Die Heimath in der neuen Welt/Dritter Band/Zweiundvierzigster Brief

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Einundvierzigster Brief Die Heimath in der neuen Welt. Dritter Band
von Fredrika Bremer
Nachwort im Mai 1853
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Textdaten
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Autor: Fredrika Bremer
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Titel: Die Heimath in der neuen Welt, Dritter Band
Untertitel: Einundvierzigster Brief
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Auflage:
Entstehungsdatum: 1854
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Verlag: Franckh
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: Gottlob Fink
Originaltitel: Hemmen i den nya verlden. Tredje delen.
Originalsubtitel: Trettiondenionde brefvet
Originalherkunft: Schweden
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Erinnerungen über Reisen in den USA und Cuba
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Zweiundvierzigster Brief.
Nahant (Massachusets), den 1. Aug. 1851.

Gruß Dir und Kuß, mein Agathchen, an diesem kühlen, schönen Sonntagsmorgen, den ich auf einer Klippe mitten im Meer, umgeben von glitzenden, tanzenden Wogen feire. Ich bin bei Mrs. Bryant in ihrem Landhäuschen bei Nahant, einem kleinen Badort, etliche Meilen von Boston. Bostons Aristokratie hat da ihre Villen und Hütten, wo sie ein paar Monate im Jahr die Seeluft genießt oder badet, und hier in diesen niedlichen, von grünen, duftenden Pflanzen umschlungenen Wohnungen auf den kahlen Klippen ist ein ausgesuchter kleiner Gesellschaftskreis versammelt. Da ist die alte prächtige Mrs. Lee (Mutter der Mrs. Bryant) in ihrer Hütte; da ist Mr. Prescott, der treffliche Geschichtschreiber, mit seiner Familie, ferner der Prediger Bellows von New-York, Longfellows, Mrs. Skeyler, und mehrere andere interessante Personen, und man vergnügt sich heiter und gemüthlich bei kleinen Mittagessen oder bei Theesoupers an den Abenden. Die Americaner sind ein in hohem Grad gesellschaftliches Volk und lieben es nicht, sich ein- oder ihre Freunde auszuschließen.

Ich kam hieher, um Mrs. Bryant noch einmal zu sehen, die so freundlich gegen mich gewesen war; ich kam von Boston her, wo ich eine Woche bei meinem vortrefflichen Doctor Osgood zugebracht hatte, der, nachdem er mich als seine Patientin gesund gemacht, mich jetzt als Gast in seinem Haus glücklich machte, wo ich bloß einen stehenden Hader mit ihm hatte, nemlich daß er mich nicht schon früher seine Frau kennen gelehrt, eine jener glücklichen lieblichen Naturen, die für Alles, was sie umgibt, eine Quelle der Freude und des Friedens sind. Wiederum ein glückliches, liebereiches Ehepaar, wie es ihrer wenige gibt.

Von Boston aus machte ich einige kleine Ausflüge; einer von ihnen war nach Concord gerichtet, denn ich wollte Emerson und Elisabeth H. noch einmal sehen, ehe ich America auf immer verließ. Ich kann nicht recht sagen, warum ich es wollte; aber es war eine innere Nothwendigkeit für mich. Ich mußte Emerson noch einmal sehen.

Ich kam Nachmittags nach Concord und stieg bei Elisabeth H. ab. Wir gingen zusammen zu Emersons. Sie waren beide ausgegangen. Ich begab mich eine Weile in Emersons Arbeitszimmer, ein großes Zimmer, wo Alles einfach, geordnet, ungesucht, comfortabel ist. Kein feiner Schönheitssinn hat wie bei Downing das Zimmer in einen Tempel verwandelt, wo die Heroen der Wissenschaft und Literatur ihre Bilder haben. Im Heiligthum des stoischen Philosophen sind Zierrathen verbannt; comfortabel, aber ernsthaft stehen die Möbel bloß als dienende Werkzeuge da; ein einziges großes Gemälde ist im Zimmer sichtbar; aber dieses steht mit beherrschender Macht da; es ist ein großes Oelgemälde, Michel Angelos herrliche Parzen darstellend. Die drei Schicksalsgöttinnen sind nicht abschreckend; dafür sind sie trotz ihrer Unerweichbarkeit zu edel und zu schön. Schön ist besonders diejenige, welche den Lebensfaden in ihrer Hand hält. Diejenige, welche die Scheere hält, um ihn abzuschneiden, sieht die erstere mit einem fragenden mitleidigen Ausdruck an, und die Antwort dieser ist ein Lächeln der schönsten Gewißheit und Zuversicht. Der Blick des Sterblichen kann nicht darauf sehen, ohne sich mit Vertrauen in die Hände der unsterblichen mütterlichen Mächte hinzugeben.

Auf dem großen Tisch mitten in dem Zimmer, wo Emerson sitzt und schreibt, diesem Gemälde gegenüber, lagen einige sehr wohl geordnete Papiere. Still und schweigsam stand ich eine Weile im Zimmer. Emersons Geist schien mir in seiner ruhigen, reinen Luft zu walten.

Am Abend sah ich Emerson bei Elisabeth H. Er war freundlich und heiter, sich selbst gleich, wenn er in seiner liebenswürdigsten Laune ist. Ich wollte am folgenden Morgen abreisen. Diesem Plan widersetzte er sich mit aller Bestimmtheit. „O, nein, nein, daran dürfen Sie nicht denken,“ sagte er; „ich habe mir vorgenommen, Sie an einen unserer schönen, kleinen Waldseeen in der Nachbarschaft zu führen, und dann müssen Sie meine Mutter sehen und ihren Segen empfangen.”

Ich weiß nicht, ob ich Dir gesagt habe, daß Emerson seine Mutter bei sich hat, eine edle alte Dame, in deren Gesicht man manchen Zug entdeckt, der an den Sohn erinnert. Die alte Mutter war jetzt bettlägerig in Folge eines Falles, bei dem sie ihr Bein gebrochen hatte.

Emersons Freundlichkeit und diesen Worten konnte ich nicht widerstehen. Ich blieb. Tags darauf holte er mich im Cabriolet ab, das er selbst kutschirte, und führte mich auf den hübschesten Waldwegen zu einem kleinen See, der wie ein klarer Spiegel in dunkelgrünem Rahmen mitten im Walde lag. Der Platz sah aus wie ein Heiligthum zur Zusammenkunft freundlicher Naturgottheiten. Ich betrachtete die stille Scene, aber ich betrachtete auch Emerson, der mir, als er mit seinem gedankenvollen Lächeln am Ufer des Sees stand, als der menschgewordene Genius desselben erschien. Unauslöschlich bleibt dieses Gemälde meiner Seele eingeprägt.

Wir sprachen viel unterwegs, denn bei Emerson fühle ich mich immer auf eine ruhige und angenehme Art zum Gespräch angeregt. Aus der Unterhaltung dießmal ist mir hauptsächlich das im Gedächtniß geblieben, daß ich Emerson fragte, ob er nicht die Bildung der Staaten Neuenglands als abgeschlossen betrachte, und ob man in ihnen nicht einen Typus der fertigen americanischen Staatsgesellschaft erblicken könne.

„Ganz und gar nicht (by no means)”, antwortete er. „Hier sind derzeit eine Menge von Germanismen und andern Ideen aus Europa und auch aus Asien, die jetzt erst ins Gedankenleben einzudringen anfangen und neue Entwicklungen hervorbringen werden.“

Emerson glaubt offenbar, daß America die Bestimmung habe, in einer höhern Metamorphose die Ideen darzustellen, die im Verlauf der Geschichte in andern Welttheilen vorgebildet worden sind. Ueber die neuesten politischen Zugeständnisse, welche die nördlichen Staaten in Betreff des Asylrechts an die Sklavenstaaten machten, sprach er sich mit starker Mißbilligung, aber in seiner ruhigen Weise aus. Er hat sich auch öffentlich mit edlem Unmuth darüber ausgesprochen.

„Hier ist eine durch ihr gutes Wasser berühmte Quelle,” sagte E., indem er bei einigen hohen Bäumen an der Landstraße stehen blieb. „Darf ich Ihnen ein Glas geben?" Ich sagte dankend ja und nun stieg er ab, band die Zügel um einen Baum und kam bald mit einem Glas krystallhellen Wassers aus dem Brunnen zurück.

Ein Glas Wasser! Wie viel kann nicht in dieser Gabe liegen! Warum dieses hier für mich bedeutend wurde, kann ich nicht sagen. Aber es war so. Ich habe still in mir selbst mit Emerson gekämpft, seit ich ihn zum ersten Mal kennen lernte; ich habe mich gefragt, worin die Macht dieses Geistes über mich liege, da ich doch in so manchen Dingen seine Denkungsart mißbilligen mußte, da er mir in so vielen Stücken nicht genügte; worin seine geheime Zauberkraft liege, diese erfrischende, stärkende Wirkung, die ich in seinem Umgang und bei der Lectüre seiner Schriften stets empfinde. Nach diesem Labetrank von hellem Quellwasser aus seiner Hand verstand ich es. Just dieses reine krystallhelle Quellwasser in seiner Persönlichkeit und in seinen Schriften ist es, was mich erfrischt und immer aufs Neue erfrischen wird.

Ich habe in mir und außer mir, im Gespräch mit Andern, seinen blinden Bewunderern, gegen Emerson gekämpft. Ich werde ihm auch öffentlich entgegenstehen, in der Ueberzeugung meines Geistes von dem höchsten Recht und von dem Einen, was Noth thut.

Aber noch in später Zeit, fern von da, in meinem eigenen Lande und wenn ich einmal alt und grau bin, ja immer, immer werden Augenblicke kommen, wo ich mich nach Waldo Emerson sehnen werde, um von seiner Hand diesen Trank frischen Wassers zu empfangen.

Um Wein, erwärmenden, lebenerneuenden Wein zu empfangen, gehe ich zu einem Andern.

Emerson tauft mit Wasser; es gibt einen Andern, der mit Geist und Feuer tauft.

Emerson verlasse ich mit einem ungetheilten Gefühl der Dankbarkeit für das, was er mir gewesen. Ich kann andere vielleicht schönere, vollkommnere Gestalten zu sehen bekommen, aber nie werde ich Seinesgleichen wieder sehen.

Während meines Besuchs in Concord erfreute ich mich wieder an dem Umgang mit der seelenvollen tief fühlenden und denkenden Elisabeth H. Ich sah auch Margareth Fullers junge Schwester, Mrs. Channing, wieder, aber um zehn Jahre älter geworden; so sehr hatte der Kummer über das tragische Ende der reichbegabten Schwester auf die junge Gattin und Mutter eingewirkt.

Einen andern Ausflug aus Boston machte ich in Gesellschaft der guten Miß P., um das von Horace Mann gestiftete Seminar für Lehrerinnen in West-Newton zu besuchen, ihn selbst zu begrüßen und Maria Child zu sehen, die jetzt im seiner Nachbarschaft wohnt. Ich blieb bei einer Lection in der Anstalt, wo 50 bis 60 junge Mädchen sich zu Lehrerinnen vorbereiteten. Eine von ihnen bestieg den Catheder, während die andern auf den Bänken in dem großen, hellen, luftigen Saale saßen. Sie gab eine Lection über die Regierungsform der Vereinigten Staaten und examinirte die Andern darin. Das junge Mädchen war schön, ladygleich und höchst einnehmend in Wesen und Benehmen. Als sie von der Tribüne herabstieg, wurden die andern aufgefordert, sie zu kritisiren oder zu sagen, worin sie nach ihrem Dafürhalten gefehlt habe. Es erhoben sich einige Stimmen zu Bemerkungen. Eine von ihnen bemerkte, daß sie den Gruß beim Herabsteigen vom Catheder vergessen habe. Das Mädchen, das nach ihr auftrat, hatte ein ganz verschiedenes Wesen. Weniger schön und weniger ladygleich, war sie feuriger, bestimmter und hatte offenbar ein ungewöhnliches Talent. Sie lehrte und examinirte in geographischer Statistik und that dieß mit einer Lebendigkeit, die ihre Zuhörerschaft zu vollkommener Wachsamkeit und Aufmerksamkeit anregte. Auch sie wurde, als sie herabgestiegen war, wie ihre Vorgängerin kritisirt. So werden die jungen Frauenzimmer frühzeitig an die gewöhnlichen Folgen der Oeffentlichkeit und an Aufmerksamkeit auf sich selbst gewöhnt, die besonders für Schullehrerinnen so wichtig ist. Auch ihre äußere Haltung, ihre Bewegungen, ihr Gang u. s. w. werden hier Gegenstand der Aufmerksamkeit und Sorgsamkeit.

Bei einer Lehrerin darf sich Nichts vorfinden, was bei den Schülern Widerwillen oder Spott erregen kann. Große Schaaren junger Lehrerinnen werden von hier aus nach dem Westen oder Süden des großen Landes ausgesandt, wo sie bald von Schulen oder — Freiern in Anspruch genommen werden.

Horace Mann, diesen hoffnungsreichen, verdienstvollen Erzieher des jungen Geschlechtes, sah ich nebst seiner anmuthsvollen jungen Frau später in ihrer Wohnung. Ich wünschte ein gründliches Gespräch mit ihm über die Unzulänglichkeit der Schule als Erziehungsanstalt führen zu können, aber in Maria Childs Gesellschaft und Wohnung vergaß ich mich, bis die Eisenbahn abfuhr und ich nach Boston zurückkehren mußte. Diese edle feinfühlende Frau, diese begabte Schriftstellerin lebte hier auf einer kleinen Farm, beinahe wie eine schwedische Bäurin, und nicht in ihrem rechten Element. Eine kleine schöne Spanierin, eine von den Vielen, welche Mrs. Child aus der Noth gerettet hat, lebte hier bei ihr und war ihr in inniger Liebe zugethan. Freunde umgeben sie mit ihrer Sorgsamkeit. In America findet man es weniger als überall anderswo, daß eine Person einsam und verlassen dasteht, wenn sie es nicht verdient. Und wer viele Freunde verdient, der bekommt sie auch.

Während meines Aufenthalts in Boston interessirte ich mich lebhaft für die neue Zeichnungsschule für Frauenzimmer, die nach dem Vorbild der Schule in Philadelphia von Mr. Whiteacker aus London, aus dessen Augen die ganze Philanthropie Englands strahlt, daselbst angelegt wurde. Mehrere ehrenwerthe und vermögliche Herren sind bereit, mit Rath und That dazu beizutragen, weil sie sich für die Zukunft der jungen Mädchen interessiren. Ich wohnte einer Lection in der Schule bei und freute mich herzlich über die Aussichten, welche diese Schulen für Tausende von jungen Frauenzimmern und überhaupt für die Verschönerung des Lebens eröffnen. Ich denke an Schweden und an die schwedischen Mädchen, schwedischen Zeichenschulen, schwedische Kunst und Industrie, und ich werde warm von vielen Zukunftsgedanken.

In Boston war es übrigens jetzt so kalt und regnerisch, daß ich den ganzen Sommer nichts Aehnliches gesehen hatte. Seit der Sonnenfinsterniß im Juni ist es hier trübe und kalt gewesen, wie bei uns im October. Dieses americanische Klima springt beständig von einem Extrem zum andern über. Ich fror wie im Winter. Im Uebrigen bin ich gesunder als je, seit ich das Heimathland verließ, und das war auch sehr nöthig, um all die Mühseligkeiten auszuhalten, die ich jetzt durchmachen mußte. So z. B. war ich dieser Tage von sieben Uhr Morgens bis Abends halb zwölf in Thätigkeit und Gespräch, und zwar an fünf verschiedenen Orten, theils in, theils außerhalb Boston, und zwar immer mit verschiedenen Personen, mit denen ich mich auf interessante Gespräche, über Theologie, Kunst, Politik u. s. w. einlassen mußte, mit lauter Herren, die in diesen Gegenständen daheim waren; aber dieß macht mir eher Vergnügen, als daß es mich ermüdet. Unter meinen nähern Bekannten, die ich im vorigen Winter in Boston hatte, sah ich jetzt ein interessantes Frauenzimmer wieder, eine Miß Parsens, die zwar körperlich schwach ist, aber eine ungewöhnlich aufgeweckte Seele besitzt; sie ist nämlich Hellseherin ohne zu schlafen, und sie sagt den Inhalt der Briefe oder den Character und die Verhältnisse der Verfasser, wenn sie nur die Briefe verschlossen in ihrer Hand hat oder gegen ihre Stirne hält. Ich wollte an diese Art von Hellseherei nicht glauben; aber ich mußte daran glauben, als ich ihr einen schwedischen Brief von Dir in die Hand gab, ohne daß sie vorher erfuhr, wer den Brief geschrieben hatte, und ohne daß sie sonst Etwas von Dir wußte. Ueberdieß ist ihr Character über alle Charlatanerie erhaben. Aber diese klar sehende Seele lebt auf Kosten des Körpers, der nun gleichsam durchsichtiger und geistartiger wird. Im Hause meines guten Doctors sah ich mehrere theure Freunde aus Boston wieder und machte einige neue Bekanntschaften, z. B. mit dem unitarischen Prediger Doctor Gannet.

Montag.

In der Kirche von Nabant hörte ich gestern eine vortreffliche Predigt von Mr. Bellows — eine jener schönen Reden aus dem Mittelpunkt des Christenthums, wie sie am Meer gepredigt werden sollten, an dem großen Weltmeer, in welchem alle vereinzelten Wogen sich erheben und wie in einem gemeinschaftlichen Mutterschooß versinken, wie alle verschiedenen christlichen Secten und Confessionen im Ocean des christlichen Liebelebens.

Am Abend hatte ich das große Vergnügen, mit einigen gebildeten und denkenden Freundinnen über die Frauenzimmer Americas zu sprechen, über ihren Mangel an allseitiger Entwicklung; über ihre Theilnahmslosigkeit bei den höheren menschlichen Interessen und über den Mangel an Unterhaltungstalent, den man bei einer großen Menge vorfindet. Diese liebenswürdigen Frauenzimmer, die selbst in jeder Beziehung ausgezeichnet sind, kamen mir in meinen Bemerkungen entgegen und sahen wie ich keine andre Hilfe außer in einer tiefer gehenden Bildung und bürgerlichen Entwicklung. Es kommen allzuviele Zeichen zusammen, die dazu zwingen, wenn die Weiber sich die Achtung ihres eigenen Geschlechtes wie auch der Männer erhalten wollen. Die Männer haben im Allgemeinen jetzt mehr Galanterie gegen Frauenzimmer, als wahre Achtung für sie. Sie sind artig und nachgiebig gegen sie, aber sie betrachten sie offenbar mehr als hübsche Kinder, denn als vernünftige ihnen gleichgestellte Personen und sie machen sie nicht zu Ihren Gesellschafterinnen, wenn sie Nahrung für Seele und Gedanken suchen. Die wenigen schönen Beispiele, die man von einem entgegengesetzten, einem vollkommenen Verhältniß zwischen beiden Geschlechtern findet, können nicht als Regel betrachtet werden. Das Weib ist zwar die Beherrscherin im Hause und im Gesellschaftsleben, aber oft herrscht sie ebenso stark durch ihre Schwachheiten wie durch ihre Tugenden.

Wir sprachen von den Zeichen, welche das Herannahen besserer Verhältnisse andeuten. Wir sahen sie allmälig sich vorbereiten in dem öffentlichen Bewußtsein, und als einen Vorläufer betrachteten wir auch die Conventions of rights of women (Vereine für Frauenrechte), die seit einigen Jahren in den nördlichen Staaten gehalten zu werden anfangen. Das Trotzbieten darin ist ein vorübergehendes Moment, das von selbst zerfallen wird, wenn die Vollendung kommt. Viele tiefgehende und wahre Gedanken wurden in dem letzten großen Verein ausgesprochen, der im vorigen Jahr in Massachusets gehalten und von Tausenden von Frauenzimmern und Männern besucht wurde. Mehrere ausgezeichnete Sprecherinnen hielten da würdevoll und schön vortreffliche Reden.

Unter diesen Gedanken erinnere ich mich besonders einer Ausführung des Verhältnisses zwischen dem Leben und der Bildung der Vorzeit und der Neuzeit. Beschäftigungen und Lebenszwecke trennen die Gemüther jetzt nicht mehr wie früher. Der Mann lebt nicht vorzugsweise für den kriegerischen Beruf. Er übt nicht vor allen Dingen seine Körperkräfte und pocht nicht auf Waffenthaten. Sein Leben und seine Heldenthaten sind Thaten der Intelligenz geworden; beide Geschlechter sind in einer geistigen Lebenssphäre im Hause und im Gesellschaftsleben einander näher gekommen. Immer mehr wird die Frau die Gesellschaft und Hälfte des Mannes; seine Intelligenz, seine Seelenkräfte werden erlahmen oder zunehmen, je nachdem er bei ihr das trifft, was sie abstumpft oder belebt. Und wenn die Entwicklung der Frau gehemmt wird, so wird dieß auch auf ihn zurückwirken.

Dieß wurde weit besser, als ich es sage, von Mrs. Paulina Davis, der schönen Präsidentin des Vereins gesagt; ich sah die blasse Frau mit den edlen Gesichtszügen und dem reichen goldnen Haar in Boston bei meiner lieben Doctorin Miß Hunt.

Hier habe ich während eines stillen Gesellschaftslebens mit guten und gebildeten Menschen, in Verhältnissen, welche den Genuß aller Annehmlichkeiten und Comforts des Lebens gestatten, die reine frische Seeluft genossen. Das Landhaus der neuen Welt ist ein Typus des Schönen und Bequemen. Natur und Kunst vereinigen sich da, um den Menschen zu umfassen. Die Veranda, welche das Haus mit Blumen und Laubwerk reich an Schatten und Düften umgibt, bietet den schönsten Platz für stillen Genuß sowohl des Naturlebens als der Gesellschaft während der schönen Tage.

Den Geschichtschreiber Prescott hatte ich mir als einen alten Mann, niedergedrückt von Gedanken und Arbeiten, unter denen er beinahe sein Augenlicht verloren hatte, gedacht. Ich wollte meinen Augen kaum glauben, als ich in ihm einen großen lebhaften Gentleman erblickte, dessen Aussehen und Wesen weit mehr von einem Jüngling als von einem alternden Denker hatte. Sein Wesen und sein Gespräch regt den Geist sehr an, er ist voll von Leben.

Wir haben jetzt Mondschein, und die abendlichen Spazierfahrten an der Rhede entlang, während die Wogen schäumen und tosen, sind ein großes Vergnügen. Mrs. Bryant ist die angenehmste Wirthin von der Welt und die kleine Julia – – ach wer ein solches kleines Mädchen hätte!

Weiße Berge (New Hampshire) den 10. August.

Wiederum ein Stück wahren Lebens durchlebt, seit ich Dir zum letzten Mal in Nahant geschrieben. Zuerst die Reise von Salem am 3. August und daselbst im Hause des ehemaligen Maires Silsbee Gesellschaft und Händeschütteln mit 50 bis 60 Salemiten, unter welchen einige recht schöne junge Hexlein und einige ganz gute Freunde. Hierauf am nächsten Morgen rutsch fort nach Boston, mit meiner lebhaften und anmuthsvollen Wirthin Mrs. Silsbee, um daselbst mehrere Personen zu treffen und einer Lection in Mr. Whiteackers Zeichenschule anzuwohnen; ebenso einer andern in Mr. Bernards phonographischer Schule für kleine Mädchen, die sich dabei wie kleine Wunder benehmen, und dann ein Besuch bei Mrs. Holbrook, um sie noch einmal, ach das letzte Mal zu sehen. – Dann heim zu Osgoods, um Billete zu schreiben, Besuche zu empfangen, Zusammenkünfte auszumachen, Abschied zu nehmen u. s. w. Sodann rutsch auf der Eisenbahn nach Salem zurück zum Mittagessen und zur Abendgesellschaft. Dann einen Tag, um zu schreiben und (vergleichungsweise) auszuruhen unter stillen Promenaden, Spaziergängen und Gesprächen über Salems Hexenprozesse im Jahre 1692, bei welchen Prozessen dieselben Arten von Erscheinungen zu Tage kamen, wie bei uns in Dalekarlien einige Jahre früher. Und die Puritaner von Massachussets zeigten sich hier nicht weiser oder verträglicher als die weisen Männer bei uns. Auch im Freistaate der Pilger wurden eine Menge unschuldiger Personen, besonders Weiber, die man im Verdacht hatte, als besitzen sie die Kräfte und Künste von Hexen, eingesperrt, gefoltert und mehrere von ihnen hingerichtet.

Wir stehen jetzt, Gott sei Dank, solchen garstigen Scenen mehr noch durch den Geist als durch die Zeit so fern, daß wir davon sprechen, wie wir von Tollhausscenen sprechen, und uns darüber lustig machen, wenn wir bei gutem Humor sind.

Das war im vorigen Jahre in der Stadt Salem am großen Tag des 4. Juli; man feierte ihn daher mit einer großen historisch-humoristischen Prozession, worin auch die Hexenprozesse und ihre Personen, die Hexen sowohl als die Richter, in grotesken altmodischen Trachten karikirt figurirten.

Unter den historischen Bildern in der Prozession waren auch einige, welche die Entwicklung der Communikationen seit 50 Jahren in ihren wesentlichen Momenten darstellten. Zuerst erschien ein Reiter, der langsam einherritt, mit folgender Inschrift: „Von Salem nach Boston in 48 Stunden Zeit.“ Dann kam eine alte schwerfällige Diligence mit der Inschrift: „Von Salem nach Boston in 12 Stunden Zeit“; hierauf ein Eisenbahnzug mit der Inschrift: „Von Salem nach Boston in einer halben Stunde Zeit“; endlich ein electrotelegraphischer Eisendraht mit der Inschrift: „Von Salem nach Boston in gar keiner Zeit“ (in no time at all). Die ganze historische Prozession schien mir eines der sinnreichsten heitersten Volksfeste zu sein, wovon ich je gehört, und soll das größte Vergnügen verursacht haben. Die neue Welt, der es gänzlich an traditionellen Volksfesten mangelt (mit Ausnahme des großen Dankfestes), scheint eine neue Reihe von solchen mit vernünftigerem Inhalte, mit mehr Stoff für gesunde Gedanken und Gefühle, als die oft gedankenleeren Volksfeste Europas bieten, beginnen zu können. Unter den americanischen Festen habe ich von einigen schönen, sogenannten Blumenfesten in den Monaten Mai und Juni erzählen gehört, und diese Feste scheinen mir schöne Kinder des Geistes der neuen Welt zu sein. Aber noch ist der Arbeitstag hier im Lande so übermächtig, daß man sich mit Festen, wenigstens als Erzeugnissen eines bewußten, eigenthümlichen Volkslebens, nur wenig beschäftigen kann.

Am 7. August reiste ich von Salem nach den weißen Bergen und zwar in Begleitung von Mrs. Silsbee und ihrem jungen Sohne. Ihr freiwilliges Anerbieten, mir bei diesem Ausflug Gesellschaft zu leisten, war mir äußerst angenehm, weil ich ihr ganzes Wesen und ihren Umgang sehr liebe, und weil ich, indem ich die Reise mit ihr mache, großen Parthien und großen Gesellschaften ausweiche, freien Umgang mit den Bergen, den Wasserfällen und den Wäldern pflegen und Alles, was ich sehen will, auf die ruhigste und angenehmste Art von der Welt sehen kann.

Die erste Tagreise war dem Schäkerstaat in Canterbury am Merrimacfluß in New Hampshire gewidmet, denn ich wünschte die botanischen Gärten dieser sonderbaren Secte zu sehen und von ihr selbst etwas mehr kennen zu lernen. Ich hatte von meiner kleinen Aerztin in Boston, Miß Hunt, die sich zuweilen in Berufsgeschäften dort aufhält, einen Brief an die geistliche Familie dieser Schäkergesellschaft. Wir fuhren auf der Eisenbahn nach New Hampshire und hielten in einem Walde an, von wo wir einen besondern Wagen nehmen wollten, um nach dem einige Meilen entfernten Schäkerdorf zu fahren. Nach verschiedenen kleinen Schwierigkeiten bekamen wir einen Karren mit einem Sitz darauf, wo Mrs. Silsbee und ich neben einander Platz hatten; unser Kutscher saß vor uns halb auf einem kleinen Brett, halb uns auf den Knieen. So zogen wir sanftmüthig mit einem sanftmüthigen Pferd auf schmalen sandigen Wegen durch den Wald dahin. Es begann zu regnen, zuerst ganz fein, dann immer dichter und stärker. Wir spannten unsere Schirme auf und saßen geduldig zwei bis drei Stunden lang da. Aber recht froh wurden wir, als wir endlich quer durch den Regenschleier hindurch in der Entfernung auf grünen Höhen die heitern, gelben, zweistockigen Häuser des Schäkerdorfes erblickten.

Ungefähr wie nasse Hühner kamen wir aus unserm Karren hervor, aber bald öffnete sich uns gastlich eine Thüre, und zwei junge Schwestern mit sanften, blassen Gesichtern führten uns ins Gastzimmer. Hier war Alles so fein, so sauber und geputzt wie in einer Dockenstube. Ich übergab meinen Brief und sah seine gute Wirkung sogleich in einer größern Freundlichkeit und in den herzlichen Ausdrücken, womit man nach Harriet Hunt fragte.

Es war spät, als wir kamen. Die guten Schwestern regalirten uns mit Thee, mit gutem Butterbrod, Sülzen u. s. w., und auf meine Bitten sangen sie dabei einige geistliche Lieder. Ihr Wesen war still und nicht heiter, aber innig mild und friedlich. Nach dem Abendessen führten sie uns auf unsre Schlafzimmer, zwei große heile Zimmer, ohne alle unnöthige Zierrathen, aber durchaus sauber und bequem. Schwester Lavinia sorgte ganz besonders für uns.

Einige Lichtscheine im Westen hatten mich beim Sonnenuntergang auf einen hellen morgigen Tag hoffen lassen, und ich täuschte mich nicht. Die klarste Sonne leuchtete am Morgen über den Schäkerwohnungen und der idyllisch freundlichen Gegend, welche sie umgab und zum großen Theil ihrer Gesellschaft gehörte. Keine Wohnungen außer den ihrigen waren in der einsamen Gegend zu sehen. Zunächst um diese her war Alles so still, so geordnet, als ob es gar kein Arbeitsleben an Ort und Stelle gäbe. Dieses fand sich jedoch vor, aber so still und schweigsam, daß es uns beinahe geisterhaft erschien.

Nach dem Frühstück, welches die Schwestern reichlich und gut servirten, fragte man uns, ob wir die Schule sehen wollten, und als wir es bejahten, wurden wir in einen geräumigen Saal geführt, wo ungefähr 20 gut gekleidete junge Mädchen von einer Lehrerin unterrichtet wurden. Diese Lehrerin, die ich Dora nennen will, war noch ganz jung und von seltener Schönheit. Auch hatte ihre Gesichtsfarbe nicht die Blässe, die bei den Frauen in diesen Gesellschaften gewöhnlich ist; ihre Wange war frisch wie die Morgenröthe, und ein schöneres Augenpaar als das ihrige habe ich nicht gesehen; sie ließ die kleinen Mädchen eines von ihren symbolischen Spielen aufführen.

Man stellte sie in einen weiten Kreis, jede drei bis vier Schritte von der andern entfernt. So begannen sie melodisch Verse zu singen, die ich nicht wortgetreu wiedergeben kann, deren Inhalt aber folgender war:

Soll ich hier alleine stehen,
Niemand haben, der mich liebet,
Niemand haben, der mein Freund ist,
den ich wieder lieben könnte?

Hierauf näherte sich ein Mädchen einem andern, sie nahmen sich bei den Händen, legten sie an ihre Herzen und sangen:

Nein, o komm, Du liebe Schwester,
komm, ich will Dir nahe sein,
will Dir treue Freundin sein,
Deine Sorgen sind die meinen,
meine Freuden sind die Deinen,
hier wird Niemand ausgeschlossen,
aus dem trauten Schwesternkreise.

Alle Kinder reichten einander die Hände und bewegten sich in langsamem Kreistanz, indem sie die letzten oder ähnliche Worte wiederholten. Hierauf rückten sie immer näher zusammen und umflochten einander mit ihren Armen, bis sie wie ein Blumenkranz dastanden. Sodann sanken sie auf die Kniee und stimmten eine Hymne an, die also begann:

Himmlischer Vater, blick in Gnaden
auf die kleine Schaar herab,
die Dein Name hat versammelt.
Gib uns Deinen Geist u. s. w.

Nach dem Gesang und noch knieend küßten die Kinder alle einander. Der schöne symbolische Sinn, welchen das ganze Spiel enthielt, die Einfachheit und innige Lieblichkeit, womit es ausgeführt wurde, der Gedanke an den Unterschied zwischen dem Sinn dieses Spiels und der bittern Wirklichkeit für manche einsame Geschöpfe in der großen Gesellschaft auf Erden rührte mich tief. Ich konnte meine Thränen nicht zurückhalten. Auch Mrs. Silsbee war innig gerührt. Von diesem Augenblick an waren die Schäkerschwestern unsere Freundinnen und Schwestern und umfaßten uns mit der größten Herzlichkeit. Noch ein schönes, denkwürdiges Lied: „Sprich freundlich” wurde von den Kindern sehr gut gesungen und entwickelte in mehreren Versen die wohlthätige Wirkung des „sanften Wortes;” es ist dieß ein Lied, das alle Kinder lernen und alle Erwachsenen sich wohl ins Gedächtniß einprägen sollten. Es war mir unerwartet, die Kinder hier auch in der Grammatik, im Schreiben, Rechnen, Geographie und mehreren andern weltlichen Zweigen des Wissens wohl geübt zu sehen. Zur Aufmunterung und Belohnung für Fleiß und Wohlverhalten erhielten sie farbige Kärtchen mit gedruckten Denksprüchen oder Ermahnungen, worin es auch an dem einen und andern Sporn zu erlaubtem Ehrgeiz nicht fehlte.

Aus der Schule gingen wir in die Zimmer, wo die feinen Wollegewebe verfertigt wurden, wofür diese Schäkergesellschaft berühmt ist. Im einem Zimmer sahen wir eine Nähmaschine, die von selbst wollene Jacken nähte und in weit kürzerer Zeit drei Stücke verfertigte, als zwei Menschenhände brauchen, um ein einziges zu Stande zu bringen. Diese Maschine, die beinahe ganz selbst für sich zu sorgen schien, sah äußerst curios und etwas zauberhaft aus. Von da machten wir einen Besuch in der Milchkammer und in den Zimmern, wo der Käse bereitet wird, und wo eine Menge frischer colossaler Käse von dem guten Zustand des Viehhofs zeugte. Die schöne, tüchtige Schwester, die diesem Departement vorstand, liebte es so sehr, daß sie, obschon es ihr freistand, es gegen ein anderes zu vertauschen, seit mehreren Jahren dabei geblieben war. Hierauf gingen wir in die Küche, wo ich sechs blühende, schöne junge Mädchen als Küchenmägde fungiren sah. Man war gerade beschäftigt, große Torten zu backen. Die jungen Schwestern blühten wie Rosen und waren geneigt, ins heiterste Lachen auszubrechen, sobald man ihnen Gelegenheit dazu gab. „Sehen Sie ihnen wohl auf die Finger, Schwester,” sagte ich scherzend zu der Präsidentin. Und die sechs schönen Schwestern lächelten so hübsch und gutmüthig, daß es eine wahre Lust war, es anzusehen.

Aus den medicinischen Gärten, wo Sassaparille und mehrere wohlthätige Kräuter gepflanzt wurden, gingen wir in das Haus, wo man sie reinigte und einlegte, und wo man auch Rosenwasser destillirte.

Endlich wurden wir in den Nähsaal geführt, welcher zugleich der Saal ist, wo die Alten beisammen sitzen. Hier in dem großen, hellen, reinlichen Saal saßen sie in hellen, meist weißen Kleidern und auch mit hellem, freundlichem Gesichte. Man konnte kein freundlicheres Bild des Alters und seiner Pflege sehen. Hier versammelten sich jetzt viele von den Schwestern um uns, und wir hatten Gespräche und Gesänge, und ich sagte den Schwestern auf ihren Wunsch einen schwedischen Psalm vor. Ich wählte den: „I hebe meine Hände zu Gottes Berg und Haus empor.“ Sie fanden, daß es hübsch klinge und ich sang mit ihnen verschiedene von ihren Liedern, die recht schön waren, während der Tact auf gewöhnliche Art durch Bewegungen der Hände angezeigt wurde.

Eine Schäkerin von mittlerem Alter kam auf mich zu und sagte in einem gewissen heftigen und herausfordernden Ton zu mir: „Die Schäker sind die besten und gottesfürchtigsten von allen Menschen in der Welt.” — „O, Schwester, sagen Sie das nicht,“ erwiederte ich, „denn das ist eine hochmüthige Rede, und Hochmuth ist nicht gut oder gottesfürchtig." Die Schwester sah etwas verblüfft aus, und da mehrere andere sich um uns sammelten und mir durch Nicken und Lächeln ihren Beifall zu erkennen gaben, so zog sich die erste zurück. Die andern lauschten bereitwillig und gaben sogar zu, was ich noch weiter von der Versuchung zu geistlichem Hochmuth sagte, der ich ihre Secte ausgesetzt glaube. Eine der Frauen erkor mich hierauf ganz besonders als Freundin; eine andere umfaßte Mrs. Silsbee mit derselben Zuneigung, und sie begleiteten uns dann überall hin. Später zeichnete ich Schwester Dora ab, die ihre Einwilligung unter der Bedingung gab, daß ich ihren Namen nicht veröffentlichen dürfe, „denn,“ sagten die Schwestern mild, „wir sind an solche Dinge nicht gewöhnt.“ Dora gehörte der geistlichen Familie in der Gesellschaft an, und hatte, sagte man, Eingebungen. Gewiß ist, daß ich einen gedankenvolleren, inspirirteren Blick als den ihrigen nie gesehen habe, und ihre reine Schönheit zog mich immer mehr an, während ich das edle, feine Profil abzeichnete. Ich zeichnete auch Lavinia. Sie hatte nicht Dora’s strenge Schönheit, dagegen aber die mildeste Anmuth.

Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr mir Alles gefiel, was ich den ganzen Tag über von dieser kleinen Gesellschaft sah, und wie bewundernswürdig ich die Ordnung und Nettigkeit in Allem fand, von den Schwestern selbst an bis zu Allem, was sie unter ihren Händen hatten. Die männliche Bevölkerung der Gesellschaft war mit der Ernte beschäftigt und ich sah von ihr nur einige wenige Repräsentanten. Diese schienen mir entweder einen düstern, beinahe fanatischen Ausdruck, oder auch sehr wohl genährte Körper ohne allen geistigen Ausdruck zu haben. Die guten Schwestern, die uns jetzt als ihre Freundinnen betrachteten, schenkten uns eine Menge Sachen aus ihrer Verkaufsbude, Werkzeuge, Riechwasser, Kuchen von Ahornzucker u. s. w. Und als wir am folgenden Tag abreisten und für unsern Aufenthalt bezahlen wollten, gab man uns zur Antwort: „Wir nehmen von unsern Freunden keine Bezahlung an,” und sie nahmen auch nicht das Geringste. Ein geräumiger, mehrsitziger Reisewagen wurde für uns mit zwei muntern Pferden bespannt, und unser Kutscher war ein untersetzter Schäkerbruder, den kein Schäkertanz weniger fett und blühend zu machen vermocht hatte.

Einige der Schwestern bedurften, sagte man, einer kleinen Bewegung in freier Luft und sollten bis an die Eisenbahnstation mit uns fahren. Zartfühlender und schöner konnte unmöglich eine Artigkeit erwiesen werden. Und da saßen wir jetzt auf Büffelhäuten, Mrs. Silsbee zwischen zwei Schäkerinnen und ich zwischen zweien, wovon die eine die sanfte Lavinia war, zwei andere noch auf dem Sitz hinter uns, und so zogen wir durch den Wald, während der Schäkerbruder, ein heiterer, lustiger Gesell, nebst den Schwestern geistliche Lieder anstimmte, worunter einige recht charakteristische waren, wie z. B.

Ihr Bäume und Büsche tanzet,
ihr Ströme steiget hoch,
der Friedensfürst kommt u. s. w.

So fuhren wir sieben englische Meilen, bis wir

endlich an die Eisenbahnstation kamen. Und hier blieben die Schwestern bei uns, bis der Zug kam, und erfreuten sich an den Portraits und Zeichnungen in meinen Skizzenbüchern. Etwas für die Fahrt zu bezahlen, davon war gar keine Rede. Die Schwestern bedurften einer Motion und hatten sich ein Vergnügen daraus gemacht, bei uns zu sein u. s. w. Es ist nicht möglich, sich mit einer natürlicheren und vollkommeneren Feinheit zu benehmen, als die Schäkerinnen gegen uns. Mit herzlichen Händedrücken verabschiedeten wir uns. Viele von diesen Schwestern genossen offenbar keiner guten Gesundheit. Ich schreibe dieß weniger ihrer sitzenden Lebensweise zu, als ihrer Diät, die ich nicht für gesund halte. Viel Buttergebäck zu essen, das müßte den Gesundesten in diesem Lande krank machen.

Die Schäkergesellschaft von Canterbury besteht aus ungefähr 4–500 Personen. Unter den jungen Frauen waren da unendlich mehr schöne Gesichter als unter der Gesellschaft von Neulibanon. Die Trachten waren die gleichen und die Gebräuche ebenfalls. Und zu diesen gehört, daß man wie die Quäker zu Jedermann „Du“ sagt und yea und nay statt yes und no. Sie legen großes Gewicht auf wohlwollende und freundliche Behandlung von einander in Worten und Handlungen. In ihren großen Familien suchen sie das Liebesleben zu schaffen, welches die schönste Blume der kleinen Familie ist. Arbeit und Gebet und gegenseitige Liebesdienste sind ihr tägliches Leben. Von der Regierung dieser kleinen Gesellschaften habe ich Dir schon früher geschrieben. Die in Canterbury bezieht ihre Haupteinkünfte aus Erzeugnissen des Viehstandes, aus der Zubereitung medicinischer Kräuter für pharmaceutische Bedürfnisse und aus Wollegeweben.

Diese Schäkerstaaten sind die vernünftigsten und wahrscheinlich beglückendsten von allen Klostereinrichtungen. Ich wäre froh, wenn sich in allen Ländern ähnliche vorfänden. Man mag sagen was man will und es im großen Staat so gut einrichten, als man will, man wird doch immer Orte bedürfen, wohin die Schiffbrüchigen im Leben, die Lebensmüden oder die Einsamen und Schwachen fliehen können, um eine Freistätte zu erhalten, und wo ihr guter Wille und ihre Arbeitskräfte bei einer klugen, liebevollen Verwaltung nützlich gemacht werden können, wo die Kinder des Unglücks oder des Elends in Reinheit und Liebe erzogen werden können, wo Mann und Weib in geschwisterlichem Wohlwollen und Freundschaft unter gemeinschaftlicher Thätigkeit zu gegenseitigem Nutzen und Frommen zusammentreffen und mit einander umgehen können. Das können sie hier. Der Schäkerstaat ist, abgesehen von einigen kleinen, bornirten Eigenheiten, einer der besten kleinen Staaten in der Welt, und einer der nützlichsten innerhalb des großen Staates.

Diese Secte wird im Allgemeinen gar nicht verstanden. Man meint, ihr tanzender Gottesdienst sei die Hauptsache, und dieser könnte ebensogut auch wegbleiben, obschon ich für meinen Theil ihn gerne in seiner symbolischen Bedeutung beibehalten will, wie auch die himmlischen Kinderspiele, die ich diesen Morgen sah.

Es gibt 17 oder 18 Schäkergesellschaften in den Vereinigten Staaten (in den freien); aber die in Neu-Libanon ist die Muttergesellschaft und die andern stehen zu ihr im Verhältniß des Gehorsams. Die Secte scheint in den letzten Jahren nicht zuzunehmen, aber auch nicht abzunehmen. Jedes Jahr kommen vereinzelte Männer oder Weiber und auch ganze Familien, um die Lücken auszufüllen, die durch Todesfälle oder den Austritt von Mitgliedern aus der Gesellschaft entstanden sind.

Gegen Abend hatten wir eine schöne Dampfschifffahrt über den großen Binnensee Winnepaseogee (das Lächeln des großen Geistes), der mit kleinen Inseln überstreut, von steilen Berghöhen umschlossen ist und großartige Aussichten nach den weißen Bergen zu hat. Mount Washington, Mount Jefferson, Adams, Lafayette und andre republikanische Heroen winkten uns in olympischer Majestät im Glanze der hellsten Augustsonne. Es war der schönste Sonnenuntergang über dem stillen lächelnden See. Als die Sonne hinter den Bergen hinabgesunken war, kamen wir am Ufer an und erhielten im Wirthshaus allda ziemlich gute Zimmer. Der Abend war kühl und klar, es war mir ein Hochgenuß, mich in der Bergregion zu befinden, und ich freute mich sehr den Riesen näher zu kommen. Alles war ruhig und still um uns her. Aber spät am Abend kam eine Mammuthparthie von 40 oder 50 Personen, Herrn und Frauenzimmer, die gleich uns nach den weißen Bergen gehen wollten und das Hotel im Sturm einnahmen. Mrs. S. und ich waren etwas böse auf die Gesellschaft, theils wegen des Lärms, den sie machten, theils weil sie uns überall, wo wir ihnen in den Weg kamen, so starr ansahen. Aber am Morgen versöhnten wir uns gründlich mit ihnen, als sie mir einen Gruß schickten und sagen ließen, daß sie mir bei meiner Abreise Etwas singen wollen. Mrs. S. und ich saßen auf Büffelhäuten in dem offenen Reisewagen, als die Gesellschaft sich vor dem Hause versammelte und im Quartett das rührende schöne Lied: „Holde Heimath!” anstimmte. Die Sänger standen auf der Piazza; um sie herum und um unsern Wagen herum waren gewiß hundert Personen versammelt, alle mit freundlichen, aber ernsten Gesichtern. Es war Sonntag Morgen; der Himmel war klar und dunkelblau nach dem gestrigen Gewitterregen, die Luft war frisch und rein wie in Schweden.

Ich sah den klaren Himmel an und dachte an meine Heimath und die Meinigen; ich lauschte dem melodischen Gesang: „Holde Heimath! holde: Heimath!" Das Herz schwoll und die Augen wollten sich nicht trocken halten. Einen schöneren Morgengruß habe ich nie bekommen. Mit ihm in der Tiefe des Herzens und winkend, grüßend, Kußhändchen werfend, fuhren wir in unserem offenen Wagen fort und in die grüne Gebirgsgegend ein.

Ein riesenstarker New Hampshirer Farmer kutschirte uns mit seinen raschen und doch frommen Pferden; der Wagen glich einem unserer gewöhnlichen Reisewagen, ruhte aber diesen ungleich auf weichen Federn, und man saß sehr bequem. Wir fuhren und waren vergnügt, denn die Luft war krystallrein, die Hitze nicht stark, Staub fand sich nicht vor, der ganze Weg war mit schönem, jetzt nach dem Regen frischgrünem Walde belaubt, und vor uns hatten wir die großen Berge, denen wir immer näher kamen. Diese hatten jetzt keinen Schnee auf ihren Scheiteln, sie zeigten sich mehr grün als weiß, und Mount Washington umgab sich da und dort mit einem Kranz von leichten Wolken. Die Natur um uns her erinnerte an die nördlichen Gebirgsgegenden im mittleren Schweden. Die Fichte und die Tanne sind hier zu Hause, und unter ihnen wachsen Heidelbeeren, Himbeeren, Schlangengras u. s. w. Doch wächst hier auch Mais, Zuckerahorn, der Wallnußbaum, die Kastanie nebst andern Pflanzen und Bäumen, die einer südlicheren Natur angehören. Ich kann Dir nicht sagen, wie sehr ich mich an dieser ruhigen, frischen Fahrt im offenen Wagen in der stillen, sommerheitern Gebirgsgegend erfreute; wie frisch und angenehm ich sie fand im Vergleich mit Fahrten in verdecktem Wagen oder auf der Eisenbahn, welche letztere schon nach ein paar Stunden für Seele und Leib qualvoll ermüdend wird. Aber hier saßen wir den ganzen Tag wach und munter. Mount Washington stand die ganze Zeit als unser Ziel vor uns. Dieser Berg, der größte und höchste unter den weißen Bergen, ist bloß 3000 Fuß hoch über der Erdoberfläche, hat aber einen höchst markirten Charakter. Er ist massiv pyramidalisch, ohne Spitze. Der Gipfel ist ein Plateau, in der Ferne denjenigen nicht unähnlich, welche die Vulcane darbieten. Aber darin unterscheidet sich der Gipfel des Washingtonbergs von den Vulcanen, daß er keinen Krater hat, sondern eine Quelle süßen Wassers. Tiefe Furchen, wilde Bergströme durchziehen die Seiten des Berges. Die andern Berge, welche sich in langen Ketten an diesen anschließen, gleichen ihm, sind aber minder bedeutend. Alle steigen in langen abhängigen Pyramiden hinan und haben abgerundete Gipfel oder Rücken.

Als wir den Bergen näher kamen und der Tag sich zu Ende neigte, wurde es kühl. Die Riesen hüllten sich in graue Nebelmäntel und hüllten uns mit ihnen ein; sie empfingen uns nicht freundlich. Dennoch fühlte ich mich freundlich gegen sie gestimmt und ließ mich mit einem gewissen Vergnügen von ihrem kalten Athem umwehen. Mein Freund, der Mond, stieg auf, kämpfte eine Weile mit den Nebelgeistern und sah aus ihnen mit klaren freundlichen Blicken auf uns herab. Mein Freund wollte mir wohl, das fühlte ich ganz deutlich. Aber er vermochte die grauen Mäntel nicht vollständig zu durchdringen. Tiefer und tiefer kamen wir in den Schooß des Berges auf den einsamen Wegen, wo wir den ganzen Tag nicht einem einzigen Menschen begegneten. Schon ist die Nacht da. Ist es der Einfluß der Riesen, aber ich empfinde keine Müdigkeit im Verhältniß zur langen Tagreise und ich könnte gerne die ganze Nacht durch fahren. Erst gegen Mitternacht kommen wir an den Gasthof, wo wir alle Mühe haben, durch Poltern an die Thüre den Wirth wach zu bekommen. Endlich gelingt es, und der Wirth, schläfrig aber freundlich und gefällig, schafft uns Feuer und Alles, was wir zur Erfrischung und Nachtruhe bedürfen.

Den 11. August.

Ein schöner, klarer Morgen, ein bezaubernder Morgenspaziergang! Morgenthau auf dem Gras, in der Seele, im Leibe. Erinnerungen an den Walagesang, an seine Prophezeiung von Erneuung, von Menschen, die aus Morgenthau geboren werden. Dem Himmel sei’s gedankt, ich habe in der neuen Welt einige von dieser Art kennen gelernt. Sie leben in meiner Seele, sie verweben sich mit den Bildern der Phantasie, und sie waren lange geahnt und gehegt in der stillen Werkstatt der Seele. Sonderbar! Unter dem milden Himmel Südcarolinas und des Wendekreises wollte ich bloß ruhen, genießen und genießend lobpreisen. Hier genieße ich auch, aber anders. Die Seele ist kräftiger, lebhafter. Sie empfängt bloß um wiederzugeben. Sie will produciren und wirken. Das dramatische Leben in den Bergen und Bergströmen, in den Wäldern, Wolken und Sonnenstrahlen weckt das dramatische Leben in mir und ruft Bilder und Scenen ins Leben, die seit 15 bis 20 Jahren in mir brach gelegen hatten. Sie und ich feiern diesen Morgen ein Auferstehungsfest. Die Haine sind voll von Vogelsang. Heute Nachmittag fahren wir weiter.




Franconia Notch (Frankenkarte) Lafayette Haus, den 15. August.

Im Schooße der weißen Berge habe ich seit meinem letzten Schreiben gelebt, herzlich erfreut von der Gesellschaft der Riesen und dem phantastischen Spiel der Wolken mit ihnen, von den Gesängen und Tänzen der Bäche in den tiefen Thälern, von dieser ganzen kühnen und starken Natur, worin ich mich heimisch fühlte, wie in Schweden, in den herrlichen Flußthälern Dalekarliens oder Nordlands. Doch ist die Natur hier pittoresker, spielender und phantastischer, sie hat mehr heitere Aufzüge, und der Reichthum an Baumarten und schönem Laubwald in den Thälern ist außerordentlich; man geht oder fährt unaufhörlich zwischen den zierlichsten Hecken von Hasel- und Erlenstauden, von Sumach (einer sehr schönen, in America allgemeinen Buschpflanze), Zuckerahorn, gelben Birken, Fichten, Tannen und einer Menge anderer Bäume und Büsche, und überall singen und brausen silberhelle Bergströme durch die Thäler.

In gewissen Theilen dieser Gebirgsregion war es so kalt, daß ich manchmal ganz steife Finger bekam und nur mit Mühe die Feder führen konnte. Aber meine Seele und mein Leib befanden sich wohl, und Mrs. Silsbee ist eine ebenso frische und erfrischende Natur, wie die Natur hier mit ihren Höhen, ihren singenden Strömen, ihren wogenden Blumen und Gebüschen.

Eine Eigenheit in diesen sogenannten weißen Bergen sind die vielen riesigen Menschengesichterprofile, die an manchen Orten aus den Bergen hervorschauen, und zwar mit einer Bestimmtheit und Regelmäßigkeit, die wirklich in Erstaunen setzt. Sie haben mir viel Freude gemacht und ich habe mehrere von ihnen auf meinen Wanderungen abgezeichnet. Wir wohnen hier ganz nahe bei einem dieser Gesichter, das längst unter dem Namen „der Alte vom Berge” bekannt ist. Es hat nichts Edles in seinen Zügen, sondern gleicht einem alten Gesellen, der in schlechtem Humor und mit der Nachtmütze auf dem Kopf halb neugierig aus dem Berge auf die Welt herunterschaut. Tief unter dem Gesicht des Riesen ist ein allerliebster kleiner See, der einem klaren, ovalen Toilettenspiegel in grünem Laubrahmen gleicht. Der Alte vom Berge sieht düster aus über dem stillen See, und die Wolken gehen tief unter seinem Kinn. Ein anderes Gesicht zeigt einen Krieger mit Helm und starkem Backenbart von prächtigem Moos, offenbar einen von Thors Burschen. Einige Gesichter schmeichle ich mir selbst entdeckt zu haben. Das eine, das man fern gegen den blauen Himmel hin sieht, ist ein schönes Frauengesicht, das mit unaussprechlicher Wehmuth emporschaut. Eine alte Fichte steht wie ein Kreuzeszeichen über ihrem Kopf; die Stirne ist von einem Diadem umgeben, das wallendem Haare gleicht. Es ist ein höchst merkwürdiges Profil, merkwürdig besonders durch die weiche Schönheit von Lippen und Kinn. Unter diesem edlen Gesichte sieht man, wenn man sich ein paar Schritte zurückzieht, ein anderes häßliches und grimmiges, mit einer großen Warze auf der Stirne. Offenbar ein garstiger Riese, der hier eine schöne Prinzessin gefangen hält! Ich sehe noch eine Menge anderer Gesichter hervorschimmern und würde sie sicherlich klar ausmitteln, wenn ich Zeit hätte, noch länger in der Gesellschaft der Riesen zu verweilen. Man sagt, daß die Indianer diese Gesichter verehrt, ihnen als Gottheiten geopfert und mancherlei Legenden von ihnen gehabt haben. Dies ist wahrscheinlich. Die Besieger und Nachfolger der Indianer haben hier keine andere Spuren, als von einigen tragischen Ereignissen hinterlassen. Eine Stelle heißt Nanceybrücke, nach einem jungen Mädchen, das hier im Schnee erfroren gefunden wurde. Sie war die Tochter eines Farmers in der Gegend und hatte eines Abends einen Streit mit ihrem Geliebten gehabt, der sie in Folge desselben im Zorn verließ. Sie folgte ihm verzweiflungsvoll, aber die Nacht und der Schnee überraschten sie. Sie erfror und ihr Liebhaber wurde wahnsinnig.

Nicht weit steht im Thale das sogenannte Wileyhaus, das jetzt verlassen ist. Vor einigen Jahren wohnte eine große Familie da. Eines Nachts wurde sie durch ein entsetzliches Gekrache und Getöse aus dem Schlafe geweckt, – es war offenbar eine große Lawine, die vom Berge herab gegen das Haus stürzte und es begraben mußte. In der finstern Nacht stürzte die Familie aus dem Haus, um einen Platz zu erreichen, wo sie sich außer aller Gefahr glaubte. Aber die Lawine nahm ihre Richtung jetzt nach diesem Platze und begrub die ganze geflüchtete Familie von neun Personen. Das Haus, aus welchem sie geflohen waren, blieb vollkommen unbeschädigt. Hawthorne hat dieses tragische Ereigniß zum Gegenstand einer seiner hübschesten Erzählungen gemacht, welche den Titel führt: „Der ehrgeizige Gast.“

Man pflegt jetzt den Berg hinaufzufahren, von welchem die Lawine kam, um von da aus das Thal zu betrachten. Und just so eben ist ein sechsspänniger Reisewagen mit 20 bis 30 Personen rasch und munter vom Hotel weg und den Berg hinan gefahren. Mrs. Silsbee und ich haben den Vorschlag hinaufzufahren abgelehnt, ebenso habe ich dem Plan entsagt, Mount Washington und andere Berge zu ersteigen, die man zu Pferd und mit unglaublichen Mühseligkeiten erklettert, um meistens gar Nichts zu sehen und im besten Fall, nämlich wenn keine Wolken hervorkommen, eine unermeßliche, aber unklare Aussicht auf Erde und Wasser zu haben.

Diese ganze Gebirgsgegend ist sehr wild, und man sieht beinahe keine Wohnung außer den Hotels für Reisende. Aber diese sind auch übervoll von lärmender und tobender Gesellschaft, die es nicht zu verstehen scheint, die Natur anders als unter Schwatzen, Lachen, Essen, Trinken und geräuschvollen Vergnügungen aller Art zu genießen. Man fährt lachend und in größter Geschwindigkeit den Berg hinauf, man kommt in der größten Schnelligkeit wieder herabgefahren. Im Hotel springen die Champagnerpfröpfe; die Herren sitzen und spielen Karten mitten am Tag; die Frauenzimmer sprechen von Nähterinnen und Moden.

Wie verschieden ist nicht dieses gedankenlose wilde Leben von dem Leben in der Natur, wo die Wolken herabkommen, gleichsam um stille Zwiesprache mit den Bergen zu halten, zuweilen wie lustige Drachen auf ihnen zu reiten, zuweilen sie umschwebend und mit leuchtend sylphidischen Gestalten umkosend, die ihre Wälder mit weichen Thauschleiern befeuchten, während unten im Thale die Ströme wachsen und singen, und Bäume und Blumen ihnen Segnungen auf den Weg zufächeln, und überall dieses Spiel von Schatten und Licht, das Spiel von Sonnenstrahlen in den Wasserfällen, wenn sie von den Klippen herabhüpfen; die großen Gesichter in den Bergen, die zwitschernden Vögelein — das ist Leben. Der Menschen gedankenloses Geplauder da oben in dieser Naturherrlichkeit könnte mich mit Wehmuth um mein Geschlecht erfüllen. Doch, als ich noch jung war, verstand ich es auch nicht, das Leben und die Natur auf andere Art zu genießen. An der Anlage fehlte es nicht, aber es fehlte an der Erziehung, und unter der ausgelassenen Munterkeit barg sich die Empfindung der Leere.

Der Mensch sucht den geistigen Champagner, aber er täuscht sich darin. Der ächte verhält sich zu dem gemeinen, wie Bachus Dithyrambus zu Silen.

Doch waren auch hier einige wahre Verehrer der großen Göttin. Eines Tages trafen wir einen Vater mit seinem Töchterlein. Sie hatten in den Wäldern botanisirt und zeigten uns einige schöne Vaccinien nebst einer Monotrope, die bloß eine einzige Blume hat und hier die indianische Pfeife genannt wird. Der Vater und die Tochter sahen sanft und glücklich aus. Es war ein schönes und vollkommenes kleines Bild.

Auch Mrs. Silsbee und ich gehörten zu denjenigen, welche die großen Naturschauspiele still in dankbaren Gemüthern aufnahmen, indem wir bald ganze Stunden lang bei der Silbercascade saßen, bald auf einsamen Entdeckungsreisen zwischen den romantischen Bergpässen hinwanderten.

Heute Nachmittag sind wir am „Flume” hinaufgegangen. Dieß ist ein schmaler Spalt zwischen zwei hoben Granitfelsien, durch welchen ein Strom in beinahe gerader Linie mehr als 800 FuB lang herabstürzt, bis er in einer Cascade von 660 Fuß Länge hinabkommt. An der einen Bergwand entlang hatte der Wirth unseres Hotels nach Yankee-Manier einen Weg von Brettern, Steinen und Zweigen ausgeführt, der — gar Nichts glich, auf dem man aber zu seiner eigenen Ueberraschung ganz sicher und ohne die mindeste Schwierigkeit gehen konnte, wenn man sich zugleich mit der einen Hand an die Bergwand stützte. Just vor einigen Tagen hatte er den Weg über den Strom etwa 50 Fuß weiter hinaufgeführt. Da wo er jetzt aufhörte, waren wir nahe bei einem ungeheuern runden Steinblock, der in den Riß herabgefallen war und sich so festgesetzt hatte, daß er eine Art von Umhang über demselben bildete; jenseits dieses dunkeln Passes, der beinahe schwarz war, sah man weiter oben den Strom sich von der linken Seite her in einem starken krystallhellen Strahl in den Bergriß stürzen. Woher, das konnte man nicht sehen, aber die Sonne leuchtete klar in dem Wasserstrahl, und über ihm wiegte eine kleine Birke ihre hellen, grünen, weichen Zweige. Der Ursprung der dunkeln Fluth lag im Licht. Das freute mich, und auf dem ganzen Weg über den singenden Wasserfall hin sang und spielte ich in meinem Innern Scenen und Gespräche, welche ich Dir daheim zum Besten geben will.

Diese ganze Scene und die Gegend umher war erfrischend wild und pittoresk. Es finden sich mehrere Merkwürdigkeiten in diesen Bergen, und eine gedruckte Karte, die ich von meinem Wirth in Lafayettehaus bekommen hatte, verspricht jeden Abend ein Kanonenecho auf dem See.

Aber – Du kannst an dem bereits Geschriebenen genug haben.

Wir werden uns jetzt von den weißen Bergen in New-Hampshire nach den grünen Bergen in Vermont begeben.


Burlington am Champlainsee (Vermont), den 19. August.

Ich schreibe Dir jetzt aus einem schönen Hause am Ufer des Champlainsees mit einer der herrlichsten Aussichten über das Wasser und die Gebirgsgegenden, so wie ich sie seit dem Genfersee in der Schweiz nicht gesehen habe. Die Natur ist da grandioser, und zu den Scheiteln der Alpen können die Aderondacksberge im westlichen New-York oder die grünen Berge in Vermont nicht hinanreichen, aber sie haben pittoreske Formen und etwas Großes und Muthiges darin, und über der heitern großen Gegend leuchtet jetzt eine schöne Augustsonne im Untergang und färbt die Wolken in unbeschreiblich goldener Pracht. Der Berg, welcher der schlafende Löwe heißt, scheint in der herrlichen Beleuchtung Leben zu bekommen und, eine prächtige Riesengestalt, sich emporzurichten. Man sieht von da aus manche Berge mit markirten symbolischen Gestalten.

Wir (Mrs. Silsbee und ich) sind hier im Hause des Exakademiepräsidenten Wheeler, wohin ich von Vater und Töchtern freundlich eingeladen worden bin. Es ist eine edle und schöne Familie, in welcher häusliche Andacht gehalten wird und nur eine Mutter fehlt. Diese ist vor einigen Jahren gestorben und wird noch immer zärtlich betrauert von den Kindern, drei Söhnen und drei Töchtern, angenehmen und auch begabten Leutchen.

Der Familienvater, ein stattlicher, älterer Herr und strenger Puritaner, vier Ellen hoch, glaube ich, an dessen Arm ich bei den Spaziergängen wie eine Schaukel an einem Baum hänge, hat ein characterstarkes Gesicht, scharfe, aber warme Augen, ist ein entschiede[de]ner Whig und nicht gut auf die Democraten zu sprechen, im Uebrigen ein sehr gefälliger und angenehmer Gentleman, dessen Unterhaltung mich sehr anzieht wegen seiner vollkommenen Kenntniß der kirchlichen Zustände des Landes, wegen des Systematischen in seinen Ansichten, die ich jedoch nicht in allen Stücken theilen kann, und wegen seiner angenehmen Art sich mitzutheilen. Das Haus ist eine Villa in der Nähe der Stadt und hat alle Annehmlichkeiten und Comforts der angloamericanischen Wohnungen.

Gestern machten wir eine Vergnügungspartie auf dem schönen Binnensee nach dem Aderondacksberg am Ufer New-Yorks. Der Tag war schön, die Fahrt gleichfalls, die Naturschauspiele an dem reißenden, aber seichten Flüßchen „Au Sable” entlang, wo die Natur aus Bergen regelmäßige, unübersteigliche Festungswälle erbaut hat, höchst merkwürdig, und ich würde mich noch mehr daran erfreut haben, wenn ich nicht so viele gedankenlose Fragen zu beantworten gehabt hätte. Da war besonders ein Frauenzimmer mit scharfer, zischender Stimme, das mich beständig mit einem Examen von folgender Art quälte: „Wohin gedenken Sie von hier aus zu reisen? – Von wo kommen Sie hieher? – Von wo kamen Sie dorthin? – Bei wem wohnten Sie da? – Wen sahen Sie im Hause dieser Leute?” u. s. w. Ach daß die Menschen doch etwas mehr den Naturgegenständen glichen, daß sie sich mit einem positiven Inhalt einander näherten und ihre Freude daran fänden, durch stille Mittheilung desselben auf einander zu wirken, wie unendlich mehr würden sie uns entlocken, wie unendlich mehr würden sie von uns zu wissen bekommen, als durch solche gedankenlose, oberflächliche Fragen, welche übrigens auch die Denkenden hier im Lande mißbilligen und worüber sie sich eben so lustig machen, wie nur je Ausländer. Uebrigens fehlte es bei diesem Picknick auch nicht an solchen Personen, wie ich sie so eben wünschte. Da war besonders eine liebenswürdige junge Frau, seelenvoll und frisch, wie der singende Strom, wie der wehende Baum. Bei ihr zu sitzen, sie anzusehen, ihren seelenvollen Mittheilungen zu lauschen, war mir eine liebliche Erquickung. Aber kaum waren wir recht in unserem tête-à-tête, als die fragende Dame mit der scharfen Stimme wieder kam, sich vor uns setzte und ihr Examen neu begann.

Wenn ein Frauenzimmer mir gefällt und wir uns zu einander hingezogen fühlen, so ergibt es sich gewöhnlich von selbst, daß ich bald irgend ein Stück von ihrer Biographie bekomme. In der Lebensgeschichte dieser jungen Frau frappirte mich folgender Zug: von einem großen und zermalmenden Kummer getroffen, fühlte sie, daß sie unter demselben erliegen, oder aber ihm, ihren Gedanken, sich selbst durch eine Reise sich entziehen müßte. Ohne einen andern Plan oder Zweck, als nur zu reisen, setzte sie sich auf einen Eisenbahnwagen und ließ sich vom Zug in die weite Welt hinausführen. Die Bäume wehten und winkten ihr zu draußen in der Welt, die Wolken segelten vor ihr her, und je mehr sie ihnen folgte, je mehr die Gegenstände wechselten und immer neuen Platz machten, um so leichter und besser wurde es ihr zu Muth. Sie konnte freier denken, das Leben und alle Dinge erschienen ihr in einem helleren Licht. Nach einem Ausflug von bloß etlichen Tagen konnte sie mit wieder gewonnener Fassung und Seelenruhe nach Hause zu ihren Eltern zurückkehren. Und jetzt, ein paar Jahre später, war sie erstaunt über die Fülle des Glückes, das sie genießen konnte.

„Die Zeit der stillen Seufzer ist vorbei,“ sagte Geijer einmal. Ach, dazu fehlt noch viel. Aber gewiß ist, daß die Leichtigkeit, womit man sich von einem Ort an den andern versetzen und neue Eindrücke bekommen kann, so wie die raschen Communicationsmittel aller Art, welche es gestatten, diese Zeit näher rücken. In einem Land, das nach allen Richtungen von Eisenbahnen und Dampfschiffen durchkreuzt wird, die dem Menschen gestatten, durch die Welt zu fliegen, braucht er nicht durch Stillesitzen zu verschimmeln oder zu versauern.

Den 20. August.

Schade, daß diese Ruhetage in diesem schönen Hause, unter seinen freundlichen Einwohnern, sich ihrem Ende nähern. Ich habe mich herzlich erlabt an den herrlichen Aussichten und der Pracht beim Sonnenuntergang, den ich von meinen Fenstern aus sehe. Diese Binnenseegegenden sind bekannt durch ihre prächtigen Sonnenuntergänge. Und ich habe nirgends so malerische Wolken und so hübsche Farbenbrechungen gesehen; es ist eine Gluth und ein Farbenspiel, wogegen das Weiche und Milde am südlichen Himmel sehr absticht. Auch die besonderen Formationen der Berge fesseln mich und der schlafende Löwe wird mit jedem Tag lebendiger für mich. Der Champlainsee hat seinen Namen von dem tapfern und klugen Franzosen Champlain, der diese Gegend zuerst entdeckte und anbaute. Maine, New-Hampshire und Vermont wurden im Anfang von Frankreich bevölkert und haben ihren ersten Anbau französischen Missionären und Colonisten zu verdanken. Von diesem geschichtlichen Verlauf sind nicht mehr viele Spuren vorhanden außer den Namen von Orten und Flüssen, so wie einigen katholischen Kirchen und Seminaren. Große Wälder, Binnenseen und Berge sind die Hauptzüge dieser Staaten; Landbau, Viehzucht und Zimmerwerk sind ihre vornehmste Nahrung. Ein schönes Nebengewerbe ist die Fabrication von Ahornzucker, die hier auf ziemlich großem Fuß betrieben wird. Man zapft den Saft der Bäume ab, wie wir es mit der Birke machen, wenn wir Birkensaft bekommen wollen. Der Zucker wird in kleinen Kuchen formirt; er ist braun von Farbe und ganz süß.

Gestern Abend sah ich einen Theil von Burlingtons Gesellschaftskreis hier im Hause versammelt. Unter den jungen Leuten waren viele heitere und hübsche Gesichter zu schauen. In der Gesellschaft befand sich eine allgemein geachtete und beliebte Schullehrerin, die schon von ihrer Jugend an allein für sich und ihre Familie hatte arbeiten müssen. Sie hatte dieß mit dem Erfolg gethan, daß sie mehrere junge Geschwister auferzog, die Schulden der Familie bezahlte, ihre alte Mutter versorgte und ihr zuletzt noch ein Haus baute. Nachdem sie alles Das ausgeführt, stand sie jetzt mit dreißig Jahren im Begriff, einen Mann zu heiratben, an den sie sich schon lange gebunden hatte. Sie konnte jetzt an ein eigenes Glück, an eine eigene Heimath, an einen eigenen Herd denken. Die allgemeine Theilnahme und die Freude, womit ich mehrere Leute darüber sprechen hörte, ist ein gutes Zeugniß für den Geist in einer Gesellschaft, wo das schöne Leben eines einzelnen geringen Geschöpfes so hoch geschätzt wird.

Saratoga, den 22. August.

Aus dem Schooße der weißen und der grünen Berge, aus der weltverachtenden Gesellschaft der Schäker bin ich jetzt an den fashionabelsten und am meisten (und schlimmsten) weltlichen Ort in den Vereinigten Staaten gekommen, um einen Blick darauf zu werfen und einen Eindruck seines Lebens in mein Panorama von der neuen Welt aufzunehmen.

Wir verließen Burlington gestern. Mehrere unserer neuen Freunde begleiteten uns auf das Dampfboot über den See, und unser galanter Wirth, der Expräsident und seine eine Tochter (ein liebenswürdiges, aber schwaches junges Mädchen) bis hieher, um einige Tage bei uns zu verweilen. Das Bild dieses romantischen Sees und des colossalen, ruhenden Granitlöwen, der in der sinkenden Sonne zu wachen schien, während er sich immer mehr in die dunkle Ferne zurückzog; dieses Bild habe ich unter denen von Americas schönsten Naturscenen bei mir.

Wir kamen Abends in Saratoga (im westlichen Theile von New-York) an und veranstalteten noch an demselben Tag unsern Eintritt in den Gesellschaftssalon.

Es waren fünfzig bis sechzig Personen da versammelt. Einige Paare, Herren und Damen, spazirten mitten im Saale unter starkglänzenden Kronleuchtern umher. Ein Paar besonders zog unsere Aufmerksamkeit an. Es war ein ganz schönes junges Mädchen, mit ganz schönen (und ganz bloßen) Schultern, und ein junger Mann, ebenfalls schön und elegant. Sie waren, sagte man, das liebende Paar dieser Saison. Unter den Aelteren in der Versammlung war eine schöne alte Frau, von der man sagte, daß sie große Aehnlichkeit mit Mrs. Martha Washington habe und sich auf dieselbe altmodische Art kleide, wie sie, nemlich mit hohen Absätzen und einer Frisur, die ihr sehr wohl anstand. Sie sah in dieser Tracht sowohl originell als auch gut aus, und dieses kleine Costüm, wie auch der Umstand, daß jede Person sich nach der Individualität ihrer eigenen Figur und Laune kleidet, gefällt mir so wohl, daß ich große Freude an der Versammlung hatte. Heute Abend ist großer Ball der Saison; ich bin dazu eingeladen und werde da den ganzen Putz zu Gesicht bekommen. Diese Saison soll nicht sehr brillant gewesen sein; das Wetter war kühl und regnerisch. Es regnet gegenwärtig stark.

Den 23. August.

Jetzt habe ich den Putz gesehen, nemlich den großen Ball, und es ist nicht viel davon zu sagen. Es waren nicht viele Leute da und unter ihnen nichts Ausgezeichnetes, außer bei den tanzenden Damen ein halb Dutzend geschmackvolle und schöne Toiletten. Man kann sich diese unmöglich harmonischer und eleganter denken, und zwar ohne alles Großthun und ohne alle Uebertreibung. Die Damen, welche sie trugen, waren ebenfalls schön und anmuthsvoll und hatten in ihren Costümen den Character getroffen, der für sie paßte. Am wenigsten gefiel mir die vornehmste Belle und Tänzerin des Balles, denn sie hatte so viele Ecken und Winkel in Gestalt und Façon; sie machte solche Quersprünge und der rothe Rosenkranz saß so anmuthslos auf ihrem Kopf, daß ich mich nur über sie wundern konnte. Die Herren tanzten nicht gut und die Polka war ganz ungraziös. Es that mir leid, einige kleine blasse Mädchen so ausstaffirt zu sehen, wie in frühern Zeiten große und alte Leute. Wenn man die Kinder aus der Kindheit herausreißt, so verderbt man ihnen ihre ganze Zukunft. Einer der Herren, die mir vorgestellt wurden, hatte sichs in den Kopf gesetzt, daß ich das Girardcollege in Philadelphia nicht richtig würdigen könnte, und hatte sich daher vorgenommen, mich hier förmlich über diese Anstalt zu belehren, die in der ganzen Welt einzig in ihrer Art sei. Ich bemerkte, daß es in der Schweiz und in Deutschland mehrere ähnliche Anstalten gebe. Ganz und gar nicht! Unter allen europäischen Gewerbeschulen gab es ihm zufolge durchaus keine, welche dieser ganz glich. Und worin die Originalität des philadelphischen Instituts bestand, das wollte mir mein Lehrmeister mit aller Gewalt einprägen. Ich fühlte mich unbeschreiblich ungelehrig und dachte an Salomos Ausspruch: „Alles hat seine Zeit." Hier in diesem Ballsaal schien es mir weder Ort noch Zeit zu einer solchen Lection zu sein. Glücklicher Weise wurde sie von einigen Herren unterbrochen, die verständigere und angenehmere Gesellschafter waren, und ich muß sagen, daß ich, wenn ich einmal eine Person traf, die sich jener Art von eigenliebigem Geprahle schuldig machte, das man den Americanern vorgeworfen hat, meistens unmittelbar darauf oder schon im gleichen Augenblick auf einen Mann gestoßen bin, welcher das Gegengewicht und die Kritik dieser unlieblichen Erscheinung bildete.

Ein älterer Mann von Saratoga, von kränklichem, aber angenehmem Aussehen, fragte mich mit einem zweifelnden Ausdruck, ob ich wirklich glaube, daß die Einwohner America’s glücklicher seien als die von Europa.

Ich bekomme so oft und so viele eigenliebige Fragen über America zu hören, daß diese Frage für mich eine wahre Erfrischung war, und ich freute mich antworten zu können: nach meinem Dafürhalten gebe es hier mehr Hoffnung als dort und darin liege bereits ein größeres Glück.

Ungeachtet der vielen Beispiele, die ich von americanischer Kritik über Americanismen gehabt habe, kann ich nicht läugnen, daß ich zuweilen an folgende Aeußerung eines Engländers denken muß: „Ich will nicht sagen, daß die Americaner nicht mehr große Dinge ausführen, aber sie führen sie nicht heroisch (in a heroic way) aus,“ und es hat mir zuweilen geschienen, als ob das, was diesem Volk am meisten fehle, um recht groß zu werden, eine großsinnige Unzufriedenheit mit sich selbst wäre. Aber haben die Engländer, haben die Franzosen eine solche? Hat irgend eine Nation sie, außer in ihren edelsten Repräsentanten? Und an solchen fehlt es hier nicht, wie ich schon oft bewiesen habe.

Abends war die Illumination der Brunnengebäude in Saratoga prachtvoll; das Souper und die Veranstaltung des Balls zeugten ebenfalls von großer Sorgsamkeit und großem Geschmack. Unsere kleine Vermonter Blume, Miß W., konnte aber leider an diesem Abend nicht bei uns sein. Mit innigem Bedauern nahm ich Abschied von ihr und ihrem Vater, wie ich auch bedaure, seine Einladung, mit ihm einer großen Synode der presbyterianischen Kirche anzuwohnen, die im nächsten Monat in Maine gehalten werden soll, nicht annehmen zu können. Er ist ein vielseitig gebildeter Mann und besonders in theologischen Gegenständen wohl zu Hause, dabei ein sehr angenehmer Gesellschafter und vollkommener Gentleman.

New-York, den 4. September.

Ach, mein liebes Kind, welche Windmühle von wechselnden Scenen, Beschäftigungen und Verhältnissen ist nicht diese letzte Zeit gewesen! Ich habe kaum zur Besinnung und Sammlung, noch weit weniger zur Feder kommen können, und auch jetzt schreibe ich auf fliegendem Fuß, wie Mercurius, wenn ich so sagen darf, bereit jeden Augenblick von den Anforderungen des neuen Augenblicks oder von guten Freunden entführt zu werden.

Aber einen kleinen Bericht mußt Du in Hast und Kürze über meine Unternehmungen erhalten.

Von Saratoga reisten wir nach Lennox in Massachussets, wo ich verabredetermaßen mit meinen vortrefflichen Freunden Osgoods von Boston zusammentraf. Hier verabschiedete ich mich von meiner angenehmen Gesellschafterin Mrs. Silsbee und ihrem Manne, welcher die Freundlichkeit gehabt hatte, uns entgegenzukommen.

Die Gegend um Lennox ist romantisch schön; sie bietet einen anmuthigen Wechsel von waldbewachsenen Höhen und den zierlichsten kleinen Binnenseen. In dieser Gegend haben Miß C. Sedgewick und N. Hawthorne ihre ländlichen Wohnungen. Ich war zu beiden eingeladen und wollte beide gerne sehen. Bei der vortrefflichen, liebenswürdigen Miß Sedgewick und ihrer Familie verbrachte ich einen Tag, und erfreute mich an ihrer Gesellschaft, sowie an dem Umgang mit mehreren andern angenehmen Frauenzimmern. Herren waren nicht zu sehen, und sie sollen im Allgemeinen in den Gesellschaftskreisen dieser Gegend selten sein. Aber sie werden hier im Umgangsleben weniger vermißt als gewöhnlich, denn die Frauenzimmer in diesem Kreis besitzen eine ungewöhnliche intellectuelle Bildung, einige sind mit Genie und Talenten begabt. Fanny Kemble hat hier ihre Wohnung, wenn sie sich in America aufhält, aber sie ist jetzt in England. Die Natur ist schön, die Frauenzimmer erfreuen sich an ihr und an einander, und die meisten genießen das Leben in vollen Zügen.

Im Allgemeinen fällt mir die Menge von Frauenzimmern und der Mangel an Herrn in den kleinen Städten der östlichen Staaten auf. Die Herren ziehen nach den großen Städten oder nach dem großen Westen, um Handel zu treiben, Eisenbahnen zu bauen, Geld zu verdienen. In den östlichen Staaten finden sich viele einsame Frauenzimmer, denen es weder an Liebreiz, noch an Seelengaben fehlt, und die dennoch unverheirathet altern. Mehrere von ihnen habe ich den Wunsch nach einer freieren Thätigkeit, nach Gelegenheiten zu einem lebhafteren und allgemeiner nützlichen Leben aussprechen gehört. Alte Klagen über die Windstille und Schwere des Lebens, wie ich sie in Europa gehört habe, kehren hier wieder. Sie sollten hier in der jungen Welt nicht zum Vorschein kommen.

Mit Miß Sedgewick verbrachte ich einen unendlich angenehmen Tag und mit Hawthorne einen Abend unter allerlei Versuchen in ein Gespräch zu kommen. Aber war es nun seine oder meine Schuld, es wollte nicht gehen; ich mußte immer allein sprechen und es wurde mir zuletzt ganz unheimlich und wunderlich zu Muthe. Hawthorne war doch offenbar freundlich und wollte mir wohl, aber aus dem Gespräch wurde Nichts. Gleichwohl machte es mir Vergnügen, diesen schönen, bedeutenden, aber nicht vollkommen harmonischen Kopf zu sehen. Die Stirne ist groß und klar wie das Himmelsgewölbe, und schön kräuselt sich um sie her ein Wald von leichten, dunkelbraunen Locken; die schönen tiefen Augen blicken unter den feingewölbten Brauen hervor, wie die düstern, aber klaren Seen der Gegend aus dem dunkeln Schooße der Berge und Wälder. Die Nase ist fein und regelmäßig; das Lächeln des Mundes gleicht dem Lächeln der Sonne über den Sommerhain hinab; es kann auch einen bittern Zug haben. Der ganze obere Theil des Gesichtes ist classisch schön; der untere entspricht dagegen nicht recht und es fehlt ihm an einem bestimmten Character.

Unmittelbar vor Hawthorne’s Haus liegt einer der kleinen, klaren Binnenseeen in düsterem Waldrahmen, welche diese Gegend characterisiren, und Hawthorne schien an der Aussicht über ihn und das wilde Waldland Freude zu finden. Seine liebenswürdige Frau ist unaussprechlich glücklich darüber, das sie ihn hier glücklich sieht. Sein Lächeln, ein Wort von ihm sagt ihr mehr als lange Reden von andern. Sie liest in seiner Seele und – „er ist der beste Gatte.“ Rose Hawthorne, ihr jüngstes Kind, lag noch an der Mutter Brust. Hawthornes Wohnung ist eine glückliche, stille, kleine Stätte, die ein schönes Familienleben umschließt. In dem ländlichen Wirthshause, wo ich mit Osgoods wohnte, hielten sich mehrere junge Mädchen als Gäste auf, um die Landluft und das Landleben zu genießen. Es war auch eine schöne, noch jugendliche Mutter mit fünf schönen Töchtern da. Ich fragte eines Morgens jede von ihnen nach dem Lebenszweck, den sie sich wünsche. Jede nannte mir als Antwort ziemlich gleichgiltige Beschäftigungen und Lebensverhältnisse. Ich warf ihnen vor, daß sie nicht aufrichtig seien, und fragte, ob sie mir auf ihr Gewissen nicht so antworten wollen, wie ein liebenswürdiges junges Mädchen, an das ich einmal die gleiche Frage gestellt habe: „Ich wünsche mir zu heirathen und alle meine Freunde glücklich um mich zu sehen.“ Die Mädchen lachten und einige von ihnen antworteten: „Wenn der Rechte kommt.” Und diese Antwort characterisirt die Lebensstellung und Gemüthsart der jungen Americanerin. Das junge Mädchen, das sich in günstigen Verhältnissen befindet, sein Leben und seine Freiheit genießen kann, in Nichts gezwungen oder gebunden ist, fühlt kein großes Verlangen, seine Lebensstellung zu verändern. Doch sagt sie nicht nein, wenn der Rechte kommt. Und für manches junge Mädchen kommt er viel zu früh, so scheint es mir wenigstens bei vielen, die sich verheirathen, wenn sie kaum erst die Kinderschuhe vertreten haben. Ich habe von einer gehört, die sich mit 14 Jahren verheirathete und dann von ihrem Mann in die Schule geschickt wurde.

Mit meinen Freunden Osgoods besuchte ich eines Sonntags den Schäkerstaat in Neu-Libanon, das bloß einige Meilen von Lennox liegt. Wir waren da wieder in großer Versammlung, sahen genau dieselben Tanzfiguren und hörten dieselbe Art von Reden und Gesängen, die ich im vorigen Jahr da gehört hatte. Dieselben freundlichen Schäkerschwestern stellten den Zuschauern Bänke hin, derselbe Elder Evans stand da und hielt dieselbe Art von Strafpredigt an die Versammlung. Alles hatte stillgestanden, Alles stand auf demselben Punkt oder bewegte sich in demselben Zug.

Während meines Aufenthalts in dieser Gegend war es ganz kalt; auf den Kartoffelfeldern war das Kraut erfroren. Der Wind war rauh und frostig. Niemals habe ich ihn in Schweden im Monat August so kalt empfunden.

Von Lennox reiste ich mit Osgoods nach New-York durch das schöne Housatoniathal, dessen unendlich pittoreske und zuweilen grandios düstere Scenerie das Eisenbahngerassel, der Staub und Rauch mir zwar zu sehen, aber nicht zu genießen gestattete, so betäubend wirkt das auf die Sinne. Bei New-York begaben wir uns in einen andern Bahnzug, der lang wie eine Straße war, und wo wir durch ganze Reihen von Leuten aus einem Wagen in den andern wanderten, um Plätze zu suchen. Diese bewegliche Straße war ein Zug von gewiß tausend Personen. Mit ihm kamen wir nach New-York, und es that mir nicht leid, daß ich damit den americanischen Eisenbahnen Lebewohl gesagt hatte. Vortrefflich in mehreren Beziehungen, namentlich durch die Bequemlichkeit, die sie Allen bieten, und durch ihre billigen, für Jedermann gleichen Preise, sind sie gleichwohl in hohem Grad ermüdend. Nach den paar ersten Stunden ist es mit allem Vergnügen der Reise vorbei und man versinkt in einen leidenden, so zu sagen duseligen Zustand; man fühlt sich nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Nachtsack, und ich kann mir im Ganzen eine weniger nützliche und vergnügliche Art zu reisen gar nicht denken. Man kann da nicht einmal eine Nase voll frischer und reiner Luft bekommen. Könnte die Menge von Rauch und Staub vermindert werden, so wäre dieß eine große Wohlthat für die Passagiere. Die europäischen Eisenbahnen, mit denen ich gereist bin, sind in dieser Beziehung den americanischen weit überlegen.

In New-York mußte ich mich von Osgoods trennen. Ach es wurde mir schwer, von diesen Freunden zu scheiden mit dem Gedanken, daß ich sie wahrscheinlich nie wieder sehen werde – von meinem guten Doctor und meiner liebenswürdigen Marianne, seiner Frau! Noch im letzten Augenblick überhäuften sie mich mit Liebesbeweisen – ich kann es nicht anders nennen. Zu oberst unter ihnen zähle ich die medicinische Verordnung, die mein guter Doctor auf meine Beschreibung Deines Zustandes oder Deiner Zustände hier für Dich abgefaßt, wie er mich denn auch reichlich mit homöopathischen Medicamenten sowohl für Dich als für mich versehen hat. So er; und sie – ach Agathe! es gibt kleine liebevolle mütterliche oder schwesterliche Vorsorgen, die für einen Reisenden in fremden Landen unschätzbar sind, und die mich mehr rühren als große Geschenke, und solche Dienste habe ich ihr wie noch mehreren mütterlichen Frauen sowohl in America als auf Cuba zu danken. Wenn ich bedenke, wie ihre Hände für mich gearbeitet, wie sie sich bis in die kleinsten Details meiner angenommen haben, dann empfinde ich das Bedürfniß, diese Hände an mein Herz und an meine Lippen zu drücken.

Ihr freundliches schönes Gesicht, ihre ernsten Augen mit ihrem so gefühlvollen Blick werde ich stets in der Erinnerung und dereinst ganz gewiß auch in der Auferstehung wieder sehen. Es kann nicht anders sein. Der Ausdruck solcher Geister kann nicht sterben. Man hat einen natürlichen Leib; man hat auch einen geistigen Leib, sagt Paulus.

Unter Freunden, die mir in New-York begegneten, war Professor de Vere von Charlotteville, aber nicht mehr in Freude. Sein schönes Haus war jetzt eine Wohnung der Trauer. Seine junge Frau, meine liebenswürdige Wirthin, war gestorben, indem sie ihrem letzten Kinde das Leben gab. Es that mir herzlich leid um ihn und um das mutterlose Kind.

In New-York verbrachte ich meine Tage damit, daß ich nähere Bekanntschaft mit demjenigen Theil des Lebens der großen Stadt schloß, der zur nächtlichen Partie, zu dem düstern Reich der Schatten und Hels gehört, sowie es auf der Erde noch zu finden ist. Aber ich durchwanderte es in Begleitung von einem Engel des Lichtes. Ich kann die Quäkerin, die mich führte, nicht anders nennen, denn ihr Gesicht war hell und schön, wie die reinste Güte, und über den milden, blauen Augen wölbten sich Brauen, licht, wie die von Gott Balder gewesen sein mögen. Sie waren bloß von einem hellen goldenen Rand bezeichnet. Mrs. Gibbons ist eine Tochter des berühmten alten Quäkers Isaak Hopper. Vom Vater hat die Tochter den werkthätigen menschenfreundlihen Sinn und den festen Character geerbt, der auf dem Wege, welchen sie zu wandern beschlossen, vor nichts zurückweicht. Ein großer Theil ihrer Zeit wird durch die Pflege der Unglücklichen, der Verbrecher und der Gefangenen in Anspruch genommen, und ihre Thätigkeit darin ist so allgemein bekannt und geschätzt, daß alle Gefängnisse, alle öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten ihr offen stehen, und daß man sich an ihrer Seite selbst in den verdorbensten Winkeln New-Yorks sicher fühlen kann. Ihr freundliches, mildes Gesicht ist auch in den düstersten Gegenden als das Gesicht eines Boten des Lichtes bekannt.

Mit ihr durchwanderte ich eines Tags die Gegend, welche the five points genannt wird, denn ich wollte dieses Nest sehen, wo der wildeste und versunkenste Theil von New-Yorks Bevölkerung sich zusammen gedrängt hat, vermuthlich in Folge der Anziehungskraft, welche gleich auf gleich ausübt. Noch vor kurzer Zeit waren fremde Besucher da ihres Lebens nicht sicher. Aber die Methodisten in New-York faßten den göttlich kühnen Gedanken, mitten in diesem Mittelpunct des Lasters und Elends Gott eine Kirche zu erbauen. Sie mietheten da ein Haus, schickten einen Priester hin, der es bewohnte, stifteten eine Schule, Arbeitssäle u. s. w., wodurch der zweite Herr veranlaßt werden sollte das Feld zu räumen. Der Kampf zwischen dem guten und bösen Herrn hatte neuerdings in den five points begonnen, und bereits ließen mehrere Zeichen auf den künftigen Sieg des guten schließen.

Die five points sind einer der ältesten Theile der Stadt und haben ihren Namen von den fünf Straßen, die hier zu einem großen Markt auslaufen. Diese Straßen und besonders dieser Markt sind der Aufenthalt von allem äußersten Elend, was die große Stadt in sich schließt. Weiter als bis zu den fünf Puncten können gefallene Menschen nicht herabsinken. Hier sind öffentliche Prostitutionshäuser, wo elende Weiber sogenannte Lustknaben und Lustdirnen halten. Händel und Schlägereien, Plünderung und auch Mord gehören zur Tages- und zur Nachtordnung. Hier ist gerade auf dem Markt ein großes, gelbes, verfallenes altes Haus, das alte Bräuhaus genannt, weil früher eine Brauerei da gewesen war. Dieses Haus ist die eigentliche Mutterheimath des Elends. Und der alte Brauer alles Elends in der Welt, der Satan, ist noch heute da mächtig.

Wir, Mrs. Gibbons und ich gingen allein durch dieses Haus, wo wir manche verborgene Höhle besuchten und mit ihren Bewohnern sprachen. Wir hielten es für besser und sicherer allein hinzugehen, als einen Herrn mitzunehmen. Wir stießen auch nirgends auf Unhöflichkeit oder auch nur Unfreundlichkeit. Wir sahen junge Knaben mit alten Schelmen am Spieltisch sitzen, unglückliche Weibspersonen, die sich mit garstigen Krankheiten hinschleppten, bleiche Kinder, leichtsinnige Mädchen, boshafte Weiber, die mit aller Welt haderten, und auch einige Familien, deren Elend mir mehr in Armuth als in moralischer Versunkenheit zu liegen schien. Von dem frechen trotzigen Laster bis zu demjenigen, das erliegend unter den Folgen des Lasters sich dem Tod entgegenschleppt, ohne ein Ohr für seinen Jammer zu finden, ohne Theilnahme und ohne Hoffnung, waren hier alle Grade von moralischer Verfaultheit zu sehen und gährten und kochten in der alten Brauerei; Unsauberkeit, Lumpen, verpestete Luft – Alles war da, wie es in dieser alten Brauerei sein mußte, wo ich übrigens nichts Schlimmeres sah, als was ich bereits in Paris, in London und auch in Stockholm gesehen hatte. Ach in allen großen Städten, wo Menschenmassen sich anhäufen, findet sich diese alte Brauerei für Laster und Elend, und der alte Brauer destillirt da sein Gift. Der Abschaum der Gesellschaft fällt dahin, wird da noch weiter verderbt und verderbt von da aus die Luft der Gesellschaft, bis endlich das frische Leben derselben Macht bekommt über den alten Sauerteig, die neue Kirche über die alte Brauerei. Man macht gegenwärtig große Anstrengungen in dieser Richtung. Die Kirche Christi erstreckt sich nicht bloß auf die Seelen, sondern beginnt den ganzen Menschen zu umfassen, sie entwickelt sich in Lehrsälen, in Gesundheitspflege, in mancherlei Anstalten, welche Christi heilendes Liebeswerk auf Erden fortsetzen und das Wort des Herrn an den Aussätzigen: „Ich will; sei rein!” wiederholen.

Von der alten Brauerei und ihren scheußlichen Gestalten gingen wir ins Missionshaus schief gegenüber vom Markt und hatten da eine lange Besprechung mit dem Missionär N., einem Mann von dunkeln, muthigen Augen und demjenigen Glauben an Gott, der Berge versetzen kann, aber auch mit einer Dosis von dem Glauben an sich selbst, der zur Selbstäuschung führen kann und zu der Einbildung, daß man mehr wirke, als wirklich der Fall ist. Gewiß ist, daß plötzliche Bekehrungen von Sündern, die lange an gewisse Schooßsünden gewöhnt waren, selten sind und nicht sogleich Glauben verdienen. Die Heuchelei ist auch ein Kniff der alten Schlange.

Mitten auf dem Markt der five points ist, wie auf vielen Märkten in New-York, ein kleines grünes Gehege von Bäumen und Gebüschen. Aber es sah dürr und verwelkt aus. Keine pflegende Hand wässerte die Bäume, die zu grünen versuchten. An dem Holzwerk rings umher hingen Lumpen.

Es ist mir oft aufgefallen, wie der Zufall oder ein geheimer Verstand, der sich ohne Wissen des Menschen in den menschlichen Dingen regt, symbolische und gleichsam prophetische Namen für Sachen, Orte oder Personen erfindet, welche später das erfüllen, wozu ihr Name sie berufen zu haben scheint. Dieß fand ich auch hier wieder im Verhältniß zu den fünf Puncten, dem alten Brauhaus und dem Gefängniß, das sich nahe an diese Gegenden anschließt, dem großen Gefängniß der Stadt New-York, die Gräber (the tombs) genannt, von der massiven, monumentalen Bauart der Häuser und der Mauern. Dieses Gebäude ist im ägyptischen Styl, von Granit, schwerfällig, aber prächtig gebaut. Eine massive hohe Granitmauer umgibt wie eine Festungsmauer den Hof, innerhalb dessen die Gefängnisse gleich großen regelmäßig behauenen Grausteinblöcken liegen. Wenn man zu den stattlichen Thoren dieser Mauer hineinkommt, glaubt man in einem gigantischen Grabmal zu stehen. Und so ist es auch. Der Abschaum und die Verbrecher der großen Stadt werden hieher gebracht. Ein Theil wird hier verurtheilt und hingerichtet; ein anderer Theil wird von hier nach der Blackwells-Insel gebracht, wo die eigentlichen Strafanstalten der Stadt New-York liegen. Unter Denen, die frei von hier ausgehen, gibt es nur Wenige, die nicht zurückkommen, um eine noch härtere Strafe oder den Tod zu erleiden. Die alte Brauerei bringt unaufhörlich Futter für die Gräber hervor.

Vor der Gefängnißthüre auf dem innern Burghof saß in einem bequemen Lehnstuhl als Wächter der Ordnungsmann, ein feiner Herr, mit Juwelenringen an den Händen und einer Juwelennadel auf der Brust. Ob diese Dinge ächt waren, weiß ich nicht, doch schloß ich es nach dem Glanze, aber daß der Mann nicht den ächten Menschenwerth hatte, das war nicht schwer zu sehen, und offenbar war dieß nicht der rechte Platz für ihn. Er war sehr hochnäsig und suffisant. Er lüpfte nicht einmal seinen Hut vor der edeln, schönen Frau, die ihn anredete, noch weniger erhob er sich selbst. Sie zeigte ihre Eintrittskarte und auf diese hin durften wir hineingehen – zuerst in ein Zimmer, wo ein Theil des Gefängnißbeamtenpersonals versammelt war. Der sichtbare Chef desselben, ein dicker Herr mit blondem Gesicht, saß mit dem Hut auf dem Kopf und den einen Fuß hoch an die Wand gestemmt, da; über seinem Bein hing ein Zeitungsblatt; ein anderes hielt er in der Hand und war mit seiner Lesung beschäftigt. Auf Mrs. G. milde und höfliche Anrede drehte er den Kopf ein wenig, sah uns schief an, lüpfte den Hut nicht, nahm auch seinen an die Mauer gestemmten Fuß nicht herunter, sondern stellte mit großmäuliger Miene, wie er etwa mit Arrestanten hätte sprechen können, einige Fragen und ließ uns eine Weile warten; dann erst durften wir ins Gefängniß hineingehen, und vermuthlich hätte er uns den Eintritt am Liebsten ganz verweigert, wenn er es gewagt hätte. Mrs. G. und ich konnten nicht umhin, gegen einander zu bemerken, daß mehrere dieser Gefängnißaufseher so aussahen, als ob sie selbst unter den Gefangenen sein sollten, ja sogar noch schlimmer aussahen, als viele von ihnen.

Im großen Männergefängniß, das in einem elliptischen Rondell erbaut ist, mit einer Gallerie, die an den Zellen entlang geht, konnte ich mich bloß über die Unordnung verwundern, die da vorherrschte. Gefangene spazirten herum, schwatzten, rauchten Cigarren; Verkäufer von Cigarren und anderem Kran gingen frei unter ihnen umher. In mehreren Zellen wohnten zwei Gefangene zusammen. Hier waren mehrere Ausländer, unter ihnen einige zum Tod Verurtheilte. Ich fragte einen von ihnen, der bis auf einen gewissen Grad ein belesener und gebildeter Mann war, nach seinem Befinden im Gefängniß. Er antwortete mit bitterer Ironie: „Nun ja, es ist so gut als es bei einem Menschen sein kann, der alle Stunden des Tags sein Todesurtheil vor Augen hat.” Dabei zeigte er mir einen an die Wand geklebten Papierstreif, auf welchem schlecht geschrieben Tag und Stunde, wo er gehenkt werden sollte, zu lesen war. Die Gefangenen waren weit höflicher und artiger gegen uns, als die Herren Aufseher es gewesen. Einige schienen sich über unsern Besuch zu freuen, dankten uns und sprachen herzliche Worte. Während wir da waren, wurde ein betrunkener alter Mann in die untere Abtheilung des Gefängnisses gebracht. Die Art, wie man ihn hereinbrachte und in eine Zelle stieß, verrieth einen hohen Grad von Rohheit. Ich war hier in einer unaufhörlichen Verwunderung darüber, daß ein Gefängniß in den Vereinigten Staaten, deren Gefängnisse man in Europa so hoch preisen hört, solche Zustände und Scenen darbieten sollte. Aber die Stadt New-York und die Gefängnisse New-Yorks sind keine Musterplätze, nach welchen man americanische Städte und Gefängnisse beurtheilen darf. Das Gefängniß von Philadelphia war von diesem sehr verschieden.

In der weiblichen Abtheilung der Gräber war der Zustand auch ganz anders. Hier war ein Weib Aufseherin, und sie gehörte zu den warmen, kräftigen Naturen, die überall um sich her eine neue Natur von Ordnung und frischen Einflüssen schaffen. Ihre Gestalt, die auf viel Herzlichkeit und große Körperkraft deutete, schien gleichsam bestimmt, die Kinder des Gefängnisses zu tragen, sie emporzuheben, ohne von ihnen niedergedrückt zu werden. Sie war heiter und offen, gutmüthig und dennoch so bestimmt gegen die Gefangenen, daß keine es wagte, sich ihr zu widersetzen. Viele schienen sie als eine Mutter zu betrachten und sie selbst schien Viele eher als arme Kranke, denn als Verbrecherinnen anzusehen; dieß war besonders bei denjenigen der Fall, die wegen Völlerei da waren. „O Miß Foster, Miß Foster!” jammerte eine bloß halb bewußte Weibsperson, die in der Zelle aus ihrem Rausch erwachte; „ich bin jetzt wieder da!" – „Ja, das bist Du, armes Kind!“ sagte Miß Foster und ging mitleidig hin, um ihren Kopf aus der äußerst unbequemen Stellung aufzurichten, welche er während des Rausches und des Schlafes angenommen hatte. Ueberall wo sie in die Zellen trat, sprachen die Gefangenen zu ihr als zu einer Beschützerin und Freundin. Ein Weib, das mehrere Male wegen Trunkenheit verhaftet und hieher gebracht worden war, im Gefängniß aber sich immer exemplarisch benommen hatte, hatte eine solche Anhänglichkeit an Miß Foster gefaßt, daß sie um Erlaubniß bat, im Gefängniß bleiben zu dürfen, wo sie Miß Foster an die Hand gehen wolle. Dieß war ihr auch bewilligt worden; sie war jetzt im Gefängniß für Miß Foster eine gute Hülfe. Hier war auch eine Stube, welche die Fünftagstube, oder auch die Stube der Unverbesserlichen genannt wurde, und wohin bekannte Trunkenboldinnen gebracht werden, wenn man sie immer von Neuem wieder berauscht aufgreift. Nach fünftägigem Arrest werden sie wieder hinausgelassen.

Aus den Gefängnißstuben gehen wir auf den Hof hinaus, wo die Fünftagsgefangenen den Tag über sitzen, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen haben. Hier waren vierzig bis fünfzig Weibspersonen beisammen, mehrere von ihnen noch ganz jung und einige mit schönen Gesichtern. Unter ihnen befanden sich auch Landstreicherinnen oder solche, die wegen nächtlichen Lärms und Schlägereien auf den Straßen verhaftet worden waren. Eine von ihnen, ein ganz junges und sehr schönes Mädchen, weinte sehr. Mrs. G. redete sie freundlich an und fragte sie, ob sie nicht ins Haus (sie meinte damit das Besserungshaus für gefallene Weiber in New-York) gehen wolle, wo sie gute Pflege und Unterricht erhalten werde und von da aus einen Dienst in einem anständigen Haus erhalten könne. Sie ging dankbar auf den Vorschlag ein und die Sache wurde abgemacht. Sobald ihre fünftägige Arrestzeit abgelaufen war, sollte sie ins Haus kommen.

So wird hier unter den Gräbern das verlorene Schaf aufgesucht und von seinen wahren Dienerinnen wieder unter die Obhut des guten Hirten gebracht.

Dieselbe Frage stellte Mrs. G. an ein anderes junges Mädchen, eine schöne, aber wilde Irländerin. Sie antwortete höhnisch: nein, sie wolle nicht an einen solchen Ort kommen. „Warum nicht?” fragte Mrs. G. mit gutmüthigem Lächeln; „ist das nicht ein guter Ort?“ – „Ah ja, Maam, ein sehr guter Ort, sehr gut, aber – ich will doch nicht dahin.“ Das wilde Gemüth bedurfte offenbar noch einer langen Prüfung, ob es sich dazu entschließen solle.

Auch ein paar junge Negerinnen saßen da. Ich fragte eine von ihnen, ob sie Christin sei. „Nein, Maam,” antwortete sie. – „Hast Du nicht von Christo gehört?" – „Doch, Maam.” – „Liebst Du ihn nicht?" – „O ja, ihn liebe ich schon, aber – ich habe manche Dinge gesehen, ich kann keine Christin werden.” – „Warum nicht, wenn Du Christum lieb hast?“ – „Ich habe bei mehreren Christen gedient, ich habe manche Dinge gesehen … ich kann nicht Christin werden.” Einen andern Bescheid wollte sie nicht geben.

Während unserer Unterredung mit diesen Weibern konnte ich nicht umhin zu bemerken, daß sie aufmerksam und von jedem vernünftigen Wort, das man auf eine herzliche Art zu ihnen sagte, gleichsam betroffen wurden. Die Widersetzlichkeit und Keckheit im Ausdruck ihrer Gesichter legte sich dabei immer und es zeigte sich dafür ein besserer nachdenklicher Ausdruck. Diese Seelen waren offenbar nicht verhärtet und konnten sich vor Lichtstrahlen, die immer und immer wieder kamen, noch öffnen.

Im großen Hof, der das Gefängnißgebäude umgab, war eine Menge von Gefangenen außen. Unter ihnen befand sich ein Junge von zehn Jahren. „Was hat der gethan?" – „Nichts,“ war die Antwort, „aber er war bei Nacht auf den Straßen, bald da, bald dort liegend aufgefunden worden; er konnte keinen Heimathsort angeben, und da man nicht wußte, was man aus ihm machen sollte, so hat man ihn hieher gebracht, wo er sich jetzt schon längere Zeit aufgehalten hat.” Während wir mit dem kleinen Jungen sprachen, sammelten sich mehrere der Gefangenen um uns und sprachen sich mit freundlichem Lob über ihn aus. Ich sah die Thränen der mütterlichen Frau fließen über den mutterlosen verwahrlosten Knaben, und ich hörte ihr leise gegebenes Versprechen, sich seiner anzunehmen, zu kommen und ihn abzuholen.

Während wir dastanden, entstand eine Bewegung im Hof. Man hörte Thüren sich öffnen und die Worte „Die schwarze Marie! Die Schwarze Marie!” wurden in der Versammlung geflüstert. Und herein kam durch die Thore des Gefängnißhofes eine große, lange, roth angestrichene, hölzerne Kiste, gezogen von zwei Pferden. Dieß war der Wagen, der täglich an verschiedenen Stationen in der Stadt die Personen abholte, welche die Polizei außen in der Nacht über Unfug oder in berauschtem Zustand angetroffen hat, und die dann vorläufig auf den Stationen aufgehoben wurden. Sie werden ins Gefängniß gebracht, um verhört und abgeurtheilt zu werden. Der rothe Wagen hat seinen Namen „schwarze Marie” nach einer Schwarzen, welche die Erste war, die darin nach den Gräbern fuhr. Der rothe Omnibus blieb vor einem Gefängnißthore stehen; eine Thüre öffnete sich, wie an andern Omnibus, und heraus kamen Knaben, Weiber und Männer, die zum Theil dem Personal der alten Brauerei glichen. Sie verschwanden im Gefängniß und der Wagen wurde gleich darauf mit einem neuen Personal gefüllt, das aus den Gräbern nach dem Zuchthause auf der Blackwellsinsel gebracht werden sollte. Man zeigte uns im Hofe den Platz, wo die zum Tod Verurtheilten gehenkt werden.

Ehe ich die tombs verlasse, muß ich einen Abschiedsblick auf Miß Foster werfen, diese lebenswarme, lichte Gestalt unter den Gräbern; denn ihr ganzes Wesen, die Herzlichkeit, die Geduld und Gutmüthigkeit, die frische Kraft und Beharrlichkeit, welche dieses Weib seit mehreren Jahren in ihrem Leben unter der Bevölkerung der Gräber entwickelt, ist eine herzstärkende Erscheinung.

Auf dem Hof im Weibergefängniß hatte sie ein kleines Gartenbeet angelegt und es mit Blumen bepflanzt. Geranien und Reseden dufteten hier, und Rosen standen in der schönsten Blüthe. Gefangene, die sich gut aufführten oder in großer Betrübniß waren, erhielten von diesen Blumen. Ich empfing aus ihrer Hand eine Rosenknospe, die ich zur Erinnerung an sie und an die Hoffnung der Gräber behalte. Denn in diesen Gräbern habe ich ja das Werk der Auferstehung gesehen.

Aber einen trüben Eindruck habe ich doch von ihnen bekommen. Und ich habe gehört, daß in dem großen Gefängniß, in Singsing, in der letzten Zeit betrübende Scenen und Mißbräuche der Gefängnißverwaltung gegen die Gefangenen vorgefallen seien. Die selbstconstituirte Gesellschaft zum Besuche der Gefängnisse, deren Mitglied der Quäker Isaak Hopper ist, hat neuerdings mehrere solche aufgedeckt. Diese Gesellschaft übt eine nützliche Controle über die Gefängnißpflege und Verwaltung. Aber sie führt ihr Werk nicht ohne Kampf und vielfachen Widerstand aus.

Den folgenden Tag brachte ich damit zu, daß ich in Mrs. Gibbons Gesellschaft die Anstalten für arme oder elternlose Kinder auf der Rondellinsel, einem gesunden und trefflichen Local dazu, besuchte. Hier waren große Kinderhäuser und große Krankenhäuser für Kinder. Auch war Alles vollkommen ordentlich, sauber und in gutem Stand, so weit es die äußere Pflege betraf. Aber nicht so verhielt es sich mit der inneren. Unter den 12–1300 hier versammelten Kindern fehlte es an Müttern oder mütterlichen Frauen. Die Kinder waren wohl gehalten, aber wie Maschinen in einer Fabrik. Sie machten mir einen betrübenden Eindruck, obschon ihre Lebensgeister nicht eigentlich erstickt wurden, und sie mitunter ausgelassen genug sein konnten. Die Vorsteherin, die ich von blank gescheuerten Kupferkesseln umgeben dasitzen sah, machte den Eindruck eines Kupfergeschirrs auf mich, so hart und finster sah sie aus; sie hatte nicht die geringste Aehnlichkeit mit Miß Foster. Und eine Miß Foster, und mehrere von ihrer Art wären so nöthig als mütterliche Pflegerinnen unter diesen Kindern. Hier befand sich zwar auch ein warmherziges, heiteres und wohlwollendes Weib; aber Jahre und zunehmende Kränklichkeit hatten sie außer Thätigkeit gesetzt. Die Kupfermadame war auch alt und ausgetrocknet genug, um ihren Abschied zu nehmen, aber sie wurde, sagte man, „aus Rücksicht“ von der Direction beibehalten.

Einen noch betrübteren Eindruck machte das Kinderkrankenhaus auf mich, das übrigens wohl eingerichtet und in Bezug auf Reinlichkeit und Bequemlichkeit gut bestellt war. Eine Menge Kinder, die wegen Augenkrankheiten da waren, saßen in unbeweglichen Kreisen auf dem Boden, ohne daß sie etwas zu thun oder zu spielen hatten. Sie saßen still und leblos da. „Haben sie keine Spielsachen?“ fragte ich. – „Sie haben solche von den Ladies bekommen, aber sie zerbrechen sie bloß.” – „Aber läßt man sie denn nicht mit irgend Etwas sich beschäftigen?" – „Sie dürfen wegen ihrer Augen Nichts thun.”

Wer weiß, wie leicht sich ein Kind aus Steinchen, Hölzchen, Tannenzapfen und dergleichen eine ganze kleine Welt von lebendigen Gegenständen schaffen und darin sein Glück finden kann, der muß sich wundern, wenn er diese Kleinen aller Mittel zu Vergnügen und Zeitvertreib gänzlich beraubt sieht, bloß weil sie ihre Spielsachen zerbrechen. Und wenn sie es auch thäten, was macht denn das im Vergleich mit dem seelentödtenden Leben, das sie jetzt führen müssen und das sie blödsinnig machen muß, wenn es noch lange anhält?

In der Diaconissinnen-Anstalt in Kaiserswerth waren auch Kinder mit schweren Augenkrankheiten, aber wie fröhlich und lebhaft waren sie nicht; jedes konnte sich mit Spielen oder Kleinigkeiten beschäftigen, die den Augen Nichts thaten; alle konnten fröhliche, schöne Lieder singen, und barmherzige Schwestern widmeten ihnen mütterliche Pflege.

Diese Anstalten auf der Rondellsinsel entsprachen ebenso wenig als das New-Yorker Gefängniß demjenigen, was man von dem christlichen Sinn und der christlichen Kraft der neuen Welt zu erwarten berechtigt ist. Verwahrlosung der Gefangenen muß den Männern zur Last gelegt werden, Verwahrlosung der Kinder den Frauen.

Die Strafanstalten auf der Blackwellsinsel werden als gut gehalten und zweckmäßig gerühmt, und ich hatte einen Besuch daselbst beabsichtigt, aber Marcus Spring hatte mich und Hrn. W. Channing zu einer Versammlung im nordamericanischen Phalanstère eingeladen, und diese wollte ich unter keinen Umständen versäumen. Am 29. reiste ich in Gesellschaft Channings dahin ab.

Es war ein unendlich schöner Tag. Die mildesten Winde umwehten uns von New-York an bis an die Küste von New-Jersey. Hier traf uns der Wagen des Phalanstère und hier schlossen sich noch einige Personen an uns an, die von andern Orten her gleichfalls einen Besuch daselbst vorhatten. Andere Scenen und Bilder als diejenigen, die ich in der letzten Zeit in New-York gesehen, traten uns hier entgegen.

Als wir an den kleinen dunkeln Waldpaß kamen, der gleichsam die Pforte zum Gebiet der „harmonischen Gesellschaft“ bildet, wurden wir von Marcus Spring überrascht, der in seinem mit Dolly bespannten Buggy einhergefahren kam; Buggy, Dolly und Marcus selbst mit blühendem, wildem Immergrün bekränzt. Ich mußte aus dem Wagen steigen und mich neben Marcus setzen, und so fuhren wir, wie in einer duftigen Laube sitzend, langsam dem Phalanstère zu. Im Park begegneten uns die Kinder und die Jugend, wie auch einige von den Alten, sämmtlich mit grünen Kränzen und Blumen. Es war der schönste, heiterste Zug. Unterwegs sahen wir Gruppen von Feldarbeitern im Schatten der Bäume stehen und eine ungeheure Wassermelone verzehren. Es war just Mittagsstunde.

Marcus Spring hatte sich im vorigen Jahr ein schönes Häuschen beim Phalanstère gebaut, um da mit seiner Familie die gute Luft und das Seebad im Sommer zu genießen. Die Familie lebte da für sich, aß aber am Tisch des Phalanstère. Ich hatte, wie früher in Rosenhütte, mein Zimmer im Hause meiner Freunde. Mit ihnen ging ich von da zum Mittagsmahl des Phalanstère.

In einem sehr großen, länglichten Saal mit Fenstern auf beiden Seiten, waren viele länglichte Tische, zwölf bis vierzehn an der Zahl, gedeckt. Durch die hohen Fenster strömte die frischeste Luft herein. Im Fond des Saales hing ein großes Gemälde, eine wohlgelungene, etwas phantastische Schilderung der Phalanstère-Gesellschaft auf Erden in ihrem vollendeten Zustande. Darüber las man in großen Buchstaben, die aus ewig grünem Laub gebildet waren, die Inschrift: Die große Freude (the great joy). Die Tische, an deren jedem zehn bis zwölf Gäste bequem Platz hatten, glänzten von weißem Tafelzeug und Porcellan. Die Aufwärtertruppe bestand aus schönen jungen Knaben und Mädchen, sämmtlich mit künstlich geflochtenen Kränzen von grünem Laub um ihre Köpfe. Zu ihnen gesellte sich jetzt auch der gute Marcus. Eine schönere Gruppe, eine fröhlichere Mahlzeitscene läßt sich nicht denken. Die Gerichte waren einfach, aber ausgezeichnet gut und aufs Beste zubereitet: Man hatte weder Wein, noch Toaste, noch Gesänge; aber ein heiteres leises Gemurmel von freundlich sprechenden Stimmen wurde unaufhörlich während der ganzen Mahlzeit gehört und vermischte sich mit den frischen Hauchen der Luft, mit dem Anblick all’ der fröhlichen und frischen Gesichter der schönen Jugend, die gleich wohlthätigen dienstthuenden Geistern die Tische umschwebten; Alles vereinigte sich, diese Mahlzeit festlicher zu machen, als irgend eine andere mit berauschendem Champagner und Musik.

Im Phalanstère waren seit meinem letzten Besuch vor beinahe zwei Jahren große Verbesserungen vorgenommen worden. Ein neues Haus war noch gebaut worden, und außer dem großen Saal war noch ein anderer Versammlungssaal, die „kleine Freude” genannt, dazu gekommen. Die Küche war mit einer Dampfmaschinerie versehen worden, welche viel Zeit, Arbeitskraft und Kosten sowohl beim Kochen als beim Waschen ersparte. Mr. Arnold, der frühere Priester und Farmer, war jetzt Präsident des Phalanstère, und sein sinniger Kopf machte sich in mehreren öconomisch vortrefflichen Einrichtungen geltend. Das Personal der Gesellschaft hatte sich jetzt bis auf hundert Personen vermehrt, und rund um die größern Gebäude hatten mehrere Familien sich kleine Häuser gebaut, wo sie ungefähr in demselben Verhältniß zum Phalanstère lebten, wie die Familie Spring, und mit Interesse die Entwicklung der Anstalt verfolgten.

Nach Tisch versammelte sich ein Theil der Gesellschaft im Park unter einigen großen schattigen Bäumen; man brachte große Körbe mit Melonen und jedermänniglich ließ sich dieselben wohl munden. Ich habe nie einen solchen Ueberfluß von Melonen gesehen; es waren ihrer gewiß hundert; auch habe ich sie niemals so gut und so schmackhaft gefunden. Die Canteloupe-Melonen waren besonders ausgezeichnet. Der Boden in dieser Gegend und überhaupt in New-Jersey ist berühmt durch seine Ergiebigkeit an guten Früchten.

Im Phalanstère verbrachte ich drei Tage unter wechselnden Scenen und Auftritten, wovon mehrere ein großes Interesse für mich hatten. In erster Linie stand eine von Channing veranlaßte Versammlung zur Berathung über die sociale Stellung des Weibes, über die Mängel derselben, über die Uebelstände, die dadurch veranlaßt werden, und über die Mittel, ihnen abzuhelfen. Die Versammlung bestand aus ungefähr zwanzig Frauenzimmern und aus den Männern, welche sie einluden. Das war eine Versammlung von denkenden, milden Gesichtern. Das Präsidium wurde einstimmig Channing übertragen. Er eröffnete die Berathung mit einer Schilderung der Leiden, welche bei der gegenwärtigen Staatseinrichtung das Weib im Besten und Edelsten, was sie besitzt, treffen können. Ich lauschte ihm mit Gefühlen, die ich kaum zu beschreiben vermag.

Ists möglich, dachte ich, ist es wirklich wahr, daß ich einen Mann die Seufzer, die Qualen, die Sehnsucht, die ich einen großen Theil meines Lebens hindurch, bis zur Verzweiflung empfunden habe, die so Viele gleich mir empfinden, und unter denen so Manche erliegen, so verstehen, so auffassen höre? Ist es ein Mann, den ich die Sprache der gefangenen Weiblichkeit führen und ihre Befreiung betreiben höre? Und höre ich, daß durch ihn wirklich eine bessere, gerechtere, aufgeklärtere und heiligere Zeit herannaht? Ist das nicht ein Traum? Soll wirklich „die Zeit der stillen Seufzer” auf Erden aufhören? Soll Licht, Bahn und Freiheit werden? Soll der Himmel Allen offen stehen?

Ich sah mich im Kreis der Versammelten um. Es waren einige schöne Frauen mit denkenden Stirnen da, deren merkwürdige Lebensschicksale mächtig für die Reform sprachen, welche der Redner forderte; es waren milde, mütterliche Frauen da, Frauen, wie Springs Schwester, Mrs. Arnold, und wie Rebecca Spring Frauen, die über ihrer eigenen häuslichen Glückseligkeit den Sinn für bürgerliches Leben, so wie für die Rechte ihrer minder glücklich bedachten Schwestern nicht verloren hatten. Da war Channing mit seinem edeln, von Begeisterung blühenden Gesichte, da war der ernste Arnold, der gute Marcus und mehrere Personen, in welchen ich Vertreter des höchsten Gewissens der Menschheit erblickte. Meine Blicke fielen im Umherschweifen auf ein Gemälde, das einzige im Zimmer; es war ein schöner Kupferstich, welcher den Tanz der Horen um den blumenüberstreuten Wagen der Zeit vorstellte. Ich dachte an Geijer, an die prophetischen Gesichte und Träume, worin dieser wahre Seher die neue Zeit kommen sah und sie in Jubel begrüßte, kurz bevor er die irdische Schaubühne verließ. O, daß er hier gewesen wäre, daß er hier gehört und gesehen hätte, wie die Zeiten gekommen sind, von denen er träumte und noch in seinen letzten Stunden mit Entzücken sprach, unverstanden von Vielen, aber nicht von mir. Die Erinnerung an ihn und an die Vergangenheit, so wie der Eindruck der Gegenwart und der Zukunft stürmten mit beinahe überwältigender Macht auf mich ein.

Außer der Rede Channings brachte die Versammlung Nichts zu Tage, was in meiner Erinnerung gehaftet hätte. Die Gegenstände, die hier berührt wurden, sollen weiter erörtert und entwickelt werden bei dem großen Convent der Weiberrechte, der sich zu Anfang Octobers in der Stadt Worcester in Massachussets versammeln soll, und zu welchem mehrere der anwesenden Mitglieder, Springs mit ihnen, sich begeben werden. Sie wünschen, daß ich mitkommen solle, und wie gerne möchte ich es thun! Aber am 13. dieß werde ich Amerika verlassen und nach Europa zurückreisen. Ich muß auf meiner Heimreise England sehen, und meine Ankunft in der Heimat würde dadurch allzulange hinausgeschoben.

Da ich gerade am Capitel von der Stellung des Weibes in der Gesellschaft und an Conventen für Weiberrechte bin, so will ich auch ein paar Worte über dieses sagen. Ich freue mich sehr darüber, weil sie manche wichtige Facta und gute Gedanken an das Licht der Oeffentlichkeit bringen werden. Ich freue mich über die Edelsinnigkeit und Klugheit, womit mehrere Rednerinnen daselbst aufgetreten sind, über die tiefen denkwürdigen Wahrheiten, die mehrere von ihnen ausgesprochen haben, über die Tiefe der Lebenserfahrungen der Frau, über ihr Leiden und Sehnen, das dadurch ans Tageslicht kommt; ich bin freudig überrascht, so viele ausgezeichnete Männer an dieser Bewegung theilnehmen, und die Frauen in ihrem Auftreten unterstützen, ja mit noch stärkeren Worten als sie selbst ihre Sache führen zu sehen. Ich freue mich auch, daß die Gesellschaft mit angloamericanischer Organisationakraft so schnell vom Wort zur That geschritten ist und sich in verschiedene Comités für die Entwicklung der verschiedenen Departements eingetheilt hat, um die neue Gesellschaftsordnung vorzubereiten. Aber ich freue mich nicht über einige minder wohlbedachte Maßregeln, die vorgeschlagen wurden; ich freue mich nicht über den Ton der Anklage und des Trotzes, der sich da und dort im Convent Bahn gebrochen hat, sowie über mehrere Ausdrücke, die minder edel und schön waren.

Das muß man jedoch sagen, daß diese Schatten am Himmel des neuen Morgens selten und flüchtig sind im Vergleich mit den großen, reinen Lichtparthien. Die Convente sind gut, weil sie dem großen neuen Lebensmoment in der Gesellschaft Nachdruck verleihen; sie sind gut wie ein frischer Wind, welcher die Spreu von dem Waizen trennt. Sie werden, wenn man sie recht leitet, den kommenden Tag beschleunigen (im andern Fall werden sie ihn zurückhalten). Sowohl in Europa als offenbar auch hier zu Lande finden sich Zeichen genug, welche die Annäherung der Zeit verkündigen, von der schon Moses prophezeit hat in den Worten: „Die Töchter treten in das Regiment ein.“

Und würdest Du, wie früher einmal, als wir darüber sprachen, sagen: „Dann werden alle Narren regieren wollen, und dieß wird für das ganze Corps eine Schande sein,” so würde ich antworten:

„Ich fürchte das nicht, und zwar jetzt weniger als je. Betrachte die Quäkergesellschaft, betrachte die kleinen socialistischen Gesellschaften hier. Alle Weiber darin haben das Recht in der Versammlung zu sprechen. Aber keine macht von diesem Rechte Gebrauch, wenn sie nicht ein entschiedenes Talent besitzt oder etwas ganz Gutes zu sagen hat. Alle haben Theil an der Verwaltung. Aber dieß geschieht in aller Stille und offenbar zum Besten der Gesellschaft. Auch hört man in diesen Gesellschaften nie von Streitigkeiten zwischen Männern und Weibern, von Uneinigkeit und Scheidung zwischen Eheleuten sprechen. Bei liebevoll zugestandenen Rechten verschwindet gewöhnlich der Oppositionsgeist und die Unruhe. Die Vernunft und die Ergebenheit bekommen größere Gewalt. Besonnenheit und Sanftmuth sind auszeichnende Züge bei diesen freien Weibern. Ganz neulich hat im Phalanstère das Resultat einer allgemeinen Abstimmung auf schlagende Art bewiesen, welch wohlthätigen Einfluß der moralische häusliche Verstand auf die Angelegenheiten der ganzen Gesellschaft ausübt durch den direkten Einfluß aus dem Herzen und Mittelpunkt der Familie.“

Die Gallier, erzählt uns Tacitus, beriefen bei wichtigen Fällen eine ausgewählte Versammlung von Weibern zur Berathung und ließen ihre Stimme den Ausschlag geben.

Wenn das weibliche Bewußtsein vom Leben das wird, was es in unsern Zeiten werden kann, wie wohlthätig muß dann nicht sein Einfluß in den Berathungen der Gesellschaft werden? Jetzt ist diese des befruchtenden Lebens, das der mütterlichen Sphäre angehört, beraubt, und das Haus erzieht nicht den Bürger und die Bürgerin.

Nicht als ob ich mir einbildete, eine neue und bessere Ordnung werde Vollkommenheiten bringen. Ach man kann es nicht bis auf fünfzig Jahre treiben und durch eigene und fremde Gebrechen über die Unvollkommenheiten des Menschen einigermaßen belehrt worden sein und dennoch glauben, daß Alles auf Erden einmal ganz gut werden müsse; aber etwas Besseres kommt doch gewiß zu Stande, wenn diejenigen, welche die Mütter und Pflegerinnen des Menschengeschlechts sind, so gut und so weise werden, wie das Licht einer erweiterten Lebenssphäre sie machen wird, wenn die Lichtquelle, welche der Schöpfer ihrer Natur geschenkt hat, ungehindert hervorsprudeln und ihre lebendigen Fluthen über die Heimath, das Gesellschaftsleben und den Staat ausbreiten wird.

Die Finsterniß der Mütter wirft ihren Schatten über die Kinder; die Klarheit der Mütter wirft ihr Licht über die Kinder von Geschlecht zu Geschlecht.

In dieser Ueberzeugung möchte ich mich dem Convent anschließen und mit ihm sagen:

„Singet dem Herrn ein neu Lied, singet es aller Welt!“

Und jetzt zum Phalanstère zurück.

Am Abend des zweiten Tages nach unserer Ankunft war Gesellschaftstheater und Ball. Ein kleines munteres Stück, aber ohne tieferen Gehalt, wurde lebhaft und gut von einigen der jungen Leute aufgeführt. Auf dem Ball erschien ein großer Theil der jungen Frauenzimmer in der sogenannten Bloomertracht, kurzen Röcken bis an den Hals reichend, und Hosen. Diese Tracht, die im Grund weit sittsamer ist, als das gewöhnliche Saloncostüm, und die sich bei jungen Frauenzimmern in ihren Alltagsbeschäftigungen recht gut ausnimmt, ist im Ballsaal nicht vortheilhaft und nimmt sich besonders beim Walzen nicht gut aus, zumal wenn die Röcke sehr kurz sind, wie dieß bei einigen im Uebrigen recht gut gekleideten und recht hübschen Tänzerinnen der Fall war. Einige hatten in ihrer Bloomertracht wirklich eine gewisse phantastische Grazie; aber wenn ich sie mit der ächt weiblichen Grazie verglich, die sich bei einigen jungen Mädchen mit langen Röcken und im Uebrigen ebenso sittsam gekleidet wie die Bloomerdamen ausdrückte, so mußte ich den langen Kleidern die Palme geben. Zu den anmuthvollsten Tänzerinnen in diesen gehörte die schöne Abbie Arnold, die Tochter des Phalanstèrepräsidenten.

Der Ball war übrigens, wenn auch die Toiletten der Damen nicht vollkommen so elegant waren, weit schöner und der Tanz weit geschmackvoller, als ich ihn in Saratoga gesehen hatte.

Wenn ich an den Vormittagen auf meinem Zimmer Mitglieder der schönen Aufwärtergruppe bei der Mittagsmahlzeit des ersten Tages abzeichnete, fragte ich sie, eines ums andere ob sie sich in ihrem Leben dahier glücklich fühlen? Sie antworteten einstimmig, daß sie sich gar kein Glück unter andern Verhältnissen denken könnten. Das Leben erschien ihnen so voll und so schön.

Wie viele junge Leute in der Gesellschaft der alten Welt würden wohl diese Antwort geben?

Unter den Frauenzimmern, die jetzt Mitglieder der Gesellschaft sind, befand sich ein noch junges Mädchen ohne alle Schönheit, aber mit einer hoben, denkenden Stirne. In dieser Stirne hatten Gedanken über die ungerechte Vertheilung der menschlichen Loose, über das Mißverhältniß zwischen dem Leben und dem Verlangen, das sie in sich verspürte, sowie über den Antheil, der ihr als einem armen und kränklichen Weibe zugefallen, gearbeitet, bis diese Gedanken und diese Lebensstellung sie beinahe zum Wahnsinn trieben. Ihre streng kirchlichen Verwandten hatten keinen andern Trost für sie, als die Ermahnung: „Trage dein Kreuz!“ Sie kam hieher, Liebe und Freiheit empfingen sie hier, die frischeste Luft für Leib und Seele. Wie eine Blumenknospe öffnete und entwickelte sich ihr Wesen. Das Leben in gesellschaftlicher Liebe und bürgerlicher Vereinigung, daß bei ihr gebunden gelegen hatte, machte sie frei, und bald wurde sie eines der thätigsten Mitglieder der kleinen Gesellschaft im Anbau des Gartens, in der Pflege und Mittheilung seiner Blumen und Früchte. Sie war jetzt der allgemeine Liebling in der kleinen Gesellschaft und wurde bloß mit einem Schmeichelnamen angeredet, welcher die allgemeine Liebe zu ihr ausdrückte.

Eines Abends lauschte ich auf ihrem Stübchen der einfachen rührenden Geschichte von ihrem inneren Kampf und ihrem gegenwärtigen Glück. Das Stübchen war nicht viel größer als eine gewöhnliche Gefangenenzelle, es hatte bloß kahle weißgetünchte Wände, aber ein großes Fenster gab ihm Licht und Luft; wir saßen auf einem sehr bequemen Sopha, und das Tafelwerk sowie die Ecken des Zimmers waren vom Dach bis auf den Boden mit reichen Ranken von schönen Grasarten geschmückt, die mit ausgesuchtem Geschmack gruppirt waren. Die Bewohnerin des Zimmers kannte ihre Namen nicht, sie hatte nie Etwas von der Natur und ihren Erzeugnissen kennen gelernt; aber jedes von diesen Gräsern hatte sie mit Liebe gepflückt, mit Bewunderung betrachtet und mit andern zusammengebunden, so daß ihre eigene Schönheit zur Geltung kam. Der phantastische Rahmen der goldenen Graspflanzen war reicher als irgend einer von Gold.

Früher als ich wünschte, wurde ich von meinem Gespräch in dem Stübchen abberufen, um im Gesellschaftssaal ein allerliebstes junges Mädchen die schottische Hornpfeife tanzen zu sehen.

Am Sonntag hielt Channing einen öffentlichen Vortrag über das Verhältniß der Religion zum Staat und über das Verhältniß des inneren Gesetzes zu dem äußeren, – eine Rede, reich an christlichem Bewußtsein, worin ich bloß eine klare Darstellung des Schwerpunctes dieses Bewußtseins vermißte: das Bedürfniß der Gnade, der Mittheilung des göttlichen Geistes und des Gebets, dieses wundervollen Sprachrohrs zwischen Erde und Himmel. Am Abend, welcher schön war, bestieg ich bei Sonnenuntergang mit Marcus und Eddy eine grüne Höhe in einiger Entfernung vom Phalanstère, die wegen ihrer Bildung der Zuckerhut genannt wird. Von da sieht man weit umher, und wir sahen in dem sinkenden goldenen Sonnenlicht die fruchtbare, angebaute Gegend voll von kleinen, ländlichen Höfen, die in Pärke von laubreichen Bäumen gebettet sind. Unter ihnen nahmen sich die hellgelben Häuser des Phalanstère wie ein größerer Herrenhof aus.

Ich betrachtete sie mit heitern Gefühlen, obschon ich mich von einem Zweifel an den Besten dieser Gesellschaft nicht freimachen kann. Und einige ihrer denkenden Mitglieder sind auch nicht ohne Bedenklichkeiten, wenn sie die öconomischen Schwierigkeiten ins Auge fassen.

Diese Gesellschaft und diejenigen, die ihr hier zu Lande gleichen, gehen darauf aus, die Mustergesellschaft auf Erden, die vollkommene Gesellschaft zu Stande zu bringen. Sie nennen diese Gesellschaft die harmonische und stellen sie über die alte, welche die civilisirte genannt wird. Die Civilianer vertreten den künstlichen Bildungsgrad, die Harmonianer den geistig natürlichen, der in seiner vollen Ausbildung zu einer vollkommenen und nach allen Richtungen reich entwickelten Gesellschaft führen soll. Es will mich jedoch bedünken, als ob all die verschiedenen Talente und Naturgaben, auf deren höchster Entwicklung die volle Entwicklung der Gesellschaft zumeist beruht, hier niemals die Vertiefung finden könnten, deren sie hiezu bedürfen. Eine kleine Gesellschaft kann den vielen verschiedenen Kräften kaum Spielraum genug geben und diese … aber ich will Nichts mehr davon sagen. Ich fühle, daß ich den Gegenstand nicht klar besitze, und daß die Einwürfe, die ich zu machen wüßte, auf Antworten aus erweiterten Kreisen der Pflanzschule, die ich hier sehe, stoßen könnten. Ich will lieber bei dem stehen bleiben, was ich genau verstanden habe, was mir die Anstalt theuer macht und von dem ich überzeugt bin, daß es ein unvergängliches Moment ihres Lebens und ihrer Thätigkeit am neuen Lebenstage der Menschheit ist.

Sie ist ein Werk der christlichen Menschenliebe. Sie geht darauf aus, jedem Mann und jedem Weib Gelegenheit zu harmonischer Entwicklung ihres innersten Wesen gemäß zu geben, unter einem harmonischen Zusammenleben, wobei Alle die Früchte der Wirksamkeit Aller und Alle die Früchte von Gottes reicher und schöner Erde genießen werden. Sie legt in ihrer besondern Wirksamkeit Gewicht auf das Ziel, nach welchem die große Gesellschaft in America in ihrer allgemeinen Thätigkeit strebt. Sie ist ein Vorläufer und ein Prophet. Die Propheten der alten Zeit wurden gesteinigt und getödtet. Dennoch bekamen sie zuletzt Recht. Und ihre Stimmen ertönen noch heute auf der Erde.

Die Phanlanstèregesellschaft, so wie ich sie hier sehe, mit ihrem Kern von frommen und ernst arbeitenden Mitgliedern, mit ihrem Kranz von denkenden und hingebenden Zuschauern, ist ein Product der Liebeslehre Jesu und geht darauf aus sie in der Gesellschaft lebendig zu machen. Sie ist ein redlicher und edler Versuch. Und durch solche wird das Reich Gottes erweitert. Möge jeder in seinem Theil treu bleiben. Und sollte das Phanlanstère in seiner beschränkten Form eines der enfans perdus der Erde bleiben, so wird es dieß doch in der Geschichte der neuen Gesellschaft und auch im Gotteshause nicht bleiben. Ich für meinen eigenen Theil fürchte, daß diese kleinen socialistischen Gesellschaften sich nicht länger halten werden, als sie von den edlen Geistern getragen werden, die ihnen jetzt ihr energisches Liebesleben eingießen. Sind diese einmal fort, so wird ihr Wert wahrscheinlich zerfallen. Aber wenn diese Gesellschaften in einer kurzen Blüthezeit geoffenbart haben, was die menschliche Gesellschaft sein kann, wenn alle ihre Mitglieder von einem edlen und wohlwollenden, einem wahrhaft christlichen Geist belebt werden, und wenn man die materiellen Vortheile festhält, welche das Associationsleben bietet, dann haben sie nicht umsonst geblüht, nicht vergebens gelebt.

Und das läßt sich nicht läugnen, daß das moralische Element, welches sie als Prinzip der Association aufstellen und das ihr characteristisches Kennzeichen ausmacht, auch in den großen commerziellen, industriellen und wissenschaftlichen Vereinen in Nordamerica sich geltend zu machen anfängt. Man erkennt immer mehr, daß der Mensch etwas Höheres ist und das Gleichmachen nach Oben ist die Losung, die immer allgemeiner im Associationsleben erschallt. Vereine in allen Gewerben und bei allen Unternehmungen wachsen als natürliche Erzeugnisse der Erde empor, und man sieht immer mehr ein, daß die Macht, die sie hauptsächlich verbindet, eine übernatürliche ist und zumeist auf dem beruht, was das Höchste und Beste im Menschen ist. Die Vereine werden Verbrüderungen.

Am letzten Abend meines Aufenthaltes im Phalanstère führte ich das ganze Personal desselben bei einer großen schwedischen Polka an, die wirklich Furore machte, und selten wird wohl die „große Freude“ von einem allgemeineren und herzlicheren Jubel ertönen.

Am folgenden Morgen sollte Channing abreisen. Nach dem Frühstück giengen wir mit einander sprechend in den Park, und obschon wir mehreren Personen begegneten, die gerne einige Worte mit dem geliebten Lehrer gewechselt hätten, so störte doch Niemand unsere Unterredung, Niemand unterbrach unser Beisammensein. Ich sah ein Frauenzimmer, das allein unter den buschigen Bäumen saß und las. Sie saß so ruhig da, wie in ihrem eigenen Zimmer. So werden im Phalanstêre die Einzelnen respectirt.

Zu den wechselnden Scenen an diesem Tage gehörte auch das Auftreten einer Somnambüle von der Art, die man ein Medium nennt, d. h. eine Person, die im magnetischen Zustande mit einem verstorbenen Freund oder Angehörigen, im Rapport steht oder zu stehen meint und Mittheilungen von diesem ausspricht. Dieses Medium war hier ein hübsches junges Mädchen, nicht den Mitgliedern des Phalanstère angehörig, und der Geist, von welchem man sagte, daß er durch sie spreche, war der Geist ihres Vaters. Wir setzten uns ungefähr zu zwanzig um einen Tisch und bildeten Alle durch Berührung der Hände eine Kette mit einander, dann wurden geistliche Lieder nach lebhaften Melodien angestimmt. Nach einer Weile erblaßte das junge Mädchen plötzlich, ihr Kopf sank herab, ihre Züge wurden bleich und starr, beinahe wie im Tode. Dieß währte ein paar Minuten und inzwischen dauerte der Gesang fort. Das junge Mädchen erwachte unter einigen krampfartigen Streckungen und begann darauf mit convulsivischer Heftigkeit mit dem Finger über ein großes Alphabet zu fahren, das vor ihr lag und worin sie gewisse Buchstaben bezeichnete. Andere Personen schrieben diese auf und so kamen Worte und Sätze zusammen. Auf solche Art wurden die Fragen, die man an die Somnambüle richtete, beantwortet, und ich bin überzeugt, daß sie keinen Betrug ausüben wollte oder konnte; aber die Antworten, die sie abgab, bewiesen deutlich, daß der Geist, mit welchem sie in Rapport stand, nicht viel klüger war, als wir armen fragenden und forschenden Sterblichen. Sie hatte den entschlafenen Vater innig geliebt und war erst nach seinem Tod in diesen sonderbaren Zustand gerathen. Die Antworten zeugten zwar von einem reinen geistigen Leben, aber von keinem übernatürlichen Verstand. Die Scene interessirte mich, machte aber einen peinlichen Eindruck auf Channing, dessen reine geistige Natur sich an diesen künstlichen oder abnormen geistigen Verhältnissen stieß.

In den Vereinigten Staaten, besonders in den nördlichen gibt es seit einiger Zeit eine Menge von Hellseherinnen aller Grade, und Media, Geisterklopfen, und andere dunkle geistige Phänomene dieser Art gehören zur Tagesordnung. Sie werden von Vielen lächerlich gemacht, aber von Vielen auch ernstlich genommen.

Ich selbst habe von dem Treiben der Hellseherei genug gesehen, um mich zu überzeugen, daß es diesen Leuten keineswegs an einem Licht fehlt, welches das gewöhnliche und natürliche übertrifft, daß aber die hellsehende Person keineswegs unfehlbar ist. Sie sieht gewisse Sachen mit wunderbarer Klarheit, täuscht sich aber in andern. Der Hellseher oder die Hellseherin ist kein sicherer Führer. Unendlich kostbar ist jedoch der sichere Gewinn der Hellsehererscheinung, nämlich die Gewißheit, daß die Seele in den körperlichen Organen und Sinnen noch andere besitzt, die von ihnen unabhängig sind, daß der geistige Leib über dem natürlichen steht, und daß dieser letztere bloß das natürliche Medium des ersteren ist.

Unter den Personen, die im Phalanstère auf Besuch waren, interessirte mich hauptsächlich eine ältere Dame von englischer Geburt, die ein ungewöhnliches practisches Talent und ein warmes, liebreiches Herz zeigte. Nachdem ihr Mann bankrott gemacht hatte und gestorben war, hat sie als Wittwe durch Ehrlichkeit und Talent im Handel seine Schulden bezahlt, ihre Kinder erzogen und ausgesteuert und ein bedeutendes Vermögen erworben, wovon sie den edelsten Gebrauch macht. Bei den Conventen der Frauenrechte ist sie Mitglied des Comités für die industrielle Entwicklung und spricht für das Recht der Frauen auf Unterweisung in den Gegenständen, welche dazu gehören.

Nach diesen lebhaften festlichen Tagen im Phalanstère reiste ich nach New-York zurück, wo ich mich für wiederum in meinem guten Quäkerhause befinde, beschäftigt allgemeine Anstalten zu sehen und Alles meine Reise in Ordnung zu bringen. Mein Begleiter und Gehülfe dabei ist der älteste Sohn des Hauses, ein liebenswürdiger Jüngling von 19 Jahren, schön von Seele und Leib, einer von denjenigen, die mich an den neuen, aus Morgenthau geborenen Menschen denken lassen, von welchem der Walagesang spricht.

Auf meinen Ausflügen, die ich in den letzten Zeiten in New-York da und dorthin machte, bin ich oft bedeutenden Abtheilungen von Militär begegnet und gestern einem großen Cavaleriecorps, das durch die Straßen paradirte; Reiter und Pferde sahen ganz martialisch und prächtig aus. Ich habe in keiner Hauptstadt Europas so viel Militär in Bewegung gesehen, wie in New-York. Aber dieses hier besteht aus selbstconstituirten Regimentern und exercirt sich zu seinem eigenen Vergnügen. Mehrere Male des Tages hört man in Broadway heitere Regimentsmusik und sieht kleinere Truppenabtheilungen in schönen Uniformen und guter Haltung oft mit Blumen in den Flintenläufen, marschiren. Diese Freicorps, junge Bürgermiliz, haben sich dann außerhalb der Stadt im Schießen und Exerzieren geübt und kehren von da mit einer Musik zurück, die immer gut ist und muntere heitere Märsche oder sonst fröhliche Melodien spielt. Dieses friedenpredigende Volk ist seiner Natur nach kriegerisch und sein Eroberungsgeist hat zwei Gesichter wie der Gott Janus.

Die Kriegsakademie in Westpoint, die einzige Anstalt dieser Art in den Vereinigten Staaten, habe ich von europäischen Kennern als ausgezeichnet rühmen gehört, und die Offiziere, die aus ihr hervorgehen, sollen sich sowohl durch Kenntnisse als durch Tapferkeit hervorthun. Während des mexicanischen Krieges war die Anzahl der verwundeten und todten Offiziere verhältnißmäßig weit größer als die der Soldaten, und dieß zeugt von dem Heldenmuth, womit sie ihre Schaaren anführten.

Heute habe ich auf dem großen americanischen Dampfschiffe Atlantis, das am 13. d. von New-York nach Liverpool abfährt, meinen Platz genommen. Dampfschiff und Capitän (Mr. West) gehören der ersten Classe an und man kann sich ihnen getrost anvertrauen. Heute Mittag reise ich wieder zu Springs in Brooklyn, und morgen treffe ich Downing, der von Washington kommt und mich wieder in sein schönes Haus am Hudson führt. Dort wird mein letzter Besuch in America sein; dort war auch mein erster. Einige andere Besuche kann ich, so gern ich wollte, nicht mehr machen. Aber diesen gebieten mir sowohl Pflicht als Liebe.

Den gestrigen Abend, meinen letzten in New-York, brachte ich mit meiner liebenswürdigen Freundin Mrs. G. im Hause ihres Vaters, des alten berühmten Quäkers Isak Hopper, zu. Der prächtige Greis ist 84 Jahre alt, und noch beinahe so munter und feurig wie ein Jüngling. In dem charakterstarken, schönen Gesicht sieht man das Feuer des Kriegsgeistes vereint mit der Festigkeit und Klugheit des Friedensprincips, unterstützt von viel Humor und Schlauheit. Die Gestalt in ihrem Quäkercostüm ist nicht ohne eine gewisse chevalereske Ziererei. Man sieht es Vater Hopper, wie er gewöhnlich genannt wird, wohl an, daß er der streitenden Kirche angehört, und sein ganzes Leben war Zeuge davon. Er hat während seiner rastlosen Thätigkeit im Dienste der Unterdrückten mehr als tausend flüchtigen Sklaven aus den Händen ihrer Verfolger geholfen und dabei mehrere Male sein Leben gewagt, er ist mißhandelt, auf die Straße geschleppt, einmal vom dritten Stock eines Hauses zum Fenster hinausgeworfen worden; aber er ist immer wiedergekehrt, beharrlich, fest, munter, muthvoll und stets besonnen, wie er sein angefangenes Werk auszuführen hatte, mit einer gutmüthigen Hartnädigkeit, die zuletzt selbst den Unwillen seiner Gegner besiegte. Auf seiner Tochter und meine Bitte erzählte er einige der Ereignisse aus seinem Leben, die mit seinen Bemühungen zur Rettung flüchtiger Sklaven zusammenhingen. Interessantere Auftritte erinnere ich mich selten gehört zu haben, und selten habe ich einen so genußvollen und anregungsreichen Abend zugebracht. Der alte Hopper hat zwölf Kinder und an seinem Tische saß in ihrer feinen weißen Quäkertracht seine schöne zweite Frau.

Eine junge Tochter verschönte noch das Haus des alten Vaters. Es lebe Vater Hopper und seine Familie[1].
Den 5. und 10. Septbr.

Tage am Hudson! Letzte Tage in meiner ersten schönen Heimath an seinem Ufer, schöne Tage, aber dennoch – bitter. Es überkommen mich sehr häufig mit einem Gefühl von herzzerreißendem Schmerz, das ich nicht beschreiben kann, Gedanken, daß der Augenblick der Trennung jetzt herannaht, daß ich wirklich und für immer dieses große herrliche Land verlassen soll, wo ich ein so genußreiches Leben gehabt, das mich mit einer Gastfreundschaft ohne Gleichen empfangen hat; diese edlen liebenswürdigen Menschen, die meine Freunde sind, an die ich mich so innig angeschlossen habe, mit denen ich immer leben und umgehen möchte. Nirgends habe ich solche Freunde gefunden! – – Glaube nicht, meine theure Agathe, daß ich darum minder gern nach Hause komme; glaube mir, ich könnte nirgends leben und wirken, als in Schweden, aber dennoch ist es mir bitter, von hier zu scheiden, und ich begreife manchmal gar nicht, daß es möglich, daß es wirklich sein kann! – Es kommt mir so ungereimt vor.

Mr. Downing, Andrew Downing, mein erster Freund auf Americas Erde, mein junger americanischer Bruder, wie ich ihn zu nennen liebe, welch eine Freude war es für mich, ihn wieder zu sehen! Der gute Marcus Spring hatte mich bis ans Dampfboot begleitet und wartete dort im Salon bei mir, bis Downing der Verabredung gemäß von Washington kam, worauf er mich seiner Obhut übergab. Es waren mehr als anderthalb Jahre verflossen, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Er schien mir schöner, männlicher geworden zu sein; ich meinte, er sei gewachsen, er habe sich entwicklt; und so war es auch, er hatte sich geistig entwickelt; er selbst und seine Welt. Seine schönen Augen strahlten von selbstbewußter Kraft.

Wir fuhren, wie schon früher vor etwa zwei Jahren, den Hudson hinan; er saß still, wie gewöhnlich, neben mir, nachdem wir die ersten natürlichen Mittheilungen zwischen Freunden gewechselt hatten; auch ich fühlte kein Bedürfniß zu sprechen, denn – – wir verstanden ja einander.

Es war der schönste Nachmittag und Abend. Der Wind war lebhaft und frisch, obschon warm; die mehr als gewöhnlich aufgeregten Wogen tanzten und sangen um uns her, die Natur war voll von einem unruhigen, aber lieblichen Leben. Kein Nachtfrost hatte noch die grünen Höhen angehaucht. Des Herbstsommers zauberhafter Schleier begann sich auf sie zu legen. Der Mond stieg auf und vermischte seine Lichtwellen mit denen des Windes und des Wassers. Ich saß stilllauschend und wehmüthig da. Ich fühlte, daß die Abschiedsstunde nahe war.

Caroline Downing empfing uns wie das erste Mal. Auch sie fand ich verjüngt, verschönt. Ich selbst fühlte, daß ich an Seele und Leib gealtert hatte; aber ich hatte auch in diesen zwei Jahren mehr erlebt, als sonst in zehn, und Vieles davon, und Dinge, die mich am innigsten berühren, kann ich Dir erst mündlich mittheilen.

Ich freue mich sehr, die Entwicklung von Leben und Wirksamkeit zu sehen, die bei Downing vorgegangen ist. Sein äußerer Wirkungskreis steht jetzt in der höchsten Blüthe. Präsident Fillmore nimmt ihn für große Parkanlagen um das Capitol in Washington her in Anspruch, und es sind jetzt zwei junge Architekten aus England da, die unter Downings Leitung Pläne zu den Häusern machen sollen, mit deren Aufführung ihn Privatpersonen beauftragt haben, die in ihren Land- und Lusthäusern das Schöne mit dem Bequemen zu vereinigen wünschen. Downings Wirkungskreis und Correspondenz ist gegenwärtig unglaublich groß und erstreckt sich über die ganze Union. Gleichwohl besorgt er Alles so leicht, so con amore, wie Jenny Lind zu singen scheint. Aber was mich besonders erfreut, das ist die Richtung, die seine literarische Thätigkeit genommen hat. Ich habe ihm zuweilen halb im Scherz, halb im Ernst vorgeworfen, daß er in seiner verschönernden Thätigkeit exclusiver und aristokratischer sei, als es einem rechtschaffenen Republicaner anstehe. Und wir haben darüber verschiedenes freundschaftliches Gezänke mit einander gehabt. Man kann auch an Downings von Natur feinem Wesen wohl sehen, daß es ihm schwer sein muß, sich mit gewissen Grobheiten und Unmanierlichkeiten auszusöhnen, die sich bei einem Volk vorfinden müssen, wo Alle gleiche Rechte besitzen und sich als gleich gut betrachten, ehe sie noch den innern und äußern Bildungsgrad gewonnen haben, welcher allein die Gleichheit natürlich und das Gleichheitsleben angenehm macht. Er schien mir auch in seiner Stimmung gegenüber dieser Volksclasse allzu rückhaltend und indifferent dazustehen. Aber so dürfte er als christlicher Republicaner nicht bleiben. Deshalb habe ich auch mit herzlicher Freude jetzt einen Leitartikel von ihm über den New-Yorker Park in der letzten Nummer seiner Monatschrift, the horticulturist, gelesen, einen Artikel, worin er einen höhern Standpunct einnimmt, als er bisher innegehabt. Du, meine Agathe, mußt mit mir auch einige Worte von ihm lesen, denn sie verdienen gelesen zu werden und die letzten zu sein, die ich von der neuen Welt aus citire. Ich lasse Downing reden:

„Wir haben noch Nichts über den socialen Einfluß eines solchen großen Parkes für New-York gesagt[2]. Aber dieß ist in der That selbst die interessanteste Seite der ganzen Sache. Es ist ein merkwürdiges Factum in America, daß, obschon seine politischen Tendenzen ultrademokratisch sind, seine intelligenten socialen Tendenzen beinahe in einer ganz entgegengesetzten Richtung liegen. Und unter den Gegenständen, welche die Redner für und gegen den Park in New-York verhandeln, scheint keiner so wenig verstanden zu werden, als daß sociale Verhältniß der Sache. Es ist in Wahrheit sowohl sonderbar als lustig, den Standpunct zu sehen, der auf der einen Seite von Millionen eingenommen wird, nemlich, daß der Park für die wenigen Vornehmen bestimmt sei, die in glänzenden Equipagen fahren, und auf der andern Seite von den Vornehmen und Gebildeten, daß ein Park hier zu Lande sicher von der Canaille und dem Gesindel ruinirt werde. Schande über unsere republicanischen Landsleute, welche den erhebenden Einfluß des Schönen in der Natur und Kunst, wenn es von Tausenden und Hunderttausenden von Menschen aller Classen, ohne Unterschied, gemeinschaftlich genossen wird, so wenig verstehen. Sie können nicht gesehen haben, wie in ganz Deutschland und Frankreich die Bevölkerung ganzer Städte ihre Nachmittage und Abende in den schönen öffentlichen Pärken und Gärten zusammen zubringen, wie sie zusammen sich an derselben Musik erfreuen, dieselbe Atmosphäre von Schönheit und Kunst einathmen, dieselbe Scenerie genießen, und schon allein durch den Einfluß des freien, leichten Zusammenlebens in dem Raume und der Schönheit, wovon sie umgeben ist, an socialer Freiheit und Verfeinerung gewinnen. Sie können nicht gesehen haben, wie in Deutschland besonders die Höchsten und die Niedrigsten dieselben Genüsse theilen u. s. w.

„Diese socialen Zweifler, die sich auf solche Art in der Burg der Exclusivität im republicanischen America verschanzen, täuschen sich in Betreff unseres Volkes und seiner Bestimmung. Wenn wir auf sie gehört hätten, so würden unsere prachtvollen Fluß- und Binnenseedampfboote, diese wahren Paläste für Millionen, keine Sammtsophas, keine großen Spiegel, keine reichen Teppiche bekommen haben. Solche kostbare Erzeugnisse der Civilisation – würden sie uns gesagt haben – könnten rechtmäßiger Weiße nur von den privilegirten Familien der Wohlhabenheit benützt und würden von der Demokratie des Landes, die hundert Meilen für einen halben Dollar reist, zertreten und gänzlich ruinirt werden. Und gleichwohl werden diese unsere schwimmenden Paläste und unsere großen Hotels mit ihrem Purpur und ihren feinen Leinen, von der Mehrheit derjenigen, welche sie benützen, ebenso wenig beschädigt, als andere Paläste von ihren rechtmäßigen Beherrschern.

„Ach über die Treulosigkeit der Wenigen, welche in Bezug auf die Mittel zur Bildung Vorrechte vor den Vielen besitzen, denen sie abgehen. Auf der niedrigern Plattform der Freiheit und Erziehung, auf welcher die Massen in Europa stehen, können wir die erhebenden Einflüsse sehen, welche durch den Zutritt des Volks zu Kunstgalerien, öffentlichen Bibliotheken, Pärken und Gärten ausgeübt werden, die das Volk in socialer Civilisation und socialer Cultur auf eine weit höhere Terrasse emporgehoben, als wir im republicanischen America bis jetzt erreicht haben. Und gleichwohl muß dieser breite Boden volklicher Verfeinerung im republicanischen America eingenommen werden, denn sie gehört hieher wesentlicher als irgend anders wohin. Sie ist in ihrer innersten Idee und Tendenz republicanisch. Sie nimmt die Volkserziehung da auf, wo die öffentliche Schule und die Stimmurne sie verlassen; sie erhebt den Arbeiter auf gleiche Höhe mit dem Mann der Muße und der Talente. Die höheren socialen und artistischen Elemente jedes Menschen liegen schlummernd in ihm, und jeder Arbeiter ist ein möglicher Gentleman, nicht durch den Besitz von Geld oder feinen Kleidern, sondern durch den verfeinernden Einfluß intellectueller und moralischer Cultur. Oeffnet daher die Thüren zu euern Bibliotheken und Gemäldegalerien weit, alle die ihr wahre Republicaner seid. Erbauet Säle, wo die Wissenschaft sich frei unter den Menschen verbreiten kann.


Leget großartige Pärke in euern Städten an und erschließet ihre Thore weit wie die Thore des Morgens für das ganze Volk. Wie es im Sonnenlicht des Mittags keine dunkle Stellen gibt, so soll Erziehung und Cultur – das wahre Sonnenlicht der Seele – die Strafruthe der Demokratie verjagen; und der unwissende Exclusive, der keinen Glauben an die Verfeinerung einer Republik hat, wird im nächsten Jahrhundert vor einem ganzen Volke dastehen, dessen System freiwilliger Erziehung im Verein mit vollkommener individueller Freiheit nicht bloß öffentliche Schulen für vorbereitende Kenntnisse, sondern auch gemeinschaftliche Genüsse für alle Classen in den höchsten Sphären der Kunst, Literatur, Wissenschaft und der socialen Vergnügungen umfaßt. Wären unsere Gesetzgeber weise genug, um heute die künftigen Schicksale der neuen Welt zu verstehen, so würde man sich nach fünfzig Jahren nicht halb so sehr darüber verwundern, wenn jeder Mensch in America die Feinheit eines Sir Philip Sidney besäße, als man sich zu seiner Zeit in England über den Gedanken verwunderte, daß eine ganze Nation von Arbeitern dereinst werde lesen und schreiben können.“

So mein Freund Downing, der hierin von seiner Sphäre als christlicher Künstler und Denker aus die Aufgabe der neuen Welt ausgesprochen und selbst die Stellung eingenommen hat, die eines Sohnes der neuen Schöpfung würdig ist. Er ist vom Volke ausgegangen, um es von seinem Standpunct emporzuheben; er hat sich mit der großen, wahrhaft republicanischen Partei im Lande vereinigt, deren Bestreben dahin geht, nach Oben gleich zu machen, und deren Wahlspruch lautet: „Alles für Alle!

Es ist mir eine besondere Freude zu sehen, wie nahe Downing von seinem Standpunkt aus jetzt demjenigen gekommen ist, den meine Freunde Springs eingenommen haben. Vermuthlich werden sie später auch in nähere persönliche Berührung kommen. Downing will das Phalanstère besuchen und wird sich vermuthlich mit seinen Kenntnissen und seinem artistischen Genie bei den Bauunternehmungen betheiligen, welche man dort vorhat.

So knüpft sich die geschwisterliche Kette, deren erstes Glied in der Hand dessen ruht, der zuerst auf der Erde ausgesprochen hat, daß alle Menschen Brüder seien. Seine Kraft möge sie bis zu ihrem letzten Gliede durchströmen! Ihm sei Ehre und Preis!


Am Abend.

Jetzt schreibe ich Dir wenig mehr von hier aus, es fehlt mir die Zeit, es fehlt mir das Herz dazu. Viele Briefe, die ich zu schreiben habe, Geschäfte des Augenblicks nehmen meine Stunden in Anspruch, und der Gedanke an den Abschied von diesem Land, diesen Freunden, diesem Volke ist mir wie ein Dorn im Herzen. Auch das Wetter drückt mich nieder; die Wärme ist erstickend; kein Windhauch, keine Luft, sondern eine Hitze wie in einem Ofen. Nur Abends, wenn der Mond aufgegangen ist und seine Silberfluthen unter die Schatten der Ufer und des Flusses ausgießt, dann ist es schön. Gestern Abend schlich ich mich allein und mit unsäglicher Wehmuth durch den Park. „Dieß Alles ist jetzt vorbei, diese Zeit, diese Bande der Freundschaft, diese großen Erscheinungen einer neuen Welt, diese schönen lebenswarmen Verhältnisse, vorbei, vorbei!“ Ich benetzte das Gras mit meinen Thränen. Aber als ich emporschaute, da sah der Vollmond klar und groß auf mich herab und leuchtete mir in die Seele und sagte: „Nein es ist nicht vorbei. Stärke dein Herz mit dem Licht, das ewig währt. Was der Mensch so gefunden, so vernommen hat, das bleibt ihm für immer und kann nicht sterben. Das ist eine unvergängliche Saat, die sich in neuen reichen Ernten im Reiche des Lichtes erneuen wird.“ Siehst Du, das sagte der Mond, mein Freund, zu mir, und getröstet ging ich wieder hinein und war still und dankbar. Morgen reise ich nach New-York, wohin meine Freunde mich begleiten.

Manches inhaltreiche Wort habe ich in diesen Tagen von einem stillen Freunde gehört, der jetzt wie früher nur wenig sagt, aber in diesem Wenigen so viel. Er wünscht, daß ich das Gute und Böse in diesem Lande mit Klarheit auffassen und ohne Vorbehalt aussprechen solle, aber er überläßt es meinem eigenen Geist die Wahrheit und die Art und Weise zu finden. „Das Alles, sagt er, werden Sie wissen, wenn Sie einmal nach Haus und in Ruhe kommen.“ Sein ganzes Benehmen und seine vollkommene Zuversichtlichkeit entzücken mich. Downings Interesse für die intellectuelle Entwicklung der Frauenzimmer in Europa ist ein Kapitel, das mich besonders mit ihm verbindet. Dieser helläugige Beobachter sieht besser als irgend Jemand, was darin fehlt. Mit großem Vergnügen hat er mir von Miß Coopers (einer Tochter des Romanschreibers) neuerdings erschienener Arbeit Rural hours (ländliche Stunden) erzählt, einem Tagebuch, worin sie einfach und wahrheitsgemäß alle Ereignisse schildert, die während eines Stilllebens auf dem Lande in der Natur um sie her eintreffen; man sieht die Jahreszeiten, das Gras, die Blumen, die Vögel kommen und gehen, und schöne Bilder der letzteren zieren die Arbeit. Im seinem Journal The horticulturist spricht sich Downing mit großem Beifall über Miß Coopers Arbeit aus, sowohl wegen ihres wissenschaftlichen Werthes, als auch wegen des Vorbildes, das sie der weiblichen Aufmerksamkeit gibt, indem sie dieselbe auf die täglichen Wunder in der Natur und auf das Große auch im stillen Alltagsleben lenkt, wo die Biographien der Blumen, der Insecten, der Vögel von den Naturfreundinnen vorzugsweise aufgefaßt und gezeichnet werden sollten. Downing ist übrigens ein großer „Ladiesman (Weibermann),“ wie man es hier nennt, und ein Bewunderer des Eigenthümlichen am Weibe. „Die Weiber müssen uns social neugebären (socially regenerate),“ ist ein Ausdruck, den ich mehr als einmal von ihm gehört babe. O! – – daß ich von diesem Freunde scheiden soll, einem der trefflichsten, meiner Natur am besten zusagenden, welche jemals das Glück oder vielmehr Gottes Güte mir geschenkt hat!




Rosenhütte, den 12. September.

Noch ein paar Worte, aber bloß ein paar, denn ich bin überschwemmt von Briefen und Geschäften und noch niedergedrückt von einer Migräne, welche die geistige und leibliche Ueberanstrengung mir zugezogen hat. Ehe ich von Downing schied, verbrachten wir einen Tag zusammen in Westpoint. Eine herrliche Aussicht, aber der Tag drückend heiß und ohne Luft. Die Segel glitten auf Hudsons spiegelglatter Fläche, ich weiß nicht von welcher Kraft getrieben, denn Wind war es nicht. An der Table d’hote Mittags saßen vor uns ein paar kleine, magere, schmächtige, blaßgelbe Mädchen allein und tranken Wein und aßen von allen Leckerbissen, wie wenn sie große Leute gewesen wären. Dieß entging Downings ernstem mißbilligendem Blicke nicht. Er sagte zu mir: „Dieß ist eines der Verhältnisse, von denen ich wünsche, daß Sie darauf aufmerksam machen.” Man thut in diesem Lande so viel für die Kinder, man betrachtet sie beinahe als heilige Wesen, und gleichwohl verderbt man die Kindheit durch weichliche Vernachläßigung.

„Dieß müssen Sie Ihrer Schwester Agathe von mir bringen,” sagte D., indem er mir einen großen, schönen Kupferstich von der Aussicht in Westpoint gab. Sein letztes Geschenk für mich waren Bartletts kostbares Werk American scenery (Americanische Landschaft) und Miß Coopers „ländliche Stunden.” Dieß war in New-York. Im Astorhause, wo wir einander zum ersten Male getroffen hatten, trennten wir uns. – – Ich fühle, daß es für immer ist auf Erden. Marcus Spring, sehr blaß von der Hitze, aber stets freundlich und sorgsam, kam im Wagen, um mich nach seiner Wohnung abzuholen.

Jetzt ist es spät am Abend, mein letzter Abend in der neuen Welt. Die Hitze ist entsetzlich; die Nächte bringen keine Kühlung. Die Leute sehen aus, als wären sie mehlig im Gesicht. Alle leiden an Husten. Ich begreife nicht, wie ich bis morgen reisefertig werden soll. Gute Nacht! Bald werde ich Schweden wiedersehen. Ach, wenn ich dann, wie bei meiner Rückkehr aus Dänemark, Dein artiges Gesichtchen, Deine lieben blauen Augen am Ufer sehen dürfte!

Mein Herzchen, ich habe mich sehr gesehnt, vor meiner Abreise aus America noch einen Brief von Dir zu erhalten, welcher mir sagte, daß Du wieder sommerwarm geworden seiest; die beiden letzten waren so schrecklich kühl. Aber kein Sommerbrief ist gekommen und ich muß im Glauben und in der Hoffnung leben. Und in Liebe umfasse ich herzlich Mama und Dich.

 N. S.

Auf dem Meer, September 1851.

Es ist vorbei. Ich habe es auf immer verlassen, das große Land, die lieben theuren Freunde! Es mußte einmal geschehen und es ist geschehen; aber ich fühle mich noch wie betäubt davon. Gott sei Dank jedoch, daß der schwerste Augenblick vorüber ist. Und der Morgen, wo ich abreisen sollte – das war ein wunderlicher Morgen. Ich war beinahe in Verzweiflung über die Menge kleiner Geschäfte, die ich noch besorgen mußte, und über das Kopfweh, das ich daneben hatte. Aber auf einmal wich es und Alles nahm eine heiterere Gestalt an; oben auf meinem Zimmer saß der gute Marcus und versiegelte meine Billete eins ums andre, sobald ich sie geschrieben hatte, und nahm meine Aufträge an und sagte dazwischen hinein ruhig und beruhigend: „Zeit genug, wir haben keine Eile!” Und es kam mir beinahe wunderbar vor, wie die Stunden und die Zeit sich streckten. Alles kam in Ordnung, Alles wurde licht und leicht, so wunderbar ruhig und auch so lieblich; – es war der Einfluß des milden Geistes, der mir nahe war. Ich war zur rechten Zeit fertig; Alles war fertig. Ich umarmte meine theure Rebecca, küßte Jenny und Baby und fuhr ab, begleitet von Marcus und Eddy.

Am Bord des Atlantic befand ich mich auf einmal in einem wahren Wirbel von alten und neuen Bekannten, Herren, die mir die Hand schüttelten und Abhandlungen schenkten, die sie geschrieben hatten; Frauen, die mir schöne Gaben überreichten; Bekannten, die mir Bekannte vorstellten; lieben Freunden aus dem Norden und Süden, die mich hier überraschen und mir Lebewohl sagen wollten, und wohin ich den Kopf drehte, wurde ich von Jemand geküßt. Ach, ich mußte froh sein, als die Glocke die Freunde vom Schiffe wegwies und ich mich in meiner Cajüte verbergen durfte. Die letzten Gesichter, die ich sah, waren die engelgleiche Eddy und der brüderliche, gute Marcus Spring. Hernach saß ich Stundenlang still und unbeweglich da, aber in meinem Zimmer hatte Marcus ein Bouquet von ewig grünen Pflanzen und rothen und gelben Immortellen aus dem Garten bei Rosenhütte aufgehängt und daran eine Karte mit einigen mit Bleistift geschriebenen Worten befestigt, und auf dieses Bouquet sah ich beinahe unverwandt, bis es gleichsam sein saftgrünes Laub um mein Herz schlang, und dann wurde Alles ruhiger in mir.

Es war um die Mittagszeit, als wir abreisten. Gegen Abend ging ich auf das Verdeck, um der großen neuen Welt noch einen Blick zuzuwerfen. Da lag sie am westlichen Horizont, dunkelgrün auf den blauen Wassern, in einem großen Halbkreis, wie ein offener Schooß, ein ruhiger einladender Hafen. Wolken mit pfirsichweichen Farbenschattirungen, vom dunkelsten Violett bis zum klarsten Gold und mildesten Rosenroth, lagen in pittoresken Massen über ihr; Regenschauer und Sonnenstrahlen ergossen sich befruchtend über sie; die Sonne befreite sich aus den Wolken und strahlte immer heller, je tiefer sie sich gegen den Rand des Himmels senkte, wo das große Land lag. Dieß war das letzte Bild, das ich von ihm hatte; so werde ich es in der Tiefe meiner Seele immer sehen.

Jetzt sehe ich mit meinen Augen es nicht mehr, sondern nur noch Himmel und Meer. Ich durchlebe wieder eine Pause zwischen zwei Lebenszeiten und zwei Welten. Aber mein Herz ist voll. Und fragt man mich, was das Volk der neuen Welt vor dem Volk der alten voraus habe, so antworte ich mit dem in meiner Seele noch frischen Eindruck dessen, was ich in America gesehen und erlebt: „Einen wärmeren Herzschlag, ein energischeres, jugendlich kräftigeres Leben.“

Unter den Briefen, die ich kurz vor meiner Abreise erhielt, befindet sich einer, den ich stets aufbewahren werde. Er ist nicht unterzeichnet, aber wüßte doch sein Schreiber (die Hand ist die eines Mannes), wie viel Freude er mir bereitet hat! Ich habe mitunter reizbar über Beweise von mangelndem Zartgefühl geklagt; aber ich habe nicht von den vielen mir zu Theil gewordenen Beweisen der einnehmendsten und zartfühlendsten Güte gesprochen, welche sich bloß näherte, um Vergnügen zu gewähren, und sich dem Danke entzog. Dieser Brief gehört dazu.

Das Wetter ist jetzt stürmisch und die See geht hoch. Ich lebe still in meinem Stübchen und betrachte das kleine Bouquet von grünem Laub und hellen Immortellen. Sie reden zu mir von America und von den Erinnerungen, die ich mitnehme. Ich werde keine theureren Gegenstände sehen, bis ich die schwedische Küste wiedersehe und Dich.



  1. Ueber diesen Menschenfreund in der edelsten und umfassendsten Bedeutung des Worts, der im Jahr 1852 starb, hat Maria Child ein höchst lesenswürdiges Werk herausgegeben, wovon in der Metzler'schen Buchhandlung zu Stuttgart eine Uebersetzung erschienen ist.
    Anm. d. Uebers.
  2. Er eifert nemlich in seinem Artikel dafür, daß der Park in einem weit größern Maßstab angelegt werden müsse, als man gegenwärtig beabsichtigt.
Vierzigster Brief Die Heimath in der neuen Welt. Dritter Band
von Fredrika Bremer
Nachwort im Mai 1853
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