Asphalt verlassen hatten, mit lautem Gerassel hinterdreinpolterte.

Das war der erste Eindruck, den ich von Berlins Verkehrseinrichtungen und insbesondere von den berüchtigten Droschken „zweiter Jüte“ empfing. Seitdem sind Jahre vergangen; den Verkehr der von Tag zu Tag wachsenden Weltstadt suchen mit Dampf betriebene Hochbahnen, denen schon bald sich elektrische zugesellen werden, Dutzende von Straßenbahnen mit Pferde-, Dampf- und elektrischem Betrieb, Hunderte von Omnibussen und über viertausend vorzügliche Droschken erster Klasse zu bewältigen, aber daneben haben sich noch immer, in den elegantesten Vierteln des reichen Westens sogut wie in den ärmeren Straßenzügen des Nordens und Ostens, fast dreitausend jener altmodischen Fuhrwerke erhalten, die der Großstädter bei jeder Gelegenheit verspottet, aber anscheinend doch für unentbehrlich hält. Und da an [109] amtlicher Stelle der gleiche Geist herrscht, so wird die Metropole, die noch in vielen anderen Dingen sich den Charakter ihrer früheren Eigenart bewahrt hat, auch künftig dieselben veralteten Gefährte besitzen. Früher mochte es für den schlechten Zustand von Wagen und Pferden eine Entschuldigung geben, zur Zeit, als Berlin noch sein berüchtigtes Pflaster hatte, das jeden Versuch, Trab oder gar Galopp zu fahren, mit einem mehr oder minder schweren Unfall bestrafte – „bald lag das Pferd, bald lag der Mann!“ …

Abschied von Muttern.

Nur eines haben die Kutscher zweiter Güte vor den eleganteren Kollegen voraus, das ist ihre Popularität. Alt und jung bieten sie allezeit Stoff zu Witzen und Anekdoten, ohne daß einer der lachenden Spötter wohl ahnt, welches Leben ihre Opfer führen müssen, um kärglichen Verdienst zu erringen. Mag drum ein Tag aus ihrer Thätigkeit in Bild und Wort hier geschildert werden.

Wie das Kleingewerbe fast überall dem Großbetrieb weichen muß, so befindet sich auch nur ein Bruchteil der Droschken zweiter Klasse im Besitz ihrer Führer; die Mehrzahl gehört wohlhabenden Fuhrherren, die den Kutschern Wagen und Pferd überlassen und am Abend oder Morgen die Ablieferung einer bestimmten Summe verlangen. Hat der Kutscher mehr verdient, so behält er es, war die Tour schlecht, dann heißt es, aus den Ersparnissen den Ausfall ergänzen – oder die Kündigung erwarten. Vielfach vereinen große Stall- und Wohngebäude eine ganze Anzahl von Droschkenführern, die ihre Burg dann mit köstlichen Spottnamen belegen. Den ganzen Tag hindurch herrscht dort ein reges Leben: da führt ein alter Stallmann ein lahmes Rößlein langsam zum „Jungbrunnen“, um es zu tränken und zu striegeln, dort wird der Beschlag ergänzt oder das beim Fallen zerschundene Knie verbunden, dazwischen gefüttert, an- und abgeschirrt, geflickt und gereinigt, während ringsum Kinder und Sperlinge ihr Wesen treiben …

„Halt! 61!“

Der Nachtdienst ist meist lohnender als der am Tage, drum wird er vorgezogen; aber welche Beschwerden bringt er mit sich! Wenn die Sonne zu sinken beginnt, um die fünfte oder sechste Nachmittagsstunde, nimmt der Kutscher Abschied von Weib und Kind, die ihm vom kleinen Fenster der dumpfen Stube ihren Gruß zuwinken. Dann giebt er dem mageren Pferd einen zärtlichen Klapps, und hinaus geht es, ob nun lastende Schwüle auf den Straßen lagert oder der Sturm durch sie Hagelschauer peitscht, zur nächsten Haltestelle, die von der Polizei durch ein buntes Schild an der Mauer bezeichnet ist. O weh, da warten schon sechs Kollegen, rasch also nach dem nächsten Standplatz an einer minder belebten Ecke. Auch dort schon fünf, die vielleicht seit Stunden auf einen Fahrgast warten. Der neu Hinzugekommene reiht sich hinten an, hängt dem Pferd den Futterkübel um und wartet, wartet, wartet … Vorn sind zwei Wagen weggefahren, hinter ihm haben sich vier andere angeschlossen, darunter drei Bekannte, der „Baron“, mit dem keck aufgedrehten strohblonden Schnurrbart, ehemals Gefreiter beim Gardetrain, der „Pomadenaujust“ mit dem fettglänzenden, sorgsam über die kahlen Stellen gebürsteten, leicht schon ergrauenden Haupthaar und dem krausen braunen Vollbart, und endlich „Onkel Pietsch“, der bald Siebzigjährige, Schiedsrichter in allen verwickelten Streitsachen, seitdem er zehn Jahre lang „fors Jericht de Akten jefahren“. Noch hat keiner „Handgeld“, drum locken die Kümmelflaschen und Weißbierkruken der nahen „Destille“, die stolz „Kalt und Warm Frühstück – Weiß und Bayrisch Bier“ ankündigt, vergebens. Aber schließlich wird die Kehle doch trocken und man improvisiert einen soliden Skat um eine „Weiße“. Plötzlich erscheint,

[110]

Hohe Politik.

mit Jubel begrüßt, ein Civilist auf der Bildfläche, „Serschantenkarl“, der Omnibusschaffner, der heute seinen freien Nachmittag und ein paar Nickel übrig hat. Rasch wird er hereingeholt, aber zum tiefen Schmerz seiner Freunde kennt er die Geheimnisse der vier Wenzel nicht. „Na, Karel, ’n ‚Schafskopp‘ werst De doch spilln kenn’n?“ fragt Onkel Pietsch mit vergnügtem Schmunzeln, und richtig, Sergeantenkarl kennt das Spiel mit dem „Alten“ und der „Baste“, das der Skat fast ganz verdrängt hat. „Awer nich jut!“ meint er; doch der „Baron“ tröstet ihn und verspricht zu helfen. Bald ist das Spiel in vollem Gange, Strich reiht sich an Strich, der Civilist verliert seine Nickel, aber zum Glück nicht den Humor. Unter Lachen und Scherzen verrinnt die Zeit, aber da, gerade als Karl zum erstenmal „61“ gezählt hat, ertönt ein Pfiff, der „Baron“ springt mit einem Satz aus dem Wagen und eilt zu seinem Pferd – er ist inzwischen Erster geworden und muß nun, nach der strengen Vorschrift der Polizei, auf dem Bock bleiben. Endlich winkt ihm die Erlösung, ein Fahrgast naht. Die anderen stehen unterdessen noch immer an der Ecke und warten und warten. Längst brach die Dämmerung an, auf den Straßen und in den Häusern flammen Lichter auf, auch August und Pietsch zünden ihre blauen Laternen an, die von fern schon die Droschke zweiter Güte verraten. Als auch die letzten des lustigen Kleeblattes ihren ersten Verdienst einstrichen, war es bereits Nacht geworden; sie fuhren drum nicht mehr nach ihrer Haltestelle zurück, sondern vor eines der vielen Theater und Konzerthäuser, um neue Fahrgäste zu suchen …

Mitternacht ist längst vorüber, einsam liegen die breiten Straßen, nur der niederrauschende Regen unterbricht die tiefe Stille. Und jetzt noch ein andrer Ton; aus den hellerleuchteten Fenstern eines hohen Hauses klingen gedämpfte Walzerklänge. Bei Geheimrats wird getanzt und die junge Welt dort oben hört unmutig die Aelteren zum Aufbruch mahnen. Ein blondes Köpfchen erscheint am Fenster, sieht erschreckt zum regenspendenden Himmel auf, dann mit ängstlich forschendem Blick auf die Straße hinab, und tritt nun beruhigt in den Kreis der Tanzenden zurück. Mag’s regnen oder schneien, mag der Frost die Glieder krümmen, sie sind auf ihrem Posten, die Kutscher „zweiter Jüte“. Längst haben sie die erleuchteten Fenster bemerkt, die bekannten Melodieen erlauscht, und sie warten nun, und sei es bis zum lichten Morgen, auf die müden Opfer des Vergnügens. Einer hält Wache, die andern legen sich in ihren Droschken zum Schlummer oder strecken sich auf dem Bock aus, schieben den Hut zum Schutz auf die Wange und schlafen in dieser unbequemen Lage so fest wie Murmeltiere.

So vergeht die Nacht, der Morgen dämmert, den Himmel überflutet fahlrotes Licht, es tagt. Pfeifend schlürfen die Bäckerjungen durch die öden Straßen, aus den Druckereien eilen geschäftige Leute nach allen Richtungen der Windrose, treppauf, treppab, damit der erwachende Großstädter auf dem Frühstückstisch pünktlich seine tägliche Ration „öffentliche Meinung“ vorfinde. Ein fliegender Händler besucht die Standplätze der Kutscher und verkauft für einen kleinen Nickel das billige Lokalblatt, dessen Inhalt sie mit Muße genießen, während das müde Roß neugierig nach der frischbeklebten Litfaßsäule blinzelt, an der bunte Plakate zum großen Wettrennen in Carlshorst laden; und ein tiefes Wiehern entringt sich der gequälten Pferdebrust …

Familienmittag am Sonntag.

Die Großstadt ist erwacht, lärmend jagen zahllose Gefährte aller Art durch die Straßen, doch die vom Nachtdienst ermüdeten Droschkengäule müssen noch zu früher Stunde Reisende mit schweren Koffern nach den fernen Bahnhöfen schleppen. Dann erst, oft kaum vor der Mittagszeit, geht’s heimwärts, dem Stalle zu und danach, wenn das Pferd besorgt ist, zu Weib und Kindern. Oft ist der Verdienst sehr gut (bis zu zehn Mark), oft kaum genügend für die tägliche Nahrung von Mensch und Tier.

Sonntag! Heute fährt der Kutscher bei Tage aus, am frühen Morgen; er weiß, daß halb Berlin am Ruhetag aus den dumpfen Mauern flieht, hinaus in den Grunewald, dessen fichtenbestandenen Sandboden an solchen Tagen oft mehr Stullenpapier als Gras deckt, hinaus zu den sogenannten „Gärten“, in denen „Familien Kaffee kochen“ können. In Kremsern und Droschken flüchtet, wer flüchten kann, um am späten Abend zögernd in die schwüle Luft der Millionenstadt zurückzukehren. Das sind gute Tage für unseren Freund „zweiter Jüte“; zum Mittag hat er Frau und Töchterchen nach seinem Standplatz bestellt; dort harren die beiden mit dem wohlgefüllten Korbe manche Viertelstunde auf das Haupt der Familie. Aber das Warten verdrießt sie nicht; bleibt Vater lange, so hat er eine „gute Tour“ und bringt Geld mit. In der Ferne knallt eine Peitsche, der Wagen biegt in die stille Straße ein und bald sitzen Mutter und Tochter auf den roten Plüschpolstern und reichen Vatern das frugale Mittagsmahl, dem [111] frohes Plaudern die Würze geben muß. – Ein Idyll, ein Stückchen Großstadtpoesie …

Winter! Dünne Eiskrystalle rieseln hernieder und überziehen die Straßen mit einer glatten Eisschicht. Vorsichtig, mit geschärften Eisen, trappeln die Pferde dahin, da, ein leichter Krach, ein Schrei und ein Fluch, die immer neugierige Menge läuft zusammen und umsteht den alten Kutscher, der vergebens sich müht, seine treue Stute, die fast zwanzig Jahre den blauen Wagen mit den gelben Rädern durch die Straßen der Metropole zog, wieder auf die Beine zu bringen. Thränen steigen in seinen Augen auf und rieseln langsam über die gebräunten Wangen in den bereiften Bart – alle Mühe ist vergebens, ein Beinbruch wird es nötig machen, das alte Tier zu töten. Unter der Menge, die um die Unfallstätte sich drängt, steht auch ein Mann in weißer Schürze, der um den Leib geschnallt einen blanken Messingkasten trägt, aus dem leichte Dampfwolken aufsteigen. Er allein schmunzelt und ruft dann mitten in die Gruppe hinein: „Warme Wiener!“ Und lachend zerstreut sich die Menge und erzählt die ewigjungen Anekdoten von den famosen Würstchen, in denen sich Hufnägel und Droschkennummern als Leckerbissen finden sollen …


0 Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Der Hundertjährige Kalender.

Es war Anfang Januar dieses Jahres. Mit einem jungen begeisterten Naturforscher wanderte ich über Berg und Thal und hielt Rast in einem ländlichen Wirtshause. Da saßen auch die Korn-, Obst- und Weinbauern und sprachen, wie nicht anders zu erwarten war, von dem kommenden Wetter. Wie weit waren sie in dieser Hinsicht uns beiden Studierten über! Ausgerüstet mit allen Kenntnissen der Naturkunde, waren wir nicht imstande, die mutmaßliche Witterung über den nächsten Tag hinaus vorherzusagen, und die erfahrenen Leute am Nachbartische raisonnierten drauf los, wie sich die Witterung im Laufe des ganzen Jahres gestalten werde! Nun erfuhren wir, daß der Winter lange dauern und erst spät der Frühling kommen werde. Ende Mai sollen noch Fröste und selbst im Juni einigemal Reif sich einstellen; darauf kämen ein heißer, gewitterreicher Sommer und ein regnerischer Herbst, bis endlich ein mäßig kalter Winter mit vielen Schneefällen das Jahr abschließen würde. Viel Korn und viel Futter würde das Jahr dem Landwirt bringen, dem Obst- und Weinbauer aber weniger hold sein. Die Leute verschwiegen nicht die Quelle, aus der sie ihr weitgehendes Wissen geschöpft hatten: solches steht gedruckt in dem Hundertjährigen Kalender und wenn auch dieser Wetterprophet nicht gerade unfehlbar ist, so treffen doch seine Voraussagen nicht selten zu – also meinten die fleißigen Bauern, die mit Wind und Wetter anders rechnen müssen als die Städter.

Der junge Naturforscher an meiner Seite, ein Großstadtkind durch und durch, war erstaunt und empört über einen derartigen Mangel an Bildung. „Wie beschränkt sind die Leute, daß sie über derartiges Zeug im Ernst reden können,“ rief er, als wir weiter durch die Gebirgslandschaft wanderten. „Fürwahr, hier hat der Geist des Fortschritts Halt gemacht, und die Leute stehen in ihrer Geistesbildung um Jahrhunderte zurück!“

Mir kam jedoch das Erlebte nicht so schlimm vor. Der Hundertjährige Kalender ist wohl noch ein Ueberbleibsel alten Aberglaubens, aber er ist doch eine gestürzte und sterbende Größe. Und was den Wetteraberglauben anbelangt, so waren jene Bauern durchaus nicht so befangen wie ihre Vorfahren in früheren Jahrhunderten.

Ich besann mich auf ein Büchlein, das ich einst in den Händen gehalten hatte. Es war eine jener Flugschriften, die unsre heutigen Zeitungen ersetzten. Anno 1596 war sie als „Dreyerlei Warhaffte newe zeittung“ in Regensburg erschienen und die dritte Neuigkeit, über die sie berichtete, war: „Auß dem Landt Westuahlen, von der Statt Ossenbruckh, wie man auff einen Tag 133 Unhulden verbrennt hat, auch was Wunderes sie gestifft und bekendt und getrieben, geschehen den 9. Aprilis diß 96. Jars.“ Es waren arme Wetterhexen, denen man derart mit Feuer zu Leibe gegangen war, und es hieß von ihnen in jener „Zeittung“: „Weiter habens bekend der massen, wie sie habn außgehen lassen grausame Wetter und Wasserguß mit Hagel und mit Steinen, großen Schaden gethan an Bäumen wol durch ihr Teuffels Kunst.“ Solche Folgen kann der Wetteraberglauben in unserem Jahrhundert doch nicht mehr nach sich ziehen; wie abergläubisch auch hier und dort unser Volk noch sein mag, einer solchen Schandthat wäre es heute nimmermehr fähig – wir sind gegen früher gewaltig fortgeschritten und wenn wir mit Geduld weiter arbeiten, so wird es uns gelingen, auch die harmloseren Reste des Aberglaubens auszurotten! Stets muß man aber dabei bedenken, daß Meinungen, die Jahrtausende bestanden und sich von Geschlechtern zu Geschlechtern vererbt haben, nur langsam zu Fall gebracht werden können; und auf einer solchen uralten Anschauung beruht auch der Hundertjährige Kalender.

Eine der ältesten Geheimwissenschaften ist die Astrologie, die da lehrte, daß die Himmelssterne bestimmte Einflüsse auf alles irdische Leben ausüben, und schon die alten Chaldäer kannten die Kunst, aus der Stellung der Gestirne wahrzusagen; schon vor Jahrtausenden betrafen ihre Prophezeiungen nicht nur Zukunftsschicksale einzelner Menschen und politische Ereignisse, sondern auch das kommende Wetter. Die Kulturvölker Europas erbten die Grundzüge dieser Geheimwissenschaft von den Asiaten und bauten die Astrologie in eigener Weise aus. Zu welcher Blüte sie am Ausgang des Mittelalters gelangt war, in welchem Ansehen sie noch in der neueren Zeit stand, ist wohl jedem bekannt. Achtete doch ein Mann wie Wallenstein auf das Gerede der Sterndeuter. Zur Zeit, da jener Hexenprozeß in Osnabrück stattfand, lebte der berühmte Astronom Kepler als steirischer Landschaftsmathematikus zu Graz; er hatte sich zwar von dem Banne der Astrologie innerlich befreit, aber er war durch Amtspflicht gezwungen, Kalender zu machen und dieselben mit Voraussagen zu versehen, die sich zum Teil auf politische Ereignisse, zum Teil auf die Witterung bezogen. Da wurde er wider eigenes Erwarten zu einem berühmten Propheten; denn die in seinem ersten, 1595 erschienenen Kalender ausgesprochenen Prophezeiungen trafen ein; Kepler hatte einen starken Winter vorausgesagt und es trat in der That ein so strenger Winter ein, daß die Gemsen in großer Zahl zu Grunde gingen. Im sechzehnten Jahrhundert ist eine große Anzahl solcher Kalender erschienen und die Grundlage, auf welcher sich die Prophezeiungen aufbauten, war im kurzen folgende.

Das Ptolemäische Weltsystem, an das sich die Astrologen hielten, kannte sieben Planeten, als da sind: Sonne, Venus, Merkur, Mond, Saturn, Jupiter und Mars. Die Astrologen lehrten nun, daß jeder von den sieben Planeten während eines Tages in der Woche das Regiment habe, also die Ereignisse auf der Erde bestimme, und außerdem behaupteten die Sterndeuter noch, daß an jedem Tage nach Ablauf einer Stunde der Planet, welcher während derselben der regierende gewesen sei, einem anderen diese Stelle einräume, so daß nicht nur bezüglich der Wochentage, sondern auch bezüglich der Tagesstunden ein regelmäßiger Wechsel in der Herrschaft der Planeten eingehalten würde. Schließlich einigte man sich noch dahin, daß die Planeten sich auch in der Herrschaft über ein ganzes Jahr ablösen. Je nachdem nun dieser oder jener Planet zur Geltung kam und in seiner Wirkung von den andern Sternen unterstützt oder geschwächt wurde, sollte sich das Wetter gestalten. Die Charaktereigenschaften der Planeten waren genau festgestellt. Von dem Saturnus hieß es: „Er ist der oberste der Planeten, ein Verderber und Feind der Natur. Giftig von Wesen, kalt und trocken. Die Wage ist seine Erhöhung, darin er große Gewalt hat, der Steinbock und der Wassermann sind seine Häuser. Wenn der Saturn der Erde so nahe wäre wie der Mond, so wäre es allzeit Winter. Wenn der Mond neu wird in des Saturnus Stund’, so wird der Monat vorwiegend kalt und meistenteils feucht.“ Jupiter, unter dessen Regiment das Jahr 1896 steht, galt nach den astrologischen Lehren als feucht und warm, Mars als heiß und trocken, der Mond sollte Kälte und Wind bringen etc.

Da nun die Reihenfolge, in der sich die Planeten in ihrem Regiment ablösen, gegeben war, so bot es durchaus keine Schwierigkeit, die Witterung nach dieser Anleitung für viele Jahre vorauszubestimmen, und in der That soll schon ein Abt Namens Mauritius Knauer im 16. Jahrhundert einen Kalender geschrieben haben, in welchem die Witterung für die nächsten hundert Jahre vorausgesagt wurde. Daher soll auch der Name [112] „Hundertjähriger Kalender“ stammen. Am berühmtesten wurde aber ein Hundertjähriger Kalender, den im Jahre 1701 ein thüringer Arzt, Dr. Hellwig, veröffentlichte und in dem die Witterung für die nächsten sieben Jahre vorausgesagt wurde. 1707 wurde das Büchlein von neuem aufgelegt und seitdem sind viele neue Ausgaben erfolgt. In ähnlicher Weise wurden andere hundertjährige Kalender fabriziert, da sie lange Zeit hindurch willige Abnehmer fanden. Noch heute teilen viele Kalender den Hundertjährigen wenigstens im Auszug mit.

Aus dem Gesagten erhellt zur Genüge, daß die Prophezeiungen der „Hundertjährigen“ eitel Wind und Phantasie sind. Von den meisten Kalenderherausgebern werden diese Mitteilungen als ein Scherz betrachtet, den sie dem Publikum mitbieten. Diejenigen, die nicht wissen, wie ein solcher Hundertjähriger Kalender gemacht wird, die meteorologisch wenig Gebildeten, vermuten aber mitunter, daß sich dahinter irgend eine aus hundertjähriger Erfahrung beruhende Weisheit verberge, und legen leider dem Geschwätz eine Bedeutung bei, die es ganz und gar nicht verdient. Es wäre wohl zu wünschen, daß in Volkskalendern anstatt der nackten Wiedergabe des Hundertjährigen eine kurze Aufklärung über seine Vorgeschichte und seine Nichtigkeit gegeben würde. Allein es hat den Anschein, als würde der Hundertjährige Kalender nicht so bald von der Bildfläche verschwinden und als alter Vertreter der Astrologie noch im zwanzigsten Jahrhundert fortleben; das Bewußtsein, daß er nur als Scherz aufzunehmen ist, sollte umsomehr in immer weitere Kreise dringen! M. Hagenau.     




Geschichten des Herrn Direktors.

Nacherzählt von Ernst Lenbach.
1.0 Kollege Logarithmikus.

Es giebt nichts Heilkräftigeres als die Zeit. Wer lange lebt, der hat’s erfahren. Seit dem Tode meiner lieben Frau ist jetzt bald ein Vierteljahrhundert verflossen. Diese lange Zeit hat dem Bilde, das ich im Herzen trage, nichts von seinen Zügen und Farben genommen; allmählich aber und ganz unvermerkt hat sie von meinen geistigen Augen den dunklen Flor weggezogen, durch den ich rückschauend jahrelang so Freude wie Leid in die eine trübe Farbe einer unsäglichen Wehmut gekleidet sah. Nun kann ich heiteren Blickes im Garten der Erinnerung neben den Cypressen und Rosen auch wieder so manches bunte lustige Blümlein finden, das an unserem Lebenswege aufsproßte, um uns so ganz für uns eine kleine närrische Freude zu machen. Und wahrhaftig, närrisch genug ist es oft mit uns zugegangen. Zum Beispiel gleich mit unserer Verlobung. Verliebt war ich ja in meine spätere Lebensgefährtin und wie sie behauptete, sie auch in mich gleich vom ersten Tage an, wo der junge Gymnasiallehrer mit dem winzigen Gehalt die kleine Lehrerin ohne Vermögen kennenlernte: aber daß wir uns endlich aussprachen und einander bekamen, daran war doch eigentlich nur mein Kollege Dr. Meurer mit seiner Leidenschaft für die Logarithmentafel schuld.

Wir waren damals unser vier unverheiratete Lehrer im Kollegium – ein ganz merkwürdiges Kleeblatt. Drei von uns waren noch jung und jeder hatte eine besondere Schwärmerei – der wissenschaftliche Hilfslehrer schwärmte für Entdeckungsreisen in Afrika, der Zeichenlehrer für niederländische Gemälde, nebenbei auch für die auf ihnen so vorzüglich behandelten Tafelfreuden, ich schwärmte, natürlich ganz im stillen, für meine Ida – unser Kollege von der Mathematik aber übertraf uns alle durch die Glut seiner Leidenschaft und durch das rein wissenschaftliche Ideal, dem sein fünfzigjähriges Herz geweiht war: er jagte auf Druckfehler in Logarithmentafeln. Mit diesem seltsamen Namen bezeichnet man bekanntlich jene recht dickleibigen Bücher, in denen die Logarithmen – eine für den Mathematiker unschätzbare Sorte von Zahlen – alle fertig ausgerechnet hinter einander stehen; und man weiß, daß die Verleger dieser nützlichen Handbücher jeden Nachweis eines Druckfehlers mit einem Goldstück zu belohnen pflegen. Es war der größte Stolz unseres Kollegen Meurer, daß er bereits ein Dutzend solcher Stücke besaß, die er in einem rotsamtenen Beutelchen bei sich trug, um sich in weihevollen Stunden an ihrem Anblick zu begeistern. Es war aber keineswegs schnöde Gier nach dem Besitze solcher im Verhältnis zu der aufgewandten Mühe lächerlich geringen Belohnungen, was ihn antrieb – die Druckfehlerjagd war für ihn längst zu einer reinen Leidenschaft geworden, die sich kaum noch um des guten Scheins willen ein ganz dünnes wissenschaftliches Mäntelchen umhing. Er pirschte auf verdruckte oder verschriebene Ziffern mit derselben Sucht, wie andere Leute auf Hasen pirschen und um der Aussicht willen, ein- oder zweimal im Jahr ein solches Tierchen zu erbeuten, Tausende von Mark an Pachtgeld ausgeben. Im übrigen war unser Dr. Meurer kein Spielverderber, eingefleischter Hagestolz freilich, aber ein trefflicher Lehrer, verträglicher Kollege und überhaupt was man eine Seele von einem Menschen nennt; aber wenn seine Leidenschaft über ihn kam – es war wie eine Art Quartalsrausch – dann war er für nichts anderes zu haben und vor allem von einer geradezu beispiellosen Zerstreutheit.

Nun, wir saßen eines Tages nach unserem gemeinsamen Mittagsessen beisammen – der wissenschaftliche Hilfslehrer hatte, weil sein Geburtstag war, eine Flasche zum Besten gegeben – und plauderten über die schlechten Gehalts- und Pensionsverhältnisse, was auch damals schon das beliebteste Thema war, wenn ein paar Schulmenschen beisammen saßen. Da läßt irgend wer – ich fürchte, ich war es selber – so halb im Scherz die Bemerkung fallen: „Wenn wir es einmal mit einem Viertellos in der Staatslotterie versuchten? In vier Wochen ist Ziehung.“

Der Einfall zündete. Kollege Meurer unterließ zwar nicht, uns auf Grund der Wahrscheinlichkeitsrechnung fachwissenschaftlich nachzuweisen, daß die Aussicht auf Gewinn für jeden von uns eine bedeutend kleinere Summe bedeute, als er an Einsatz zahlen müsse; aber schließlich war er doch auch mit dabei und übernahm es als Mann der Zahlen sogar, das Los zu kaufen und zu bewahren.

Als wir ihn am folgenden Morgen darüber befragten, sah er uns zuerst verständnislos an. Er trug die Logarithmentafel unter dem Arm, offenbar hatte er über Nacht wieder einen Anfall bekommen. Endlich aber begriff er doch. „Das Los – ja natürlich, das habe ich gestern abend gleich gekauft. Bei Marcus Seligmann, ja.“0 „Wissen Sie denn die Nummer?“ fragte unser Zeichenlehrer mißtrauisch, „ich meine: können Sie uns die Zahl nennen?“

„Aber gewiß,“ erwiderte Dr. Meurer stolz und zog ein Blättchen aus seinem Logarithmenbuch, „die Zahl – warten Sie, hier habe ich sie notiert, hier: drei–eins–vier–eins–sechs.“ Wir notierten uns die Nummer. „Merkwürdig,“ brummte der Wissenschaftliche, „die Zahl kommt mir so bekannt vor.“0 „Das ist ein gutes Zeichen,“ meinte ich.

Und es war auch eins. Vier Wochen darauf – es war gerade die Zeit des großen Herbstjahrmarkts, während dessen unser kleinstädtisches Gymnasium nach einem uralten Herkommen drei Tage Ferien hatte – komme ich des Vormittags an unserem Gasthof „Zum Schwarzen Engel“ vorüber, da sitzt der Zeichenlehrer hinterm offenen Fenster vor einer Flasche Rheinwein und einem erschreckend üppigen Frühstück und winkt mich mit dem gefüllten Römer freundlich hinein.

„Nanu,“ sage ich, „Sie haben wohl geerbt?“ „Setzen Sie sich,“ antwortet er, „mir scheint, Sie wissen noch nichts von der Sache, es könnte Sie angreifen. Ja, sehen Sie, lieber Herr Kollege, das“ – er deutete mit einer großartigen Handbewegung über die gedeckte Tafel hin – „das können wir uns jetzt alle Tage leisten. Und morgen lasse ich mir vom Buchhändler das Rembrandtwerk kommen. Die Sache ist nämlich die – aber Fassung, Freund! – unser Los ist mit dem zweiten Hauptgewinn heraus. Macht auf den Mann 14,000 Thaler netto. – Da liegt die Liste, sehen Sie hier: Nr. 31416.“

Im ersten Augenblicke benahm es mir doch den Atem; und dann fuhr es mir wie ein Wirbelwind durch den Kopf: „Ida – Verlobung – Heirat – eigenes Heim!“

Unterdes hatte sich auch unser Hilfslehrer eingefunden. Der hatte seinen Plan schon fertig: zum Ostertermin wollte er um seine

[113]

Unser Herr Student.
Nach einem Gemälde von E. Bischoff-Culm.

[114] Entlassung aus dem Staatsdienst einkommen und den Bahnen Barths, Vogels und anderer großen Reisenden nach dem Innern Afrikas folgen. „Vorher muß ich mich noch trainieren,“ bemerkte er mit einem mißbilligenden Blick auf die lukullische Schwelgerei des Kollegen; „die Hauptsache für einen Entdeckungsreisenden ist, daß er nichts bedarf und alles verträgt. Ich habe bisher immer einen großen Greuel vor Kreuzspinnen gehabt, aber ich wette, in vier Wochen esse ich sie auf dem Butterbrot.“ – Dann ließ er sich von dem Kellner ein Glas Wasser bringen, streute eine starke Prise gestoßenen Pfeffer hinein und trank es unter greulichen Grimassen aus. „Das ist das gewöhnliche Volksgetränk in den Ländern am Tschad-See,“ erklärte er unter heftigem Husten.

Der Zeichenlehrer sah den zukünftigen Erforscher des Dunklen Weltteils mit einer Mischung von Bewunderung und Mitleid an, dann füllte er seinen Römer, rief: „Es lebe das Los Nummer 31416!“ und leerte ihn langsam und bedächtig.

„Ja, das Los,“ fragte ich, „wo ist denn das? Und wo steckt Kollege Meurer?“

„Das ist ja gerade das Pech, daß wir das nicht wissen,“ antwortete unser Rembrandt. „Ausgekniffen ist er, das heißt, natürlich nur auf drei Tage. Verdenken kann ich es ihm nicht, daß er dem Jahrmarktslärm aus dem Wege geht – warum muß der Mensch auch gerade am Markte wohnen. Nach Wormsdorf hat er sich geflüchtet, in den ‚Roten Ochsen‘ – natürlich mit seiner Logarithmentafel. Vermutlich weiß er noch gar nichts von unserem Glücksfall. Ich denke, wir nehmen uns gleich einen Wagen und holen ihn im Triumph ab. Fahren Sie mit, Kollege?“

Ich entschuldigte mich mit einem dringenden Besuche. Wir verabredeten noch rasch, wann ich die anderen in Meurers Wohnung treffen sollte; dann eilte ich davon – selbstverständlich zu Ida.

Eine Stunde später hatten wir uns „ausgesprochen“ und ich war im Besitze eines Schatzes, gegen den mir alle Lotteriegewinne der Welt gering dünkten. Aber freilich hatte mir erst der so unverhofft erlangte Mammon den Mut gegeben, ein Wort zu wagen, das Ida – wie sie mir errötend gestand – schon längst erwartet hatte. Fast fühlte ich etwas wie Beschämung, daß ich mich nicht eher getraut hatte, allen irdischen Bedenken zum Trotz die Hand nach dem Glück auszustrecken. Die Erste, der wir unsere Verlobung mitteilten, war Idas treffliche Wirtin und mütterliche Freundin, die Witwe unseres früheren Konrektors – eine herzensgute Frau, immer freundlich und hilfsbereit, nur ein wenig gesprächig; in unseren Kreisen hieß sie einfach die Frau Collega. Mit großer Freude gratulierte sie uns und fügte natürlich hinzu, daß sie „so etwas“ schon längst geahnt habe. „Wissen Sie, Herr Collega“, sagte sie zu mir, „Sie bekommen eine Perle von Frau – ich darf das schon sagen, und wissen Sie, wenn es auch anfangs mal was knapp geht“ – von unserem Gewinn hatte ich ihr nichts verraten – „schadet nichts! Mit Liebe gekocht, ist alles Essen Himmelsspeise.“ Dann ließ sie uns allein, „nur für einen Augenblick“, weil sie eben einer Nachbarin etwas zu bestellen habe, und wir konnten nun ziemlich sicher darauf rechnen, daß die halbe Stadt in ein paar Stunden um unsern Herzensbund wisse.

Als ich dann zur bestimmten Zeit der Wohnung des Kollegen Meurer zusteuerte, sah ich just den Wagen mit den drei anderen quer durch das Marktgewühl herannahen. Dr. Meurer saß auf dem Rücksitz, die lange hagere Gestalt wie gewöhnlich ganz in Hechtgrau gekleidet und unter dem Arme den wohlbekannten dicken, in Leder gebundenen Logarithmenband; übrigens sah er etwas verwirrt und gedrückt drein, und auch durch die Glückwünsche der beiden anderen zu meiner Verlobung klang eine gewisse unbefriedigte Stimmung durch. „Na, Sie haben Ihren Hauptgewinn schon, Herr Kollege,“ sagte der Zeichenlehrer, „aber unser Los müssen wir uns erst noch suchen. Uff, die Hitze! War das eine Fahrt! Wissen Sie, wo wir den Herrn Kollegen Meurer gefunden haben? Hinter Wormsdorf, im Walde lag er unter einer Eiche, mit Büchern und Papieren, und rechnete an seinen Logarithmen herum. Von unserem Los wußte er natürlich noch nichts.“ „Ach, dieses verwünschte Los,“ stöhnte der Mathematiker, „das heißt, natürlich, meine Herren, es ist ja ein Glücksfall, aber wenn ich mich nur entsinnen könnte, ich habe es ja noch besonders sorgfältig weggeschlossen – nun gottlob, da sind wir ja an meiner Wohnung, nun werden wir das Papier wohl gleich haben.“

Darin täuschte er sich aber. Nach einer halben Stunde war das sonst so peinlich geordnete Heim des Mathematikers in ein wildes Chaos von aufgerissenen und durchwühlten Schubfächern, Schränken, Wäschebeuteln etc. verwandelt, aber von dem Los war keine Spur zu finden. Der unglückliche Herr des Zimmers saß geknickt inmitten der Zerstörung, geduldig schweigend zu allen Vorwürfen und Flüchen der Kollegen und nur immer ängstlich bemüht, daß seine Logarithmentafel nicht in den allgemeinen Schiffbruch hineingezogen werde. „Ach, bitte, Herr Kollege,“ bat er kläglich und dringend, „werfen Sie das Buch nicht so unvorsichtig hin und her, es liegen wichtige Notizen darin.“ Da schien dem Zeichenlehrer etwas zu dämmern. „Hören Sie mal, Herr Kollege Meurer,“ fragte er, „sollten Sie das Los nicht in Ihre Logarithmentafel gelegt haben?“

Der Mathematiker sah ihn erfreut an. „Sehen Sie,“ erwiderte er, „das ist ein guter Einfall. Ja, das scheint mir sogar sehr wahrscheinlich. Da will ich doch einmal gleich nachsehen.“ Er blätterte in dem Buche herum und nahm eine Menge darin liegender, mit Ziffern bedeckter Zettel liebevoll zur Hand. „Das ist es nicht – das auch nicht – und das nicht, nein – aber hier, das dürfte das Gesuchte sein.“

„Ist die Möglichkeit!“ brummte der Hilfslehrer, indem er das verhängnisschwere Papier musterte; „da schleppt der Mann sich mit dem Buche hinaus in den Wald und wieder zurück in die Stadt und weiß nicht, daß so ein Wertstück drin steckt. Und die Rückseite ganz mit Ziffern bedeckt – sagen Sie ’mal, da haben Sie wohl Logarithmen drauf ausgerechnet?“

„Ich glaube ja,“ antwortete Doktor Meurer kleinlaut, „ich erinnere mich, daß ich an jenem Abend noch gearbeitet habe – es wird hoffentlich der Gültigkeit keinen Abbruch thun?“

„Nein, das glaube ich nicht,“ versetzte der andere und drehte das Papier um, „aber ums Himmels willen, was ist denn das? Mensch, das ist ja die verkehrte Nummer!“

Die Schreckensscene, die nun folgte, vermag ich nicht zu beschreiben. Es war eine Orgie der Enttäuschung! Aber an der Thatsache ließ sich nichts ändern. Das Los trug groß und deutlich die Nummer 31415. Dahinter waren mit Bleistift in den eigenartigen Schriftzügen des Mathematikers noch drei weitere Ziffern gesetzt: 926.

„Ja, das verstehe ich auch nicht,“ sagte Doktor Meurer, als er endlich zu Wort kam. „Aber halt wissen Sie, meine Herren, jetzt kommt mir ein Verdacht. Ich muß doch an jenem Abend etwas zerstreut gewesen sein. Sehen Sie nur – 31415926 – das ist ja die bekannte, so sehr wichtige Verhältniszahl pi, – wissen Sie, mit der man den Durchmesser eines Kreises multiplizieren muß, um die Länge des Umkreises zu erhalten. Ich erinnere mich, ich hatte das gerade an jenem Tage in der Klasse durchgenommen. Und da habe ich vermutlich in der Zerstreutheit die drei weiteren Ziffern so ganz in Gedanken ergänzt und hernach die Zahl wieder auf fünf Stellen reduciert natürlich unter Abrundung der 5 auf 6, wegen der folgenden 9. Wirklich, ich muß etwas zerstreut gewesen sein damals.“

Und dabei sah er uns der Reihe nach so unschuldig ins Gesicht, daß wenigstens zwei von uns – der Zeichenlehrer und ich – bei aller Enttäuschung in ein lautes Lachen ausbrachen.

Der Hilfslehrer aber rannte wie besessen im Zimmer herum, wobei er sich den Kopf mit beiden Händen festhielt. „O, o,“ stöhnte er, „also die Zahl pi! Darum kam mir diese verfluchte Nummer gleich damals so bekannt vor! Aber Mensch, Sie sind ja –“

„Nicht wahr, es ist ein merkwürdiger Zufall?“ meinte der Mathematiker freundlich.

Jetzt brach aber bei dem dicken Zeichenlehrer die Wut aus. „Ein netter Zufall, wahrhaftig!“ rief er. „Wissen Sie, daß mich mein Freudenmahl von heute morgen meinen letzten Viertelmonatsgehalt kostet?“

„Aber, lieber Herr Kollege,“ erwiderte Doktor Meurer, „das werde ich Ihnen natürlich ersetzen. Meine Herren, ich bin ja gern bereit, allen Schaden wieder gut zu machen.“

„So?“ rief der erboste Zeichenlehrer und deutete auf mich, „der Herr Kollege da hat sich auf den vermeintlichen Lotteriegewinn hin verlobt, können Sie da auch helfen?“

Kollege Meurer sah mich freundlich an. „Ach, das bedaure ich aber wirklich,“ sagte er, „ja, das ist allerdings eine schwierige Sache … Aber sagen Sie mal, ließe sich das denn nicht vielleicht noch rückgängig machen?“

[115] „Kinder, ein Gedanke!“ rief der Hilfslehrer plötzlich, „wie, wenn das richtige Los da auch mit einem Gewinn heraus gekommen wäre? Sogleich laufe ich in den ‚Schwarzen Engel‘ und sehe in der Liste nach! Alsdann könnte ich ja vielleicht doch noch nächstes Jahr nach Afrika!“ Und damit hatte er auch schon die Hand an der Klinke und stürmte hinaus.

Der arme Kerl! Er ist weder im nächsten Jahr noch überhaupt in das Land seiner Sehnsucht gelangt. Nachdem er noch ein paar Jahre auf eine definitive Anstellung mit vollem Gehalt gewartet, ließ er sich bereden, einen Posten als Konservator im Landesmuseum in irgend einem thüringischen Kleinstaat anzunehmen. Dort ist er allmählich zwischen und mit seinen Sammlungen vertrocknet und versteinert, bis er schließlich als Titular-Hofrat starb und im Schatten jener thüringer Berge bestattet wurde, die er seit seiner Berufung nicht wieder verlassen hatte. Der Zeichenlehrer war ihm schon um etliche Jahre in die Ewigkeit vorausgegangen, nachdem er ungefähr um dieselbe Zeit mit dem Afrikaliebhaber den Dienst des Staates und der Kunst quittiert hatte, um als Gatte und Geschäftsteilhaber einer reichen Gaschäftsbesitzerin eine seinen tiefsten Neigungen völlig entsprechende Stellung zu finden.

Ich muß es übrigens den beiden zum Ruhme nachsagen, daß sie ihren Groll gegen den zerstreuten Mathematiker nicht alt werden ließen. Bei unserer Hochzeit – denn natürlich hatten Ida und ich uns durch die überraschende Wendung nicht irremachen lassen – waren sie alle drei friedlich beisammen und Kollege Meurer hielt einen schönen Trinkspruch, worin er unter anderem ausführte, daß ich nun doch jedenfalls das große Los gewonnen hätte. Er hat nie ein wahreres Wort gesprochen!

Als ihm aber damals mein liebes junges Frauchen für den schönen Trinkspruch dankte, lächelte er etwas verlegen und meinte mit seiner ganzen treuherzigen Offenheit: „Ach, wissen Sie, ich hatte mir die Rede eigentlich viel schöner ausgedacht. Ich hatte sie sogar aufgeschrieben, ja. Aber wie ich sie heute morgen suchte, konnte ich sie nirgendwo finden. Und jetzt fällt mir auf einmal ein, wo ich sie hingelegt habe. Nämlich in meine Logarithmentafel.“



Blätter & Blüten.


Einem der Besten, die thüringisches Volkstum poetisch geschildert haben, dem Verfasser der „Bilder und Klänge aus Rudolstadt in Volksmundart“, Anton Sommer, soll in seiner Vaterstadt ein Denkmal gesetzt werden. Die kleinen Bändchen, in denen Sommer seit dem Jahre 1849 die Lieder und Schwankdichtungen herausgab, welche bald in innigem Volkston, bald in kräftig humorvoller Prosa die Schönheit und Eigenart der Heimat und allerlei köstliche Originaltypen ihrer Bevölkerung schildern, haben noch bei Lebzeiten des Verfassers eine große Verbreitung weit über die Grenzen der Heimat gefunden. Nicht wenig hat dazu die verständnisvolle Würdigung beigetragen, welcher R. Keil dem dichterischen Wirken des Rudolstädter Garnisonpredigers vor zwanzig Jahren in der „Gartenlaube“ (vergl. Jahrg. 1876, S. 193) zu teil werden ließ. Die Litteraturgeschichte hat denn auch inzwischen dem liebenswürdig-schalkhaften Humoristen einen Ehrenplatz neben Hebel und Reuter, Nadler und Stoltze eingeräumt; dem Thüringer aber sind die „Bilder und Klänge“ ähnlich ans Herz gewachsen wie dem Mecklenburger Reuters „Läuschen und Rimels“. Diesem Verhältnis entspricht auch der warme Ton, in welchem der Aufruf gehalten ist, der um Beiträge für das Denkmal bittet und den wir vom Ersten Bürgermeister der Stadt, Oskar Heinrich, mit der Bitte um Förderung des Unternehmens erhielten. In der schönen thüringischen Residenz an der Saale haben die Sammlungen schon begonnen und erfreuliche Ergebnisse erzielt. Alles aber, was Anton Sommer gesungen und gedichtet hat, ist in weiterem Sinne so echt volkstümlich deutsch, daß der Ausschuß für die Errichtung des Denkmals auch Beiträge von überall her aus dem Vaterland und aus allen Kreisen des Volks erwarten darf. Als Annahmestelle für Beiträge von auswärts wird die Rudolstädter Stadthauptkasse bezeichnet.


Aus einem Tagebuch der Ehegatten Pestalozzi, das dieselben im ersten Jahre ihrer Ehe gemeinschaftlich führten und von welchem ein Bruchstück sich in der Urschrift erhalten hat, macht die „Preußische Schulzeitung“ interessante Mitteilungen. Der vortreffliche großangelegte Charakter der Frau des großen Pädagogen offenbart sich in den Aufzeichnungen in schlichter ergreifender Weise. Anna Pestalozzi, die Tochter des Züricher Kaufmanns Schultheß, hat einen vollen Anteil an ihres Mannes Wirken und Schaffen, Plänen und Sorgen gehabt. Ihre kräftige haushälterische Natur ermöglichte ihm erst die Versuche, seine Reformgedanken der Haus- und Volkserziehung probeweise zu realisieren; ohne sie zum Vorbild hätte er „Lienhard und Gertrud“ schwerlich geschrieben. Die äußerlichen Mißerfolge, das Fehlschlagen seiner Erwartungen konnte freilich auch sie von dem Mann ihres Herzens nicht fernhalten. Ein frohes unerschütterliches Gottvertrauen gab ihr allen Heimsuchungen gegenüber einen festen Halt, dies um so sicherer, als sie sich in diesem Zug des Gemütes mit ihrem Gatten begegnete. Gleich im ersten Jahre der Ehe, das sie auf jenem Gut Neuhof verbrachten, welches Pestalozzi mit Hilfe seines Schwiegervaters auf einer Strecke öden Heidelands erworben, hatten sie eine sehr ernste Prüfung zu bestehen. Die wirtschaftlichen Absichten, die zu dem Ankauf geführt hatten, konnten nicht erreicht werden. Der Vater war sehr unzufrieden. Sie waren beide tief niedergedrückt und stellten sich das Grausamste vor, das ihnen begegnen könnte: die Trennung eines vom andern. In jenen Tagen schrieb Frau Anna in das Tagebuch die zuversichtlichen Worte: „Wir entschlossen uns, diese Schickung Gottes mit Standhaftigkeit anzunehmen und seine weiteren Verhängnisse ruhig zu erwarten und uns fest überzeugt zu halten, daß auch diese Widerwärtigkeiten uns noch zum Segen dienen müssen.“

Am 13. August 1769 wurde ihnen ihr Sohn Jakob geboren. Es ist derselbe, von dem Pestalozzi gelegentlich erzählt hat, er habe ihn in Rousseauscher Manier ziemlich wild aufwachsen lassen. Das hat ihn aber nicht gehindert, seinen Geist früh zu bilden. Ein späteres Tagebuch, das Pestalozzi 1774 über die Erziehung seines Sohnes führte und von dem ebenfalls nur ein Bruchstück vorhanden ist, beweist, daß er dem Knaben schon in dessen viertem Jahre „Anschauungsunterricht“ nach der neuen von ihm erfundenen Methode gab, auch „Arbeitsstunden“. In der That konnte der kleine Jakob schon im sechsten Jahr lesen und schreiben, ja er machte damals sogar ein Gedicht an seine Tante „Bäbe“, die in Leipzig verheiratete Schwester des Vaters, das gar naiv zärtlich ausklingt:

„Du liebe, liebe Tante,
Ich will Dir schreiben
Und das gli, gli,
Das kann nüt anderst sy.“

Pestalozzis Nachkommenschaft war keine große. Wir entnehmen derselben Quelle noch einige Nachrichten über den Sohn und dessen Familie. Jakob erhielt 1782 in einer Erziehungsanstalt in Mülhausen (Elsaß) seine weitere Erziehung und kam dann zum Kaufmann Battier in Basel, wo er die Handlung erlernte. 1788 kehrte er nach dem Neuhof zurück, übernahm das Gut und verheiratete sich 1791 mit Anna Magdalene Fröhlich von Brugg, die ihm in seinen bald sich einstellenden schweren Leiden – Rheuma und Gicht – eine treue Pflegerin, den Eltern eine liebende Tochter war. Er starb – nur 32 Jahre alt geworden – am 15. August 1801. Seine Mutter bedauerte es schmerzlich, daß weder sein Vater, „der ein großes Werk in Burgdorf angefangen“, ebensowenig wie sie selbst, da sie in Hallwil bei Freunden war und die Nachricht seiner schweren Erkrankung dort spät eingetroffen war, bei seinem Ende zugegen sein konnte. „Aber Gott vergönnte mir noch die unaussprechliche Freude,“ schreibt sie in einem Briefe, „ihn in einer Engelsgestalt auf seinem Lager zu sehen; seine Miene und sein Mund waren Beweise der Güte seines Gottes, daß er ihn zum Engel in seinen Himmel aufgenommen hat.“ Jakob hinterließ einen Sohn, Gottlieb, der die Gerberei erlernte, später aber den Neuhof übernahm. Er verheiratete sich mit der Schwester Joseph Schmids, des Gehilfen Pestalozzis in Yverdon. Aus dieser Ehe stammte ein Sohn: Karl, Professor am Polytechnikum in Zürich und Oberst; er starb Ende der 80er Jahre ohne Nachkommen. Jetzt ist die Familie ganz ausgestorben.


Das Goldland Ophir und das Wort „Afrika“. Ueber den dunklen Ursprung des Namens „Afrika“ stellt Dr. Carl Peters in seiner jüngsten Schrift „Aequatorial- und Südafrika nach einer Darstellung von 1719“ (Geographische Verlagsbuchhandlung Dietrich Reimer, Berlin) folgende interessante Hypothese auf: Steckt nicht in unserm Worte Afrika (Afr-ika) noch die alte Wurzel von Ophir? Man muß im Auge behalten, daß diese Wurzel im Althebräischen aus den drei Buchstaben: aleph (spiritus lenis), pe (sprich ph) und resch (sprich r) bestand. Mit diesen drei Lauten wurde das Wort in der Heiligen Schrift geschrieben, welche ja überhaupt ursprünglich keine Vokale kannte. Die Vokalzeichen wurden bekanntlich zur Bequemlichkeit der Leser erst um das 7. Jahrhundert nach Christi Geburt hinzugefügt. Der Vokal o sowie das i in der letzten Silbe sind für unsere Beurteilung demnach ohne Bedeutung. Im Arabischen wird Ophir direkt âfir geschrieben. Ist es nun nicht wahrscheinlich, das ’FR (hebräisch Ophir, arabisch âphir gesprochen) der Name für Afrika oder doch den südlichen Teil von Afrika ist? Daraus entstand in adjektiver Form das griechische Nesos oder Gaia (Insel oder Land) afrike und das lateinische terra Africa, was eigentlich das ophirsche Land oder Ophirland bedeutet. An Wahrscheinlichkeit gewinnt diese Annahme dadurch, daß man ja in der Nähe von den heutigen Goldfeldern Südafrikas, in Zimbabye, Ruinen von Siedelungen entdeckte, die in grauer Vorzeit ein vielleicht semitisches (phönizisches) Volk dort anlegte und in welcher, wie untrügliche Spuren beweisen, Gold in großen Mengen gewonnen wurde. Das berühmte Ophir Salomos wäre demnach ein Teil Südostafrikas und von diesem Landstriche, der uns auch heute wieder mit einem Goldregen überschüttet, hätte der Weltteil Afrika seinen Namen erhalten. *     

[116] Als Urgroßmütterchen. (Zu dem Bilde S. 101.) Wie anmutig schalkhaft lächelt hier das junge Mädchenbild aus dem altväterischen Kostüm der Biedermaierzeit heraus! Die Schwestern wollten sämtlich nicht glauben, daß der von drei Generationen pietätvoll bewahrte Sonntagsstaat an der vierten auf einem modernen Maskenball neuerdings seine Wirkung thun könne. Und siehe da! Nachdem die jüngste ihren Kopf durchgesetzt, und die alten Herrlichkeiten ein bißchen frisch aufgemuntert hat, wie unglaublich gut steht ihr der taffetgefütterte Kaleschenhut mit der ehrbaren Florschleife, das Brokatkleid von geradezu künstlerisch verschossenem Ton und der unvergängliche gestickte Kaschmirshawl! „Allerliebst!“ heißt es jetzt einstimmig. Die Schwestern bereuen im stillen ihre sämtlichen „stilvollen“ Charaktermasken, und man braucht wohl kein Prophet zu sein, um diesem anspruchslosen „Urgroßmütterchen“ Erfolge vorauszusagen, mit welchen die modernste Schöne mehr als zufrieden sein könnte! Bn.     

Die Papierschlacht. (Zu dem Bilde auf S. 105.) Wie eine Art von närrischer Influenza packt alljährlich um dieselbe Zeit die Menschen eine seltsame Lust, allerlei verrücktes Zeug zu vollführen und tollen Mummenschanz zu treiben. Das geschieht im Fasching, der sonst ganz gesetzte Leute zu verleiten vermag, einzustimmen in den lärmenden Chor der Narren und dem Prinzen Karneval zu huldigen. Die Fastnacht ist ein rechtes Allerweltsfest, und gewisse Grundzüge des fröhlichen Treibens sind und bleiben immer und überall die gleichen! Trotzdem finden jedoch in Einzelheiten ab und zu Neuerungen statt, die der Narrenmelodie einen Ton hinzufügen und einige Abwechslung in das Karnevalstreiben bringen. Dahin gehört beispielsweise das neuerdings aufgekommene Werfen mit Papierconfetti und Papierschlangen. Im Fasching des Jahres 1891 bewarf man sich auf dem Pariser Opernball und auf den Boulevards zum erstenmal mit kleinen Papierschnitzeln, die mit weitgehender Freiheit des Sprachgebrauches „Confetti“ – wie die in Italien gebräuchlichen Wurfgeschosse aus Gipsmehl – genannt wurden, und gegenwärtig sind schon verschiedene große Fabriken ausschließlich mit der Herstellung dieser Schnitzel beschäftigt, deren jährliche Gesamterzeugung man auf Millionen Kilo schatzt. Gleichzeitig sausten damals auch die ersten papierenen „Serpentinen“ durch die Luft, die sich gleich den Confetti auch rasch auswärts einbürgerten. Seitdem werden als Gegenstück zu der berühmten „Blumenschlacht“ bei dem Karneval von Nizza vielerorts während des Faschings „Papierschlachten“ geliefert, deren eine uns das Bild auf S. 105 vor Augen führt. Lustig genug geht’s da her, und Seine Tollheit der Prinz Karneval kann sich keine ergebeneren und getreueren Unterthanen wünschen. Wohin man blickt in dem großen, rings von Galerien umgebenen Saale, in dem der Maskenball stattfindet, überall schaut man fröhliche Mienen, vor Karnevalslust funkelnde Augen und hört fröhliches Lachen und Scherzworte. Die Schellen klingen, die Pritschen klappern; hochauf schäumen die Wogen der Faschingsfreude, und die Papierschlacht, bei der sich der karnevalistische Uebermut so recht Luft machen kann, ist in vollem Gange! Vom Saale schwirren immerfort die bunten Papierschlangen zur Galerie empor. Besonders die Damen, die durch die Abwechslung ihrer bunten, phantastischen Kostüme dem Feste seinen Hauptreiz verleihen, haschen eifrig nach den emporfliegenden Papierraketen und beeilen sich dann, auch ihrerseits bunte Geschoße nach unten zu senden. Mit dem Zischen dieser durch die Luft sausenden Serpentinen vermischt sich das Knallen der Champagnerpfropfen, der Sekt schäumt in den Kelchen – ein rechtes Sinnbild der so rasch verrauschenden Karnevalslust selber. Doch wer mag jetzt schon an den düsteren Aschermittwoch denken, wo alles tollt und jubelt? Nein, gebt euch nur mit voller Seele dem Reize des Augenblicks in der nur einmal im Jahre wiederkehrenden karnevalistischen Heiterkeit, die keine ernsten Gedanken aufkommen läßt, hin - eingedenk des Dichterwortes:

„Der Weiseste unter den Weisen ist,
Der alle Weisheit bisweilen vergißt!“

F. R.     

Unser Herr Student. (Zu dem Bilde S. 113.) Ein Extradienst für die vielbeschäftigte Zofe, und doch – wie gern wird er geleistet! Voll sorgsamer Hingebung hat sie die neuen weißen Handschuhe für den verwöhnten Haussohn geweitet, ihm dann die Batistkrawatte geknüpft, den eben vom Schneider gekommenen Frack nochmals mit reichlichen Bürstenstrichen übergangen und nun hilft sie den Mantel über alle die Herrlichkeit breiten, deren Träger, wie andere große Herren, alle diese Mühe mit einem huldvoll vertraulichen Lächeln überreich belohnt. Den diskreten Bewunderungsblick des wohlgeschulten Mädchens nimmt er gern als Abschlag auf die Triumphe, die ihm heute noch bevorstehen und die er strahlenden Angesichts schon im voraus genießt. Beneidenswerter Herr Studiosus! … Wo sind die, welche behaupten, einen vollkommen Glücklichen suche man umsonst auf dieser unvollkommenen Erde? Sie sollen unser Bild ansehen und eingestehen, daß hier das seltene Phänomen wirklich und leibhaftig vor uns steht! Bn.     

Apollo oder Apolda? Durch eines der verbreitetsten Studentenlieder ist die Stadt Apolda in Thüringen zu dem Rufe gelangt, eine Stätte hervorragender Tabaksindustrie zu sein. Die Stelle „Knaster den gelben hat uns Apollo präpariert“ in dem Liede „Ça ça geschmauset“ ist dahin erklärt worden, daß das Wort „Apollo“ als Entstellung von „Apolda“ anzusehen sei. Apolda soll früher den Jenenser Studenten als Tabaksquelle gedient haben, aber nach dem Rückgang der Tabaksindustrie daselbst als solche in Vergessenheit geraten sein. Nun ist Apolda ja in der That ein bedeutender Industrieort; auf dem Gebiete der Strumpfwirkerei sogar eine der wichtigsten Fabrikstädte Deutschlands, aber sein Ruhm als Tabaksproduzent läßt sich auf historische Anhaltspunkte nicht gründen. Es spricht vielmehr alle Ueberlieferung gegen diese Annahme. Wie aber läßt sich sonst das Wort „Apollo“ in jenem vielgesungenen Vers erklären? In einer Zuschrift an die Münchener „Allgemeine Zeitung“’ schreibt Dr. M. Fabricius, nachdem er jene bisherige Deutung zurückgewiesen: „Dagegen hat die Studentenpoesie schon lange den Knaster in Beziehung zu Apollo gebracht. Joh. Chr. Günther dichtet (‚Curiöse und merkwürdige Lebens- und Reisebeschreibung, welche er selbst mit poetischer Feder entworffen‘, Frankfurt u. Leipzig, S. 28 ff. 1738):

‚Wenn man mit Maßen trinckt, zumahl wo Toback brennt,
Den Phöbus selbst erwehlt und sein Vergnügen nennt ....‘

Da Günthers Lieder in der damaligen Studentenwelt und besonders in Jena, wo der Dichter ein trauriges Ende gefunden, allgemein bekannt waren, so hat wahrscheinlich diese oder eine ähnliche Stelle die Fassung des anfangs citierten Verses beeinflußt.“

Zur Schulgesundheitspflege. Manches ist in den letzten Jahrzehnten geschehen, um die Schäden, welche der Schulbesuch dem jugendlichen Körper anthun kann, soweit als irgend möglich zu bekämpfen. Die Schulzimmer sind größer, Heizung, Beleuchtung, Lüftung besser geworden, Bänke und Tische werden nach zweckmäßigen Gesichtspunkten hergestellt. Die Lehrer selbst werden mit den Grundlagen der Schulgesundheitspflege vertraut gemacht, damit sie in ihrem Teile auch für das körperliche Wohl der ihrer Obhut anvertrauten Kinder Sorge tragen können. Und endlich ist dem Verlangen nach der Anstellung von Schulärzten, welche eine Art Oberaufsicht über die gesundheitlichen Zustände einer Schule führen, wenigstens da und dort Rechnung getragen worden.

Trotzdem bleibt immer noch vieles zu thun, und zum Teil handelt es sich dabei um Verbesserungen, die mit nicht allzu großer Mühe durchzuführen wären. Auf einen sehr wichtigen Punkt hat unser Mitarbeiter Dr. med. Herrm. Baas das Augenmerk gelenkt in seinem trefflichen Buche „Gesundheit und langes Leben“. Er betrifft die Frage, ob ein Kind, das im gesetzlichen Alter von 6 Jahren zur Schule gebracht wird, auch wirklich körperlich reif dafür ist. Schwächliche, blutleere, nervöse, skrofulöse, mit einem Wort nicht ganz gesunde Kinder sollte man, verlangt er, viel häufiger, als geschieht, in der Freiheit lassen und erst spät in die Schule aufnehmen, weil einesteils kränkliche Kinder durch den Schulbesuch meist gesundheitlich noch mehr zurückkommen und andernteils nicht viel leisten können, so daß sie andere gesunde Kinder mit zurückhalten. Und das leitet Baas zu der ganz bestimmten und unseres Erachtens wohlberechtigten Forderung, daß bei der Entscheidung über die Aufnahme der Kinder in die Schulen der Arzt zugezogen werde. „Es ist ein ganz entschiedener Mangel unserer öffentlichen hygieinischen Zustände,“ schreibt er, „daß bei der Schulaufnahme nicht auch ein Arzt mitzusprechen hat, um darüber zu wachen, daß nur gesunde Kinder aufgenommen, kranke aber zurückgestellt werden. Bei der Rekrutierung ist dies allgemein eingeführt, für die Schulen fehlt eine solche Einrichtung dagegen überall, höchstens wird hier und da einmal von den Eltern kranker Kinder ein Zeugnis verlangt, daß ihr Kind körperlich nicht kräftig genug sei, um die Schule zu besuchen. In der Regel aber werden dann Kinder, die etwa ein Jahr zu spät in die Schule kommen, um ein Jahr länger in der Schule behalten, weil nach der Schablone der gesetzlichen Schulbesuchsdauer dies sein muß, ohne daß Rücksicht darauf genommen ist, daß gesunde und ältere Kinder leicht nachholen, was sie etwa versäumt haben. So droht den Eltern kranker Kinder und diesen selbst noch eine Strafe für das Kranksein, und um dieser zu entgehen, werden heute viele Kinder, trotz entgegenstehender ärztlicher Gründe, doch in die Schule geschickt, oft zum lebenslänglichen Nachteil für ihre Gesundheit. Gerade solche Kinder verfallen am häufigsten den sogenannten Schulkrankheiten, eine Krankheitsrubrik, die erst neuerdings, besonders in Mädchenschulen, sozusagen öffentliche Geltung gewinnt.“


Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (6. Fortsetzung). S. 101. – Als Urgroßmütterchen. Bild. S. 101. – Die Papierschlacht. Bild. S. 105. – „Zweiter Jüte.“ Eine Berliner Droschkenstudie von Hans Kraemer. S. 108. Mit Abbildungen S. 108, 109 und 110. – Der Hundertjährige Kalender. Von M. Hagenau. S. 111. – Geschichten des Herrn Direktors. Nacherzählt von Ernst Lenbach. 1. Kollege Logarithmikus. S. 112. – Unser Herr Student. Bild. S. 113. – Blätter und Blüten: Dem Dichter der „Bilder und Klänge aus Rudolstadt“. S. 115. – Aus einem Tagebuch der Ehegatten Pestalozzi. S. 115. – Das Goldland Ophir und das Wort „Afrika“. S. 115. – Als Urgroßmütterchen. S. 116. (Zu dem Bilde S. 101.) – Die Papierschlacht. S. 116. (Zu dem Bilde S. 105.) – Unser Herr Student. S. 116. (Zu dem Bilde S. 113.) – Apollo oder Apolda? S. 116. – Zur Schulgesundheitspflege. S. 116.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[116 a] 0


Die Gartenlaube.

Beilage zu No 7. 1896.



Wilhelm Konrad Roentgen und die X-Strahlung. Bei dem großen Aufsehen, das die Entdeckung des Würzburger Physikers Roentgen allenthalben erregt (vgl. Nr. 5 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“), werden den Lesern einige genaue Angaben über seinen bisherigen Lebensgang willkommen sein. Wilhelm Konrad Roentgen ist geboren am 27. März 1845 zu Lennep, Regierungsbezirk Düsseldorf, und daher nicht, wie vielfach geschrieben worden ist, Holländer von Geburt. Nach Abschluß seiner Gymnasial- und Universitätsstudien, veröffentlichte er noch vor seiner am 12. Juni 1869 in Zürich erfolgten Promotion eine Untersuchung über die Bestimmung des Verhältnisses der spezifischen Wärme der Luft. Er hatte dieselbe im physikalischen Laboratorium der Universität Zürich auf Anregung seines Lehrers August Rundt ausgeführt.

Professor Roentgen.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph Prof. E. Hanfstaengl in Frankfurt a. Main.

Am 22. Dezember 1870 folgte er diesem an die Universität Würzburg, und als Rundt dann nach Straßburg zog, begleitete ihn Roentgen am 11. Mai 1872 als Assistent an das Physikalische Institut der Universität der Reichslande. Dort habilitierte er sich im März 1874 als Privatdozent, wurde am 7. April 1875 an die Landwirtschaftliche Akademie in Hohenheim (Württemberg) berufen und zwar als ordentlicher Professor, und erhielt sodann am 11. April 1876 einen Ruf als außerordentlicher Professor an die Universität Straßburg. Am 10. April 1879 ging er als ordentlicher Professor und Direktor des Physikalischen Instituts an die Universität Gießen, um von dort am 31. August 1888 als ordentlicher Professor und Direktor des Physikalischen Instituts in Würzburg an diese Universität berufen zu werden, fürwahr ein würdiger Nachfolger Kohlrauschs! Einen im Februar an ihn ergangenen ehrenvollen Ruf nach Freiburg lehnte Roentgen ab, was ihm seitens der bayrischen Regierung warme Anerkennung eintrug. 1893/94 bekleidete Roentgen an der Würzburger Universität die Würde des Rector magnificus, und beim 200jährigen Jubiläum der Universität Halle hatte er die Alma Julia zu vertreten. – Die praktische Verwertung der epochemachenden Entdeckung des deutschen Naturforschers ist indessen im vollen Gange. Ueberall werden Photographien vermittelst der X-Strahlen aufgenommen, und vor allem sucht man das neue Verfahren in den Dienst der Heilkunde zu stellen. Es ist mit ihm in der That möglich, über allerlei Veränderungen, Verdickungen oder Brüche der Knochen sich Klarheit zu verschaffen, ebenso vermag der Arzt, die Lage eingedrungener metallischer Fremdkörper, wie Nadeln, abgebrochener Messerklingen und Kugeln, genau zu bestimmen. Unsere Abbildung ist die Wiedergabe der Photographie einer Hand, die von Dr. Baur, Dr. Fischer und Dr. Lettermann in Darmstadt aufgenommen wurde. Wir sehen auf ihr ganz deutlich die Kugel an einem der Mittelhandknochen als einen dunklen runden Fleck verzeichnet. Doch damit ist die Verwendbarkeit der Photographie mittels der X-Strahlen für Zwecke der Heilkunde nicht erschöpft. Es steht bereits fest, daß man auch Blasen- und Gallensteine mit ihrer Hilfe wird nachweisen können, ja bei späterer Vervollkommnung wird sie uns auch Aufschluß über die Gestaltung innerer weicher Organe geben können.

Hand mit einer darinsitzenden Kugel.
Nach dem Roentgenschen Verfahren aufgenommen im physikalischen Institut des Großh. Neuen Gymnasiums in Darmstadt.

Geheimer Kommerzienrat Ferdinand Schichau †. Ein selbstgemachter Mann – wenn wir das englische self made man so übersetzen dürfen – in des Wortes edelster und bester Bedeutung, ein Mann, dessen Name von seinen Werken durch die ganze Welt getragen wird, ist am 23. Januar dieses Jahres in der Person des Geheimen Kommerzienrats Ferdinand Schichau in Elbing aus dem Leben geschieden.

Ferdinand Schichau.
Nach einer Lithographie im Verlage von Ecksteins Verlagsanstalt in Berlin W.

In Elbing am 30. Januar 1814 als der Sohn eines Handwerkers geboren, errichtete der mit ungewöhnlichen Fähigkeiten für die Technik begabte Schichau, nachdem er ein dreijähriges Studium auf dem Berliner Gewerbeinstitut absolviert, in Elbing im Jahre 1837 eine Maschinenbauanstalt, also zu einer Zeit, als sich die deutsche Industrie noch völlig in ihren Anfängen befand. Zunächst mit wenigen Gesellen arbeitend, baute er im Jahre 1842 den ersten in Deutschland hergestellten Dampfbagger, dessen Trefflichkeit dadurch aufs schlagendste bezeugt wird, daß derselbe erst im Jahre 1887 außer Betrieb gesetzt wurde.

Damit trat Schichau in gewissem Maße bahnbrechend für die deutsche Industrie auf. Zwölf Jahre später war er es wiederum, welcher den ersten eisernen Schraubendampfer, und zwar für eine Königsberger Reederei, erbaute. Damit hatte er ein Gebiet betreten, auf welchem in der späteren Zeit seine großartigsten Erfolge sichtbar werden sollten. Wurden in der immer größere Ausdehnung gewinnenden Fabrik auch die verschiedenartigsten Kraftmaschinen hergestellt, so blieb der Schiffsbau doch eine besondere Spezialität des Etablissements, die dessen Ruhm über alle Welt verbreitete, nachdem erst die Marinetechnik den großartigen Panzerkolossen jene unheimlichen, schnell dahinjagenden Feinde in den Torpedobooten gegenüber gestellt hatte. Mit ganz besonderem Eifer verlegte sich Schichau auf den Bau dieser mit den leistungsfähigsten Maschinen ausgestatteten Kriegsfahrzeuge, die er zu einer Fahrgeschwindigkeit zu bringen verstand, welche sie den anerkannten englischen Schiffen dieser Art noch überlegen machte. Durch diese Leistung hatte er sich binnen kurzem wirklichen Weltruhm erworben, denn nicht bloß die meisten europäischen Staaten, wie außer Deutschland besonders Rußland, Oesterreich, Italien, Norwegen und die Türkei, auch das ferne China und Japan und ebenso Brasilien, zogen die Schichauschen Torpedoboote allen anderen vor.

Bei den beschränkten Verhältnissen der Werft in Elbing hatte sich Schichau von dem Bau von Schiffen mit größeren Dimensionen bis dahin ferngehalten: das stete Wachsen der Aufträge veranlaßte ihn aber schließlich, eine Zweigniederlassung in Danzig und speziell eine Werft für größere Schiffe zu errichten. Hier gelang es ihm nun, auch die höchste Staffel der Leistungsfähigkeit auf diesem Gebiete zu erreichen und für die deutsche Marine den Kreuzer „Gefion“, für die österreichische Regierung die Dampfer „Miramar“ und „Pelikan“ und für den Norddeutschen Lloyd zwei transatlantische Dampfer zu erbauen. Eine Reparaturwerft besteht auch in Pillau. So hat Schichau seine Fabrik von den bescheidensten Anfängen zu einem wahren Weltetablissement emporzuheben verstanden, welches allein in Elbing etwa 2600 Arbeiter beschäftigt und das in der Zeit seines nahezu 60jährigen Bestehens 600 kleinere Dampfer, 750 Lokomotiven, 48 Dampfbagger, 186 Torpedoboote und rund 1500 Dampfmaschinen fertiggestellt hat.

[116 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]