Die Gartenlaube (1897)/Heft 24

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[389]

Nr. 24.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(4. Fortsetzung.)
6.

Das Glaustädter Malefikantengericht war bis auf den Vorsitzer nur eine Abzweigung des schon vorher auf diesem Gebiet kompetent gewesenen Stadtgerichts. Balthasar Noß, vom Landgrafen mit der Konstituierung beauftragt, hatte die Beisitzer und Schöffen selbst ausgewählt und hier, wie in so vielen Maßnahmen seines Berufs, keinen alltäglichen Scharfblick gezeigt. Der eine Beisitzer, Wolfgang Holzheuer, und die drei Schöffen waren gefügige Werkzeuge in der Hand ihres Meisters und beugten sich stets ohne Widerspruch seiner geistigen Ueberlegenheit. Auch mochte bei ihnen die Furcht vor dem Schreckensmanne, der mit so unbeschränkten Vollmachten ausgerüstet war und frei über sämtliche Rutenknechte und Stadtsoldaten verfügte, alle Skrupel ersticken, zumal sie so von dem wüsten Treiben des Noß ihrerseits klingenden Vorteil zogen. Der andere Beisitzer, Doktor Adam Xylander, hatte zwar keinerlei Scheu, selbst mit Balthasar Noß in Meinungsverschiedenheit zu geraten, wo es die Sache verlangt hätte, aber er war das Urbild eines beschränkten Fanatikers, tief durchdrungen von der Notwendigkeit, das gottverhaßte, seelenmordende Hexen- und Zauberwesen mit Feuer und Schwert auszurotten um jeden Preis. Der „Hexenhammer“, dieses berüchtigte Denkmal traurigster Geistes- und Herzensverirrung, stand ihm an zwingender Logik turmhoch über jedem anderen Gesetzbuch. Während Balthasar Noß aller Wahrscheinlichkeit nach lediglich aus gemeinstem Eigennutz handelte, hielt Herr Adam Xylander in diesem Punkt seine Hand vollständig rein und verschmähte alle Gebühren und Anteile, die ihm nach der Gepflogenheit der Malefikantengerichte aus dem Verfahren erwachsen wären. Seine Besoldung dünkte ihm ausreichend.

Doktor Adam Xylander führte im Gegensatz zu dem schwelgerischen und ausschweifenden Balthasar Noß ein fleißiges, schlichtes, untadeliges Privatleben. Er war unter sämtlichen Blutrichtern der einzige, der die Prozeßakten oft bis spät in die Nacht hinein mit gewissenhaftester Gründlichkeit studierte und sich in seiner beschränkten Art redlich abmühte, die Wahrheit herauszufinden. So vollständig aber steckte er in seinen gräßlichen Vorurteilen, daß er jeder Thatsache, die zu entlasten schien, gleich von vornherein mißtrauisch gegenüberstand.

Sommernacht im Walde.
Nach einem Gemälde von Anton Schmitz.

[390] Die Furcht, der Satan möchte ihn blenden und ihm den klaren Verstand wirren, quälte ihn wie eine fixe Idee. So kam es, daß er oft gerade da, wo die Beschuldigten am geringsten belastet waren, mit ganz besonderer Heftigkeit und Strenge ins Zeug ging.

Doktor Adam Xylander bewohnte ein enges, niedriges Haus in der Kreuzgasse. Bertha, die schon ältliche Tochter seines verstorbenen Bruders, führte dem alten Hagestolz hier seit Jahren die Wirtschaft. Für die Umwohner war das graugelbe Häuschen mit dem stark überbauten Obergeschoß und dem windschiefen Giebel schon vor der Einsetzung des Malefikantengerichts ein Gegenstand heimlicher Scheu gewesen. Wenn sich da droben das winzige Fenster aufthat und das lederfarbige Geiergesicht Adam Xylanders erschien, um einen Augenblick Luft zu schöpfen, dann hörten die Kinder der Kreuzgasse mitten im Spiel auf und zeigten sich voll ängstlichen Staunens den Mann, der da im Rufe stand, niemals zu lachen, niemals Wein oder Bier zu trinken und keine Seele aus Gottes Welt lieb zu haben. Es machte dann wirklich den Eindruck, als luge ein scharfgeschnäbelter Raubvogel aus seinem Horste herab. Um dieser Aehnlichkeit willen hieß das unschöne Häuschen mit der armslangen kreischenden Wetterfahne in ganz Glaustädt das Geierhäuschen.

Am sechsten Juni lag Doktor Adam Xylander noch bei vorgerückter Tagesstunde zu Bett. Er hatte sich bei dem hochmögenden Vorsitzer Balthasar Noß für heute entschuldigen lassen. Die Ursache war ein unerklärlicher Angstanfall mit stoßartig auftretendem Herzklopfen und häufigem Zittern. Sein starkes Pflichtgefühl trieb ihn zwar zur gewohnten Stunde vom Lager, aber beim Ankleiden war sein Befinden wesentlich schlimmer geworden. Obgleich er sich nun wieder hinlegte und auf Anraten seiner verständigen Bruderstocher etliche Tassen Fliederthee zu sich nahm, wollte der Anfall nicht ebben. Im Gegenteil, die Herzstöße wurden jetzt häufiger, kalter Schweiß trat ihm auf Stirn und Nase und das merkwürdige Angstgefühl, das so gegenstandslos und doch so grauenhaft war, steigerte sich von Stunde zu Stunde. Zuletzt schrie der Patient gell auf, stöhnte, warf sich verzweifelt herum und klapperte mit den Zähnen wie beim heiligsten Schüttelfrost.

So schickte denn Bertha Xylander, trotz des Widerspruchs des Erkrankten, zu Doktor Ambrosius. Der Liebling des Glaustädter Patriziats war ihr von Ansehen bekannt und flößte ihr, sie wußte selbst nicht warum, ein unbegrenztes Vertrauen ein.

Das Laufmädchen, das Bertha Xylander in die Wohnung des Arztes schickte, ward von Rudloff, dem Altgesellen, der gerade mit Elma Wedekind auf der Treppe stand, nach dem Gasthof zum Goldnen Schwan gewiesen. Dort in dem kleinen Gastzimmer pflegte Ambrosius um diese Zeit mit etlichen Tischgenossen das Mittagsmahl einzunehmen.

Im ersten Augenblick war Doktor Ambrosius von der unerwarteten Kundschaft wenig erbaut. Dann aber ließ er vermelden, sobald er gespeist habe, stehe er dem Herrn Beisitzer gern zur Verfügung. Ein unbestimmtes Gefühl war in ihm aufgetaucht, daß er den ärztlichen Besuch bei Xylander möglicherweise zu gunsten der armen Brigitta Wedekind ausnutzen könnte. Unmittelbar ein gutes Wort für sie einzulegen, das war allerdings bei dem ewig lauernden Mißtrauen des starren Fanatikers nicht nur zwecklos, sondern auch lebensgefährlich. Doktor Xylander hätte sofort in dem Fürsprecher einen Satansgenossen gewittert, denn wer Hexen und Zauberer beschützt – so ging ja die Rede, der zählt ebenso zu dem Spießgesinde des Bösen wie der Beschützte selbst. Irgendwie aber ließ sich doch vielleicht anknüpfen. Die Macht des Arztes über den Kranken ist groß, und nach dem kurzen Berichte des Laufmädchens schien der Fall Doktor Xylanders für eine solche Beeinflussung nicht gerade ungeeignet.

In bester Stimmung verzehrte Ambrosius den Nürnberger Goldkrapfen, den die Wirtin vom Goldnen Schwan ganz besonders schmackhaft bereitete. Zum erstenmal seit dem furchtbaren Schicksalstage, der die Familie des Schreiners betroffen, aß er jetzt mit wirklichem Appetit. Obschon er ja zu den Wedekinds, streng genommen, nur ganz äußerliche Beziehungen hatte, war ihm die Sache doch wider alle Vernunft nahe gegangen. Besonders auch um der kleinen Elma willen, die wie verstört umherschlich, mit ihren großen forschenden Augen überall in die Ecken und Winkel spähte und nirgend mehr Rast fand. Diese fiebrische Unruhe wirkte auf Doktor Ambrosius noch peinvoller als die erkünstelte Starrheit des Schreiners, der, von der Erfolglosigkeit aller Bemühungen fest überzeugt, gleichmäßig weiterschaffte und lange über Feierabend hinaus Hobel und Säge handhabte. Doktor Ambrosius sah nun endlich, nach dem fruchtlosen Hin- und Hersinnen der letzten Tage, die freilich noch immer sehr unklare Hoffnung aufdämmern, durch eine klug berechnete Wendung, die ihm der Augenblick eingeben mußte, das Unheil Brigittas um einige Tage oder gar Wochen hinauszuschieben. Und Zeit gewinnen, hieß immerhin doch etwas gewinnen. Man konnte nicht wissen, was für das Treiben des Malefikantengerichts im Schoße der Zukunft schlief.

Er winkte der schmucken Kellnerin, zahlte und schenkte ihr einen Glaustädter Batzen. Für die wackere Frau Wirtin, die jetzt gerade vorbeikam, hatte er ein artiges Wort betreffs der Nürnberger Goldkrapfen. Dann leerte er sein bauchiges Glas und bot den drei Tischgenossen, die gleichfalls aufstanden, freundlich die Hand. „Gott befohlen!“ sagte Herr Jansen, der Buchdrucker. Sein Antlitz war heute schier violett, so tapfer hatte er in den Kalbsnierenbraten und den wohlgeölten Salat, ganz besonders auch in die Goldkrapfen eingehauen. Dann mit gedämpfter Stimme. „Nehmt Euch in acht, herzlieber Doktor, auf daß Euch bei dem gestrengen Adam ja kein unbesonnenes Wörtlein entschlüpfe! Ihr lacht vielleicht, aber es ist mal so. Ins Geierhäuschen ging’ ich Euch nicht für schweres Geld.

„Hol’s der Henker!“ murmelte Fridolin Geißmar, der rothaarige Hauptmann. „Es heißt von eh’: mit großen Herren ist nicht gut Kirschen essen. Geschweige denn gar mit so einem. Da dächt’ ich schon gleich, der Kerl müßte beim ersten Blinzeln Verdacht schöpfen.“

„Unbesorgt! Werde das Leitseil nicht fahren lassen. Herr Kunz Noll, begleitet Ihr mich ein Stück? Wir haben den nämlichen Weg.“

„Bis an die Mauthgasse, gern!“

Der Reißer und Maler mit dem blassen Gesicht und den spitz vorstehenden Backenknochen hatte sich schon beim Eintreten des Laufmädchens vorgenommen, die Gelegenheit zu benutzen, um Herrn Doktor Ambrosius ein kurzes Wort unter vier Augen zu sagen. Es handelte sich um eine wichtige Einzelheit in dem kühnen Entwurf, den Herr Noll jüngst dem Woldemar Eimbeck erörtert hatte. Es drängte den Künstler, ein ruhiges, unbeeinflußtes Urteil zu hören. Doktor Ambrosius besaß vor allen übrigen Mitverschwornen sein volles Vertrauen. Dem leicht erregbaren Hauptmann und dem cholerischen Buchdrucker wollte er vorläufig keine Mitteilung machen, da er die Ansicht der beiden in derartigen Fällen für wenig maßgebend hielt.

Die Sache war bald erledigt. Am Rande des Marktbrunnens, der um diese Zeit völlig verwaist stand, lehnte Herr Kunz Noll eine Minute lang mit Gustav Ambrosius wie in stiller Betrachtung des heiligen Georg und seines giftspeienden Drachen. Breit lächelnd flüsterte er dem jungen Arzt eine bedeutsame Aenderung des letzthin entwickelte Planes zu und erbat sich ein offnes Urteil. Doktor Ambrosius war höchlich erstaunt über diesen neuen Beweis von außergewöhnlichem Scharfsinn und feinster Berechnung.

„Mustergültig!“ raunte er leise. „Aber nun still! Da kommt einer quer über den Platz. Reden wir von was anderm!“

Sie wandelten weiter.

„Ich begleite Euch nur bis dort um die Ecke,“ sagte Kunz Noll. „Dann muß ich nach links ab zur Marienkirche. Noch ist die Ausbesserung der Tabula in der Gusecker Seitenkapelle nicht fertig. Mancherlei kam uns dazwischen.“

„Ihr seid fleißig! Ueberall habt Ihr die Hände im Spiel.“

„Wie man’s nimmt. Vieles und doch nichts rechtes. Ist ja heutzutage in Glaustädt nicht viel Seide zu spinnen! Wenigstens nicht mit der wahren Kunst, die aus dem Herzen kommt. Handwerksarbeit, Herr Doktor!“

„Nicht so ganz, Ihr verzeiht! Ich bin kein Fachmann, aber ein Liebhaber, der sogar manchmal selber den Pinsel führt. Was ich da kürzlich im Hause des Bürgermeisters gesehn – die zwei Frauenbildnisse und die Herbstlandschaft …“

„Ja, das stammt noch aus meiner guten Zeit. Da konnt’ ich noch was. Nach und nach verliert man die Lust. Wenn [391] man so sieht, was die Glaustädter Geschlechterfamilien bevorzugen … Der Bürgermeister ist eine große Ausnahme. Der kümmert sich ja in der That manchmal mehr um die Kunst als um sein Amt. Doch dieser eine Herr Kunhardt macht uns die Suppe nicht fett.

Noch ein paar Schritte, und der merkwürdige Mensch bog mit höflichem Gruß in die Kirchgasse. Doktor Ambrosius schaute ihm kopfschüttelnd, aber nicht unfreundlich nach. Der Mann dünkte ihm der verkörperte Widerspruch. Unzufrieden mit sich und der Menschheit, wortkarg und mürrisch, aber bei alledem selbstlos, warmherzig und begeisterungsfähig im rechten Augenblick, von starker Beredsamkeit; jetzt ein weltflüchtiger Schwärmer und jetzt ein Mann der verblüffenden Klugheit und Energie – das war Kunz Noll, der Reißer und Maler zu Glaustädt.

Doktor Ambrosius beschleunigte nun seine Schritte. Nach fünf Minuten stand er vor dem windschiefen Häuschen des Malefikantenrichters. Trotz der weißglühenden Sonne des Junitages war’s in dem engen Hausflur beinahe finster. Die Holztreppe mit dem unfesten Geländer krachte und wackelte, wie sich Ambrosius mühsam hinauftastete. Dann, mit einem Male, ward es da droben hell. Eine vierschrötige Wasch- und Putzfrau, die sich die Hände an ihrer groben Leinenschürze abtrocknete, hatte die Kammerthür aufgerissen. Gleich danach ging eine zweite Thür auf. Bertha erschien, die dreißigjährige Nichte Xylanders, und hieß den Arzt mit etwas hochtöniger Stimme willkommen.

Doktor Ambrosius trat in die sauber gehaltene, aber unendlich freudlose, nüchterne Wohnstube. Er sah sich einem Geschöpf gegenüber, das zu dieser Wohnstube paßte. Hager und schmalwangig, die Nasenspitze ein wenig gerötet, trug diese Bertha Xylander ein Hausgewand von unerhörter Geschmacklosigkeit. Und doch verriet das sorgfältig gescheitelte Haar und die frisch-blühende Rose am Gürtel den Wunsch, zu gefallen.

„Verzeiht,“ sprach sie, die bläulichen Augen zu Boden gesenkt, „daß ich Euch vielbeschäftigten Mann stören mußte, da Ihr bei Tisch saßet. Aber Not kennt kein Gebot, wie Ihr ja wißt.“

„Ich bitte das Fräulein, sich derohalb keinerlei Vorwurf zu machen. Der Arzt ist jedermanns Diener und soll stündlich bereit sein, wenn es das Wohl seiner Mitmenschen gilt.“

„Wollt Ihr nicht Platz nehmen?“ fragte sie lächelnd und wies auf einen Stuhl in der Fensternische. „Ihr habt vielleicht zuvörderst den Wunsch, etwas von mir über den Kranken zu hören …“

„Ich danke Euch sehr. Aber ich glaube, es wäre doch zweckmäßiger, wenn ich den Herrn Patienten gleich persönlich in Augenschein nähme. Der Laie wird in derartigen Fällen gar häufig getäuscht. Ohne Eure Beobachtungsgabe irgend bezweifeln zu wollen.“

„Jawohl, Bertha!“ erklang jetzt die dumpfe Stimme des Malefikantenrichters aus dem anstoßenden Schlafzimmer. „Führe nur den Herrn Medicus ohne Umschweif herein! Ich lechze danach … Allgütiger Gott, nun kommt’s mit verdoppelter Wut! Dieser entsetzliche Alpdruck! Helft mir, Herr Doktor, bei allem, was heilig ist! Schnell, schnell!“

„Da bin ich schon!“ sagte Doktor Ambrosius. Er verneigte sich ehrerbietig. „Gern zu Euren Diensten, mein werter und hochgelahrter Herr Stadtrichter! Wo fehlt’s denn? Was? Und laßt Euch vor allen Dingen mal anschauen! Oder thut das grelle Tageslicht Euren Augen weh?“

Xylander verneinte. Der junge Arzt ging zum Fenster und schob den grauwollenen Vorhang zurück.

„Das ist nur der leidige Einfall meiner allzuvorsichtigen Bruderstochter, stöhnte Xylander. „Wenn ihr der Kopf schmerzt, dann vergräbt sie sich allemal in das schwärzeste Dunkel. Nun meint sie, das müsse auch mir helfen. Aber im Gegenteil! Ich bitt’ Euch, Herr Doktor, öffnet sogar die Fensterflügel! Ich lechze nach Luft. Jetzt weiß ich erst, was mir die ganze Zeit so todschwer über der Brust liegt.

Doktor Ambrosius öffnete beide Flügel, während die hagere Bertha schüchtern davonschlich. Es schmerzte sie, daß ihre Maßregel in Gegenwart des Doktor Ambrosius als leidig und allzu sorglich bezeichnet wurde. Diesem Mann gegenüber hätte sie lieber den Eindruck jugendlicher Leichtlebigkeit und Kühnheit gemacht. Uebrigens konnte sie ja wohl ohnedies bei der ärztlichen Untersuchung des Oheims nicht anwesend bleiben. Sie schloß die Thür und setzte sich seufzend an ihr mehrfach geleimtes Spinnrad.

Ein leichter Luftzug ging durch das niedrige Schlafzimmer Adam Xylanders, frisch und erquickend trotz der warmen Junitemperatur. Von der Seite her fiel ein goldheller Sonnenstrahl bis an die Bettstatt.

Der Kranke auf dem künstlich erhöhten Pfühl sah zum Entsetzen aus. Die winzigen Augen, die in äußerster Hilflosigkeit zu Doktor Ambrosius emporschauten, lagen ihm tief in den Höhlen. Die Nase schien größer als sonst. Um die blutlosen Lippen, die sonst so starr und so willenskräftig geschlossen waren, spielte ein fortwährendes Zucken.

„Fühlt Ihr Euch nun minder beengt, Herr Stadtrichter?“ fragte der Arzt.

„Ja … das heißt … nicht sehr wesentlich …“

„Schnürt’s Euch die Kehle?“

„Nein. Die Kehle ist frei. Es ist … Wie soll ich das nur beschreiben? Als ob sich mir da links auf die Brust eine steinerne Faust legte. Und wenn ich die Augen schließe, dann seh’ ich allerlei furchtbare Gestalten, riesige Schlangen und Lindwürmer. Die wälzen sich näher und näher und fauchen mich an mit ihrem giftigen Atem. Er stieß einen gräßlichen Schrei aus und zog die Decke zu sich herauf, wie einer, der friert. Im nächsten Augenblick begann er, zu schlottern.

Doktor Ambrosius ergriff die Hand des Patienten, um seinen Puls zu fühlen. Das war bei diesem stürmisch erregten Zustand unmöglich. Dann beugte er sich über den Mann her und lauschte den Schlägen des wild pochenden Herzens. Mit einem Male hörten die Zuckungen auf. Der Kranke atmete ruhiger und regelmäßiger. Es machte den Eindruck, als wollte sich eine tiefe Ohnmacht oder ein wohlthätiger Schlaf einstellen.

Der Arzt ging in das Nebenzimmer und dann in das Treppenhaus, um die jählings entschwundene Bertha zu holen. Sie hatte die Kammerthür offen gelassen und stürzte eiligst herbei.

„Ich bitt’ Euch,“ sagte Ambrosius leise, „gebt mir Papier und Schreibzeug!“

„Das steht alles bereit,“ flüsterte Bertha. „Hier auf dem Ecktisch.“ Auch sie hatte unwillkürlich die Stimme abgedämpft. Doktor Ambrosius ergriff die Feder und riß einen handbreiten Zettel ab. Mit seiner kernigen Rundschrift warf er ein paar lateinische Buchstaben auf das Blatt, nahm die Streubüchse und schüttete Sand darüber. Bertha beobachtete ihn, wie der frommgläubige Wallfahrer ein wunderthätiges Bild beobachtet.

„So! Habt nun die Güte, sofort zum Engel-Apothecarius zu schicken. Die Herstellung dieses Medikaments erfordert nur zwei Minuten. Ich möchte die Wirkung der ersten Dosis noch abwarten. Solang’ bleibe ich hier.“

Er setzte sich auf den gebeizten Stuhl, den ihm Bertha Xylander vorhin schon gewiesen hatte, ohne daß er der Einladung gefolgt wäre. Mit sanftem Erröten, das den Kontrast zwischen der Nasenspitze und dem übrigen Antlitz erheblich milderte, nahm sie ihm gegenüber Platz und suchte aus ihm herauszubekommen was dem verehrten Oheim eigentlich fehle. Doktor Ambrosius aber zeigte sich sehr zurückhaltend, ohne doch gerade die Höflichkeit zu verletzen. Er fühlte, daß diese Bertha Xylander um so lebhafter für ihn zu schwärmen begann, je weniger er geneigt schien, ihrer altjüngferlichen Begeisterung entgegenzukommen. Diese plötzlich erwachte Verehrung jedoch konnte bei dem offenkundigen Einfluß Berthas auf ihren Oheim irgendwie von Belang sein. Man mußte den Vorteil benutzen.

Der Malefikantenrichter hatte inzwischen bewußtlos dagelegen, ob im Schlaf der Erschöpfung, blieb unentschieden. Manche Symptome sprachen für eine Ohnmacht. Jetzt, mit einem Male, schrie er wiederum gell auf. Doktor Ambrosius und Bertha Xylander traten ins Krankenzimmer, um dem Gepeinigten hilfreiche Hand zu leisten. Er ward aufgerichtet, so daß er nun beinahe vollständig saß. Darauf erschien das kleine Laufmädchen und brachte das Medikament. Es war eine Glasphiole mit hellbrauner Flüssigkeit. Bertha füllte auf das Geheiß des Arztes eine thönerne Trinkschale mit frischem Wasser. Doktor Ambrosius schüttete etwa ein Sechstel vom Inhalt der Glasphiole hinein und hieß den Kranken die Thonschale ausschlürfen. Adam Xylander genoß den säuerlich schmeckenden Trank mit unverkennbarer Gier. Dann legte er sich wieder zurück auf den erhöhten Wollpfühl.

„Ruht Euch jetzt eine Weile!“ sagte Ambrosius. „Dann [392] reden wir eingehend. Von neuem begab er sich mit der hageren Bertha hinüber ins Wohnzimmer.

„Ihr seid sein Retter!“ stammelte sie verzückt und ergriff seine Hand.

„Vieledle Jungfrau, ich thue hier nur meine Pflicht! Auch sind wir ja längst noch nicht über den Bergrücken.“

„Nicht?“ raunte sie zweifelnd. „Ich dachte, sobald er das Heilmittel getrunken hätte …“

„Ihr überschätzt meine Kunst. Euer Herr Oheim ist offenbar schon seit geraumer Zeit aus dem Geleise. Er denkt und grübelt zu viel. Die ganze Ernährung ist mangelhaft … Was aber Wochen und Monate hier verdorben und ausgerenkt haben, das kann der Arzt nicht so im Handumdrehn wieder einrenken.“

„Mein armer vortrefflicher Oheim!“ flüsterte Bertha tieftraurig. „Ja, es ist wahr, er grübelt zu viel und hat wohl zu wenig Schlaf. Sein aufreibendes Amt stört ihm die Nachtruhe. Und seit einiger Zeit schmeckt’s ihm auch nicht wie sonst. Guter Gott, wenn ihm nur nichts Bedenkliches zustößt! Ach, Ihr glaubt ja nicht, wie sich mein Herz um ihn bangt! Außer ihm hab’ ich auf Gottes weiter Welt keine menschliche Seele.“

Und nun erzählte sie mit wachsender Lebhaftigkeit, wie sie von Kindheit an verwaist und verlassen sei. Oheim Xylander hatte ja eigentlich etwas Strenges und Kaltes, aber er war doch der einzige Mensch, der sie was anging. Und brav war er auch und fleißig vor allem Uebrigen, und neben den Tagespflichten machte er noch zum Heile der Menschheit die schwerwiegenden Studien im „Hexenhammer“, die ihn wohl nachgerade so überreizt hatten. Sie hing nun einmal an ihm, sie verehrte ihn, obwohl sie ja wußte, daß er in Glaustädt wenig beliebt war und selber kein großes Bedürfnis hatte, sich anzuschließen.

Doktor Ambrosius hörte ihr schweigend zu. Mehr und mehr fühlte er wirkliche Teilnahme für dies arme Geschöpf, dessen letzter Freund und Verwandter ein so verödeter, blindfanatischer Mensch war. Als sie geendet hatte, sagte er ihr ein gutherziges Wort. Da ging es über ihr unschönes Antlitz wie Sonnenschein. Bei diesem Aufleuchten vergaß man beinahe, wie reizlos und ältlich sie war.

Nach Verlauf einer Viertelstunde begab sich der Arzt wieder ins Krankenzimmer. Er fand den Patienten leidlich beruhigt, aber doch sehr niedergeschlagen und kleinmütig. Ambrosius setzte sich zu ihm aufs Bett und fragte ihn mit vertrauenerweckender Freundlichkeit aus. Dann faßte er sein Urteil zusammen wie folgt. „Euer Zustand, Herr Stadtrichter scheint nicht eben gefahrvoll, wenn auch ängstliche Schonung not thut. Ihr seid stark überarbeitet. Und – das möcht’ ich betonen – just die Art Eurer Beschäftigung hat Euch so zugesetzt. Eure Stellung als Malefikantenrichter läßt Euch fortwährend Einblicke thun in die trostlosesten Abgründe des Lebens. Das regt Euch fortwährend auf. Dazu kommt Euer starkentwickeltes Pflichtgefühl und das Bewußtsein der ungeheuren Verantwortlichkeit, die auf Euch lastet. Kurz, Herr Stadtrichter, wenn Ihr nicht ernstlich erkranken wollt, müßt Ihr Euch unbedingt eine Zeit lang ausspannen.“

„Das geht nicht!“ rief Xylander, sich aufsetzend. „Ich darf wohl sagen, ich bin die Seele des ganzen Gerichtshofs. Natürlich abgesehen von unserm Herrn Vorsitzer, dessen Verdienste ich gewiß nicht verkleinern will. Aber auch er überläßt mir vieles zur selbständigen Vorbereitung. So wieder jüngst den furchtbaren, schier unglaublichen Fall der Wedekindin.“

Doktor Ambrosius erbebte ein wenig. Rasch gefaßt aber sagte er wie aus tiefernster Erwägung heraus:

„Ich weiß nicht, was man der Frau schuld giebt. Da Ihr den Fall jedoch als schier unglaublich bezeichnet, so darf ich schließen, daß er Euch ganz besonders erregt hat. Der heutige Anfall hängt vielleicht mit dieser Sache zusammen. Habt Ihr wohl gar in eigener Person das Verhör geleitet?“

„Das versteht sich von selbst. Ich sagte ja schon, daß Herr Balthasar Noß den Fall zunächst mir überantwortet hat.“

„Und die Einzelheiten dieses Verhörs waren erschütternd?“

„Die Einzelheiten des kurzen Verhörs? Nein. Das währte kaum fünf Minuten. Erst später, wenn ich die Angeklagte torquieren lasse, dauert das länger. Aber die wachsende Fülle der Zeugenaussagen! Ihr glaubt nicht, was da für krasse Entsetzlichkeiten zu Tage kamen! Ich darf mich hier nicht weiter darüber aussprechen, die Amtspflicht verwehrt mir’s. So viel jedoch kann ich Euch sagen, nie bis jetzt hab’ ich etwas von gleicher Abscheulichkeit und Fürchterlichkeit erlebt.

„Ich dachte mir’s wohl. Und just weil Euch der Fall der Wedekindin so scharf an die Seele faßt und Euch so sichtbarlich Schaden thut, müßt Ihr einstweilen ihm fern bleiben. Ihm und den Obliegenheiten des Amtes überhaupt! Das allerdings möchte ich Euch beileibe nicht raten, just diesen Prozeß, der Euch so unwiderstehlich gepackt hat, um der fünf oder sechs Wochen willen ganz aus der Hand zu geben. Fünf oder sechs Wochen braucht Ihr nämlich als das Mindeste für Eure Erholung …“

„Unmöglich!“

„Es ist so! Und ich rechne dabei noch außerordentlich knapp. Also – was ich bemerken wollte. Ihr braucht Euch ja die Arbeit der Untersuchung deshalb nicht nehmen zu lassen. So sehr brennt doch die Sache nicht auf dem Nagel. Ich fürchte, es möcht’ Euch beunruhigen und Euch später wohl gar noch Zweifel und arge Gewissensskrupel verursachen, wenn Ihr zurückträtet, wo es sich um so schwerwiegende Dinge handelt.“

„Da habt Ihr recht. Den Prozeß der Wedekindin muß ich zu Ende führen, und zwar schleunigst!“

„Sobald Ihr könnt. Behaltet Euch den Prozeß vor und zieht anderthalb Monate aufs Land. Herr Noß wird Euch wohl keinerlei Schwierigkeit machen. Ihr aber geht binnen acht Tagen zu Grunde, wenn Ihr nicht vollständig rastet.“

„So schlimm steht es mit mir?“

Doktor Ambrosius zuckte die Achseln: „Nicht gerade hoffnungslos, wenn Ihr vernünftig seid, aber doch schlimm genug, um äußerste Vorsicht nötig zu machen. Habt Ihr schon wieder vergessen, wie’s Euch gepackt und geschüttelt hat?“

„Freilich …“ stammelte Adam Xylander. „Und ich weiß nicht – jetzt, wo Ihr’s erwähnt, hebt’s auch schon wieder an …“

„Nein. Das ist Einbildung. Der Anfall wird heute nicht wieder kommen. Zur Nacht trinkt Ihr die zweite Dosis von diesem wohlthätigen Medikament da und schlaft bei geöffnetem Fenster. Morgen in aller Frühe verlaßt Ihr die Stadt. In Lynndorf oder in Königslautern findet Ihr unschwer ein Bauernhaus, wo man für Geld und gute Worte Euch aufnimmt. Eure Bruderstochter, natürlich, begleitet Euch. Und nichts von Akten oder dergleichen wird mitgeschleppt! Auch kein ‚Hexenhammer‘. Höchstens ein hübscher Kalender mit Schnurren und Reiseberichten, oder das Rollwagenbüchlein. Ob Ihr das kennt oder nicht, ist gleichgültig. Ihr dürft Euch sogar beim Lesen ein bißchen langweilen. Und dann treibt Euch soviel wie möglich im Wald herum, trinkt frische Milch und eßt, was Euch mundet! Auch ein Brettspiel mag Euch die Nichte einpacken. Dergleichen ist Euch gesünder als das wortlose Kauern und Trübsalblasen. Ich werde dem Fräulein das alles nochmals genau einschärfen. Und nun, Herr Stadtrichter, wünsch’ ich den besten Erfolg. Thut Ihr was ich hier anrate, so werden wir schon mit Gottes Hilfe Eures unleidlichen Uebels Meister werden.

Adam Xylander seufzte. Je länger Doktor Ambrosius zu ihm gesprochen hatte, um so mehr stand der Patient unter dem Banne des Arztes, der ihn so klar beurteilte und mit so kraftvoller Hand aus der bisherigen aufreibenden Lebensweise herausriß.

„Es kommt mich hart an,“ sagte Xylander, „aber ich sehe nun selbst, daß es sein muß. Inzwischen dank’ ich von Herzen für Eure Bemühungen. Könntet Ihr auch da draußen in Lynndorf bei mir sein! Ich weiß nicht, Eure Nähe schon wirkt beruhigend.

„Ich besuch’ Euch einmal. Gehabt Euch wohl!“ Doktor Ambrosius verneigte sich. Fünf Minuten noch sprach er im Nebengemach mit Bertha und wiederholte ihr alles, was er dem Kranken verordnet hatte. Besonders verweilte er auch bei der Notwendigkeit, die Sache der Wedekindin für den Beisitzer aufzubehalten. Er deutete an, daß Adam Xylander in dieser Beziehung von einer Wahnvorstellung gequält werde, auf die man ernstliche Rücksicht zu nehmen habe, wenn sie nicht ausarten solle.

Bertha schäumte von Erkenntlichkeit über. Sie hätte ihm beinahe die Hand geküßt.

„Verlaßt Euch darauf, Eure Anordnungen sollen mir heilig

[393]

Die heimlichen Raucherinnen.
Nach einem Gemälde von Jos. Weiser.

[394] sein bis auf das letzte Jota. Augenblicks schreib’ ich dem Vorsitzer. Oder noch besser, ich gehe selbst hin. Das mit der Wedekindin läßt sich ja besser mündlich erklären. Ich will’s ihm schon dringend machen. Ja, und das übrige … Ihr werdet ja sehn! Ihr sollt mich loben, Herr Doktor.“

„Das thu’ ich schon jetzt,“ sagte Ambrosius, der mit Genugthuung wahrnahm, daß er die Nichte fast noch stärker beeinflußte als den erkrankten Oheim. „Ich seh’ es mit Freuden, Ihr seid die geborene Pflegerin.“

Er bot ihr die Hand und ging. Bertha Xylander beugte sich aus dem Fenster, ihm nachzuschauen. Wie stolz und hoheitsvoll er die Gasse durchschritt, das schwarze Barett über dem tiefbraunen Haar, den Kopf in den Nacken gelegt wie einer, der am taufrischen Morgen hinauswandert in die knospende Frühlingswelt. Der armen verblühten Bertha ward es mit einem Male ganz eigen ums Herz. Sie hätte laut aufweinen und doch wieder jubeln und jauchzen mögen. Welch ein Glück für den Oheim, daß sie ihrer Eingebung gefolgt war und zu diesem vorzüglichen Meister geschickt hatte, obgleich er ja leider Gottes im Hause der Wedekinds wohnte! Adam Xylander wußte das nicht! Er lebte in vollster Unkenntnis aller Verhältnisse, die ihn nicht unmittelbar berührten. Und vorläufig brauchte er’s auch nicht zu erfahren. Bei seiner Ueberempfindlichkeit konnte man nicht voraussehen, ob er das nicht etwa als ungünstiges Omen betrachten und sich deshalb erregen würde. Wenn er erst wieder gesund war, gut, so lagen die Dinge anders. Dann würde er nicht mehr nach bloßen Eindrücken und Stimmungen urteilen. Ja, Doktor Ambrosius hatte, wie überall, so auch in diesem Punkt vollständig recht!

Sie setzte das Laufmädchen ins Wohnzimmer für den Fall, daß der Patient etwas benötigen sollte, und machte sich auf, den Vorsitzer des Malefikantengerichts, Herrn Balthasar Noß, der von Eins bis halb Vier speiste und ruhte, in seiner Privatwohnung aufzusuchen.

(Fortsetzung folgt.)


Aus stillen Thälern.

Skizzen aus dem Kreise Biedenkopf. Von Carl Liebrich.
Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen von Max Stephani in Biedenkopf.

Es ist einer der unbekanntesten und doch in mancher Beziehung interessantesten Landstriche unseres Vaterlandes, in den einen Blick zu werfen wir den Leser hiermit einladen. Bis vor kurzem lag der Kreis Biedenkopf – das „Hinterland“, wie es seit alters an der Lahn und in ganz Hessen genannt wird – abseits von allem Verkehr, und wer aus dem Strom der Welt zum erstenmal in seine Thäler kam, den beschlich ein Gefühl fernster Abgeschiedenheit; seit aber eine Eisenbahn in das Gebiet der oberen Lahn führt, ist das Herz der Landschaft, einerseits von Marburg, anderseits von dem Siegener Land aus, leicht zu erreichen, und niemand wird einen Aufenthalt in diesem uralt fränkischen Gau, darin uns die Schatten Karl Martells und Karls des Großen begegnen, zu bereuen haben. Vor allem der Freund urdeutschen Volkstums, deutschen Waldes und deutschen Wanderns wird sich hier traulich angemutet fühlen.

Im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung war die Gegend an der oberen Lahn und der oberen Eder ein Centralpunkt der kattisch-fränkischen Stämme und – bis ins 12. Jahrhundert hinein – der Sitz mächtiger Geschlechter, unter denen durch Macht und Ansehen die Grafen von Battenberg hervorragten. Sie hatten bei dem über der Eder gelegenen, heute etwa 1000 Einwohner zählenden Städtchen dieses Namens zwei Burgen, wovon eine noch in Turm und Mauerresten sichtbar ist. Der letzte der alten Grafen von Battenberg, Gerhard, starb im Jahre 1342 als Domherr zu Mainz. Der Name dieses Geschlechtes ist, wie bekannt, seit einigen Jahrzehnten wieder aufgelebt, indem Prinz Alexander von Hessen seiner unebenbürtigen Gemahlin und seinen Kindern diesen Namen durch den Großherzog von Hessen hat beilegen lassen. Von einem zweiten berühmten Geschlecht, das ununterbrochen bis heute in Blüte geblieben ist, reden die bei dem Städtchen Hatzfeld (vgl. Abbildung S. 397) an der Eder auf bewaldeter Höhe gelegenen Ueberbleibsel des alten Stammsitzes der Grafen und Fürsten von Hatzfeldt. Die Reste sind zu unbedeutend, als daß sie auf der Abbildung sichtbar würden. Für die Kriegsgerichte der kattisch-fränkischen Epoche ist die Gegend höchst bedeutungsvoll. Hier kämpfte, wie die Chroniken uns erzählen, Wolf, der Feldherr des fränkischen Königs Siegbert, hier lag Karl Martell mit seiner Heerschar, bis er den wichtigsten festen Platz der Katten, die Kesterburg, eroberte, hier fiel die Entscheidungsschlacht zwischen Franken und Sachsen die im Jahre 778 unter Karl dem Großen bei Laisa und Battenfeld an der Eder geschlagen wurde. Auch aus späterer Zeit, bis ins 17. und 18. Jahrhundert, klingt in diesen Thälern dem Geschichtsfreund der Nachhall kriegerischer Ereignisse in die lauschende Seele.

Landschaftlich zeichnet sich das obere Ederthal, insbesondere auf der Strecke von Battenberg aufwärts bis zu dem westfälischen Raumland, durch seine Schönheit aus. Die Lahn, die in ihrem [395] Unterlaufe eines der herrlichsten Flußthäler Deutschlands bildet, zeigt auch in den ihrer Quelle nahegelegenen Gebieten nicht selten eine anmutreiche Umrahmung, namentlich bei Biedenkopf selbst und dann bei dem benachbarten Laasphe, über dem das Schloß Wittgenstein liegt. Das Städtchen Biedenkopf, ganz von bewaldeten Bergen eingeschlossen, schmiegt sich an den Abhang eines Hügels, dessen Gipfel das nach seiner Zerstörung im Dreißigjährigen Kriege zum Teil wieder aufgebaute Schloß trägt. (Vergl. Abbildung S. 394) Ein lieblicher Weg führt durch den Schloßhain auf die Höhe, von wo man einen sehr schönen Blick genießt. Auch auf die Kuppen in der Runde giebt es wohlgepflegte Wege, und der südlich der Lahn gelegene Altenberg hat neuestens durch den Biedenkopfer Verschönerungsverein reizende Schmuckanlagen erhalten, deren sich der Wanderer dankbar erfreut.

Dem Fremden fallen in der Umgebung von Biedenkopf die mannigfaltigen und zum Teil sehr originellen Trachten der Landbewohner auf, das heißt, die Trachten der Frauen, denn diejenigen der Männer sind leider schon fast gänzlich verschwunden und haben der farb- und charakterlosen Allerweltskleidung weichen müssen. Nur in wenigen Dörfern, wie in Buchenau, tragen auch die Männer bisweilen noch eigenartige Gewänder (vergl. Abbildung S. 396). Keine Gegend in ganz Mittel- und Norddeutschland bietet eine solche Fülle verschiedener Frauentrachten wie das Hinterland, und wer etwa an einem Markttage oder gar zu einem großen Fest nach Biedenkopf kommt, der staunt über die Buntheit der Gestalten, die sich hier zeigen.

Das trachtenberühmteste Thal des Hinterlandes ist der sogenannte „Grund Breidenbach“, der sich von dem zwischen Biedenkopf und Laasphe gelegenen Dorfe Wallau nach Süden erstreckt, und dessen Mittelpunkt das Dorf Breidenbach bildet. Das Charakteristische der Frauengewandung dieser Gegend (vergl. Abbildung S. 396) liegt vor allem in der Kopfbedeckung, einer roten, das Hinterhaupt bedeckenden und nach hinten abstehenden, gestickten Mütze (Stülpchen), nach der man in der Umgegend auch die Trägerinnen dieser Hauben scherzweise „Kiwwelcher“ (Kübelchen) zu nennen pflegt. Der übrige Anzug besteht aus schwarzem Koller über grünem Mieder, grünrotem Halstuch, kurzem, schwarzem, gefälteltem Rock mit blauer Schürze, hohen, bis an die Knöchel reichenden Schnürschuhen und weißen Strümpfen mit bunten Strumpfbändern, deren grünrote Troddeln stets sichtbar sind. Für die Festkleidung wird statt des grünen Mieders ein blendend weißes gewählt, zum Tanze, wozu eine möglichst helle Tracht bevorzugt wird, tragen die Mädchen auch weiße Schürzen.

Merkwürdig ist die ganz feststehende Farbenordnung, die für die Zeit der Trauer und der Halbtrauer gilt. Die Farben tiefer Trauer für die Mädchen sind im Breidenbacher Grund weiß und blau: die Mütze ist weiß (statt rot), das Halstuch blau (statt grün). Die Troddeln der Strumpfbänder grünblau (statt grünrot). Halbtrauer (beim Tod entfernter Verwandten) wird durch violette Kappen und violettes Halstuch angezeigt; Farben, die übrigens auch von älteren Personen als ständige Tracht getragen werden. Der Uebergang von der Halbtrauer zur gewohnten Kleidung wird durch Beibehaltung der violetten Kopfbedeckung und Annahme der grünroten (statt grünvioletten) Strumpfbandquasten angedeutet.

Im Sommer wird dieselbe schwere Tracht wie im Winter getragen, entsprechend der alten Bauernregel: Was für die Kälte gut ist, ist auch für die Hitze gut. Die Liebe zu der altheimischen Tracht ist bei den Frauen im Breidenbacher Grunde so groß, daß sie schon ihre Wiegenkinder, wenn sie kaum ein Vierteljahr alt sind, wie die Erwachsenen kleiden, und die Kinder wiederum wollen keine anderen Puppen als solche, die genau aussehen wie sie selbst. Aehnlich ist es in anderen Ortschaften, z. B. in der Gegend von Gladenbach, wo die kleinen Mädchen meist in derselben Tracht wie die Mütter erscheinen. Einen eigentümlichen Anblick bietet es, wenn am Sonntagabend die Mädchen spazieren gehen, sie ziehen dann Arm in Arm, Schulter an Schulter durch das Dorf, so zwar, daß sie mit ihren Reihen fast die ganze Straßenbreite einnehmen.

Der südliche Teil des Breidenbacher Grundes wird noch heute – nach einer in früheren Jahrhunderten gültig gewesenen Einteilung der Landschaft in verschiedene Gerichtsbezirke – das „Obergericht“ genannt. In dieser Gegend, wozu unter anderem die Ortschaften Lixfeld, Simmersbach, Gönnern, Ober-Eisenhausen, Nieder-Eisenhausen und Steinperf gehören, herrscht eine ähnliche Tracht wie die oben beschriebene (vgl. Abbildung S. 396), nur daß die Kappen, bei fast cylinderförmiger Gestalt, nicht nach hinten abstehen, sondern schräg in die Höhe gerichtet sind, wodurch die Tracht natürlicher und kleidsamer wird. Bei der Arbeit tragen übrigens die Frauen und Mädchen aus dem Obergericht durchweg schwarze Kopfbedeckung, und nur am Sonntag wird die rote, goldgestickte Mütze angelegt. Die Festtracht wird außerdem, ebenso wie in den das „Amt Biedenkopf“ (vgl. Abbildung S. 396), bildenden Orten Eckelshausen, Kombach, Wolfgruben, Dautphe und Umgegend, durch eingelegten, buntgestickten und mit Metallplättchen besetztes Brustlatz vervollständigt.

Eine sonderbare Eigenheit zeigt die Gewandung der Mädchen von Bottenhorn (vgl. Abbildung S. 396), die von den Kostümen des benachbarten Breidenbacher Grundes vor allem durch das schmale, nach oben spitz zulaufende Käppchen (ähnlich wie im Amt Biedenkopf) abweicht. Das in unsere Zusammenstellung der Trachten aufgenommene Bild zeigt ein ausziehendes Bottenhorner Dienstmädchen, das von seinen Spinnstubengenossinnen, deren zwei den Kleiderkasten der Freundin tragen, nach dem Ort des neuen Dienstes begleitet wird. Das Sonderbare in der Gewandung besteht nun darin, daß die Mädchen sämtlich eine Anzahl von Falten in den Strümpfen haben, so daß es aussieht, als wären diese heruntergerutscht. „Wie seltsam!“ rief eine Städterin, die Bottenhorn besuchte, aus, „alle Mädchen tragen ja hier zu weite Strümpfe!“ – „Mitnichten, Verehrteste“, erhielt sie zur Antwort, „diese Ringeln in den Strümpfen sind kunstvoll hineingestrickt, und sie haben eine tiefere sinnbildliche Bedeutung.“ Auf ihre weiteren Fragen erhielt dann die Erstaunte folgende Auskunft: Je reicher ein Mädchen von Bottenhorn ist, um so mehr Falten strickt es in seine Strümpfe, und zwar steht, wie behauptet wird, diese Skala so unabänderlich fest, daß besonders Eingeweihte nach der Anzahl der Strumpfrunzeln das Vermögen der Schönen annähernd richtig zu schätzen imstande sind. Die Städterin, die von ihrem Geschlecht nicht eben die beste Meinung zu hegen schien, wagte nun zu fragen, ob nicht durch diese Einrichtung heiratslustige Mädchen von Bottenhorn sich zum „unlauteren Wettbewerb“ um einen Mann anreizen ließen, worauf sie zur Antwort erhielt, daß Lug und Trug etwas Unbekanntes im Hinterland seien und daß die Anlegung einer übertriebenen Anzahl von Strumpfringeln der Uebelthäterin für immer zu Schimpf und Schande gereichen würde. In unserer Zusammenstellung der Trachtenbilder dieser Gegend finden wir noch die Trachten verschiedener anderer Dörfer dargestellt, die sich zum Teil von den oben geschilderten nur wenig unterscheiden, zum Teil, wie die aus dem Ederthal, der städtischen Kleidung sich nähern. Bezüglich der Gladenbacher Tracht, die in zwei Darstellungen vertreten ist, sei bemerkt, daß das erste Bildchen die alte, jetzt verschwindende Kleidung, das zweite (Nr. 5) die neue von dem jüngeren Geschlechte aufgebrachte darstellt. Die alte Tracht fällt besonders durch die längliche, wulstige, holzschuhförmige, den Kopf entschieden verunstaltende Haube auf, an deren Stelle jetzt ein vielfarbiges, mit goldglänzenden Metallplättchen besetztes spitzes Käppchen getreten ist, wie überhaupt die neue Tracht entschieden gefälliger anmutet als die alte.

Selbstverständlich treten in einer Gegend von so scharf individuellem Gepräge bei gewissen feierlichen Anlässen noch besondere, meist auf uralte Volksanschauungen und Gebräuche zurückweisende Eigentümlichkeiten zu Tage. So birgt im Breidenbacher Grunde die Braut, wenn sie vor den Altar tritt, die gefalteten Hände unter einem geflickten Tuche – die beliebten Farben sind auch hier wieder rot und grün – und sie darf während der Dauer der feierlichen Handlung keine der Hände unter dem Tuche hervorziehen, bis sie die Rechte dem Verlobten reicht. Aehnlich erscheinen Frauen und Mädchen beim Abendmahl, doch so, daß Verheiratete und Unverheiratete sich durch die Haltung des Tuches unterscheiden: während nämlich die Mädchen das Tuch einfach über die Hände legen, halten die Frauen einen Zipfel des Tuches mit einer Hand fest. In den verdeckten gleichsam gebundenen Händen der Braut haben wir höchst wahrscheinlich ein altes Symbol der Unterwürfigkeit der Frauen, wie sie in Urzeiten bei den Franken bestand, zu erblicken, eine Erinnerung [396] an die völlige Abhängigkeit des Weibes vom Manne, welche in dem Gesetzbuch der salischen Franken zum Ausdruck gebracht ist. Daß die Bedeckung der Hände der Frauen später, bei Einführung des Christentums, auch für die Entgegennahme des Abendmahls Vorschrift und Gebrauch wurde, würde sich danach von selbst erklären.

1. Gladenbach. 2. Ederthal. 3. Bottenhorn 4. Grund Breidenbach. 5. Gladenbach. 6. Buchenau. 7. Amt Biedenkopf. 8. Nieder-Weidbach und Umgebung. 9. Obergericht.
Volkstrachten aus dem Kreise Biedenkopf.

Zu weiteren Eigentümlichkeiten des Biedenkopfer Hinterlandes gehört auch die Thatsache, daß in ihm die Bestellung des Feldes an manchen Orten fast ausschließlich den Frauen obliegt, während die Männer Arbeit und Verdienst auf den Eisenhütten im oberen Lahnthal und im benachbarten Westfalen suchen. So stark ist in manchen Orten, wie Steinperf, Ober- und Nieder-Eisenhausen, die männliche Wanderung, daß man an Wochentagen in diesen Dörfern den Eindruck haben kann, als komme man in einen Weiberstaat; übrigens überzeugt man sich bald, daß alles wohl bestellt ist und beispielsweise hier die Frauen die Rindergespanne mit ebenso sicherer Hand zu lenken wissen, wie es etwa Homer von des phäakischen Königs Alkinoos Tochter Nausikaa zu rühmen weiß. – Auch eine Wanderung der Frauen kommt, freilich nur im Sommer, hier vor: die Mädchen des Hinterlandes ziehen zur Erntezeit in Scharen nach der fruchtreichen Wetterau, um dort, in der Gegend von Butzbach, Nauheim, Friedberg, als Schnitterinnen ein schönes Stück Geld zu verdienen. Sind die verschiedenen Getreidearten, vom Roggen bis zum Hafer, dann niedergelegt, so kehren sie gegen den Herbst wieder in die Heimat zurück. Der Fleiß der hinterländischen Frauen ist, wie bei dieser Gelegenheit zu bemerken nicht unterlassen werden darf, beinahe sprichwörtlich in den Nachbargegenden. Niemals sieht man alltags eine Frau müßig; kann sie nicht auf andere Weise thätig sein so nestelt sie zum Beispiel bei der Fahrt auf einem Heu- oder Holzwagen mit Eifer an dem allgegenwärtigen Strickstrumpf; ja, Frauen, die Körbe auf dem Kopfe tragen, sieht man dabei mit Emsigkeit die Stricknadeln handhaben.

Man rühmt es den Biedenkopfern nach, daß sie Feste zu feiern verstehen, und dasjenige Fest, bei dem sich Geist und Humor [397] der Einwohner am freiesten entwickeln ist der „Grenzgang“. Alle sieben Jahre wird dieser alte Volksbrauch unter einmütiger Teilnahme der Bewohnerschaft und unter dem Zulauf zahlreicher Gäste glänzend erneuert. Die Grenzbegehung wird dabei in Biedenkopf noch heute, wenn auch in anderer Weise als vor Jahrhunderten in den Zeiten schwankender Rechtsverhältnisse, thatsächlich über Berg und Thal vollzogen, und zwar dauert sie, mit allerlei fröhlichen Unterbrechungen, drei Tage. Von den humoristischen Episoden des Grenzganges sei besonders das „Widerhuppchen“ erwähnt, wobei die Angehörigen des jüngeren Geschlechtes in eigenartig nachdrücklicher Weise auf die Grenzsteine aufmerksam gemacht werden.

Ansicht von Hatzfeld.

Eine ähnliche Sitte wurde erst kürzlich in dem Artikel „Altdeutsches Kinderleben“ (vergl. S. 234 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“) als uralter deutscher Brauch beschrieben. Die Lustbarkeit genießt einen solchen Ruhm im engsten Vaterlande, daß stets einige der über dem Meere weilenden Biedenkopfer – es sind deren sehr viele – in dem Festjahre in die alte Heimat eilen, um eine der teuersten Jugenderinnerungen nochmals an der vollen Wirklichkeit aufzufrischen. Das nächste Grenzgangfest soll im Jahre 1900 stattfinden, und schon jetzt sind, da man ihm an der Wende des Jahrhunderts besonderes Gepränge zu verleihen gedenkt, die Geister im Städtchen erwartungsvoll darauf gerichtet.

Wem es eine Herzenssache ist, eine tiefere Kenntnis des deutschen Volkslebens in seinen mannigfaltigen Erscheinungen zu gewinnen, wem es insbesondere Freude gewährt, die verschiedenen, doch einem Mutterboden entsprossenen Stämme in ihrem unberührtesten Element, dem bäuerlichen, liebevoll vergleichend zu betrachten, dem kann man das bis jetzt von Fremden so wenig betretene hessische Hinterland zu einer gelegentlichen Studienfahrt bestens empfehlen.


Der „Kleine Hahn“.

Von Ludwig Ganghofer.

Er ist der ausgesprochene Liebling aller Jäger, die ihn kennen, jagen und hegen, sei es im Laub- oder Föhrenwald der deutschen Mittelgebirge, sei es im Moorland der Ebene, oder in den wirr verwachsenen Latschendickungen der Berge. Aber nicht nur die Jäger haben dem kleinen „schnackerlfidelen“ Birkhahn ihr Herz geschenkt, er ist auch, besonders im Hochland, die heiße Sehnsucht so manch eines halbwüchsigen Burschen, dem der erste Bart auf der Lippe sproßt, und auch noch so manch eines alten Hallotri, dem schon das erste „Schneeberl“ aufs Haar gefallen. Der Wunsch, das selbsterbeutete „krummbe Federl“ auf’s Hütlein stecken zu können, hat schon so manch einem, der um keinen Hirsch oder Gemsbock zum Wilddieb geworden wäre, die Büchse zu einer heimlichen Pirsch in die Faust gedrückt. Freilich hat solch ein lustiger Auszug zum „Hoh’salz“ auch oft schon ein trauriges Ende gefunden, bei dem es nicht mehr um ein „Federl“ ging, sondern um Tod und Leben – und wenn dann die Schleier der Morgendämmerung über den beschneiten Graten zerflossen und die Frühlingssonne warm und goldig emportauchte über die Zinnen der Berge, leuchtete sie nieder auf einen kalten Mann, welcher still gebettet lag im rot gefärbten Schnee.

Nach solch einem Morgen haben wohl die Hähne des Reviers, in dem die Tragödie sich abgespielt, eine Zeit lang Ruhe vor unberufenen Schützen. Aber das Grauen, welches die blutgetränkte Stätte umwittert, hält selten länger an als bis zur nächsten Balz. Und wer das Leben, den Charakter und das „roglige“ Blut unserer Bergler kennt, wird ihre nimmerstille Sehnsucht nach dem „Hoh’ mit’n krummb’n Federl“ auch begreifen. Der einsiedlerische, scheu im dunklen Tann versteckte Auerhahn steht bei weitem tiefer in ihrer Wertschätzung; tausend „Schnaderhüpfeln“ und „G’stanzln“ aber wurden schon dem lustigen Spielhahn gesungen, diesem flinken, unermüdlichen Frühlingsfänger und kampflustigen Don Juan, in welchem der junge, rauflustige und leichtlebige Bergler gleichsam ein Ebenbild seiner selbst erblickt. Und der Tanz, den er am meisten liebt, der Schuhplattler – er ist nichts anderes als eine ländlich sittliche Nachahmung der Spielhahnbalz und ihres drollig fidelen Minnewerbens. Diese Aehnlichkeit ist auch dem Volk der Berge klar bewußt, denn wenn ein gewandter Tänzer bald schnackelt und stampft, daß Boden und Fenster zittern, bald wieder lautlos schleifenden Schrittes die mit fliegenden Röcken sich wirbelnde Tänzerin umkreist und dabei die Arme nach rückwärts streckt, wie der balzende Hahn seine zitternden Schwingen trägt – so singen ihm wohl die Zuschauer das rühmende „G’stanzl“:

„Der draht si’ und plattelt,
Wie’s koaner net ko’,
Und rodelt und grugelt
Und blast wie r ’a Hoh’!“

Was Wunder, daß zu solchem Tanz auch das „krummbe Federl“ aufs Hütl gehört – und wär’s nur deshalb, daß der jauchzende Tänzer, wenn er zum letzten Geigenton sein Dirndl hochauf „geschwungen“ hat, im übermütigen Vollgefühl seiner Kraft das Hütlein drehen und mit rauflustiger Herausforderung die gebogene Feder nach vorne stellen kann, wie einen zum „Hackln“ gekrümmten Finger!

„Von Königssee bis Garmisch’ nauf
Is grad a so a Trumm,
Und hon i a krummbs Federl auf,
So stößt ma’s koaner um!“

Daß solch ein vielumsungenes „Federl“ sich nicht beim Krämer um ein paar Nickel kaufen läßt, das ist wohl selbstverständlich! Es muß im kalten Schnee mit heißer Mühe [398] verdient werden, sei es auf erlaubter Jagd oder auf verbotenen Wegen! Die Strapazen, die in den Bergen mit der Spielhahnjagd verbunden sind, schrecken solch einen wetterharten, federsüchtigen Burschen nicht ab, und im übrigen wird ihm die Sache manchmal gar leicht gemacht, besonders, die sich mit dem Abschuß der Auerhähne begnügen und den schwer zu jagenden Spielhahn großmütig ihrem Personal überlassen. Da bleiben in den ersten Maienwochen, wenn der Auerhahn schon seine letzten Lieder schnackelt und der Spielhahn seinen Liebesreigen just beginnt, die Balzplätze des kleinen Hahnes oft tagelang ohne Aussicht denn ein verspäteter „Gawlier“ ist in der Jagdhütte eingerückt und nimmt das Personal in Anspruch.

Wenn dann der Jäger eines Morgens, früh um vier Uhr, seinen Herrn hinauslotst durch den steilen, finsteren Bergwald, lauscht er wohl in Sorg’ und Freude dem Grugeln eines Spielhahns, welcher hoch auf einem fernen Schneegrat balzt, und klopfenden Herzens genießt er die Weidmannsluft voraus, die ihm nach wenigen Tagen dort oben blühen wird. Es dämmert kaum – da rollt von jenem fernen Grat der verschwommene Hall eines Schusses über die Berge hin, und der Spielhahn schweigt. Dem Jäger giebt’s „an völligen Riß“ – aber weil er seinem Herrn den ohnehin schon halb vergrämten Auerhahn nicht verderben darf, verbeißt er seine Wut und flucht nur innerlich. „Himmelkreuzteufi no’ amal! Jetzt hat ma richti oaner den Hoh’ davo’, so a Lump, so a gottvermaledeiter!“

Ein paar Minuten später, wenn der schlecht angeplänkelte Auerhahn davongeritten ist, macht der Jäger freilich ohne „Schanierer“ seinem Aerger Luft. „No also! Jetzt hob’n ma alle zwoa an Schmarren! Jetzt is der Auerhoh’ verpatzt, und der Spielhoh’ is aa beim Deufi! Himmikreuzdivi …“ Das Ende dieses ellenlangen Fluches verliert sich zwischen den knirschenden Zähnen.

Der „Gawlier“, der noch immer mit verdutzten Augen den leeren Ast betrachtet, auf dem der Auerhahn gesessen, hat nur für die erste Hälfte dieses doppelte Jägerschmerzes das richtige Verständnis. Wenn er nur seinen Auerhahn hätte! Was geht ihn der Spielhahn selbes Jägers an! Man bleibt ja gerade in gutem Einvernehmen mit der Gemeinde, wenn man zuweilen die Augen ein bißchen zudrückt und einem Vetter des Bürgermeisters das krumme Federchen vergönnt. Der Jäger freilich denkt anders vom Wert eines Spielhahns – und wenn er am nächsten Sonntag beim Kirchgang unter den hundert Bauernhüten den einen entdeckt, der mit der frischen „Schaar“ geschmückt ist, dann blitzen seine Augen bei dem stillen Gelöbnis. „Wart, Brüderl! Wir zwoa wachsen z’samm mitanand! Für alles kummt a zahlende Zeit!“ Dieser Augenblick hat eine Feindschaft auf Leben und Tod erweckt – und über Jahr und Tag wird der Schnee wieder blühen – rot! Und um ein „Federl“! Das mag wohl traurig sein, aber es ist nun einmal so! Und wer es ändern will, muß ein anderes Volk in die Berge setzen!

Der richtige, leidenschaftliche Spielhahnjäger muß im Hochland geboren sein. Wohl schickt auch die Stadt aus ihrer echt grünen Weidmannsgilde tüchtige und ausdauernde Hahnenjäger in die Berge, im übrigen aber ist es manch einem „banlwoach’n“ (schwachknochigen) städtlerischen Jagdherrn gar nicht zu verdenken, wenn er vom Spielhahn der Berge redet wie der Fuchs von den sauren Trauben. Wohl kommt es auch in den Bergen vor, daß ein Spielhahn auf niedrig gelegenem Almfeld oder sonst an bequemer Stelle balzt, die von der nahen Jagdhütte aus mit einem gemächlichen Morgenspaziergang zu erreichen ist, der Jagdgast kriecht unter den vom Jäger erbauten Latschenschirm, wickelt sich in seinen Pelz, und kaum ist der Hahn im Morgengrau herangestrichen – paff! – bevor er sein erstes Liedlein noch ausgesungen hat, liegt er schon verendet auf dem Schnee oder empfiehlt sich mit Hinterlassung von ein paar abgeschossenen Federchen.

Aber diese „kammod’n Platzln“ gehören zu den Seltenheiten. Für gewöhnlich liebt der Spielhahn hochgelegene, selten von einem Menschenfuß betretene Grate, auf denen Mitte Mai die Latschen noch unter metertiefem Schnee versunken liegen. Keine Almhütte weit und breit, kein Jagdhaus in der Nähe. Da heißt es, lange vor Mitternacht aufbrechen, und nach einer schönen Wanderung durch den schlummerstillen Thalwald und unter funkelnden Sternen, bei deren Schein das lichte Maigrün der jungen Buchenblätter kaum als mattes Grau zu erkennen ist, beginnt durch wachsenden Schnee ein mühseliger Anstieg. Nach solchem Schneemarsch steckt der Körper in den Kleidern, als wäre er just aus einem Dampfbad gekommen. So kauert man hinter einem Felsblock, in einem spärlich deckenden Latschenbusch oder gar nur in einem Schneeloch, wehrlos angeblasen vom schneidenden Morgenwind. Da hilft kein Aufstülpen des Rockkragens, kein „Halstüechl“ und Wettermantel – kaum daß ein ausgiebiger Schluck doppeltgebrannten Enzians oder sonst eines scharfen Tropfens, der „g’hörig einhoazt wia Buech’nscheiter,“ die Unbehaglichkeit dieses ersten „dämpfigen“ Viertlstündl’s mildert, welches schadlos nur von einer wetterharten, robust gesunden Natur überstanden wird. Schauer um Schauer rüttelt den Leib, und schon nach wenigen Minuten eröffnet ein erster „Niasez’r“ das obligate „Falzkatharl“. Aber da klingt von irgendwo die schüchterne Stimmprobe eines erwachenden Hahnes – dem Jäger wird heiß, und Mühsal und Kälte sind vergessen.

Der Himmel lichtet sich, zwischen ziehenden Wolken leuchten in weiter Ferne gelbe Streifen auf, blaugrauer Schimmer zittert über allem Schnee, ein Teil der Wände liegt noch im Schatten der Nacht, mit pechschwarzen Wäldern, doch auf einzelnen Gipfeln, welche gegen Osten blicken, beginnen schon die Ferner ihr reines Weiß aus der weichenden Dämmerung hervorzulösen.

Ein leises Sausen huscht durch die graue Luft – und plötzlich gewahrt der Jäger, etwa hundert Schritte unterhalb seines Schlupfwinkels, auf dem weiße Schnee einen schwarzen Fleck. Es ist der Hahn, der auf dem Balzplatz eingefallen. Kaum noch erkenntlich steht der Vogel eine Weile regungslos, dann streckt er den Hals und äugt mit scheuer Vorsicht nach allen Seiten. Sobald er sich sicher glaubt, beginnt er sein Minnelied mit dem „Blasen“: Tschju-huischschd, tschiu-huischschd! Erst klingt es nur halblaut und schüchtern als wäre sein Mißtrauen noch nicht völlig beschwichtigt, oder als wollte er vorerst nur seine Stimme probieren. Nach einigen Minuten beginnt er hitziger zu werden; er bläßt und bläßt und führt dabei absonderliche Tänze auf – bald streckt er den Schnabel starr auf den Schnee und steht ein paar Sekunden wie hypnotisiert, bald wieder springt er mit schlagenden Schwingen hoch empor oder flattert unter rüttelndem Zischen mehrere Schritte weit bergan. Es ist Rasse und Leidenschaft in diesem Spiel – aber Leidenschaft, die nicht blind macht. Auch der hitzigste Hahn verliert nicht seine vorsichtige Scheu, immer wieder sichert und äugt er während des Blasens nach allen Seiten, und es währt geraume Weile, bis er, völlig sorglos, den eigentlichen Minnegesang beginnt, das „Rodeln“ oder „Grugeln“. Das ist ein Lied, das sich mit sprachlichen Lauten nicht wiedergeben läßt – es erinnert in manchen Tönen an das Ruksen und Gurren eines Taubers, doch klingt es lauter, mannigfacher und energischer, wohl auch melodiöser. Daß der balzende Spielhahn einen veritablen Walzer sänge, wie ein begeisterter Jagdschriftsteller behauptete, ist freilich poetische Uebertreibung. Aber ein bißchen Wahrheit steckt dennoch in dieser Behauptung. Ich konnte im Grugeln einzelner Spielhähne – besonders, wenn sie auf Bäumen sangen, und häufiger noch bei der ruhigen Herbstbalze – immerhin einen gleichmäßig wiederkehrenden Rhythmus unterscheiden, der sich musikalisch etwa folgendermaßen darstellen ließe.

Doch bei der Bodenbalz im Frühling, in der ersten Hitze seines Minneliedes, ist der Hahn zu toll und ungestüm in seinem Sangeseifer, um sich an strenge Kunstform zu halten und „nach Noten“ zu singen. Da hat jede Strophe seines Liedes anderen Laut und andere Melodie. Dazu schreitet er und dreht sich im Kreis, flattert und springt, unterbricht sein Rodeln und Blasen mit so drollig wirkenden Tönen und führt dabei Bewegungen von so drastischer Komik aus, daß es den Jäger in seinem Versteck oft Mühe kostet, ein lautes Auflachen zu unterdrücken.

Das sind köstliche Minuten für den echten Weidmann, der seine beste Freude an der Beobachtung des sangberauschten Hahnes findet und durch kein „Hahnenfieber“ sich verleiten läßt, einen voreiligen Schuß zu thun. Noch ist es auch nicht licht genug, um sicher zu zielen, und noch steht der Hahn zu weit. Doch er [399] nähert sich mit jedem Blasen und Grugeln, Schritt um Schritt – und bald wird es Zeit sein, die Büchse zu heben.

Da saust es wieder in der Luft und jählings, ohne daß der Jäger ihn kommen sah, steht ein zweiter Hahn auf dem Schnee. Einige Sekunden betrachten sich die beiden Rivalen so erstaunt, als hätte noch keiner von ihnen seinesgleichen gesehen. Dann aber heben sie ein Blasen und Springen an, ein Tanzen und Gaukeln, immer heißer und erregter – und plötzlich fahren sie mit gesträubtem Gefieder aufeinander los. Ein Kampf beginnt, daß die Federn umherfliegen. In der Hitze des Gefechtes überkollern sich die beiden Streiter und springen wieder auf, Flügelschläge und Schnabelhiebe werden ausgeteilt, sie schnellen sich Brust an Brust in die Hohe wie ein einziger Knäuel, der Stärkere bekommt seinen Gegner mit dem Schnabel zu fassen, zerrt ihn im Kreis und drückt ihn nieder auf den Schnee – und das ist ein so ergötzlicher Anblick, daß der Jäger völlig seiner Büchse vergißt. Kommt es ihm endlich zum Bewußtsein, daß sich hier mit einem Schuße zwei Hähne erbeuten ließen – so ist es bereits zu spät! Der schwächere Hahn ist abgekämpft und hat mit sausendem Flug das Weite und seine Rettung gesucht.

Stolz und befriedigt puddelt der Platzhahn das zerzauste Gefieder; nun beginnt mit langgestrecktem Hals eine Siegeshymne zu blasen. Da hört er Antwort und äugt betroffen umher. Ist der Besiegte zurückgekehrt, um einen neuen Kampf zu versuchen?

„Dschju – huischschd!“ So zischt es aus dem Versteck des Jägers, welcher, das Blasen des schwächeren Hahnes nachahmend, den vom Gefecht noch erregten Sieger in neue Hitze bringen und näher locken will.

„Dschju – huischschd!“ Laut blasend springt der getäuschte Hahn hochauf, und, getrieben von Siegeszorn und Eifersucht, flattert er gleich um ein Dutzend Schritte näher. Da kracht der Schuß – und während das Echo hinrollt über die vom ersten Sonnenstrahl vergoldeten Ferner, hebt auf gerötetem Schnee der verstummte Sänger noch ein letztes Mal die Schwingen: Sie sind gebrochen und tragen ihn nicht mehr! –

Doch nicht immer liegt der Hahn, wenn der Schuß gefallen – und streicht er mit dem Aufgebot seiner letzten Kräfte krank davon, so ist er gewöhnlich verloren und deckt für Fuchs und Marder die Tafel. Auch gelingt es dem Jäger nicht immer, den Balzplatz so glücklich zu erraten wie es hier geschildert wurde. Der lebhafte Spielhahn hat unstetes Blut in seinen Adern, und wenn er auch zu Beginn seiner Sangeszeit den einmal gewählten Balzplatz leidlich einhält, so wird er doch unpünktlicher mit jedem neuen Morgen. Und diese „leichtsinnige Schlamperei“ kostet den Jäger so manch’ einen nutzlosen Anstieg durch Schnee und Latschen. So erinnere ich mich eines alten Hahnes, der vor Jahren auf einem steilen Latschengrat des Kleinen Watzmann balzte. Es war ein Prachtkerl von seltener Größe und Schönheit, dessen weitausgelegte „Schaar“, als ich sie erst einmal durch das Glas gesehen hatte, mich ganz versessen machte auf ihren Gewinn. Den Hahn, den mußte ich haben! Doch saß ich hoch oben auf dem Grat, wo der Hahn am verstrichenen Morgen gesungen hatte, so balzte er ein paar hundert Schritte tiefer, ohne sich „anblasen“ und locken zu lassen – und saß ich am nächsten Morgen unten, so sang er droben. Siebzehnmal, einen Tag um den anderen, bin ich ihm zuliebe gegangen. Bekommen hab’ ich ihn nicht – statt des Hahnes aber bekam ich ein „Reißen“, das bis in den heißen Sommer hinein nicht mehr aus meinen Knochen weichen wollte.

Hat man den Balzplatz nicht auf Schußweite erraten so bietet ein Versuch, den rodelnden Spielhahn anzupirschen, nur schwache Hoffnung auf Erfolg. Der kleine Hahn ist auch im tollsten Liebesreigen noch vorsichtig und aufmerksam – „wie der Haftlmacher“, sagt ein Volkswort – und balzt zumeist auf kahlem Schneefleck, der dem anschleichenden Jäger nicht die geringste Deckung bietet. Sind aber einzelne Deckungen vorhanden, so ist das Schleichen durch die wirr verwachsenen Latschenbüsche, das „Bauchschlangeln“ durch den aufgeweichten Maienschnee und das lautlose Kriechen über Geröll und kleine, überhängende Wände gar „a hoaklige Sach“, die ihr Nisi – ihr „Wenn und aber“ hat! Eher noch gelingt es bei der „Sonnenbalze“, einen Hahn, der den Balzplatz schon verlassen hat und lustig im Wipfel einer Zirbel rodelt, bis auf einen ungewissen Kugelschuß anzupirschen. Da wird dann lang und haargenau gezielt. Der Schuß kracht, der Spielhahn purzelt, hoch, während der Jäger jauchzend sein Hütlein schwingt, breitet der Hahn mitten im Sturz die Flügel und segelt flink und gesund davon – auf Nimmerwiedersehen – die zu kurz gegangene Kugel hat den Wipfelzweig getroffen und der so jählings seines gemütlichen Sitzes beraubte Hahn hat nur für einen Augenblick das Gleichgewicht verloren. Unter der Zirbe findet der Jäger den abgeschossenen Zweig, betrachtet ihn kopfschüttelnd und brummt mit langem Gesicht. „Auf dem is er g’sessen, ja!“

Leichter als in den Bergen macht sich die Pirsche auf den balzenden Spielhahn im Mittelgebirge und in der Ebene. Natürlich denk’ ich dabei nicht an das Moos und Moorlaub, dessen Tümpel, Pfützen und Schlammbecken dem Jäger die Pirsche ebenso gründlich verleiden wie die Latschen und Wände im Hochgebirge. Aber in Birkenschlägen mit trockenem Boden oder in reich mit kleinen Flößen durchsetzten Föhrenbeständen ist die Pirsche auf den rodelnden Spielhahn manchmal eine nicht allzu schwere Mühe – doch nicht, weil der Hahn der Ebene etwa weniger scheu und vorsichtig oder mit minder scharfen Organen ausgestattet wäre als der Berghahn, sondern nur, weil die Pirsche eben durch das minder beschwerliche Terrain erleichtert wird und weil in der Ebene ein Waldgebiet vom Umkreis einer Stunde oft reicher mit balzenden Hähnen besetzt ist als ein zehn Meilen langer Bergzug im Hochgebirge.

Ich hatte an der böhmischen Grenze durch einige Jahre ein Hahnenrevier in Pacht, wo in dem verwahrlosten Kiefernwald einer einzigen Gemeinde zur guten Balzzeit gegen zweihundert Hähne sangen. Da saß ich eines schönen Aprilmorgens schon eine Stunde vor Anbruch der Dämmerung in dem auf freiem Felde errichteten Schirm. Von all den zerstreuten Feldgehölzen kamen die Hähne herbeigestrichen und begannen, noch in halber Finsternis, rings um den Schirm her ihren fröhlichen Balzgesang. Ehe der Tag noch recht zu grauen anfing, konnte ich nach dem Gehör etwa fünfzehn balzende Hähne zählen. Doch immer neue Sänger versammelte sich auf dem Balzplatz, und schließlich tönte um den Schirm her ein so wirres Konzert von Blasen und Gerodel, daß ich nicht mehr wußte, wohin ich horchen sollte. Zuerst, als es zu dämmern begann, konnte ich durch den Ausguck meines Schirmes nur ein undeutliches Durcheinanderhuschen grauer und schwarzer Schatten gewahren. Doch als es heller wurde – welch’ ein prächtiger Anblick war das! In Schußnähe vor mir, auf einem kaum zwanzig Schritte breiten Acker, zählte ich siebzehn Hähne, ungerechnet die Jungen welche hinter meinem Rücken ihre munteren Spektakel trieben. Die einen balzten phlegmatisch und unter gemütlichem Schreiten, andere wieder kollerten wie toll, rauften und sprangen meterhoch von den Schollen auf – es war ein so lustiges Schauspiel, daß ich mit dem Schuß von Minute zu Minute zögerte. Während des Balzens rückte die ganze Gesellschaft immer näher gegen den Schirm – und plötzlich stand ein Hahn, der von der Seite gekommen, dicht vor meinen Füßen. Ich muß wohl bei seinem Anblick eine unvorsichtige Bewegung gemacht haben, denn mit zischendem Laut streckte er den Kragen und äugte starr in das Gezweig des Schirmes, im gleichen Augenblick verstummten all die anderen Hähne und standen regungslos, überall sah ich hochgestreckte Köpfe mit rotflammenden „Rosen“ über den kleinen, funkelnden Augen – und ich selbst war durch die Erstarrung, welche die Sängerschar befallen hatte, einige Sekunden wie hypnotisiert. Als ich endlich, tief aufatmend, einen Versuch machte, das Gewehr zu heben, kam plötzlich Leben in diese Versteinerung, mit Rauschen und Sausen stoben alle Hähne auf einen Schlag davon, und lautloses Schweigen lag um den verödeten Schirm her. Aber diese Stille währte nicht lange. Schon nach wenigen Minuten kam wieder ein Hahn dem Balzplatz zugestrichen um diesen Fürwitz mit dem Leben zu büßen, und ein Viertelstündlein später leisteten ihm zwei Kameraden Gesellschaft bei seinem stillen, schmerzlosen Schuß. Dann ging er einem nahen Gehölze zu, wo mich der Jäger erwartete, und nun begann die Pirsche im Wald, auf dessen Blößen die zerstreuten Hähne ihren Huldinnen das Morgenständchen sangen. Nach einer Stunde hatte ich zwei weitere Hähne erbeutet und drei Fehlpirschen gemacht.

Gegen acht Uhr, als es im Walde still geworden war und die Sonne über die Wipfel stieg, kehrten wir auf die Felder [400] zurück, zu einer Art von Pirsche, auf welche mich die Beobachtung der Hähne und ihrer Gewohnheiten gebracht hatte. Vielleicht ist in ähnlichen Revieren diese Erfindung auch schon von anderen Jägern gemacht worden – sollte dies aber nicht der Fall sein, so stelle ich meine Erfindung, ohne dafür ein Patent zu nehmen, hiermit der gesamten Jägerei zur Verfügung. Doch will ich bekennen, daß ich selbst diese Art der Pirsche nicht als völlig weidmännisch betrachte, denn streng genommen sollte der Schuß nur auf den balzenden Spielhahn abgegeben werden. Aber in einem so reich besetzten Revier ist der im Interesse eines geregelten Bestandes nötige Hahnenabschuß auf der Balze allein unmöglich zu vollziehen

Ich hatte beobachtet, daß die Hähne, welche im Lauf des Vormittages auf den sonnbeschienenen Saatfeldern einfielen, stets die gleiche Flugrichtung gegen den zunächst liegenden Waldsaum nahmen, wenn sie von den arbeitenden Bauern aufgesprengt wurden und sich mit Vorliebe auf bestimmten, besonders hohen Bäumen einschwangen. Diese Beobachtung nützte ich auf folgende Weise; an einer Waldecke, von der sich ein weiter Ausblick über die Felder bot, legte ich mich mit dem Jäger auf den Ausguck. Gewahrten wir Hähne auf den Feldern, so ließen wir Gewehre und Stöcke zurück, machten einen weiten Umweg, und unauffällig über die Aecker hin und her bummelnd, gingen wir die Hähne langsam an. Näher als auf dreihundert Schritte ließen sie uns selten kommen, dann strichen sie dem Walde zu. Ich merkte mir so gut wie möglich die Bäume, in deren frei ragende Gipfel sie sich eingeschwungen hatten, langsam traten wir wieder den Rückweg an, und während sich der Jäger in den Feldstauden oder in einer Wegschlucht verbarg, kehrte ich auf großem Umweg zu der Waldecke zurück und wartete, bis die Hähne wieder auf die Felder strichen. Das geschah oft schon nach einer halben Stunde – manchmal hat es aber auch eine lange Geduldprobe gekostet. Fühlten sich die Hähne auf dem Felde sicher und begannen wieder zu äsen, so holte ich das Gewehr aus dem Versteck und eilte durch den Wald, um die Stelle zu suchen, die ich mir gemerkt hatte. Nicht immer fand ich sie, denn von innen sieht sich der Wald ganz anders an als von draußen. Fand ich mich aber zurecht, dann kam ich fast immer zum Schuß, sobald der Jäger auf dem Feld die Hähne wieder anging. Wenn die Sache möglichst unauffällig gemacht wurde, schwangen sich die Hähne regelmäßig auf die gleichen Wipfel ein, und häufig hatte ich schon beim Einfall einen freistehenden Hahn in Schußnähe vor dem Lauf. War mir aber der Wipfel mit dem Hahn durch anderes Gezweig verdeckt oder außer Schußbereich, so galt es, lautlos Schrittlein um Schrittlein seitwärts oder näher zu rücken, wobei mich zuweilen der versteckte Hahn durch einen Laut, den ich bei Gebirgshähnen niemals gehört habe – durch ein leises ,Oehg’ – zur rechten Stelle leitete. Wurde ich des Hahnes ansichtig, so konnte ich beobachten daß er diesen Laut nur hören ließ, wenn er mit gestrecktem Kragen eifrig nach dem auf den Feldern umherbummelnden Jäger äugte. Sollte die Pirsche gelingen, dann durfte der Jäger dieses Wandern über die von den Hähnen bevorzugten Felder auch nicht einfallen, bevor der Schuß gefallen war. Heikel gestaltete sich die Sache immer, wenn sich mehrere Hähne in meiner Nähe eingeschwungen hatten. Da setzte es qualvolle Minuten mit Herzklopfen und schwerem Atem, bis ein unbeachteter Hahn, den ich vertreten hatte, all die anderen mit sich fortnahm. Hatt’ ich es aber nur mit einem einzigen Hahn zu thun und machte der Jäger draußen auf dem Feld seine Sache gut, so war ich regelmäßig des Erfolges sicher.

An dem Tag, dessen Morgen ich oben geschildert habe, holte ich mir auf der Feldpirsche noch vier Hähne, so daß wir am Abend mit neun Hähnen im Jagdhaus einrückten. So reiche Ernte hab’ ich freilich nur ein Mal gehalten, aber an guten Balztagen brachte ich doch in der Regel meine drei oder vier Hähne heim. In der ersten Zeit hatte ich meine helle Freude an diesem üppigen Jagderfolg. Nach zwei Jahren aber gab ich das Revier wieder auf – der leichte Gewinn minderte für mich den Reiz der Jagd, und reumütig kehrte ich, um der drohenden Blasiertheit zu entrinnen, zu meinem einsiedlerischen Berghahn zurück, welcher hart verdient sein will, dafür aber auch dem Jäger größere Freude bereitet als ein Dutzend Flachlandshähne. Es ist ja die Jagd an sich nur immer halbe Freude – sie wird erst ganz durch den Mitgenuß der Natur, in deren Rahmen sie sich abspielt.

Ein Morgen im Moorland, mit den dunstig zerfließenden Farben, mit der blutrot auftauchenden Sonne, mit dem Rauch der Heide, mit dem bald verschleierten, bald wieder grell aufblitzenden Spiegellicht der hundert Tümpel, mit dem schwermütigen Unkenruf und dem Kreischen der ziehenden Wasservögel – oder ein Morgen im freundlichen Hügelwald, mit seinem sanften Tageserwachen beim Gezwitscher der Meisen, beim Gurren der wilden Tauben und bei fernem Glockengeläut, mit seinem goldigen Frühlicht und all den Stimmen des auf den Feldern beginnenden Tagewerks – solch ein Bild hat auch seinen Reiz, der zum Herzen redet. Aber gut ist gut und besser ist besser – ich ziehe den Morgen in den Bergen vor, mit der stillen wundersamen Größe seines Bildes, mit dem keuschen ungetrübten Schimmer seiner Farben bei klarem Himmel, oder mit dem Kampf seiner ziehenden Nebel, durch deren Lücken ein siegender Strahl der Sonne bricht und hellen Goldglanz hinwirft über die düster versunkenen, rauschenden Wälder. Wenn du an solchem Morgen, mit der frisch erbeuteten Feder auf dem Hut, über die steilen Latschenfelder niedersteigst oder in langen Sprüngen hinuntertollst über den mürben Schnee, den Blick hinausschickend über ungemessene Weiten, da kommt dich die Lust zum Jauchzen an, und mit heller Stimme magst du hinaussingen über das tiefe, grüne Thal.

„Hui auf! Mei Büchsl hat lusti ’kracht
Und hat den Hoh(n) ums Federl ’bracht!
Dös krummbe Federl auf’m Huat
Hui auf! Dös steht ma scho’ sakrisch guat!

Hui auf! I grüaß di, du liabe Welt.
Weil i halt gar a so guat bin g’stellt!
Weil ma halt ’s Leb’n gar a so g’fallt!
Hui auf! I grüaß di, du greaner Wald!“


Unsere Krischane.

Von Charlotte Niese.
1.

Ich möcht’ nu doch wohl wissen, ob alle Menschens falsch sind!“ sagte Christiane Timmermann mit einem Seufzer. Dabei ließ sie sich auf einen Stuhl im Eßzimmer fallen, zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche, glättete es mit ihren roten Händen und legte es dann vor sich hin.

„Ganz gewiß nicht!“ erklärte ich, eifrig in mein Butterbrot beißend. Es war nämlich um die Vesperstunde und Krischane Timmermann, die Haushälterin des aufs Land versetzten Elternhauses, hatte soeben Kaffee und Butterbrot ins Zimmer gebracht.

Sie sah mich jetzt ernsthaft an. „Hab’ ich all mit dich gesprochen? Wenn ich frag’, ob alle Menschens falsch sind, so mein’ ich das for mir allein und dann höchstens for die Intzehoer Nachrichten, obersten, nich for dir! Und nu stör’ mir nich mehr!“

Mit halblauter Stimme und den Finger auf dem Blatt langsam weiterschiebend, las sie stockend einige Sätze vor sich hin, ich aber biß von neuem in mein Vesperbrot, lehnte mich in den Stuhl zurück und fühlte mich sehr behaglich. Seit einigen Tagen war ich nämlich zum Besuch bei meinen Eltern die bereits im vorigen Jahre das Inselstädtchen verlassen hatten und nun auf dem Lande lebten. Obgleich ich es einmal nicht für möglich gehalten hatte, daß auf den traurigen Herbst, in dem die Eltern mit den Brüdern abreisten, noch ein Sommer kommen könnte, so hatte er sich dennoch eingestellt. Freilich hatte es lange gedauert, bis er kam; aber endlich war es doch so weit gewesen, daß ich unter schützender Begleitung die große Reise nach dem Festlande anzutreten vermochte. Nun also war ich glücklich angelangt, und wenn es mir auch noch ein wenig schwer wurde, mich in die neuen Verhältnisse und einige neue Menschen zu finden, so ging es doch besser, als ich zuerst dachte.

[401]

Photogravüre im Verlag von V. A. Heck in Wien.
Die drei Zinnen und die Rienzschlucht.
Nach dem Gemälde von J. Thoma.

[402] Mit Krischane, der Haushälterin, hatte ich überhaupt gleich eine Art Freundschaft geschlossen. Als Jürgen mich ihr vorstellte, da bemerkte sie allerdings, Deerns seien alle falsch und sie möge deswegen keine Deerns leiden, aber da sie mir zugleich zur Bekräftigung dieser Behauptung eine hübsche Geschichte von einer falschen „Mike“ erzählte, die ihr den zweiten oder den dritten Bräutigam abspenstig gemacht habe, so nahm ich ihr diese Bemerkung gar nicht übel. Ich war es gewohnt, mancherlei Klagen über das Geschlecht zu hören, dem auch ich angehörte, und hatte noch niemals daran gedacht, sie kränkend zu finden. Krischane hatte im ganzen etwas Behagliches, das mir sehr heimisch vorkam. Sie war dick und hatte so schöne rote Backen wie bei uns auf der Insel die Köchinnen. Zwar trug sie keine schwarze Sammetjacke und keinen gestreiften Rock, wie die Dienstmädchen, sondern ein himmelblaues Kleid und eine vergoldete Brosche, der Eindruck aber war doch so, als wenn ich sie schon lange gekannt hätte. Und wie ich nun neben ihr saß, während sie die Zeitung laut atmend betrachtete, da kam es mir doch vor, als sei sie mir immer vertraut gewesen.

„Gottogott,“ sagte sie das Blatt mir zuschiebend, „ich weiß doch gar nich, was es nu mit ’n Druck is. Mich deucht, die Leute, die die Zeitung machen, die geben sich da keine Mühe mehr mit. Mich wird das jetzt ordentlich schwer, die Buchstabens zu lesen, weil sie so schlecht gedruckt sind. Lies mich das mal vor aber lüg’ da nix zu!“

Ich las also, was ihr Finger mir zeigte: „Heiratsgesuch. Ein gediegener Witwer in den fünfziger Jahren sucht auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege die Bekanntschaft einer Dame, nicht unter Fünfunddreißig, zu machen! Vermögen erwünscht, jedoch nicht Hauptsache. Es wird mehr auf ein gutes Herz und auf ein häusliches Wesen gesehen. Offerten unter A. T. 35 befördert die Expedition dieses Blattes. Als ich geendet, seufzte Krischane tief und strich sich dann über die glatten, braunen Haare.

„Ach ja, ach ja, wo einmal schön! Was’n Mann, was’n guten Mann! Ja, so einen, den könnt ich mich noch gefallen lassen!“

„Wen meinst du, Krischane?“ fragte ich, aber sie stand auf und drehte mir den Rücken.

„Laß man das Fragen! Ich muß ganzen allein wissen, ob ich es thun soll, oders nich!“

Ich konnte auch die Unterhaltung nicht länger fortsetzen denn die Brüder kamen herunter zum Vesperbrot und mit ihnen der Hauslehrer, Herr Kandidat Nottebohm. Das war auch eine der neuen Bekanntschaften, die ich hatte machen müssen, aber sie war mir nicht so angenehm wie die von Krischane. Nicht, daß Herr Kandidat Nottebohm mir etwas gethan hätte, aber er war so ganz anders, als ich mir einen Kandidaten dachte. Ich hatte früher einmal einen gesehen, der war sehr jung, sehr blond, sehr lustig gewesen, und seit der Zeit stellte ich mir die Kandidaten alle so angenehm vor. Aber Herr Nottebohm war schon ein ziemlich alter Mann mit grauen Haaren und einem müden, etwas gelangweilten Gesicht. Mir schien nicht, daß er lachen oder gar Kunststücke mit Thalern und Taschentüchern machen konnte, wie ich es von den Kandidaten verlangte; aber Jürgen, der immer alles wußte, sagte auch, diese netten Kandidaten seien nach dem Jahre 1864 alle sehr schnell Pastoren geworden, weil die Dänen ihre Pfarren in Schleswig-Holstein verlassen hätten.

„Warum ist Herr Nottebohm nicht auch Pastor geworden?“ fragte ich. Ich hätte ihm gern die größte Pfarre gewünscht.

„Er ist zu oft durchs Examen gerasselt!“ erklärte mein Bruder. „Ich hab’s gehört, wie Papa es zu Mama gesagt hat, aber er sagte auch, für den Elementarunterricht wäre er ganz brauchbar. Das andere thut Papa ja doch!“

„Kann er denn nie Pastor werden?“ fragte ich entsetzt, weil es mir vorkam, als seien wir nun auf ewig mit Herrn Nottebohm verbunden, und mein Bruder zuckte die Achseln.

„Ich weiß es nicht! Aber,“ setzte er hinzu, „er ist gar nicht so schlimm. Wenn er auf seiner Stube sitzt und eine lange Pfeife raucht, dann kann er ganz gemütlich sein! Er ist früher lustig gewesen und erzählt sehr nett davon!“

Aber ich ging Herrn Nottebohm doch lieber aus dem Wege. Schon aus dem Grunde, weil einer von den Erwachsenen Angehörigen unserer Familie plötzlich geäußert hatte, ich müsse auch bei dem Kandidaten Unterricht haben, sonst würde ich doch zu wild!

Ich aber hatte mir fest vorgenommen, mir die schöne Besuchs- und Ferienzeit bei den Eltern nicht durch ganz unnötige Gelehrsamkeit zu verderben. Wenn also der Kandidat im Garten erschien, die Hände auf den Rücken gelegt, einen alten Cylinderhut auf dem Kopfe, dann verschwand ich sofort, und auch bei den Mahlzeiten bemühte ich mich immer, nicht in seiner Nähe zu sitzen. Besonders in der ersten Zeit meines Aufenthalts befolgte ich diese Taktik, als ich später merkte, daß Herr Nottebohm gar nichts von mir wollte und wahrscheinlich Gott dankte, mich nicht unterrichten zu müssen, wurde ich etwas freundlicher.

An dem Tage aber, wo ich Krischane das Heiratsgesuch vorgelesen hatte, schob ich mich schnell an das unterste Ende des Kaffeetisches und freute mich, als Herr Nottebohm sich weit von mir setzte. Er sah mich gar nicht an, sondern griff nach einem Teller mit Butterbrot, den er dicht an sich heranschob, und begann eifrig zu essen. Er war ein großer, magerer Mann und hatte einen vorzüglichen Appetit. Dabei sprach er fast gar nicht, wenn er aß, sondern blickte immer geradeaus vor sich hin, nur die Kinnbacken eifrig bewegend.

Die Unterhaltung an dem Kaffeetisch war überhaupt heute nicht sehr belebt. Die Brüder hatten noch eine Stunde bei Papa vor sich, für die sie bis jetzt nicht gelernt zu haben schienen, denn jeder von ihnen saß über einem lateinischen Buch und flüsterte halblaute Worte vor sich hin. Krischane, die für unser leibliches Wohl sorgte, war so in Gedanken versunken, daß sie uns allen die dritte Tasse Kaffee einschenkte, was sie eigentlich nicht durfte und Herr Nottebohm aß, wie gesagt, so eifrig, daß er sich um nichts anderes bekümmerte. Da war es denn eine rechte Abwechslung für mich, als ein kleiner Kastenwagen auf den Hof gerasselt kam und ich mich ans Fenster stellen konnte, um ihn zu betrachten. Es war ein sehr wenig elegantes Gefährt, und das vorgespannte Pferd, ein zottiger, hinkender Doppelpony, zeichnete sich gleichfalls nicht durch Schönheit aus. Auf dem Wagen selbst saßen eine alte Frau und ein noch junger Mann.

„Das sind Bierkrauts!“ bemerkte Jürgen, der sich neben mich gestellt hatte. „Mutter Bierkraut handelt mit geräucherten Sachen und Fite, ihr Sohn hilft ihr dabei. Sie prügelt ihn und sie soll auch hexen können!“

Nach dieser Beschreibung ging ich natürlich hinaus, um mir beide Persönlichkeiten näher zu betrachten. Krischane ging auch mit, und während sich zwischen ihr und Mutter Bierkraut eine sehr lebhafte Unterhaltung entspann, konnte ich sie sowohl als ihren Sohn so lange ansehen, wie ich wollte. Beide waren vom Wagen gestiegen und priesen ihre Ware in glühenden Lobsprüchen an, während Krischane naserümpfend die Körbe mit den geräucherten Aalen und Bücklingen betrachtete und ein vernichtendes Urteil über sie fällte.

„Die sind ja wohl alle von vorigem Jahr!“ sagte sie auf hochdeutsch. „So’n ohl Kram nehm’ ick nich!“ setzte sie dann auf plattdeutsch hinzu.

Mutter Bierkraut schrie laut auf, und dann schalten die beiden sich – auf plattdeutsch und auf hochdeutsch, und ich kann nur sagen, daß sie beide das Schimpfen verstanden. Mutter Bierkraut war eine starke, große Frau mit finstern dunklen Augen und gelblichen Gesichtszügen. Sie sah fast aus wie eine Zigeunerin und ich konnte ihr gegenüber ein Gefühl von Furcht nicht unterdrücken. Ihr Sohn Fite machte keinen so bösartigen Eindruck. Er hatte ein freundliches Gesicht und ganz nette Augen. Vor mir hatte er seine fettige Mütze abgenommen, was mich mit wohlwollenden Gefühlen für ihn erfüllte, und nun stand er vor dem Pony und fütterte ihn mit Brot.

Krischane und Mutter Bierkraut zankten sich noch, aber ihre Stimmen waren doch leiser geworden und Krischane schien einige Sachen kaufen zu wollen. Ich wollte also gerade eine Unterhaltung mit Fite beginnen, da war er plötzlich eilig in unsere Küche geschlüpft und kam erst wieder, als seine Mutter gellend nach ihm rief. Der Handel war abgeschlossen, die Alte kletterte wieder auf den Wagen und der Sohn that desgleichen. Dann noch eine unfreundliche Begrüßung und der zottige, magere Pony trottelte mit allem davon.

„Das sind aber komische Leute!“ bemerkte ich zu Krischane und diese nickte. Sie war noch immer in einer gewissen Erregung und strich sich über die glatten, dünnen Haare.

„Das kannst woll sagen, Kind! O, was is Mutter Bierkraut [403] for ’n Person! Neulich giebt sie mich ein Aal und läßt mir for zwei bezahlen und denn sagt sie nachher, ich könnt’ ja woll nich mehr orrentlich sehen, was von das Alter käm’! Wo ich doch eben erst in die Vierzigen bin und sie in die Sechzigen. Nee, das is ein Person!“

„Fite ist doch wohl ganz nett!“ meinte ich und Krischane machte eine zustimmende Bewegung.

„Der Fite is ja nich slimm, ein stattlichen Jung, hat auch ein ganz nüdliches Gesicht, gegen dem hab’ ich nix!“

„Er lief in die Küche!“ berichtete ich. „Was wollte er dort wohl?“

Krischane war stehen geblieben und sah verdrießlich aus.

„Nu denk’ an!“ sagte sie. „Sollte er nu warraftig mit Liese was anfangen? Ja, das sag’ ich ja, alle Deerns sind falsch! In diesen Momang is sie noch nich achtzehn Jahrens alt und dann hängt sie sich all hinter die Mannsleute, wo sie doch an ihr irdische Pflicht und daran denken soll, daß sie hier Hausmädchen is! Abers was so ’n Deernsvolk is, das denkt gleich an Heiraten!“

Liese war ein ganz niedliches Mädchen, die mir schon verschiedentlich kleine Handreichungen gethan hatte, und ich beschloß natürlich, sie bei nächster Gelegenheit nach Fite Bierkraut zu fragen. Vorläufig aber kam ich nicht dazu denn Krischane faßte mich am Arm.

„Komm’ man mit in mein’ Stube, ich muß dir noch was sagen!“

Als ich ihr nun gefolgt war, drückte sie mir noch einmal das Zeitungsblatt in die Hand und ich mußte ihr das Heiratsgesuch wiederum vorlesen.

„Ob ich es woll noch mal thu?“ murmelte sie mehr für sich als zu mir, nachdem ich fertig war. „Einmalen, da hat es mich gar nix genützt, und da stand doch noch „Reelles Heiratsgesuch“ darüber, und es war auch in die ’Intzehoer’. Abersten das is ja so mit die Blätters. Wenn da reell in steht, denn is das nix Reelles, und wenn da nich viel Worte gemacht werden, denn is es was Gutes. Nee, damalen war es nix! Ich bot mir als Ehefrau an, wo doch auch ein Wittmann ein ordentliche Person haben wollt’, und leg’ ein Retuhrmarke bei von wegen die Antwort, und ich hab’ in meinem ganzen Leben nie wieder von die Geschichte gehört!“

„Willst du diesen Witwer heiraten?“ fragte ich neugierig. Krischane aber schob mich aus ihrem kleinen Zimmer.

„Nich nach allens fragen, Kind!“

Aber Jürgen, dem ich meine Unterredung mit Krischane erzählte, meinte doch auch, sie werde dieses Heiratsgesuch wahrscheinlich beantworten und dann bald von uns fortgehen. Das war schade – wir bedauerten es beide, denn auch mir gefiel sie gut, trotz meiner kurzen Bekanntschaft mit ihr, aber es war nicht viel dabei zu machen. Uebrigens sprachen wir nicht so sehr viel von dieser Angelegenheit. Jürgen hatte mehr zu lernen als früher, und ich hatte noch immer neue Eindrücke in mich aufzunehmen; meine Eltern hatten jetzt Pferde und Kühe, deren Bekanntschaft man doch machen mußte, da war eine Scheune voller Heu, in der man Versteck spielen konnte, und dann war auch noch die Posttasche da, die täglich aus dem Hirschkruge geholt werden mußte, so daß man nicht über alle Sachen sehr lange nachdenken konnte. Der Hirschkrug lag etwa eine Viertelstunde Wegs von unserem Hause entfernt. Es war ein Landwirtshaus mit dazu gehörigem Laden und einer Bäckerei. Die Zuckerkringel des Hirschkrügers waren weitberühmt und auch wir mochten sie sehr gern. Da die Tasche von einem die Post holenden Boten immer im Hirschkruge abgegeben wurde, so bildete sie einen angenehmen Vorwand zu einem Spaziergang zu den Zuckerkringeln oder zu einem Glase Bier. Als ich kam, war es Herr Nottebohm, der sich angewöhnt hatte, die Tasche zu holen sie später zu öffnen und ihren Inhalt zu verteilen. Allmählich aber nahm ich ihm die Mühe des Abholens ab, und da ich sie dann dem Kandidaten getreulich ablieferte, so hatte er nichts gegen meinen Dienst einzuwenden. Er stand nur manchmal in der Gartenthür, um mir die Tasche abzunehmen. So war es wenigstes in der ersten Zeit gewesen; nachdem ich Krischane aber das Heiratsgesuch vorgelesen hatte, wollte diese plötzlich auch Briefe haben und entwickelte eine ihr sonst fremde Sehnsucht nach der Posttasche.

Eigentlich sollte ich sie schon gleich morgens nach dem Kaffee holen, was eine Unmöglichkeit war, da sie gegen fünf Uhr nachmittags erst eintraf, und wenn es zwei Uhr geschlagen hatte, dann schickte sie mich eilig fort.

„Und denn geb’ sie man nich an dem Kanderdaten, der ümmer mang die Briefens herumsnückert, denn geb’ sie an mir!“

Vergeblich suchte ich ihr klar zu machen, daß vor fünf Uhr die Post nicht im Kruge sei, das wollte sie niemals glauben und sie erreichte wirklich, daß ich ihretwegen so zeitig wie möglich hinging. Einigemal konnte sie auch die Tasche selbst aufschließen; aber wie sehr sie auch die Briefe betrachtete und langsam an ihren Adressen herumbuchstabierte, für sie war doch niemals ein Brief da. Eines Tages ärgerte sie sich sehr. Da war nur ein Brief in der Posttasche und der war für Herrn Nottebohm. Ein mächtiger schwerer Brief, mehr wie ein Paket anzusehen und Krischane betrachtete ihn verdrießlich von allen Seiten.

„Nu kuck einer an! Was so’n Mann for’n Brief kriegt, wohingegen for mir nich das Allergeringste da ist!“

„Von wem erwartest du eigentlich einen Brief?“ erkundigte ich mich, und sie warf mir einen verdrießlichen Blick zu.

„Wenn du doch man bloß das alte Fragen sein lassen wolltest! Mich deucht, das is nich fein, nach allens zu fragen, wo man als Kind nu doch gar nix von versteht!

Sie hatte noch immer Nottebohms Brief in der Hand und drehte ihn immer von neuem um.

„Wo sollt er woll einmal herkommen?“ fragte sie, ihn mir hinhaltend, und ich buchstabierte an dem Stempel. „I, It, Itzehoe!“

„Du mein Gott!“ Sie war ordentlich zusammengefahren. „Nu kriegt Nottebohm auch was von Intzehoe, wo ich mich gleichemang was aus die Gegend erwarte! Wo einmal merkwürdig! Kinners, Kinners, wenn das man bloß nix Slimmes zu bedeuten hat!“

Ich konnte ihre Reden nicht so recht verstehen, und da Krischane den Brief an Herrn Nottebohm doch nicht öffnen durfte, sondern ihn hintragen mußte, so war die Angelegenheit für mich dann auch zu Ende. Aber Krischane ging den ganzen Tag kopfschüttelnd und anscheinend schwer bedrückt umher. Auch am folgenden Morgen war sie noch nicht wieder in ihrer alten behaglichen Stimmung, schalt über alle Maßen mit Liese, dem Hausmädchen, und hatte mit Mutter Bierkraut ein so heftiges Wortgefecht, daß Fite Bierkraut, der schon auf dem Wege zur Küche war, es gar nicht wagte, hineinzuschlüpfen, sondern starr vor Angst in der Thür stehen blieb.

„Liese ist auch gar nicht da!“ bemerkte ich halblaut zu ihm. Ich hatte mich einigermaßen mit ihm angefreundet, und Jürgen und ich wußten ganz genau, daß er und Liese sich manchmal hinter der Küchenthür küßten. Er wurde rot bis unter die Haarwurzeln und warf einen schnellen Blick zu seiner Mutter herüber, die mit schriller Stimme alle möglichen Flüche gegen Krischane ausstieß, was diese in der gleichen Tonart erwiderte. Der ganze Streit handelte sich um einige Dutzend Kieler Sprotten, aber keine von den beiden erregten Frauen wollte der andern das letzte Wort lassen.

„Weshalb wirst du so rot?“ fragte ich Fite teilnehmend, und er wurde ungefähr lila.

„Laß die Altsche das doch man nich hören, deine Witzens mit Liese!“ murmelte er furchtsam…“

„Weshalb nicht! Ist sie denn nicht deine Braut?“ fragte ich und er schüttelte bestürzt den Kopf.

„Längst nich!“ gab er zur Antwort.. „Sie hat ja nix!“ Dabei seufzte er gottserbärmlich.

„Mußt du denn nach Geld heiraten?“ fragte ich altklug und Fite wiegte den Kopf kummervoll hin und her.

„Unter zehntausend Mark thut die Altsche es nich!“

"Kehre dich doch nicht an die Alte!“ riet ich.

Da sah er mich ganz entsetzt an. „Du kennst die Altsche nich – nee, du kennst ihr nich!“ murmelte er verzweifelt, während er sich wandte und nun doch in die Küche lief, in der Lieses niedliches Gesicht plötzlich aufgetaucht war. Krischane und Mutter Bierkraut waren auch stiller geworden, die letztere kletterte grollend auf den Wagen, und ehe sie sich ordentlich zurechtgesetzt hatte, hatte auch Fite sich wieder eingefunden, und das Gefährt holperte von dannen.

„So ’n Person!“ schalt Krischane hinter ihr her. „Meint woll, sie kann mir nasführen, wo sie mich immer die alten vertrockneten Sprotten aufbinden will. Nee, ich kenne ihr und laß mir nix gefallen!“

[404] „Fite war wieder in der Küche bei Liese,“ erzählte ich.

„Meinswegen!“ erwiderte Krischane kurz. „So ’n dummen Jungen und so’n Deern passen zusammen, da kommt doch nix nach! Abersten du mußt diesen Nachmittag ein büschen früh zu Gange, damit ich die Posttasche kriege und nich den alten Kanderdat, der ja eine ganz unchristliche Neugier for die Postsachen hat! Thu es mich zu Gefallen!“

Ich that ihr den Gefallen; aber die arme Krischane erhielt doch keinen Brief, weder an diesem noch an einem der andern Tage und allmählich fand sie sich in ihr Schicksal.

2.

Ich hatte inzwischen die Bekanntschaft von Friederikenruhe und von Perle gemacht. Die Friederikenruhe war ein mit etlichen Tannen und mit Gestrüpp bewachsener Erdhügel, der etwas abseits vom Fahrwege nach dem Hirschkrug lag. Irgend eine Friederike, die jetzt tot war, hatte auf diesem Hügel zwei Bänke und einen Tisch gestiftet, und wer müde war und sich ausruhen wollte, konnte dort sitzen und eine sehr bescheidene Aussicht bewundern. Für uns Kinder war die Aussicht gleichgültig, uns beschäftigte mehr ein Tagelöhnerhäuschen, das im Schutze des Hügels etwas versteckt lag und in dem ein Hund wohnte, der so heiser bellte, wie wir noch niemals einen Hund hatten bellen hören.

Er hieß Perle und hatte ein leicht erregbares Temperament, das durch geschickte Steinwürfe noch lebhafter wurde, so daß ein Gang auf die Friederikenruhe für uns stets ein kleines Scharmützel mit Perle bedeutete. Eines Nachmittags nahmen Jürgen, Milo und ich unseren Stallkater Banko mit nach der Friederikenruhe, damit auch er Perle bellen hören sollte. Banko war ein älterer streitbarer Herr, der vor keinem großen Hunde zurückschreckte, jetzt hatte er allerdings manchmal das Bedürfnis nach Ruhe und schlief die meiste Zeit des Tages. Als wir aber gegen die geschlossen Hausthür der Kate einen wohlgezielten Steinwurf fliegen ließen, der Perle sofort veranlaßte, aus seinem in der Hausmauer befindlichen Loch zu stürzen und rasend zu bellen, da wachte Banko aus seiner behaglichen Alterszufriedenheit auf. Jürgen hatte ihn auf dem Arm gehalten; er sprang aber in einem Satze auf Perle los, und als dieser, den unerwarteten Besuch erblickend, mit lautem Geschrei kehrt machte und eiligst wieder in die Kate kroch, da kroch Banko hinter ihm her.

Wir hörten nicht allein Bellen und Schreien, sondern auch Klirren, Poltern und lautes Schelten von Menschenstimmen, die vermutlich dem Tagelöhner Evers und seiner Frau gehörten. Es war ganz eigentümlich, und wenn wir auch mit anscheinend sorglosem Lachen der Aufregung im Innern der Kate lauschten, so sagte Milo doch, daß wir schnell nach Hause gehen wollten. Diesem Vorschlag stimmten Jürgen und ich ohne weiteres zu, und wir waren schon fast zu Hause angelangt, als Krischane hinter uns her kam. Sie trug einen Korb und mehrere Pakete, deren Inhalt sie im Hirschkruge eingekauft hatten; jetzt aber bemerkte sie, daß sie etliche Pfund grüner Seife im Kruge vergessen hatte, und forderte mich auf, mit ihr wieder umzukehren, während sie den Brüdern die andern Pakete auflud.

Eigentlich hatte ich keine Lust, ließ mich aber doch bewegen, den Weg noch einmal zurückzumachen und Krischane zu begleiten, die mich zur Belohnung für meine Willfährigkeit eifrig unterhielt. Als wir im Kruge gewesen waren und heimgingen, bot sie mir an, ob wir uns nicht ein wenig auf der Friederikenruhe hinsetzen und die Aussicht genießen wollten; ich lehnte indessen hastig ab und sie sah mich etwas erstaunt an.

„Magst nich die Aussicht sehen? Ich nehm’ auch gern ein Mund voll Snack mit Everschen, die ein Casine von den Mann is, der mir einmal wollte und nachher ein Frau hatte. O jemineh! Sie blieb stehen und seufzte. „Ich hab’ Unglück gehabt mit die Mannspersonen! Einer hatt’ ein Frau, wo ich fest glaubte, er wär’ ein Wittmann, und einer schenkt mich ein Ring und sagt nachher, da hätt’ er sich nix bei gedacht! Und von die Zeitung krieg’ ich auch kein’ Antwort!

Sie ging weiter und wischte sich die Augen, während ich nach der Friederikenruhe hinhorchte, an der wir gerade vorübergangen. Aber es war alles still dort, und es schien, als wenn Perle noch lebte, denn der Tagelöhner Evers, der von seinem Hause kam, sah gleichmütig aus und trug Hacke und Spaten über der Schulter, mit demselben unbeweglichen Gesicht, mit dem er diese Gerätschaften immer trug.

„Der will sein Land umhacken!“ bemerkte Krischane. „Ja, was das rechte Arbeiten is, das macht Spaß. Morgen hab’ ich groß Reinmachen das is auch gut gegen die Gedankens. Die Zimmers haben alle Reinisierung nötig, am meisten Herr Nottebohm sein Stube. Was smeißt der mit die Papierens herum! Er hat den ganzen Ofen voll von Briefens gesteckt, wie Liese sagt. Gott mag wissen, wo er all die Briefens hergekriegt hat. Abers das kommt ja woll von die Gelehrsamkeit, daß die Leute an einen schreiben. Nu, morgen will ich mich das mal ankucken, weil ich den Ofen doch leer machen muß!“

„Hast du die Posttasche mitgebracht?“ rief ich plötzlich und Krischane schüttelte den Kopf.

„Nein Kind, die Posttasche geht mir gar nix an, denn ich lauer’ nich mehr auf Briefens. Das is was for die Gelehrtens, nich for unsereinen, wo man sein Lebtag kein Brief kriegt!“

„Hast du eigentlich gar keine Verwandte, die dir schreiben können?“ erkundigte ich mich weiter und sie wiederholte ihre vorige Bewegung.

„Nee, Kind, Vater und Mutter sind tot. Ich hatt’ mal einen Bruder, abers der is klein gestorben, und was Onkel Detlev is, so kümmer ich mir nich um den. Erstlich darum nich, weil er gar nix von mich wissen will, wo ich doch sein leibliche Swestertochter bin, und denn darum nich, weil ich ihn mal ein Brief geschrieben hab’, wo er mich gar kein Antwort auf gegeben hat! Das war dazumalen, vor ein paar Jahrens, wo ich kein’ Stelle hatt’ und so viel Reißen in den Kopp, daß ich auch gar nich arbeiten konnte. Da sagt der Dokter, daß ich mir verholen soll, und weil ich kein Platz hatt’, wo ich das konnt’, da dacht’ ich an mein Onkel Detlev in Krempe. Denn in Krempe wohnt er, mit Verlaubnis zu sagen, was ja eine Stadt bei Intzehoe in Holsten is, und ein Fuhrgeschäft hat er, wo er denn woll sein Brot bei gefunden hat. Na, ich schreib’ ihm denn, ob ich mir nich ein büschen bei ihm verholen könnte, abers ich krieg’ kein Antwort. Das war ins Frühjahr gewesen, und als der Sommer kam, kriegt ich ein leichten Platz bein alte Dame in Kappeln, wo ich es gut hatte und meine Smerzen auch los wurde. Und so um den Oktobermonat, als mein altes Fräulein grad’ das Nervenfieber hatt’ und ich ihr pflegen mußt’, da kommt da ein Kerl bei mich an, der Fuhrknecht bei Stamer-Johann war und der auf Kiel fuhr. Ich kannt’ ihm ein büschen von die Straße her und sonsten gar nich, und der bringt mich en Bestellung von Fuhrmann Knorr aus Kiel. Der is auf Elmshorn gefahren und is mein Onkel Detlev auf die Schasee nach Wrist begegnet, und Onkel Detlev hat gesagt, wenn Fuhrmann Knorr mal nach Kappeln käme, denn sollt’ er man am Krischane Timmermann sagen, for ihr wär’ er nich zu Hause und sie braucht ihn nich zu besuchen, weil daß er sich aus das Weibervolk nich das Geringste machte. Nu, Knorr sagt es denn an Stamerjohann, der nach Kappeln fuhr, und der sagt es an seinen Knecht. So kriegt’ ich die Botschaft ja noch ganzen snell, abers ich kann doch nich sagen, daß ich das forn Antwort auf meinen Brief rechne!“

„Das war aber gar nicht nett von deinem Onkel,“ meinte ich, als Krischane aufatmend innehielt und an ihren Hutbändern knotete. Denn wir hatten Friederikenruhe verlassen und waren ungefähr zu Hause angekommen.

„Sag’ ich auch!“ meinte sie ruhig. „Damalen ärgerte ich mir so über ihm, daß ich ihn noch einen Brief schrieb. Da stand im ,Lieber Onkel Detlev! Du kannst mich in den Mondenschein begegnen! Deine Swestertochter Krischane!’ Und auf die Adresse schrieb ich: An den Keerl Detlev Piepgras. Mit Verlaubnis zu sagen in Krempe. Denn du weißt doch, daß es heißt: Ein Herr aus Intzehoe, ein Mann aus Glückstadt und ein Keerl ut de Kremp! Abers wie die alten ekligen Dänens denn sind – in Kappeln war ein alten Major Postmeister, der wollt’ mich warrhaftigen Gott den Brief nich abnehmen, wo ich doch mein gutes Geld for bezahlen wollt’, und er hat mich noch ausgescholten und hat gesagt, Krempe wär gerad’ so gut wie Kappeln, was nu doch bloß ein Däne sagen kann! Nu, mein Brief is nu abers nich abgegangen, und ich hab ihn lang in mein Kommode gehabt, bis ich ihm einmal nich wieder finden konnte. Abers nu laß mir man for das Abendbrot sorgen, Kind!“

Sie war ins Haus gegangen und ich lief auf den Hof, wo

[405]

Auf dem Deck eines Bodenseedampfers.
Nach dem Leben gezeichnet von R. Mahn.

[406] Banko harmlos auf einer Bank saß und sich leckte. Jürgen und Milo standen schon vor ihm und wir alle drei hätten gern die Geschichte seines Erlebnisses mit Perle gehört; er sagte aber gar nichts und Liese, das Hausmädchen, wußte auch nichts von ihm zu berichten. Sie hatte einen heißen Kopf und machte ein sehr schnippisches Gesicht, als Jürgen sie plötzlich fragte, ob sie nicht vorhin mit Fite Bierkraut spazieren gegangen sei. Natürlich würdigte sie den Frager keiner Antwort und schließlich war es uns auch allen einerlei. Denn wir wurden plötzlich noch einmal nach dem Kruge geschickt, um die Posttasche zu holen, die Krischane vergessen hatte. Auch Herr Nottebohm schien sein Interesse an ihr vollständig verloren zu haben und that, als man ihn danach fragte, als wenn er sich noch niemals um sie bekümmert hätte. An diesem Abend spielte Herr Nottebohm mit uns „Schwarzen Peter“ und benahm sich so nett bei dem Spiel, daß ich ihn wirklich recht gern leiden mochte. Er wurde natürlich immer „Schwarzer Peter“, ließ sich einen Schnurrbart nach dem andern, ja die Nase schwarz malen und bewies eine stille Ergebenheit, die nicht alle Leute bei diesem Spiel zeigen.

„Er ist doch ganz nett!“ sagte ich am anderen Morgen zu Milo, als wir zusammen in den Stachelbeeren saßen, während aus der Ferne die Begleitmusik des großen Reinmachens, das Klopfen der Teppiche und Kissen ertönte.

Milo nickte. „Nottebohm ist gar nicht schlecht. Zu Jürgen hat er einmal gesagt, wenn man jung wäre, dann dürfe man nicht allzu lustig sein. Er wäre zu lustig gewesen, nun müßte er dafür büßen. Aber er kann doch noch manchmal ganz lustig sein!

Während Milo also redete, steckte er den Mund voller Stachelbeeren aß sie, spuckte die Schalen aus und holte sich neuen Vorrat, so daß er diesen Satz nur sehr langsam hervorbrachte. Auch ich war in derselben Weise wie er beschäftigt, und als plötzlich Krischane zwischen den Stachelbeerbüschen erschien und mit schriller Stimme nach uns rief, da konnten wir ihr nur allmählich antworten.

„Kinners, wo seid ihr, wo steckt ihr? Und wo is Nottebohm?“

Sie sah aufgeregt aus, ihre Haare flatterten im Winde und in der Hand trug sie ein Bündel Papiere.

„Wo is er? Wo is Nottebohmen?“ fragte sie in einem so drohenden Tone, daß wir sie wirklich erstaunt betrachteten.

„Du mußt Herr Nottebohm sagen!“ sagte Milo ermahnend. „Wir dürfen auch nicht Nottebohm allein sagen!“

„Ich sag’, was ich will!“ rief Krischane atemlos. „Den Deuwel auch! Ich sag’, was ich will! Wo is Nottebohm?“

„Du darfst auch nicht fluchen!“ bemerkte Milo gemütlich. „Fluchen ist Sünde. Papa sagt es, und der muß es wissen!“

Er kroch aber doch bei diesen Worten auf die andere Seite der Stachelbeerhecke und das war sein Glück, denn Krischane stürzte sich mit so blitzenden Augen auf ihn, daß sie ihn sicherlich geprügelt hätte, wenn er in ihre Hände gefallen wäre. Nun wandte sie sich von uns ab und flog nach dem Teil des Gartens, in dem eine Pfeifenblattlaube stand, in welcher Herr Nottebohm hin und wieder in beschaulicher Ruhe eine ellenlange Pfeife zu rauchen pflegte.

„Wie dumm von ihr!“ sagte Milo, der schon wieder neben mir stand und Krischane nachblickte.

„Was ist dumm?“ fragte ich.

„Nun, daß sie Herrn Nottebohm sucht, wo sie doch heute selbst sein Zimmer reingemacht hat! Dann sind doch morgens keine Stunden und Herr Nottebohm geht in den Krug und trinkt Bier; das thut er immer, wenn er Zeit hat. Zu Jürgen hat er gesagt, Bier wäre Gift und man dürfe es nicht trinken. er aber kann ganz viel davon vertragen!“

Mich aber interessierten die Papiere, die Krischane in der Hand gehalten hatte. „Was sie nur von Herrn Nottebohm will?“ fragte ich. „Und die Briefe, die sie trug, ob sie die wohl in seinem Zimmer beim Reinmachen gefunden hat?“

(Fortsetzung folgt.)


Die Margarethenspende.

Ein Fortschritt der Krankenpflege auf dem Lande. Von P. Chr. Hansen.

Unter dem Namen „Margarethenspende“ ist in der innerhalb des früheren Herzogtums Schleswig gelegenen Landschaft Angeln vor einigen Jahren von einem schlichten Landmann ein schönes Werk barmherziger Nächstenliebe ins Leben gerufen worden. Dasselbe hat sich nach und nach unter Mitwirkung der einzelnen Gemeindeorgane zu einer sehr beachtenswerten Leistung auf dem Gebiete der Volkswohlfahrt entwickelt. Wir möchten die bei so manchen ähnlichen Bestrebungen erfolgreich bethätigte Vermitteln der „Gartenlaube“ in Anspruch nehmen, um dem Werke in den weitesten Kreisen der Bevölkerung, namentlich in Dorfgemeinden, zur Nachahmung zu verhelfen.

Jener Landmann hat eine einzige Tochter gehabt, die nach langem, schwerem Leiden in Davos an der Lungenschwindsucht starb. Der Vater pflegte sie dort selbst und beobachtete hierbei, in welcher Weise Leidenden mittels allerlei Hilfsmitteln das Schmerzenslager erleichtert werden kann. Es kam ihm dabei zum Bewußtsein, wie mangelhaft es noch vielfach auf dem Lande, wo man zum Arzt, Apotheker und Krankenhaus meist weite Wege hat, um die Krankenpflege und alles, was damit zusammenhängt, bestellt ist. Um nun diesem Uebelstande abzuhelfen, entschloß er sich, mit allen Kräften dahin zu streben, daß jeder Gemeinde seiner engeren Heimat alle zur Krankenpflege nötigen und nützlichen Gegenstände kostenlos zur Verfügung gestellt würden. Er setzte sich mit Aerzten, Krankenhäusern und Fabriken von Apparaten zur Krankenpflege in Verbindung und ließ sich diejenigen Gebrauchsgegenstände nennen, welche in der Krankenstube unentbehrlich erscheinen. Er schaffte alsdann die Gegenstände an, ordnete sie zweckmäßig in einen zu diesem Zwecke verfertigten Schrank ein und stellte diesen in seinem Hause auf, indem er den Inhalt zum leihweisen Gebrauch für jedermann in seiner Gemeinde bestimmte. Zum Andenken an die ihm durch den Tod im blühenden Alter entrissene Tochter nannte er seine wohlthätige Stiftung „Margarethenspende“.

Das war der Anfang seines Werkes, das nicht auf die eine eigene Gemeinde des Stifters beschränkt blieb, sondern sehr bald in die nähere und weitere Nachbarschaft hinausgetragen wurde. Von den Kirchengemeinden Angelns sind gegenwärtig bereits vierzehn im Besitze einer „Margarethenspende“ und in allernächster Zeit wird eine solche abermals sechzehn Gemeinden zu teil werden. Alsdann werden mit Ausnahme zweier später zu berücksichtigender Stadtgemeinden sämtliche Gemeinden der erwähnten Landschaft mit dieser Einrichtung ausgestattet sein. Alle Kosten trägt in uneigennützigster Weise der Spender. Die Gemeinden verpflichten sich nur, die Spende zu unterhalten und durch Gebrauch etwa schadhaft Gewordenes zu ergänzen.

Die Gegenstände der Spende sind nach und nach immer zahlreicher geworden; wir nennen hier: Luftkissen, Wasserkissen, Irrigatoren, Stechbecken, Thermometer, Spucknäpfe und –Becher, Wärmkruken, Inhalationsapparate, Eisbeutel, Ohrenspritzen, Duschen usw., selbst die Klingel für den Tisch vor dem Krankenbett fehlt nicht. Auch werden jeder Spende zwei Badewannen, eine große und eine kleine, beigegeben.

In allen Gemeinden, denen die Einrichtung bereits zur Verfügung steht, ist von den einzelnen Gegenständen oft und dankbar Gebrauch gemacht worden. Die Zahl der Ausleihungen ist natürlich je nach der Größe der Gemeinden und dem Gesundheitszustande innerhalb derselben schwankend. Im letzten Jahre bewegte sich dieselbe zwischen 164 und 30 Ausleihungen. Sämtliche Hergaben sind, wie bemerkt, kostenlos. Die Verwaltung der Spende liegt gewöhnlich in der Hand der Kirchenvorstände, die Spende selbst ist meist im Pastoratshause aufgestellt. In einigen Fällen haben sich auch Vereine gebildet, denen die Spende überwiesen wurde. Die Anwendung der Gegenstände geschieht zumeist auf Anordnung der Aerzte.

Wir möchten den Namen des edlen Mannes, der sich vorzugsweise dem minder bemittelten Teile seiner Mitmenschen gegenüber so verdient gemacht, trotz aller Bescheidenheit, die ihn auszeichnet, hier nicht unterdrücken es ist Herr Johannes [407] Jacobsen, geboren in Möckmark bei Sörup, später Hufner in Sanftrup, jetzt Rentner in Norderbrarup. Jacobsen ist noch immer der Mittelpunkt des ganzen Werkes, unablässig und mit rührendem Eifer ist er bemüht, dasselbe stetig zu vervollkommnen. Alljährlich am 27. Dezember, dem Geburtstage seiner heimgegangenen Tochter, vereinigt er eine Anzahl Vertreter aus denjenigen Gemeinden um sich, die sich im Besitze einer „Spende“ befinden. Da wird dann Bericht erstattet über den Gebrauch, der von den einzelnen Geräten im verflossenen Jahre gemacht worden, es werden die gemachten Erfahrungen ausgetauscht und Maßnahmen und Vorschläge beraten, die der weiteren Förderung des Werkes dienen können. Ueberall empfindet man die Veranstaltung als eine wahre Wohlthat. In einem uns vorliegenden Schreiben aus Angeln heißt es: „Unendlich viel Dank wird sicherlich dem Wohlthäter seitens der Leidenden auf stillem Schmerzenslager gezollt, doch entzieht sich dieser Dank wohl meist der öffentlichen Kenntnis.

Ist die Idee der „Margarethenspende“ nicht eine solche, welche in jeder Gemeinde unseres Vaterlandes in der einen oder anderen Weise Verwirklichung finden sollte? Wir wenden uns an Behörden wie an Private, um sie zu ähnlichem Wirken zu veranlassen. In erster Linie richtet sich unsere Aufforderung an gemeinnützig denkende und schaffensbereite Männer und Frauen! Männer und Frauen sagen wir, es will uns bedünken, als ob hier eine herrliche Aufgabe vorläge, der sich vor allem unsere Frauen, einzeln oder in Vereinen, mit freudigem Eifer widmen sollten!



Blätter und Blüten.

Deutsche Schüler- und Studentenherbergen. Im Jahre 1884 gründeten einige Menschenfreunde für die Schüler höherer Lehranstalten, also Gymnasiasten, Realschüler, Seminaristen usw., welche man in Oesterreich kurzweg Studenten nennt, zu Hohenelbe in Böhmen die erste deutsche Studentenherberge. Diese Einrichtung verfolgte den Zweck, Schülern, die Ferienausflüge machen, geeignete Unterkunft und Verpflegung zu bieten. Der erste Versuch fand eine überaus beifällige Aufnahme, und bald öffneten mehr solcher Herbergen in Oesterreich und später auch in Deutschland ihre gastlichen Thore. Heute finden wir sie in den Sudeten, im Glatzer, Riesen-, Jeschken- und Isergebirge, ferner im nördlichen Böhmen und Mittelgebirge, in der Böhmischen Schweiz, endlich im Lausitzer, im Erzgebirge und im Böhmerwald.

Diese Herbergen werden von den betreffenden Gebirgsvereinen, von Gemeinden und Privatleuten unterhalten und stehen unter der Centralleitung in Hohenelbe, die seit Anbeginn in den Händen von Guido Rotter liegt und der in Prosper Piette in Marschendorf ein hochherziger Förderer der ganzen Sache zur Seite steht. Sie sind teils in Gasthöfen, teils, wo es irgend angeht, in Schul-, Gemeinde- oder Privathäusern untergebracht. Ihre Ausstattung ist einfach, aber zweckentsprechend. Sie enthalten neben Bett- und Waschgerät einen Tisch mit Schreibzeug und ein paar Stühle. Jeder Schüler höherer Lehranstalten, der das 16. Lebensjahr überschritten hat, kann durch Vermittlung des Direktors seiner Schule sich eine Legitimationskarte aus Hohenelbe erbitten. Diese berechtigt ihn während der Ferienzeit zur Benutzung der Herbergen, die ihm einmal auf der Hinreise und einmal auf der Rückreise unentgeltliches Unterkommen für die Nacht gewähren. In vielen derselben wird auch das Frühstück, ja sogar das Abendbrot teils kostenlos, teils zu ermäßigten Preisen verabreicht. Ferner sind in den betreffenden Ortschaften Auskunftsstellen errichtet, an denen die jungen Leutchen von zuverlässiger Seite mit Rat und That unterstützt werden. Reisehandbücher, Landkarten und Liederbücher, die wohl hier und da auch in den Herbergen zu finden sind, bieten geistige Nahrung und sorgen für das weitere Fortkommen des frohgemuten Wanderers.

Die Herbergen haben in vergangenem Jahre, in dem sich ihre Anzahl auf 103 (mit 480 Betten und 45 Notlagern) belief, den Angehörigen sowohl von Hoch- wie Mittelschulen Deutschlands und Oesterreichs in 6246 Fällen Unterkunft gewährt.

Und aus welchen Erwägungen heraus hat man nun wohl die Gründung dieser Herbergen unternommen? Etwa um der Unterstützung Unbemittelter willen? Durchaus nicht. Gerade diese Auslegung sollte peinlichst vermieden werden. Die Frage, ob arm, ob reich, wird nicht gestellt. Jeder hat die gleichen Rechte. Aber der Sinn für Gastfreundschaft soll in die jungen Gemüter eingepflanzt, Mut und Selbstvertrauen sollen gestärkt werden, die dem künftigen Manne, der auf eigenen Füßen stehen muß, nicht fehlen dürfen. Und nicht allein das, auch die Liebe für die Natur, die Schönheiten des eigenen Vaterlandes sowie anderer Länder soll erweckt und damit nicht nur der friedliche Verkehr mit den Nachbarn gepflegt, sondern auch das Deutschtum gefestigt oder, wo es abhanden gekommen ist, wieder aufgerichtet werden.

Und darum wäre es zu wünschen, daß die von unseren deutschen Brüdern in Böhmen ins Leben gerufene menschenfreundliche Institution, die sich nun schon seit 13 Jahren so trefflich bewährt hat, mehr und mehr bekannt würde und allüberall Nachahmung fände.

Der Deutsch-Oesterreichische Alpenverein hat im Jahre 1889 in seinem Wirkungskreis eine ähnliche Einrichtung getroffen und der Harzklub will heuer in dem seinen die ersten Versuche anstellen. Dort wurde in Bad Sachsa am Südharz die erste Schülerherberge eröffnet, in welcher zu sehr mäßigen Preisen gute Unterkunft und Verpflegung gewährt wird. Möchten noch recht viele andere dem schönen Beispiele folgen!

Die heimlichen Raucherinnen. (Zu dem Bilde S. 393) Der Künstler führt uns in die Räume von Versailles zur Zeit, wo das Regiment der gestrengen Maintenon die ehemalige Lebenslust unterdrückt und die früheren glanz- und geräuschvollen Vergnügungen der Hofgesellschaft gewaltsam beschnitten hatte, freilich ohne hiermit die leichtsinnigen Herzöge und Prinzessinnen zu dem gewünschten Lebenswandel zu bekehren. Sogar Ludwigs XIV. gutmütiger und beschränkter Sohn Louis, der erste in der langen Reihe der französischen Dauphins, welche seither den Thron des Vaters nicht mehr bestiegen, wußte sich in dem hübschen Schloß Choisy mit Freunden und Freundinnen über die klösterliche Stille von Versailles zu trösten. Reiten, Jagen, Tanzen, Fechten und das neue, von der guten Sitte schwer verpönte Tabakrauchen wurden dort aufs lustigste betrieben. Daß auch zarte Damenlippen die im Anfang allein üblichen holländischen Thonpfeifchen nicht verschmähten, zeigt unser Bild. Zwei junge Prinzeßchen haben sie von Choisy mitgebracht und begehen nun die unerhörte Frevelthat, dieselben nach glücklich überwundenem Galaempfang abends in ihren Gemächern anzustecken. Ein gemütliches Plauderstündchen soll sie noch für den langweiligen Zwang des Tages entschädigen. Aber der wachehabende Diener scheint demselben Bedürfnis zum Opfer gefallen zu sein. Die Vorsaalthüre öffnet sich unbemerkt, und herein tritt, angezogen von dem merkwürdigen Duft – glücklicherweise nicht der „Sonnenkönig“ selbst, noch die strenge Maintenon, sondern der Dauphin, dessen gutmütiges Gesicht zwischen dem Schrecken über solche Tollkühnheit und dem Lachen kämpft. Sehr schlimm wird es also den beiden hübschen Sünderinnen nicht ergehen, und eine kleine Angst als Strafe für ihr keckes Unternehmen kann ihnen auf keinen Fall schaden! Bn.     

Die Drei Zinnen und die Rienzschlucht. (Zu dem Bilde S. 401.) Eine alte Völkerscheide ist das Toblacher Feld im Pusterthal, jene flache, von mächtigen Bergzügen umstarrte Erhebung, von welcher die Wasser westwärts durch die Rienz in die Etsch, ostwärts zur Drau und dem Schwarzen Meere abfließen. Hier war’s, wo in den Tagen der Völkerwanderung die kriegerische Kraft der Bayern den von Südosten her andrängenden Schwärmen der Slovenen Halt gebot, um dieselben nachher in jahrhundertlangen Kämpfen immer weiter gegen Osten zurückzutreiben. Heute ist das ganze Gebiet des Pusterthals, dessen Mittelpunkt das Toblacher Feld bildet, zur deutschen Zunge gehörig; aber hart im Süden, wo in das grüne Thal die gewaltigen hellen Felsmauern der Südtiroler Dolomitberge hereinragen, zieht die italienische Staats- und Sprachgrenze und genug welsche Laute kann auch der Reisende vernehmen, der aus der Südbahnstrecke zwischen Franzensfeste und Lienz das Pusterthal befährt.

Der Rienzfluß tritt auf das Toblacher Feld aus einer engen Thalspalte, die von Süden, von der italienischen Grenze, herabzieht. Durch diese Thalspalte führt eine prächtige uralte Straße, der Ampezzaner Straßenzug, nach Italien hinüber; eine Straße, auf welcher schon in Römerzeiten die Legionen marschierten auf der dann im Mittelalter ein lebhafter Handelsverkehr zwischen Venedig und den Alpenländern getrieben ward, und die in der Gegenwart wegen ihres Reichtums an prächtigen Landschaftsbildern berühmt geworden ist. Die Italiener nennen sie strada d’Allemagna. Die erste etwa zehn Kilometer lange Strecke dieser Thalschlucht ist das Höhlensteiner Thal. Bei der vielbesuchten Poststation Höhlenstein (Landro) erschließt sich jener romantische Blick in die oberste Thalschlucht der Rienz, welchen unser Bild darbietet. Val Rimbianco heißt ihr welscher Name. In schäumenden Stürzen wälzt sich die Rienz zwischen finstren Bergwänden hier herab; im Hintergrunde aber steigen wie riesige zertrümmerte Türme die „Drei Zinnen“ empor, deren bedeutendste die stolze Höhe von 3003 Metern erreicht. Diese Felstürme gehören zu dem Stilvollsten und Imponierendsten, was die Hochgebirgsnatur in Tirol geschaffen hat; sie sind recht eigentlich der ausgezeichnetste Typus der Südtiroler Kalkalpen. Die höchste der Drei Zinnen ward 1869 zum erstenmal erstiegen, seitdem zählt sie lange nicht mehr zu den schwierigsten Aufgaben für die Kletterzunft der Alpenfreunde. Immerhin gehört ein schwindelfreies Haupt und ein wohlgeschulter Fuß dazu, um durch steile Schnee- und Felsrinnen, über schmale Felsbänder und in engen Kaminen die luftige Höhe zu erreichen. Von ihr schweift dann freilich der reichbelohnte Blick weit umher durch die bizarren Gestalten der Dolomitberge, hinab in die grünen Thäler und nördlich bis zur eisgepanzerten Tauernkette. M. H.     

Auf dem Deck eines Bodenseedampfers. (Zu dem Bilde S. 405.) Herrlicher und großartiger gestaltet sich von deutscher Seite aus der Einzug in die Alpenwelt nirgends, als wenn man ihr an schönem Sommertage über den strahlenden Spiegel des Bodensees entgegenfährt. Wie majestätisch heben sich die leuchtenden Hochspitzen der Algäuer Alpen, die gewaltigen Massen der Silvrettagruppe mit der Seesaplana, der Churfirsten und des firnumpanzerten Säntis über die grüne Fläche des Schwäbischen Meeres! Welche Fülle ungezählter anderer Alpenriesen läßt uns nicht die Schweiz im blauen Ferndust erschauen! Und wie lieblich ist dieser Welt erhabener Größe das anmutige Gelände vorgelagert, [408] welches sich vom Einfluß des Rheins in den Bodensee bis zum Ausfluß desselben mit seinen grünen Matten und Obstbaumhainen, seinen hellschimmernden Dörfern Schlössern und Landhäusern am Ufer hinzieht, die Städte Rorschach, Arbon, Romanshorn, Konstanz traulich umrahmend. Von ihnen allen bringt den Reisenden eine kurze Eisenbahnfahrt mitten in die Alpen hinein, an die Ausgangsstationen der berühmtesten Alpenstraßen. Es ist daher kein Wunder, daß der Bodensee längst schon die besuchteste Eingangspforte zur Schweiz ist. Noch wesentlich zugenommen hat der Verkehr seit Eröffnung der Arlbergbahn deren kühner Schienenweg von Lindau und Bregenz aus mitten ins Herz von Tirol führt. Die Dampfschiffahrt auf dem See zeigt sich all diesen Ansprachen in erfreulichster Weise gewachsen. Gegen 50 Dampfer vermitteln den regen Verkehr zwischen den deutschen, österreichischen und schweizer Hafenstädten und all den anziehenden kleineren Ortschaften die den See mit seinen Ausläufern nach Ueberlingen und Radolfzell umkränzen. Und ob man nun vom bayrischen Lindau, vom württembergischen Friedrichshafen oder dem badischen Konstanz aus sich den alpenumrahmten Ufern von Vorarlberg und der Schweiz nähert, überall ist der Ausblick, den man vom Schiff aus genießt gleich reizvoll. Die ansprechende Einrichtung der schnellfahrenden Dampfer ist ganz dazu angethan, die Fahrt durch die erfrischende Seeluft, durch welche Möwen ihre Kreise ziehen, auch sonst zu einem Vergnügen zu machen. Und das bunte Gemisch der Touristenwelt bietet zudem auf dem Schiffe selbst den Augen genug des Interessanten zur Beobachtung. Auf der Erholungsreise, die der Ausspannung der Nerven dienen soll, läßt sich der Mensch leichter gehen als daheim. Die Sorge, was die lieben Nachbarn zu unserem Thun und Lassen sagen, entschlummert, wenn diese Nachbarn Fremde und Genossen auf fröhlicher Fahrt durch die Fremde sind. Das junge Ehepaar, das eben seine Hochzeitsreise angetreten, lebt, unbekümmert um die Mitreisenden, in vertraulichem Gespräch ganz seinem Glück. Und ein älteres, dem eine Kleinigkeit – wie das so vorkommt – zum Anlaß großer Verstimmung wurde, benutzt die Situation auf dem Schiffsdeck, um die innere Entfremdung auch äußerlich zu markieren. Trotzig verharrt der empfindliche Ehemann auf seinem Sessel, während seine noch empfindlichere, „schönere Hälfte“ über das Schiffsgeländer sich ihm „gänzlich abgeneigt“ zeigt. Sie ist ihres Sieges gewiß. Schon lächelt sie vor sich hin – sie kennt ihren Mann. Und bald werden beide, wieder versöhnt, lächelnd zusammen hinausschauen auf die sonnenbeglänzte lachende Bodenseelandschaft.P.     

Grants Grabdenkmal in New York.

Grants Grabdenkmal in New York. (Mit Abbildung.) Ulysses Sidney Grant war einer der größten Männer, die in den Vereinigten Staaten von Amerika gewirkt haben. Geboren am 27. April 1822 in Point-Pleasant in Ohio, erhielt er auf der Militärakademie von Westpoint militärische Ausbildung, nahm an dem mexikanischen Kriege in den Jahren 1845 bis 1848 teil und wurde in demselben zum Kapitän befördert. Bald darauf nahm er jedoch seinen Abschied und wirkte als Geometer und Farmer, bis ihn der Ausbruch des großen Bürgerkrieges wieder unter die Waffen rief. Als Oberst des 21. Illinoiser Freiwilligenregiments begann er im Juni 1861 diesen Feldzug, avancierte jedoch rasch und führte seine Truppen von Sieg zu Sieg. Schließlich wurde er zum Generalleutenant und Oberbefehlshaber aller Armeen der Nordstaaten ernannt. Als solcher führte er den Krieg zu Ende und zwang am 9. April 1865 seinen Gegner, General Lee, bei Appomattox Court House die Waffen zu strecken. In Anerkennung seiner Verdienste erhielt er den Rang eines Generals, der von der Regierung der Vereinigten Staaten für ihn eigens geschaffen wurde. In späteren Jahren wurde er als Kandidat der republikanischen Partei zweimal zum Präsidenten gewählt.

General Grant starb am 25. Juli 1885 zu Mount Mac Gregor im Staate New York und wurde, seinem Wunsche gemäß, am Hudson begraben. In einem bescheidenen Ziegelbau ruhte anfangs die Leiche in einem stählernen Sarge, bis ein Aufruf für die Errichtung eines würdigen Grabdenkmals für den großen Bürger der Nation erfolgte. Das Ergebnis der Sammlung erreichte die hohe Summe von 2 1/4 Millionen Mark. Am 27. April 1891 wurde der Grundstein zu dem Mausoleum gelegt und im laufenden Jahre am gleichen Tage, dem Geburtstage Grants, fand die Einweihung desselben statt. Es ist aus einem dem Marmor von Carrara ähnlichen weißen Granit erbaut und erinnert durch seine Säulenhallen an antike Vorbilder. Das stolze Mausoleum am Ufer des Hudson erreicht eine Höhe von 53 m und trägt auf seinem Giebel als Inschrift den Wahlspruch Grants: „Let us have peace“ – „Lasset uns Frieden haben“. Das Innere ist fast durchweg in italienischem Marmor ausgeführt und enthält neben kleineren Reliquarien, in welchen Andenken, Trophäen u. dergl. bewahrt werden, die Krypta, in welcher der aus dunkelgrünem Porphyr hergestellte Sarkophag steht.

Die Einweihung des Mausoleums am 27. April gestaltete sich äußerst glanzvoll. Sowohl der neue Präsident Mac Kinley wie der eben geschiedene Grover Cleveland waren anwesend, und unter den Botschaftern bemerkte man auch den deutschen, Baron M. v. Thielmann. Auf dem Hudson waren zehn amerikanische Kriegsschiffe und eine zahlreiche in vier Divisionen geteilte Handelsflotte erschienen. Auf dem Lande aber fand eine großartige Parade statt, denn zahlreiche Regimenter waren aus den entlegensten Staaten herbeigeeilt, und 70 000 Mann defilierten vor dem Grabdenkmal, um noch einmal dem Sieger von Appomattox zu huldigen.*      

„Stilleben“ von Abraham Mignon. (Zu unserer Kunstbeilage.). Unter den „alten Meistern“, welche das „Blumen- und Fruchtstück“ pflegten, ist Abraham Mignon einer der berühmtesten. Von Geburt ein Deutscher – er kam 1640 in Frankfurt a. M. zur Welt – gehört er der holländischen Schule an. Seine Lehrer waren die Blumenmaler Jakob Moreel und J. D. van Heem in Utrecht; namentlich der letztere wurde vorbildlich für die Entwicklung seines Talents. Obgleich Mignon nur 39 Jahre alt wurde, hat er doch eine große Zahl von Bildern hinterlassen, die alle den Vorzug ungemein feiner Ausführung haben. Durch den Glanz der Farbe, die Treue der Wiedergabe, den Reiz des malerischen Arrangements fanden diese Stillleben mit ihren Blumen, Früchten, Schmetterlingen, Käfern, Vögeln zahlreiche Bewunderer und schon bei Lebzeiten Mignons standen sie hoch im Preis. Alle jene Vorzüge vereinigt das Bild, das unsere Kunstbeilage heute wiedergiebt. Das Original hängt in der Dresdener Gemäldegalerie und führt dort im Katalog den Titel „Ein Vogelnest im Fruchtkorb“. Die üppige Fülle von Früchten aller Art, von Weintrauben, Pfirsichen, Aprikosen, Pflaumen, Kürbissen, Beeren, die in und um den Korb herum aufgehäuft sind, erhält einen großen malerischen Reiz durch das freie natürliche Arrangement, welches darauf ausgeht, einen Teil so darzustellen, wie die Früchte zwischen dem Laube am Zweige hängen. Lose darüber hingestreute Blüten, Blätter und Kornähren erhöhen noch diesen Reiz. Allerhand geflügelte Gäste, Bienen, Käfer, Vögel geben sich in dieser duftigen Welt leckerster Genüsse ein Stelldichein. Daß die Zeit, in welcher die Vögel Eier legen und die, in welcher die Traube reif wird, in Wirklichkeit etwas weit auseinanderliegen, war für den naiven Sinn des Malers kein Hindernis, in das Ganze das zierliche Nest mit den drei hellen Eierchen hineinzukomponieren. Um so treuer war er gegen die Wirklichkeit in der Darstellung all der farbenleuchtenden Einzelheiten.


☛      Hierzu Kunstbeilage XIII: „Stilleben“. Von A. Mignon.


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 24/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.