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Die Heimath in der neuen Welt/Erster Band/Zehnter Brief

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Neunter Brief Die Heimath in der neuen Welt. Erster Band
von Fredrika Bremer
Elfter Brief
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Textdaten
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Autor: Fredrika Bremer
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Titel: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band
Untertitel: Zehnter Brief
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Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: Vorlage:none
Verlag: Franckh
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: Gottlob Fink
Originaltitel: Hemmen i den nya verlden. Första delen.
Originalsubtitel: Tionde brefvet
Originalherkunft: Schweden
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Erinnerungen über Reisen in den USA und Cuba
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Zehnter Brief.
Boston, den 1. Februar. 

Innigen Dank für Deinen Brief vom 15. September. Es freut mich so unendlich zu hören und zu sehen, wie es daheim in der großen und in der kleinen Heimath steht. Das Spielhaus daheim am Abend, wo so ernsthaft um — Nichts gespielt wird und Fabian so streng und eifrig im Spiel ist, klingt ungemein gemüthlich, und so noch Verschiedenes in Deinem Brief meine liebe Agatha. Wenn Du nur Deine gewöhnliche Winterbeklommenheit nicht hättest! Ach der Winter! Aber ich freue mich doch, daß der Dezember sich ein wenig besser empfindet als der November, und gewiß wird Dir der Januar noch besser bekommen. Und dann kommt die Aussicht auf den Sommer und die Bäder in Marstrand. Mama schreibt, Du seist augenscheinlich stärker geworden nach Deinem Bad im letzten Sommer. Und im nächsten Sommer mußt Du dann nach demselben noch bedeutend stärker werden. Aber Dein Ideal — die Viehmagd, die ihren Stier am Horn nimmt — wann wirst Du das erreichen?

Meine Kräfte nehmen seit einiger Zeit bedeutend zu. Dank sei es meinem vortrefflichen Doctor Osgood und seinen vortrefflichen Nichtspülverchen und Pillen. Und fühle ich mich gesund, so ist auch meine Seele frei und frisch, und dann kommen mir Gedanken, die mich glücklich machen; dann fühle ich mich froh, daß ich im Lande der Pilger bin, in diesem Lande, das die Pilgerväter, wie sie hier genannt werden, zuerst betraten, zuerst einweihten zur Heimath religiöser und bürgerlicher Freiheit, jenes kleine Häuflein, von welchem die Bildung dieses Welttheils ausgegangen ist und noch ausgeht.

Es war im Dezember 1620, als das kleine Schiff die Maiblume (the May flower) mit den ersten Pilgern, 100 an der Zahl, am Strande von Massachusetts landete. Sie gehörten der Religionspartei an, die in England Puritaner genannt wurde, die nach der Revolution und in Folge derselben sich aufgethan hatte, und die eine vollkommnere Reformation verlangte, als diejenige, welche Luther zu Wege gebracht. Sie wollten wirklich die Wahrheit in volle Wirksamkeit bringen, welche Luther ausgesprochen hatte, als er auf das unmittelbare Verhältniß des Menschen zu Gott durch Jesum Christum hindeutend das Recht der Kirche und Tradition, das zu bestimmen, was geglaubt und gelehrt werden sollte, verwarf und für jeden Menschen die Freiheit forderte in Glaubenssachen zu prüfen und zu urtheilen, ohne ein anderes Gesetz oder eine andere Auktorität als Gottes Wort in der Bibel anzuerkennen. Die Puritaner verlangten auf Grund dessen das Recht die Ceremonien und für sie leeren Formeln der alten Staatskirche abzulegen, das Recht ihre Geistlichen selbst zu wählen, das Recht Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten und selbst über ihre kirchlichen Angelegenheiten zu bestimmen. Der Puritanismus war ein Durchbruch des alten himmlischen Sauerteigs, von welchem Christus prophezeit hatte, daß er dereinst den ganzen Teig durchsäuern würde, des geistigen Freiheitsleben der Menschheit in Jesu Christo. Der von ihm ausgestellte Freiheitsbrief war das Losungswort der Puritaner. Mit diesem in Hand und Mund wagten sie sich in den Kampf gegen die herrschende Episcopalkirche, verweigerten ihre Vereinigung mit ihr, nannten sich Nichtconformisten und hielten besondere Versammlungen oder religiöse Conventikel. Staatskirche und Regierung vereinigten sich gegen sie und erließen das Conventikel-Plakat und Drohungen. Aber die Puritaner und Conventikel wuchsen mit jedem Jahr in England. Edle Priester mit dem Gemüth eines Wiklef schlossen sich ihnen an und mehrere der Angesehenen im Lande. Die Königin Elisabeth hatte sie noch mit Behutsamkeit und Achtung behandelt. Ihr Nachfolger Jacob rannte blind gegen die Mauer und sagte: „Ich will nichts von ihnen wissen! An den Galgen mit ihnen! Damit Basta.“ Und man ließ ihnen die Wahl zwischen Rückkehr zur Staatskirche oder Gefangenschaft und Tod. Das verstärkte die Opposition.

„Denn,“ sagt Thomas Carlyle, der sonst in seiner Kritik[WS 1] über das Menschengeschlecht ziemlich bitter ist, „man thut der Menschennatur Unrecht, wenn man glaubt, daß der Sporn zu großen Handlungen Eigennutz, irdischer Gewinn oder Genuß sei. Nein, was zu großen Unternehmungen anreizt und große Dinge zu Stande bringt, das ist die Aussicht auf Kampf, Verfolgung, Leiden, Märtyrerthum für die Sache der Wahrheit.“

In einer der nördlichen Provinzen Englands erhob sich zu dieser Zeit in Dörfern und Städtchen eine kleine Schaar von Männern und Weibern, welche vereint den Entschluß faßten alles dafür zu wagen, daß sie ihren reinen Glauben frei bekennen und ihm gemäß leben dürften. Sie waren Leute aus geringem Stand, meistens Handwerker oder Ackerbauer, die von grober Handarbeit lebten und gewöhnt waren mit harten Lebensverhältnissen zu kämpfen. Holland bot damals ihnen, sowie allen bedrückten Kämpen der Wahrheit einen Zufluchtsort. Und nach Holland beschloß das kleine Puritanerhäuflein zu entfliehen. Mit großer Gefahr entkamen sie ihren wachsamen Verfolgern und Leyden in Holland wurde ihr Zufluchtsort. Aber sie kamen da nicht fort; sie sahen ein, daß sie nicht bleiben konnten, sie fühlten sich als Pilger auf der Erde, die ein Vaterland suchen müssen, und mitten unter den Kämpfen mit den Bedürfnissen des täglichen Lebens entstand bei ihnen der Glaube, daß sie berufen seien ein höheres Werk in der Menschheit auszuführen, als was ihr gegenwärtiges Loos mit sich brächte. Sie fühlten sich angeregt von Eifer und Hoffnung, das Evangelium und Christi Reich in den weitentlegenen Ländern der neuen Welt auszubreiten, selbst wenn sie auch nur die Treppenstufen für Andere bilden sollten, um ein so großes Werk auszuführen.

Sie erbaten sich und erhielten nach großen Schwierigkeiten von der englischen Regierung die Erlaubniß, nach Nordamerika auszuwandern, um daselbst „zu Gottes Ehre und zu Englands Nutzen“ zu wirken.

Sie schafften sich zwei Schiffe an, die „Maiblume“ und „Eilbrav“[WS 2] (Speedwell), um sie übers Meer zu führen. Die jüngsten und stärksten des Häufleins, die sich freiwillig dazu erboten, wurden auserwählt, die gewagte Fahrt zuerst zu beginnen, nachdem sie sich allgemein durch Fasten und Beten darauf vorbereitet hatten. „Laßt uns“[WS 3], sagten sie, „Gott um einen rechten Weg für uns und für unsere Kleinen und um Unterkunft für uns Alle bitten.“ Blos ein Theil der nach Holland Ausgewanderten fand Platz auf den beiden Schiffen. Unter den Zurückbleibenden befand sich auch ihr edler Anführer und Lehrer Robinson. Aber vom Strande der alten Welt aus gab er ihnen zum Abschiedsgruß die herrlichen Worte: „Ich lege Euch vor Gott und seinen heiligen Engeln auf, daß Ihr mir nicht länger nachfolgen sollt, als Ihr mich dem Herrn Jesu Christo nachfolgen sehet. Der Herr hat Euch durch seine heiligen Worte noch mehr Wahrheit zu verkündigen. Ich kann nicht genug den Zustand in den reformirten Kirchen beklagen, die zu einem Stillstandspunkt in der Religionslehre gekommen sind und nicht weiter gehen wollen als die ersten Werkzeuge ihrer Reformation. Luther und Calvin waren große und glänzende Geister ihrer Zeit, aber sie drangen nicht in alle Rathschläge Gottes ein. Ich beschwöre Euch dessen eingedenk zu sein — das ist ein Artikel im Bunde Eurer Kirche — daß Ihr Euch bereit haltet jede Wahrheit anzunehmen, die Euch durch Gottes Wort wird geoffenbart werden.“

„Als die Schiffe bereit waren, um fortzufahren,“ schreibt einer der Auswanderer, „gaben uns die Brüder, die mit und für uns gefastet und gebetet hatten, ein Abschiedsfest in unseres Pfarrers Haus, das geräumig war. Und da erfrischten wir uns nach unseren Thränen mit Absingung von Psalmen, indem wir mit unsern Herzen sowohl als mit unsern Stimmen eine fröhliche Musik machten, denn mehrere von den Freunden waren sehr geschickt in der Musik. Darauf begleiteten sie uns nach Delft Haven, wo wir an Bord gehen sollten, und da bewirtheten sie uns von neuem. Und nach dem Gebet, daß unser Pfarrer sprach, während dessen Ströme von Thränen vergossen wurden, folgten sie uns zum Schiff. Aber wir waren außer Stands mit einander zu sprechen, aus übermäßig großem Kummer, daß wir von einander scheiden sollten. Aber vom Schiff aus gaben wir ihnen einen Gruß, und dann erhoben wir unsere Hände zu einander und unsre Herzen für einander zum Herrn unsrem Gott und gingen unter Segel.“

Günstige Winde führten die Pilger bald an Englands Küste. Aber dort mußte das kleinere der Schiffe, der „Eilbrav“ ausgebessert werden, und kaum hatten sie Englands Küsten aus den Augen verloren, kaum schwellten die Segel auf dem atlantischen Meer, als der Kapitän und die Mannschaft des Eilbrav über der Größe und Gefährlichkeit des Unternehmens den Muth verloren und nach England zurückzukehren verlangten. Die Leute auf der Maiblume waren damit einverstanden, „obschon dieß sehr leidig und niederschlagend war.“ Inzwischen beharrte eine kleine Schaar entschlossener Männer und Weiber — von den letzteren waren mehrere hochschwanger — auf ihrem Unternehmen. Und mit ihnen, ihren Kindern, ihrem Hausgeräthe und ihrem Vieh schwamm die Maiblume vorwärts auf dem großen Meer der neuen Welt entgegen, und zwar während der stürmischsten Jahreszeit. Nach 63tägiger stürmischer Fahrt sahen die Pilger die Küsten der neuen Welt. Die Maiblume wirft in einem Hafen am Ufer von Massachussetts Anker.

Noch ehe sie ans Land gehen, während die Maiblume noch auf den Wogen der Tiefe weilt, treten die Auswanderer zusammen, um über ihre künftige Regierungsform zu entscheiden. Freiwillig bilden sie sich zu einer politischen Corporation und setzen folgenden Vertrag auf:

„In Gottes Namen, Amen. Wir Unterzeichnete u. s. w. Nachdem wir es zu Gottes Ehre und zur Ausbreitung des Reiches Christi, sowie zur Ehre unseres Königs und unseres Landes unternommen haben, die erste Colonie in den nördlichen Theilen Virginiens zu begründen, erklären wir hiemit feierlich und gegenseitig vor Gottes Augen und vor einander, daß wir uns in einer bürgerlich politischen Körperschaft vereinigen zu unserer besseren Ordnung und Erhaltung, sowie zur Förderung der genannten Zwecke, und daß wir in Kraft dessen solche Gerechtigkeit, für Alle gleiche Gesetze, Befehle, Verordnungen, Einrichtungen und Aemter von Zeit zu Zeit ausfertigen, bestimmen und schaffen, von denen wir glauben, daß sie das Gemeinwohl der Colonie am Besten fördern können, und denen wir Alle Unterthänigkeit und Gehorsam geloben.“

Das Dokument wurde von allen Männern in der Gesellschaft‚ 41 an der Zahl, unterzeichnet. So wurde in der Cajüte der Maiblume die wahrste demokratischste Verfassung geschaffen, welche die Welt noch gesehen hat. Die demokratische Staatsgesellschaft, das sich selbst regierende Volk stieg, eine fertige Organisation, aus der Maiblume ans Ufer der neuen Welt.

Gleich Abraham war die Pilgerschaar, dem Rufe Gottes gehorsam, nach einem ihr unbekannten Lande ausgezogen, ohne noch genau das Werk zu wissen, zu welchem sie berufen war.

Sie gingen aus, eine freie, jungfräuliche Erde zu suchen, um allda ihre reine Kirche zu begründen zur Ehre für das Reich Gottes, und ohne es selbst zu wissen, legten sie dadurch den Grund zu dem neuen bürgerlichen Staat auf der Erde, zu einer Heimath und Gemeinschaft für alle Völker. Die Maiblume des bürgerlichen Gesellschaftlebens brach zugleich mit dem reinen Religionsleben aus ihrer Hülle hervor. Das war natürlich. Das Letztere schließt das Erstere in sich. Die Pilger trugen das Leben der neuen Weltbildung in sich, ohne es zu wissen.

Sie stiegen ans Land auf der Klippe, welche später Plymouther Klippe oder auch die Pilgerklippe genannt wurde. Einem jungen Mädchen erlaubte man zuerst, aus dem Boot ans Land zu springen. Ihr leichter Fuß war es, der zuerst auf dem Fels stand. Es war Winters Anfang, als die Pilger nach dem neuen Lande kamen. Sie wurden da von Kälte und Sturm und Widerwärtigkeiten empfangen. Sie unternahmen einen Streifzug ins Land und fanden an einem Ort etwas Korn, aber keine Wohnungen, nur indianische Gräber. Sie waren blos ein paar Tage im Lande gewesen und hatten, um sich vor Sturm und Schneegestöber zu schützen, Wohnungen zu errichten angefangen, als der Sonntag einfiel, und das ist charakteristisch für diese erste puritanische Gesellschaft, daß sie unter solchen Umständen alle Arbeit ruhen ließen und unverbrüchlich und andachtsvoll den Sabbath feierten.

Ich habe neulich die Erzählung oder vielmehr Chronik gelesen, die tagebuchartig über das Leben, die Kämpfe und Arbeiten der ersten Kolonie während der ersten Jahre ihrer Ansiedelung geführt wurde. Es ist eine einfache Chronik ohne Phrasen und Wortgepränge, ohne alle romantische Ausschmückung, aber sie hat mich mehr gerührt als mancher rührende Roman und erscheint mir größer als manches Heldengedicht. Denn wie groß in all seiner Anspruchslosigkeit ist nicht dieses Leben, dieses Mühen! Welcher Muth, welche Beharrlichkeit, welche Treue und unerschütterliche Zuversicht bei diesem kleinen Häuflein! Wie sie sich helfen diese Männer und Weiber, wie sie ausharren in aller Noth und Widerwärtigkeit, im Leben und im Tode! Sie leben von Gefahren umgeben, unter Kämpfen mit den Eingebornen, sie leiden vom Klima, aus Mangel an Wohnstätten und Bequemlichkeiten, aus Mangel an Lebensmitteln; sie liegen krank darnieder, sie sehen ihre Geliebten sterben, sie hungern und frieren, aber sie harren aus. Sie sehen ihre Niederlassungen zerstört und sie bauen neue. Unter Kämpfen mit Noth und Widerwärtigkeiten, unter dem Pfeilregen der Indianer gründen sie ihren Staat, ihre Kirche, stiften Gesetze, eine Schulordnung, und Alles, was eine menschliche Gesellschaft stark macht. Sie führen in der einen Hand das Schwert und in der andern den Pflug. Unter beständiger Lebensgefahr sinnen sie beständig auf das Wohl ihrer Nachkommen und stiften Gesetze, deren Weisheit, Reinheit und Menschlichkeit man bewundern muß. Auch die Kreatur ist in dieser Gesetzgebung nicht vergessen, und auf Mißhandlung von Thieren sind Strafen gesetzt.

In den ersten Jahren ist die Noth oft ungeheuer. „Ich habe Männer vor Schwäche, die durch Mangel an Nahrung herbeigeführt war, schwanken sehen,“ schreibt ein Augenzeuge.

Die Erndte des dritten Jahres wurde reichlich, und statt wie bisher nur für den gemeinsamen Erwerb zu arbeiten, durften die einzelnen Mitglieder jetzt für ihr eigenes Haus und ihr eigenes Wohl arbeiten. Das belebte die Arbeit und die Sorgsamkeit. Nachdem die Zeit der Noth überwunden war, trat eine Zeit der Blüthe ein und die Kolonie erweiterte sich schnell und kräftig. Binnen wenigen Jahren sagte man von ihr: „Man kann da Jahr aus Jahr ein leben, ohne einen Betrunkenen zu sehen, ohne einen Fluch zu hören oder einem Bettler zu begegnen.“ Diejenigen, welche die erste Noth überlebt hatten, wurden sehr alt. Kein Wunder, wenn von diesen starken Vätern und Müttern ein Geschlecht aufwuchs, das zu einem großen Volk wurde. Andere Kolonien gegen Süden mit schlafferen Sitten und geringeren Lebenszwecken waren ausgestorben oder brachten es blos zu einem schwachen Leben unter dem Kampf mit den Eingebornen, dem Klima und Schwierigkeiten aller Art, die ihnen in den Weg traten. Die Puritaner mit ihrem hohen Lebensziel, ihrem starken Glauben und ihren reinen Sitten wurden die Besieger der Wildniß und die Gesetzgeber der neuen Welt, und ich weiß nicht, daß je ein Staat eine edlere Grundlage und edlere Begründer gehabt hätte. Mit den Pilgervätern in der neuen Welt hatte die ganze Menschheit einen Schritt vorwärts gethan. Das Geschäft, das sie zu verrichten hatten, war die Sache des ganzen Menschengeschlechts. Sie waren die Ersten. Nach ihnen folgten Andere.

Denn wenn ich vom Lande der Pilger über die Länder der Vereinigten Staaten hinausblicke, so sehe ich überall, im Süden wie im Norden und Westen, das Land zuerst bevölkert und die Staaten begründet von einer europäischen Bevölkerung, welche Verfolgung für ihren Glauben erlitten hat, welche Gewissensfreiheit und Frieden auf der neuen, freien Erde sucht; ich sehe Hugenotten und Herrenhuter im Süden, und längs des Missisippi im Westen Protestanten und Katholiken von allen Ländern Europas diese höchsten Schätze des Menschen suchen und finden und auf dieser reichen Erde blühende Staaten bilden, ganz unter den Freiheits- und Staatsgesetzen, welche die ältesten Pilger gestiftet haben.

Denn ihnen gebührt die Ehre der neuen Schöpfung und von ihnen gehen noch heute die schaffenden Ideen in der Gesellschaft der neuen Welt aus, und freiwillig oder unfreiwillig nehmen die verschiedenen Emigrantenbevölkerungen und Religionsgesellschaften das Gepräge von ihnen an. Die häuslichen Sitten und das Zusammenleben werden darnach gebildet; das kirchliche Leben in allen Religionssekten erkennt den Einfluß des puritanischen Bekenntnisses: „Lebe wie du lehrst; laß deinen ganzen Wandel von deinem kirchlichen Bekenntniß zeugen.“ Und die Regierungsform, welche die kleine Gesellschaft der Maiblume organisirte, ist das Lebensprinzip in sämmtlichen Staaten von Nordameriḱa geworden und ist dieselbe, die jetzt an der Küste des stillen Meeres Californiens wilde Freischaaren bezwingt und mit stiller Macht ordnet, indem sie dieselben zu gleicher Zeit zur Selbstregierung und zum Gehorsam gegen das Gesetz erzieht.

Die alte Kolonie hat nach allen Theilen der Union Schaaren von Söhnen und Töchtern der Pilger ausgesandt, und sie bilden zur Zeit mehr als ein Drittel der Bevölkerung Nordamerikas. Am stärksten sind sie im Norden und am stärksten haben sie ihm das Gepräge ihres Geistes gegeben.

Betrachte ich die puritanische Gesellschaft, so wie sie sich in unsern Tagen, ungefähr 2 Jahrhunderte nach ihrer Niederlassung in der neuen Welt, zeigt, so scheinen mir zwei Grundkräfte darin die Triebräder zu sein. Die eine ist die Verwirklichung der Ideale des sittlichen Lebens; die andere ist der Drang die Erde zu erobern, d. h. alle ihre Kräfte und Erzeugnisse in den Dienst des Menschen zu nehmen.

Der Mann der neuen Welt und vor Allem der Neuengländer, humoristisch Yankee genannt, will erobern, und scheut dafür keine, wenn auch noch so grobe Arbeit und keine Beschwerde; die halbe Welt zu umreisen, um ein gutes Geschäft zu machen, ist ihm eine Kleinigkeit; der Wikingerdrang in seiner Natur, den er vielleicht ursprünglich von den skandinavischen Wikingern geerbt hat, zwingt ihn unaufhörlich zu wirken, zu unternehmen, etwas auszuführen, was ihm selbst und Andern Gedeihen bringt. Denn wenn er es selbst zu einem gedeihlichen Zustand gebracht hat, so denkt er (wo nicht schon früher) darauf sein Pfund dem allgemeinen Besten zuzuwenden. Er erwirbt, aber um wieder auszugeben. Er spart nicht egoistisch. Er hat einen lebhaften Bürgersinn und ist mehr darauf bedacht, einen von seinen Mitbürgern geachteten und geliebten Namen, als ein großes Vermögen zu hinterlassen. Er legt sein Erworbenes gerne in einem Institut oder einer wohlthätigen Einrichtung an, die sodann gewöhnlich seinen Namen trägt. Und ich weiß Personen, deren Wohlthätigkeitssinn so rein ist, daß sie auch diesen Lohn verschmähen.

In den nördlichen Staaten, die meistens von der ältesten Colonie bevölkert sind, scheinen die sittlichen Ideale von Mensch und Staat am Klarsten emporgekommen zu sein und noch immer klarer emporzukommen. Und nachdem ich ein Gespräch mit den verständigen Idealisten unter meinen Freunden, sowie durch Beobachtung des Geistes in den Institutionen und anderer Kennzeichen die Forderungen gesehen habe, die man an den Menschen und den Staat stellt, und für welche das junge Amerika als für seinen wahren Inhalt und Beruf in der Menschheit kämpft, scheinen sie mir hauptsächlich folgende zu sein:

Jedes menschliche Individuum soll in seiner Eigenthümlichkeit wahr sein; es soll allein mit Gott stehen und von diesem innersten Standpunkt aus nur seiner Ueberzeugung gemäß handeln.

Es gibt keine Tugend für das eine Geschlecht, die nicht auch für das andere eine Tugend wäre. Die Männer sollen in Sitten und Anstand bis zur Reinheit des Weibes kommen.

Das Weib soll Gelegenheit zur höchsten Entwicklung besitzen, die mit ihrer Natur vereinbar ist. Ihre Intelligenz soll gleiche Gelegenheit zur Kultur und Entwicklung haben, wie die des Mannes. Sie soll dasselbe Recht auf Freiheit und Aufsuchung des Glückes besitzen wie er.

Die Ehre der Arbeit und der ehrliche Lohn der Arbeit muß allen ehrlichen Arbeitern zukommen. Alle Arbeit ist an sich selbst ehrenhaft und muß so betrachtet werden.

Im Staat soll die Gleichheitsbewegung vorherrschen, die nach Oben gleich macht. Der Mensch soll durch eine gerechte und gute Behandlung gerecht und gut werden. Der gute Geist wird den guten Geist hervorrufen.

(Dieß erinnert mich an die schöne, mittelalterliche, schwedische Legende von dem Jüngling, der vom Zaubergeist in einen Wehrwolf verwandelt, aber beim Klang seines christlichen Namens, welchen seine Geliebte ruft, wieder in seine ursprüngliche Gestalt verwandelt wird).

Der Staat soll all seinen Mitgliedern die best mögliche Gelegenheit geben, ihre menschlichen Kräfte zu entwickeln und in Besitz ihrer menschlichen Rechte zu kommen. Dies wird theils durch Gesetze geschehen, die alle hemmenden Hindernisse wegräumen, theils durch allgemeine Erziehungsanstalten, die allen Bürgern Gelegenheit zu gleicher Entwicklung menschlicher Gaben verleihen, bis zu dem Alter, wo man glaubt, daß sie für sich selbst sorgen und über sich selbst bestimmen können.

Das Ideal des Staates wird theils durch die Vollendung des Individuums im Verhältniß zu seinem eigenen Ideal, theils durch die freien Vereine und Institutionen erreicht, worin die Menschen in brüderliche Verhältnisse zu einander treten und das Gefühl des solidarischen Verhältnisses und der gegenseitigen Verantwortlichkeit Aller erhalten.

Alles für Alle ist das wahre Ziel des Staates. Alle sollen zum Genuß alles Guten auf Erden kommen, sowohl leiblich als geistig, jeder nach seinem Maaß der Empfänglichkeit. Niemand wird ausgeschlossen, der sich nicht selbst ausschließt. Die Gelegenheit wieder einzutreten wird jedem offen erhalten. Darum soll das Gefängnis eine Besserungsanstalt sein, eine zweite Schule für diejenigen, die ihrer bedürfen. Der Staat soll sich in seiner vielseitigen Entwicklung so organisiren, daß Alle zu Allem kommen können, Alles zu Allen.[WS 4]



Das Ideal des amerikanischen Mannes scheint mir zu sein: Reinheit in der Absicht, Bestimmtheit im Willen, Einfachheit und Milde im Wesen und Benehmen. Dazu kommt etwas Zärtliches und Ritterliches im Verhältniß zum Weibe, eine Eigenschaft, die ihn[WS 5] unendlich schön läßt. In jedem Weib verehrt er seine eigene Mutter.

So scheint mir auch das Ideal der Amerikanerin, des Weibes der neuen Welt, Selbstständigkeit im Charakter, Milde im Wesen und Benehmen zu sein.

Das Glücksideal des Amerikaners scheint die Ehe und das häusliche Leben, nebst der bürgerlichen Thätigkeit zu sein. Eine Gattin, ein eigenes Haus und Heimwesen, ein eigenes Stück Land zu besitzen, es anzubauen und zu verschönern und dabei für den Staat oder die Stadt etwas Gutes zu wirken, das scheint das irdische Lebensziel der meisten Männer zu sein. Eine Reise nach Europa, um fertige Staaten und Ruinen zu sehen, gehört als eine gewünschte Episode mit dazu.

Von diesem amerikanischen Heimwesen habe ich genug gesehen und genug gehört, um sagen zu können, daß die Frauenzimmer im allgemeinen darin alle Gewalt haben, die sie haben wollen. Das Weib ist in der neuen Welt der Mittelpunkt und die Gesetzgeberin des Hauses, und der Amerikaner liebt es so zu haben. Er will, daß seine Frau ihren eigenen Willen im Hause habe, und er befolgt denselben gerne. Ich habe als charakteristisch für dieses Verhältnis folgende Aeußerung eines jungen Mannes anführen hören: Ich hoffe, daß meine Frau ihren eigenen Willen im Hause haben wird, und hat sie ihn nicht, so will ich ihn ihr schon beibringen („I will make her have it!“). — Ich muß jedoch sagen, daß ich in den glücklichen Häusern, wo ich erfüllen. Ergebenheit und gesunde Vernunft machen Alles gleich.

Die Erziehungsanstalten für Frauenzimmer stehen im Allgemeinen hoch über den europäischen, und in der Erziehung, sowie Behandlung des Weibes liegt vielleicht das Bedeutendste von Amerikas Zukunftsarbeit für das Menschengeschlecht. Das steigende Ansehen des Weibes als Lehrerin und ihre Verwendung dazu in öffentlichen Schulen, auch für Knaben, ist ein allgemeines Factum in diesen Staaten, das mich sehr erfreut. Seminare sind eingerichtet worden, um sie zu diesem Beruf zu bilden (das Westnewton-Seminar für junge Lehrerinnen, das von Horace Mann angelegt ist, hoffe ich besuchen zu können; es liegt in der Nähe von Boston). Auch scheinen Neuenglands junge Töchter eine ganz eigene Anlage und Vorliebe zu diesem Beruf zu haben. Junge Mädchen von vermöglichen Eltern widmen sich demselben. Töchter von armen Ackerbauern gehen in die Fabriken und arbeiten da eine Zeit lang, um Geld zu verdienen, so daß sie die Schulen besuchen und hernach ebenfalls Lehrerinnen werden können. Ganze Schaaren von Schullehrerinnen ziehen von hier aus nach den Staaten des Westens und Südens, wo täglich Schulen erstehen und unter ihrer Leitung geordnet werden. Im Allgemeinen rühmt man die jungen Töchter Neuenglands sehr für ihren Charakter und ihr Talent. Auch Waldo Emerson, der nicht leicht rühmt, sprach lobend von ihnen. Sie lernen in den Schulen alte Sprachen, Mathematik, Physik, Algebra, mit großer Leichtigkeit und kommen darin ebenso weit wie junge Männer. Neuerdings hat ein junges Frauenzimmer in Nantuchet (Massachusetts) sich in der Astronomie ausgezeichnet, einen Cometen entdeckt und dafür eine Medaille erhalten von — dem König von Preußen.

Die deutsche Literatur hat seit einigen Jahren einen starken Eingang in den nördlichen Staaten und einen bedeutenden Einfluß auf die studirende Jugend erhalten, hauptsächlich als Erweckerin des Sinnes für die Ideale des Lebens. Die öffentlichen Redner und Vorleser, welche die Menge anziehen, sind die Fürsprecher der menschlichen Ideale. Friede, Freiheit, Wahrhaftigkeit, Nüchternheit, Reinheit und Veredlung in jeder Richtung, in jedem Zustand des Lebens, Verbreitung der Vortheile des Lebens und der Bildung unter alle Menschen sind die Gegenstände, welche die Beredsamkeit beleben und Tausende von Zuhörern anlocken. Alle Fragen werden behandelt und bearbeitet in der Richtung: Nutzen Aller, Veredlung Aller.

Man sagt von einem Baum, er wachse, wenn er sich dem Himmel näher erhebt, und man kann in dieser Beziehung auch von diesem Staate sagen, er wachse. Seine Arbeit geht nicht blos in die Breite, sondern auch in die Höhe.


Den 3ten Februar. 

Seit meinem letzten Brief habe ich einen angenehmen Abend bei einem Antisclaverei-Meeting in Faneuil-Hall (einem großen Saal in Boston für allgemeine Zusammenkünfte) zugebracht, wo es sehr lebhaft zuging. Mr. Charles Sumner, welcher wünschte, daß ich eine der Volksversammlungen hier sehen sollte, begleitete mich dahin. Einige aus den Sclavenstaaten entflohene Neger sollten der Versammlung vorgestellt und über sie gesprochen werden. Der Saal und die Gallerien waren gedrängt voll. Einer der besten Redner und gewiß der originellste Sprecher des Abends war ein großer Neger — John Brown, wenn ich mich recht erinnere — der neulich so glücklich war, mit Weib und Kind aus der Sclaverei zu entfliehen und der die Geschichte seiner Flucht erzählte. In der Beredsamkeit und in den Geberden des Mannes war eine Frische, eine Lebendigkeit, eine Eigenthümlichkeit, die nebst dem eigenen, großen Interesse der Erzählung unendlich ansprach. Dabei gebrauchte er gar kuriose Gleichnisse und Ausdrücke, bei denen die Versammlung in lautes Lachen ausbrach; aber da lachte John Brown mit, ließ sich nicht stören und schritt nur um so eifriger in seiner Erzählung voran. Ich erinnere mich noch besonders der Stelle, wo er seine Fahrt über einen Fluß beschrieb, während er von ausgesandten Häschern verfolgt wurde: „Da sitze ich jetzt allein im Boot mit blos einem Paar Ruder, und rudre und rudre aus allen Kräften, um zu dem freien Strand hinüber zu kommen, wo mein Weib und meine Kinder mich bereits erwarten. Und da sitzen die Verfolger mit drei Paar Rudern arbeitend, um mich einzuholen und festzunehmen, und sie sind nahe bei mir; — aber über uns sitzt der große Gott und sieht auf uns und er gibt mir den Vorsprung. Ich erreiche den Strand, ich bin auf der freien Erde. Und noch an diesem Abend bin ich bei meinem Weib und bei meinen Kindern!“ Die Versammlung klatschte stürmisch. Nachdem dieser Redner abgetreten war, kam eine Gruppe, die gleichfalls mit lebhaftem Geklatsche begrüßt wurde: Ein weißes junges Frauenzimmer in einfach weißem Kleid und gänzlich schmucklosem Haar trat mit einer dunkeln Mulattin an der Hand vor. Letztere war Sclavin gewesen und hatte sich auf einem Schiff, wo sie verborgen wurde, gerettet. Ihr Eigenthümer hatte ihr Versteck beargwohnt, Erlaubniß zur Untersuchung des Schiffes erhalten und dann einen starken Schwefelgeruch gemacht, um sie zum Hervorkommen zu veranlassen. Sie hatte indeß den Rauch ausgehalten und war glücklich entkommen. Es sah hübsch aus, wie die junge weiße Dame, Miß Lucy Stone (eines der Frauenzimmer, die ich bei meiner Doctorin gesehen hatte) ihre Hand über den Kopf des schwarzen Mädchens ausstreckte, sie Schwester nannte und als solche sie der versammelten Menschenmenge vorstellte. Es sah gut und schön aus, und so wurde es auch von Allen empfunden, daß die weiße Frau hier als Beschützerin und Freundin der Schwarzen dastand. Miß Lucy machte es auch recht gut, vollkommen weiblich, still und schön. Sie trat sodann vor, um die Geschichte der früheren Sclavin zu erzählen, und sprach eine gute Weile mit vollkommner Selbstbeherrschung, Klarheit und Würdigkeit in Ton und Geberden über die Sclaverei. Aber statt, wie sie konnte und mußte, das weibliche Bewußtsein des Lebens auszusprechen, statt die Theilname für das Unrecht anzuregen, welches besonders das Weib in der Sclaverei dadurch erleidet, daß ihre Kinder nicht ihr gehören, daß das Wesen, das sie in Schmerzen zur Welt bringt, ein Eigenthum ihres Herrn ist und ihr jeden Augenblick weggenommen und verkauft werden kann, statt auf diese und mehrere andere, das Rechtsgefühl und das Herz gleich empörende Verhältnisse, die besonders das Weib in der Sclaverei treffen, Gewicht zu legen, ging Miß Lucy auf die in den Journalen bereits breit getretene Polemik gegen die Sclavereiverfechter im Norden, sowie gegen Daniel Webster und seinen warmen Eifer für die Freiheit der Ungarn, während er gleichgiltig 3 Millionen von amerikanischer Bevölkerung in einheimischer Sclaverei sehe, ein. Sie wiederholte blos, was Männer bereits gesagt, und zwar besser und kräftiger als sie gesagt hatten, und dadurch verfehlte sie ihren Beruf als Rednerin gänzlich. Wann werden die Weiber einsehen, daß sie, um den Platz auf dem Forum würdig auszufüllen, mit der Würde und der Macht von Wesen auftreten müssen, die wirklich neue und hohe Wahrheiten auszusprechen und zu vertreten haben? Sie müssen aus dem Zentrum der Weibersphäre denken und sprechen. Alles Wohlwollen und alle Höflichkeit der Männer wird in die Länge nicht ausreichen, um ihnen die öffentliche Bahn des Wetteifers zu erhalten, wenn sie dieselbe nicht durch eigenthümlichen Inhalt einnehmen. An diesem fehlt es in der Wirklichkeit nicht; er liegt den Weibern nahe; ist in ihnen, um sie, wenn sie ihn nur sehen wollen. Aber sie müssen auch sich selbst und das Leben tiefer auffassen. Die Weiber, die in allen Zeitaltern als Priesterinnen des innern Lebens, als Prophetinnen und Dollmetscher des Höchsten und Heiligsten vorangestanden, und als solche bei den Völkern und den Königen Gehör gefunden haben, Deborah, Wala, Sibylla, Egeria (um nur einige der ältesten Typen zu nennen), sie können den Weibern der neuen Welt den Weg zur öffentlichen Macht, zum öffentlichen Einfluß andeuten. Und fühlen sie diese höheren Kräfte nicht in sich, wie weit besser ist es dann, in stiller Zurückgezogenheit zu bleiben! Wie mächtig können sie nicht auch da sein? Welche Macht ist größer als die der Liebe und der vernünftigen Güte? Der Adler und die Taube, so habe ich sagen gehört, sind von allen Vögeln diejenigen, die am Längsten und Schnellsten zu ihrem Ziel fliegen.

Miß Lucy Stones Zuhörerschaft war gutmütig; sie lauschte aufmerksam und applaudirte am Schluß ihrer Rede, aber nicht sehr stark. Man rühmte ihre Leichtigkeit im Sprechen, das Passende ihres ganzen Benehmens, die Klarheit ihres Vortrags. Das war Alles, und mehr konnte es nicht sein, Im Ganzen war es nicht viel.

Mit den Herren, die nach ihr als Redner auftraten, kam mehr Leben und Interesse. Aber sie mißfielen mir durch ihren Mangel an Maßhaltung und Billigkeit, durch die Heftigkeit ihrer Ausrufungen und durch die Art, wie sie auch auf den Gallerien Personen suchten und bezeichneten, die mit ihrer Antisclavereiarbeit nicht einverstanden waren; es verletzte mich, daß ich das Familienleben entheiligen hörte, indem man z. B. Uneinigkeiten zwischen Vater und Tochter in diesen Fragen bloslegte, und auf verschiedene Arten gegen das göttliche Sittengesetz „Richtet nicht“ anstieß. Die Polemik wurde mit großer Bitterkeit und Persönlichkeit betrieben. Aber lebhaft und lustig ging es zu, und das Verhältniß zwischen den Rednern und dem Auditorium war in hohem Grad frei und vertraulich. In der höchsten Gunst schien der junge Jurist Wendel Philipps beim Publikum zu stehen. Und er ist wirklich ein ungewöhnlich begabter und ansprechender Redner, der das Publikum mit sich reißt und sich seiner Macht dasselbe zu rühren und zu elektrisiren wohl bewußt zu sein scheint. Ein junger Mr. Quincy — aus einer der vornehmsten Familien in Boston — sprach heftig gegen die Sclavereivertheidiger, und unter diesen gegen seinen eigenen ältesten Bruder, dermalen Maire in Boston. Aber das Publikum liebte seine Ausfälle, zumal gegen den Maire, nicht, sondern zischte und lärmte erschrecklich. Um so rüstiger ging Mr. Quincy ins Zeug; er spazierte dabei auf dem Amphitheater auf und ab und hielt die Hände in seine Rockschöße gesteckt, mit denen er fächelte, indem er just so drein schaute, als mache es ihm großen Genuß, sich von lieblichen Zephyrn anblasen zu lassen. Am Ende nahm jedoch der Lärm und das Geschrei: „Philipps! Wendel Philipps!“ dermaßen überhand, daß Mr. Quincy gar nicht mehr gehört wurde. Er hörte also zuletzt auf und winkte lächelnd Wendel Phillips an seine Stelle zu treten. Dieser, ein blonder, junger Mann von angenehmer Gestalt und ungezwungener Haltung, trat vor und wurde mit einer Beifallsalve begrüßt, worauf tiefe Stille eintrat. Wendel Philipps sprach mit der Ruhe und Sicherheit eines Redners, der seiner selbst und seiner Zuhörerschaft gewiß ist, und er nahm den Gegenstand auf, welchen Miß Lucy hatte liegen lassen; er sprach für die Sclavin, für die Mutter, deren neugeborne Kinder nicht ihr gehören, sondern dem Sclavenbesitzer und der Sclaverei. Er sprach darüber mit weicher, inniger Stimme und mit zärtlichen Worten, die aber im Stande waren wilden Unmuth über die Verhältnisse und Handlungen hervorzurufen, die er beschrieb. Dies war meisterhaft. Die Versammlung hing an seinen Lippen und griff jedes Wort auf. Einmal redete er, mitten in einer Beweisführung, meinen Begleiter, Mr. Sumner, mit den Worten an: „Ists nicht so, Bruder Sumner?“ Dieser lächelte und nickte Beifall. Gegen das Ende seiner Rede sprang ein wild aufgeregter Herr auf die Estrade und begann neben Philipps zu peroriren. Dieser lachte und bat die Versammlung, nicht auf diesen „unschicklichen Herrn“ zu hören; aber jetzt kam die Versammlung in Gährung, jedoch in aller Munterkeit; man lachte, man pfiff und schrie, man klatschte und zischte unter einander. Inzwischen begann man ganz ruhig die Gallerien zu räumen. Die Redner veranstalteten im Saal eine Kollekte für die Mulattin, worauf wir nebst der übrigen Menge abzogen, und ich mußte die methodische Stille bewundern, womit dies geschah. Niemand wurde gepufft oder gedrängt; jeder ging still und ruhig, wie die Reihe an ihn kam, und so verlief sich die Versammlung wie ein stiller Fluß. Und ich war froh eine Volksmenge gesehen zu haben, wo so viel Selbstgewalt von so viel Ordnung und Gutmüthigkeit beherrscht wurde.

Eines Tags besuchte ich mit Mr. Sumner das Staatshaus, sah den Senat schläfrig über einer Schuhlederfrage sitzen, und hörte im Haus der Repräsentanten viel sehr lebhafte, aber etwas plebejische Beredsamkeit in der Debatte über Pluralität und Majorität bei Abstimmungen (womit ich Dich nicht weiter behelligen will). Die Amerikaner sprechen mit der größten Leichtigkeit und Ungezwungenheit aus dem Stegreif; ihre Reden waren hier wie brausende Ströme, ihre Geberden energisch, aber einförmig und ohne Eleganz. Die Geste, die am häufigsten wiederkehrte, war die Ausstreckung des rechten Arms mit geballter Faust oder ausgestrecktem Zeigefinger. In beiden Häusern kamen der Präsident als Wortführer und mehrere Mitglieder zu mir, drückten mir die Hand und hießen mich willkommen. Ich erwähne dies, weil ich es schön und freundlich finde, auf diese Art eine fremde Person zu bewillkommnen, zumal ein Frauenzimmer, das ohne alle Bedeutung in der politischen Welt ist, sondern eigentlich der stillen Welt des Hauses angehört. Will das nicht besagen, daß die Männer der neuen Welt das Haus als das Mutterleben des Staates betrachten?

Ich hatte viel Vergnügen von diesem Besuch im Bostoner Staatshaus, das sowohl von innen als von außen ein stattliches Gebäude ist. Zwei große, schöne Wasserkünste springen vor der Façade, und oben auf der Freitreppe des Hauses hat man eine prächtige Aussicht. Unten liegt der große, grüne Platz, die Bostoner Allmand genannt, ebenfalls mit einer schönen Wasserkunst, die aus dem in der Mitte gelegenen Teich hoch aufspringt. Rundum auf drei Seiten gehen drei schöne Straßen, und längs derselben stehen hohe Bäume, meist Ulmen, die Prachtbäume von Massachusetts; einige von ihnen verschönern auch den parkähnlichen Platz. Auf der vierten Seite hat man eine freie Aussicht auf den Meerbusen. Hier, auf den breiten Asphaltseitengängen, unter den schönen Ulmen, liebe ichs, bei milder Witterung umherzuwandeln, durch die Baumzweige nach dem leuchtenden, blauen Himmel von Massachusetts emporzuschauen, und im Park die kleinen Republikaner anzusehen, wie sie lärmend und tobend aus der Schule kommen. In der Nähe dieses Platzes sind mehrere schöne, wohlgebaute Straßen, worunter die Mount Auburn Street, mit einer Aussicht auf die See; ich gehe hin, wenn ich mich von der Allmand aus nach meiner Wohnung in Benzons Haus zurückbegebe. Unter dem Hügel, auf der andern Seite liegt ein Markt, Louisburg Square genannt, wohin ich ebenfalls oft gehe, aber weniger wegen seiner kleinen Einzäunung von Bäumen und Gebüschen, mit der dürftigen Aristidessäule in der Mitte, als vielmehr weil Mrs. Bryant da wohnt; bei ihr befinde ich mich immer gut und wohl, komme auch gerne manchmal zu einem kleinen, gemüthlichen Mitagessen bei ihr, in Gesellschaft ihrer Mutter, Mrs. Lee, einer muntern und herzlichen, prächtigen alten Dame, so wie noch einiger andern Gäste. Mrs. Bryant ist eine fashionable Dame, die ihre Kleider fertig aus Paris bezieht und wie eine reiche Dame lebt, dennoch aber ein offenes Herz für die bescheidenen Liebeswerke des Lebens hat, und Alles um sich her, auch die Thiere, glücklich zu machen sucht. Sie hat einen stattlichen, grauen Windhund, Prinzessin genannt, den angenehmsten Haushund, mit dem ich noch Bekanntschaft gemacht habe.

Mrs. Bryants kleines Mädchen, Julia, hat merkwürdige Aehnlichkeit mit ihrer Großmutter, in Bezug auf Charakter, Lebhaftigkeit und auch Witz. Das herrliche Kind macht die hübschesten Wortspiele, ohne es zu ahnen.

Eines Tags, als man einen guten Schlittweg hatte, fuhr Mrs. Bryant mit mir aus, um die Schlittenfahrt auf dem Neck zu sehen, einer schmalen Landzunge, wo die Fashionables von Boston ihre Wettfahrten in Schlitten halten. Die jungen Herrn in ihren leichten, feinen Fuhrwerken mit raschen Rennern flogen wie der Wind dahin. Es sah hübsch und frisch aus. Einmal sah ich auch einen der Riesenschlitten, wo fünfzig bis hundert Personen beisammen sitzen. Er war mit vier Pferden bespannt, und gewiß saßen mehr als fünfzig junge Frauenzimmer in weißen und rosarothen Seidenhüten mit flatternden Bändern im Wagenkorb. Es sah aus wie ein ungeheurer Korb voll Blumen; recht zierlich und hübsch. Aber ich liebe es nicht die Menschen in Haufen zu sehen, nicht einmal als Blumenhaufen; die Menge vernichtet die Individualität. Und eine schönere Schlittenfahrt als die in unsern schwedischen Arracks, wo Herr und Dame auf Bären- oder Leopardenfellen neben einander sitzen, gezogen von zwei raschen Pferden mit wogender weißer Netzdecke, ein schöneres Fuhrwerk und ein schöneres Fahren habe ich nirgends gesehen.

Diesen Winter war die Schlittenfahrt in Boston nur unbedeutend, und überhaupt war der Winter nicht streng. Aber ich, die ich den schwedischen Winter so sehr liebe und in unsrer stärksten Kälte leicht athme, finde mich dennoch hier etwas bedrückt wenn die Luft kalt ist, wie eben jetzt. Es empfindet sich so hart und streng. Es kommt mir vor, wie wenn der strenge Geist der alten Puritaner in die Luft gefahren wäre und sie durchdrungen hätte. Und eine solche Luft taugt nicht für mich. Sicherlich ist Amerikas Luft von der europäischen spezifisch verschieden. Sie erscheint dünn und trocken, wunderbar fein und durchdringend. Und sicherlich wirkt sie auf die Konstitution der Einwohner ein. Wie selten sieht man nicht hier dicke Leute, runde Formen! Die Frauen sehen fein und nicht stark aus. Die Männer erscheinen kräftig und geschmeidig, sind aber gewöhnlich mager und wachsen mehr in die Höhe als sonst. Wenn sie über die Jünglingsjahre hinaus kommen, sinken die Wangen der Männer ein, und ihre Gesichtsbildung nähert sich dem indianischen Typus. Das Klima Bostons wird, in Folge der kalten Seewinde, allgemein für nicht gut gehalten. Ueber Boston kann ich dir übrigens nicht viel sagen, denn ich habe nicht viel und dieses wenige nicht in der rechten Stimmung gesehen. Die Stadt scheint mir außer einem Theil, von dem ich gesprochen habe, nichts sonderlich Schönes zu besitzen. Die Umgebungen dagegen sind mir als sehr schön geschildert worden und sollen an mehreren Orten denen von Stockholm gleichen. Bis jetzt habe ich sie blos von einem bedeckten Wagen aus und im Winterschmuck gesehen. Ich habe eine Menge schöner Landhäuser oder Villen bemerkt.

Meine genußreichen Stunden in Boston habe ich in Mrs. Kembles Vorlesungen (readings) aus Shakespear gehabt. Sie ist ein wahres Genie und besitzt ein bewundernswürdiges Talent in Ausdruck und Modulation der Stimme, die bei jeder Person, welche sie vorzustellen hat, augenblicklich wechselt. Was man sie lesen gehört hat, daß kann man nie vergessen. Sie versetzt uns gänzlich in die Welt und in die Scenen, welche sie darstellt. Ihre Mimik ist meisterhaft, ganz besonders in Heldenrollen. Ihr leuchtendes, prächtiges Gesicht, als sie als Heinrich V die Armee zur Tapferkeit ermahnte, vergesse ich nie. Und die Scene zwischen dem verliebten Kriegerkönig und der schüchternen, vornehmen und dennoch naiven französischen Prinzessin gab sie auf eine Art wieder, daß man lachen und weinen konnte, d. h. man lachte, aber mit Thränen in den Augen vor lauter Vergnügen. Wenn Mrs. Kemble vor das Publikum tritt, so erblickt man in ihr sogleich eine mächtige, stolze Natur, die sich vor dem Publikum blos beugt, in dem Bewußtsein es bald beherrschen zu können. Schon der erste Eindruck ihrer Persönlichkeit ist mächtig. Und dann — während ihrer Vorlesung, ja dann vergißt sie das Publikum und Fanny Kemble, und das Publikum vergißt sich und Fanny Kemble mit, und beide leben und athmen und schaudern und sind entzückt in den großen dramatischen Lebensscenen, welch sie mit wunderbarer Macht hervorzaubert. Sie ist eine kräftige, obwohl nicht große Gestalt, englisch rund; ihr Gesicht ist nicht eigentlich schön, aber doch hübsch und hat besonders einen reichen, prächtigen Ausdruck. „In ihrem Lächeln sind fünfzig Lächeln!" sagte Marie Lowell, die immer den Nagel auf den Kopf trifft, von ihr.

Gegen mich ist Mrs. Kemble unendlich liebenswürdig und artig gewesen; sie hat mir auch ein doppeltes Freibillet für mich und einen Freund zu ihren „Vorlesungen“ geschenkt. Dieser Tage las sie mein Lieblingsdrama unter den Shakepsear'schen, Julius Cäsar, und zwar so, daß es beinahe zu viel für mich war. Neben den herrlichen Heldencharakteren und ihrem Leben schien mir die Gegenwart um mich her und mein eigenes Leben mitten in derselben so arm, trivial, schwach und farblos, daß es — peinlich war. Und dies war es um so mehr, als ich, noch ganz aufgeregt von der Vorlesung, in jedem Zwischenakt und am Schluß des Stückes mich nach rechts und links wenden mußte, um mir Leute vorstellen zu lassen und Händedrücke zu wechseln — vielleicht mit den besten Menschen von der Welt, aber für den Augenblick wünschte ich sie alle zusammen in den Mond. Ueberdies hatte ich als Nachbarin ein mir fremdes Frauenzimmer, daß, so oft im Stück oder Vortrag etwas Bemerkenswerthes vorkam, es mir freundschaftlich mit dem Ellbogen zu verstehen gab.

Was die Menschen um mich her betrifft, so muß ich sie in zwei oder vielmehr drei Klassen abtheilen. Die eine ist liebenswürdig, voll von Güte, Feinheit und edlem Zartgefühl; ich habe in Wahrheit nirgends liebenswürdigere und angenehmere Leute kennen gelernt. Die zweite ist — gedankenlos; sie meint es gut, aber sie quält mich oft sehr, läßt mich niemals in Frieden, weder daheim noch draußen, in Kirchen und an andern öffentlichen Orten, und hat keinen Begriff davon, daß man Ruhe wünschen und ihrer bedürfen kann. In dieser Klasse herrscht allerdings große Neugierde, aber auch viel wirkliche Gutmüthigkeit und Herzlichkeit, obschon sie sich oft etwas sonderbar ausdrückt. Aber ich würde Vieles auch leichter nehmen, wenn ich mich bei meinen gewöhnlichen Körper- und Seelenkräften befände. Die dritte, ja — die ist ganz peinlich, und von ihr will ich weiter Nichts sagen, als daß sie aus sehr Wenigen besteht, die mir gestohlen werden können. Sie gehören einer Menschenart an, die sich wohl in allen Ländern findet. — Ich bekomme die ganze Woche hindurch Einladungen, nehme aber nur selten eine solche zu einem Mittagessen, d. h. einem kleinen Mittagessen an. Diese sind meistens recht angenehm, und ich bekomme da hübsche Familien in schönen, behaglichen Wohnungen zu sehen. In allen erkennt man die englische Anordnung und den englischen Geschmack wieder. Die Einladungen auf den Abend habe ich fast alle ablehnen müssen. Ich befand mich so unwohl in den Abendgesellschaften. Die Wärme der Gasbeleuchtung in den Salons, sowohl in New-York als in Boston, quält mich ebenfalls, verursacht mir Fieber und macht mich roth und häßlich. Dagegen habe ich mich einiger stillen Abende zu Haus erfreut, seit ich einen jungen Vorleser bekommen habe, wie ich mir keinen bessern wünschen konnte. Ein angenehmer und hübscher junger Mann, Mr. Vickers, der Sohn eines Engländers, des Associé von Benzon, der hier im Hause wohnt, erbot sich mir Abends vorzulesen, obschon er, wie er sagte, nicht wisse, ob er mirs zu Gefallen machen könne, da er noch niemals vorgelesen habe. Er las auch im Anfang etwas stammelnd, aber sachte und mit der allersanftesten männlichen Stimme. Dies war Musik für meine Seele und meine Sinne; es beruhigte mich auf eine liebliche Art. Bald verlor sich auch das Stottern gänzlich, und die Vorlesung wurde gleichmäßig und melodisch, wie ein sanft dahinrinnender Bach. Und so hat er mir manchen guten, stillen Abend bereitet, indem er mir Washingtons Biographie von Mr. Sparks, dem Präsidenten in Cambridge, oder Emersons Versuche und andere Bücher vorlas.

Bei beiden Geschlechtern habe ich eine auffallend singende Betonung bemerkt, wenn sie sprechen. Bei entwickelten Individuen wird diese melodisch, aber bei minder entwickelten, zumal Frauenzimmern, ist sie oft gleichsam klagend und mitunter piepsend, z. B. am Ende einer Frage, was nicht angenehm ist. Die Männer (die ungebildeten) näseln oft. Starke und volle Stimmen sind selten. Im Allgemeinen sprechen sie, besonders die Männer, leise, ohne Accent, mit einer gewissen Nonchalance, wie wenn sie die Worte ganz gleichgültig fallen ließen. Ich kann sie oft nicht hören und verstehen, wenn sie unter einander sprechen, so leise und ausdruckslos ist es. Gleichwohl sehe ich, daß sie mit diesen wenigen affectlosen Worten ganz kurz und bestimmt Partei ergreifen, Geschäfte abmachen u. s. w. Sie besinnen sich wenig, sprechen wenig, verlieren weder Zeit noch Worte, entschließen sich im Nu und mit einem Wink. Ich wundere mich oft, wie still und leicht die Sachen sich zu machen scheinen; man sollte meinen, die Leute benützen eine Art von Telegraph. In der feineren Gesellschaft legt man großes Gewicht darauf, mehrere Sprachen, besonders französisch zu kennen, und mancher möchte sich gerne mit seiner Fertigkeit darin rühmen, aber man wagt es höchst selten, obschon die Amerikaner weit besser französisch sprechen als die Engländer. Die Vernünftigen hier sind über eine solche Prahlerei weit erhaben und machen sich darüber lustig.

Auch Mr. Charles Sumner hat mir einige angenehme Stunden bereitet, indem er mir allerlei und namentlich Gedichte von Longfellow vorlas. Eines Tags las er mir eine Erzählung (die Wirklichkeit, ein Gedicht in Prosa) von Nathanael Hawthorne, vor, die mir so großes Vergnügen machte, daß ich mir erlaube, sie dir in der größten Kürze mitzutheilen.

Hawthorne ist einer von den jungen Prosaikern Nordamerikas, der sich bereits einen großen Ruf erworben hat. Seine Schriften sind mir von einer anonymen Freundin zugesandt worden, welche ich entdecken zu können hoffe, denn ich will ihr danken. Er behandelt nationale Gegenstände mit großer Sinnigkeit und Frische, und das mystisch düstere Gefühl, das in der Tiefe seiner Gemälde liegt wie ein nächtlicher Grund, auf welchem die Sterne vortreten, übt einen großen Zauber auf die Gemüther der neuen Welt, vielleicht auch deßhalb, weil es ihrer Alltagswelt so ungleich ist. Das Stück, das Mr. Sumner mir vorlas, heißt: das große steinerne Gesicht („the great stone face“) und der Gedanke dazu scheint aus dem wirklichen großen steinernen Gesicht entnommen zu sein, das man an einer Stelle unter den Bergen von New-Hampshire, die weißen Berge genannt, sehen kann.

In einem der Thäler New-Hampshires, erzählt Hawthorne, wurde in einer geringen Hütte von armen Eltern ein junger Knabe erzogen. Von seiner Wohnung und vom ganzen Thale aus konnte man in einem der hohen fernen Berge ein großes menschliches Profil gleichsam im Berg ausgehauen sehen, und es war bekannt unter dem Namen das große steinerne Gesicht. Es ging eine alte Sage im Thal, daß einmal ein Mann ins Thal kommen würde, dessen Gesicht dem großen steinernen Gesicht gleiche, und er sollte der edelste Mann sein und ein goldenes Zeitalter im Thal einführen. Der junge Knabe wuchs heran in der Anschauung des großen steinernen Gesichtes, welches das Thal beherrschte, und unter Gedanken an den erwarteten Fremdling, der eines Tags kommen und das Thal so glücklich machen würde. Ganze Stunden konnte er das große steinerne Gesicht betrachten und sich in den hohen Adel und die Schönheit seiner Züge vertiefen. So wuchs er auf, ging in die Schule, wurde Jüngling und Schullehrer und Pfarrer; aber immer sah er auf das hohe reine Gesicht im Gebirge, und immer mehr wuchs seine Liebe für die Schönheit desselben und immer inniger sehnte er sich nach dem Mann der Verheißung, der seine herrlichen Züge tragen sollte.

Auf einmal ging ein großer Ruf durch das Thal: Er kommt! er kommt! Und alles Volk zog aus um dem großen Mann entgegen zu gehen und ihn willkommen zu heißen, und der junge Priester unter der Menge. Und der große Mann kam in einem großen Wagen, gezogen von 4 Pferden, umgeben von einem jauchzenden Volkshaufen. Und alles Volk rief: Wie gleicht er dem großen steinernen Gesichte! Aber schon auf den ersten Blick sah der junge Priester, daß er es nicht war, daß er der verheißene Fremdling nicht war. Und nachdem er sich einige Zeit im Thal aufgehalten, sah alles Volk dieß auch. Aber der junge Priester wandelte seines Wegs still weiter, indem er Gutes that und den verheißenen Wohlthäter erwartete. Und immer sah er auf das große Gesicht und meinte vor seinen Augen zu leben und zu handeln. Noch einmal geht das Gerücht durch das Land aus: Er kommt, er kommt der große Mann! Und wieder strömt das Volk hinaus ihm entgegen. Und er kommt in Pracht und Herrlichkeit wie vorher und wieder ruft das Volk: Wie gleicht er dem großen steinernen Gesicht! Das ist er gewiß! — Und der Jüngling sieht ein blaßgelbes Gesicht, das wirklich dem großen Gesicht ein wenig gleicht; aber es ist doch auch etwas sehr ungleiches darin. Und nach einiger Zeit wird diese Ungleichheit immer mehr bemerkt und man sieht bald allgemein, daß der große Mann kein wirklich großer Mann und dem großen steinernen Gesicht ganz und gar nicht gleich ist. Und er wird aus dem Thal weggewiesen. Diese Hoffnungen und Täuschungen erneuern sich noch ein paarmal. Endlich gibt der Missionär seine sanguinische Erwartung auf, hofft aber noch immer im Geheimen und fährt fort im Stillen in seinem Beruf zu wirken, immer ernster und in ausgedehnteren Kreisen, immer zu dem großen Gesicht emporschauend und gleichsam seine Züge immer tiefer und tiefer in seine Seele prägend. Während der Zeit ist der Jüngling Mann geworden; sein Haar hat zu grauen und sein Gesicht von den Furchen des Alters gepflügt zu werden begonnen; aber noch ist der große Erwartete nicht gekommen. Gleichwohl hofft er noch immer. Inzwischen hat sein Einfluß das Volk im Thale veredelt und verschönert. Allgemeiner Friede und allgemeine Wohlfahrt sind nach einer langen Reihe von Jahren entstanden. Das Haar des Missionärs ist silberweiß; sein Gesicht ist blaß geworden und hat starre Züge bekommen, doch ist es voll von Menschenliebe. Da beginnt das Volk im Thale zu flüstern: Sieht man nicht deutlich, daß er eine merkwürdige Aehnlichkeit mit dem großen steinernen Gesichte bekommt? … Eines Abends kommt ein Fremdling zu der Hütte des Priesters und empfängt Gastfreundschaft. Er ist ins Thal gekommen, um das große steinerne Gesicht zu sehen und den Mann, von welchem das Gerücht sagte, daß er seine Züge trage nicht blos in der Schönheit des Gesichts, sondern auch in der Schönheit des Geistes. An dem stillen Abend vor den ewigen Lichtern, vor dem großen steinernen Gesicht im Gebirge erkennt der Fremdling den Gesuchten in — seinem Wirth; und dieser, dessen letzte Stunde gekommen ist, fühlt seine Seele schwellen von einer glückseligen Ahnung, während seine Züge im Tode erstarren und sich in diesem Augenblick zu vollkommener Gleichheit mit dem großen Gesichte verklären, welchem auch in der Todesstunde sein Antlitz zugekehrt ist.

Hawthorne ist wesentlich Dichter und Idealist seiner Natur nach. Sein letztes Buch, „der Scharlachbrief“, macht gegenwärtig großes Aufsehen und wird als ein geniales Werk gerühmt, Hawthorne selbst soll ein schöner Mann sein, gehört aber zu den menschenscheuen Dichternaturen. Seine Frau und seine Schwägerin kenne ich. Beide sind seelenvolle Weiber und namentlich die erstere ist sehr hübsch und angenehm. Hawthornes stehen im Begriff, nach der schönen Binnenseegegend im westlichen Massachusetts, Lenox zu ziehen, wo auch Miß Sedgewick wohnt und sie haben mich freundlich in ihr Haus eingeladen. Ich werde mich freuen, den Verfasser des „großen steinernen Gesichtes“ näher kennen zu lernen.

Ein sehr gelesener und talentvoller Schriftsteller, aber von ganz anderer Natur als Hawthorne, ist N. P. Willis in New-York. Geistreich, sarkastisch, voll von spielender Lebendigkeit, gibt Willis Genrebilder mehr aus dem äußern, als aus dem innern Leben. Hawthorne zeichnet mystische Scharlachbuchstaben aus dem dunkeln Innern des Herzens, Willis schreibt „beiläufige Pinselstriche“ („pencillings by the way“).

Cooper und Washington Irwing (der erstere lebt jetzt auf seinem Gut im Westen von New-York) haben uns durch ihre Romane und Erzählungen bereits zu näherer Bekanntschaft mit einem Welttheil eingeführt, den wir vorher nur wenig kannten, außer durch die Namen Niagara und Washington. Nach diesen Dichtern in Prosa haben sich mehrere Frauenzimmer in den nördlichen Staaten als Schriftstellerinnen im Roman und in der Erzählung ausgezeichnet. In der vordersten Reihe stehen und allgemein beliebt sind: Miß Katharina Sedgewick, deren vortreffliche Charakterschilderung und Gemälde amerikanischer Scenen wir auch in Schweden durch ihr „Redwood“ und „Hope Leslie“ kennen; Mrs. Maria Child, die in ihren Gemälden vom Leben der Vorzeit sowohl, als der Jetztzeit ihre warme Liebe für die Ideale des Lebens, für alles Gute, Edle und Schöne ausspricht und in allen Gegenständen, Menschen, Blumen, Sternen, Institutionen, Wissenschaften, Künsten, Ereignissen, den Punkt oder den Ton sucht, wo sie mit den ewigen Harmonien zusammentönen; eine rastlose Sucherin nach ewiger Ruhe in der Harmonie der Sphären, eine platonisirende Denkerin, eine Christin an Herz und Wandel. Mrs. Caroline Kirkland, geistreich, humoristisch und sarkastisch, aber auf dem Grund eines großen Herzens und eines großen Verstandes, wie wir dieß auch aus ihrem köstlichen Buch „Eine neue Heimath im Westen“ gesehen haben. Miß Maria Mac Intosh, die wir aus ihrem Roman „Scheinen oder Sein“ kennen, und deren alltägliches Leben ihr schönster Roman ist. Aber das dürfte man auch von den andern sagen können. Von Mrs. Sigourney habe ich bereits gesprochen. Mrs. L. Hall, Verfasserin eines größeren dramatischen Gedichts, Mirjam, kenne ich bis jetzt blos dem Rufe nach.

Die Zahl der Schriftstellerinnen und Dichterinnen zweiten und dritten Rangs ist hier Legion. Sie singen wie die Vögel im Lenz. Da sind eine Menge Zeisige, Buchfinken, Sperlinge, auch die eine und andere Drossel mit tiefen, gedankenreichen Tönen, schön aber wenig; aber der Lerche reichen, anhaltenden Gesang, der Nachtigall volle Begeisterung habe ich bei den Sängerinnen hier zu Lande noch nicht gehört. Und ich weiß nicht, ob diese reiche artistische Eingebung weiblichen Naturen angehört. Ich halte im Allgemeinen nicht viel vom Talent des Weibes als schaffende Künstlerin. Die „ungeschriebenen lyrischen Gedichte“ (the unwritten lyrics) wie Emerson einmal sagte, als wir davon sprachen) dürften ihre eigentliche Stärke sein.


Die jungen Lowells sind in Trauer versetzt. Ihr jüngstes Kind, die kleine schöne Rosa, ist gestorben. James Lowell meldete es mir kürzlich mit einigen Worten. Ich muß zu ihnen hinausfahren. Ich habe sie seit der Erkrankung des guten Kindes nicht gesehen.


Den 10ten Februar. 

Jetzt, meine gute Agatha, will ich den Augenblick am Flügel nehmen und …


Den 15ten Februar. 

Der Flügel ging just herunter, als ich ihn anfassen wollte. Ein Besuch kam, den ich empfangen mußte und dann Ach wie wenig Lebensgenuß hat man doch bei diesem gehetzten Leben, obschon es ehrenvoll sein sollte und wohl auch ist! Ich möchte einmal Ruhe haben vor offenen Briefen mit Einladungen, vor Bitten um Autographe, vor Versen, Packeten und Schachteln mit Geschenken an Büchern, Blumen u. s. w. Ich komme nicht dazu, oder vielmehr, es ist mir oft rein unmöglich, alle diese Briefe und Billete zu lesen, die im Verlauf des Tags eintreffen, und schon der Gedanke, sie beantworten zu müssen, macht mir Fieber, und dann die Menschen, die Menschen, die Menschen!!!

Inzwischen danke ich Gott und meinem guten Doctor innig, daß meine Gesundheit sich um soviel gebessert hat, denn das wird mich in den Stand setzen, künftig besser ein Wohlwollen anzunehmen, daß ich dennoch dankbar empfinde, um meinen Feldzug in diesen Ländern auszuführen. Ich kann Benzon nicht genug danken für das angenehme Leben, daß er mir in Boston bereitet hat, und ebenso Mr. und Mrs. King, meinen freundlichen Wirthsleuten seit Benzons Abreise. Ich habe, was Bequemlichkeit und Comfort betrifft, wie eine Prinzessin gelebt. Aber ich sehne mich nach dem Süden, ich sehne mich nach einer milderen Luft, ich sehne mich nach einem Leben mit der Natur. Ich sehne mich auch nach freien Ansichten, nach den unermeßlichen Prärien in dem wundervollen Westen, am Ohio und den Fluthen des Missisippi. Dort erst, so sagt man mir, werde ich das werdende Amerika sehen und verstehen. Aber soviel verstehe ich, aus dem, was man mir von der Fruchtbarkeit und dem Reichthum dieser Gegend sagt, daß, wenn einmal das tausendjährige Reich auf die Erde kommt, es hier im Missisippithal sein muß, das zehnmal größer sein soll, als das Nilthal, und eine Bevölkerung von mehr als 250 Millionen Menschen aufnehmen könnte … Wie schön muß es sein, wenn der Frühling kommt! Hier ist es jetzt sehr kalt und eine harte Luft.

Ich will Dir jetzt in aller Kürze ein kleines Bülletin über die Ereignisse der verflossenen Zeit geben.

Nach Cambridge zu Lowell reiste ich, hinausgeführt von dem ehrlichen Professor Parsens. Die kleine Rosa lag in ihren Sarg eingehüllt, noch schön, aber sehr gealtert; der Vater saß zu ihren Häupten und weinte wie ein Kind; Mary weinte auch so still, so schön, und ich weinte mit ihnen, wie Du wohl glauben kannst. Die liebenswürdigen jungen Gatten können ohne Bitterkeit weinen. Sie sind zwei, aber eins in Liebe. Sie werden sich an einander anlehnen und ausruhen. Aber beide sind sehr zartfühlend, so daß der Kummer sie tief ergriff. Mary erzählte mir, die kleine Mabel (sie ist 3 Jahre alt) sei am Morgen früh an ihr Bett gekommen und habe gesagt: Bist Du allein jetzt, Mama? (die kleine Rosa lag früher immer in der Mutter Bett) Soll ich Dich trösten? — Ueber Mittag war ich bei Professor Parsens, aber ich war betrübt, unwohl, ganz und gar nicht aimabel, und zwang mich beinahe mit Gewalt von der Abendgesellschaft hinweg, um nach Hause zu fahren. Wenn die Leute wüßten, wie dieses Nervenleiden mich angreift, so würden sie eine scheinbare Unfreundlichkeit, die nicht in meinem Wissen und Herzen liegt, verzeihen. Abends fand ich bei der melodischen Vorlesung des jungen Vickers Ruhe.

Eines Tags wurde ich von einem gefälligen jungen Landsmann, Herrn Wachenfelt, der seit mehreren Jahren hier ansässig ist, in Lowells berühmte Fabrik geführt. Ich hatte die Fahrt aufschieben wollen, denn es war so kalt und ich befand mich nicht wohl, aber man hatte mir zu Liebe Fremde eingeladen, ein Mahl veranstaltet und ich mußte also hinreisen. Und ich bereute es nicht. An dem sternhellen schneekalten Abend hatte ich von der Höhe von „Drewcott-Hill“ eine herrliche Aussicht über die Lowellschen Fabrikgebäude, die in einem Halbkreis von tausend Lichtern beleuchtet, gleich Zauberschlössern auf der schneebedeckten Erde lagen. Und dann zu denken, zu wissen, daß diese Lichter keine Irrlichter, daß sie nicht blos Schein und Zierrathen, sondern daß sie wirkliche Symbole eines gesunden und hoffnungsvollen Lebens der Personen waren, deren Arbeit sie beleuchteten; zu wissen, daß in jedem Herzen in diesen Arbeiterpalästen ein klares Lichtlein brannte, daß eine Zukunft der Behaglichkeit und des Wohlstandes beglänzte, die mit jedem Tag, mit jeder Drehung des Rades der Spinnmaschine näher kam! … In Wahrheit, die Lichter hier beschienen eine schöne Sache, und ich betrachtete diese Illumination mit einem Vergnügen, das mich die Mitternacht warm empfinden ließ.

Später schüttelte ich einer ganzen Menge Menschen in großer Gesellschaft freundlich die Hände und blieb bis in die späte Nacht in der Societät. Später besuchte ich die Manufacturen und sah die „jungen Ladies“ bei ihrer Arbeit, an ihrem Mittagsmahle, sah ihr Kosthaus, ihre Schlafzimmer u. s. w. Alles war comfortable und gut, wie wir sie beschreiben gehört hatten. Blos bemerkte ich, daß einige der jungen Ladies ungefähr 50 Jahre zählten. Auch waren einige in der Fabrik weniger gut gekleidet, andere dagegen allzu geputzt. Am Meisten frappirte mich das Verhältniß zwischen den Menschen und den Maschinen. So z. B. sah ich junge Mädchen, je eine an der Zahl, zwischen vier eifrig arbeitenden Spinnstühlen stehen; sie gingen zwischen ihnen herum, sahen zu, wachten über sie und pflegten sie ungefähr, wie eine Mutter für ihre Kinder sorgt und sich mit ihnen beschäftigt. Die Maschinen werden immer mehr gehorsame Kinder unter dem Mutterauge der Intelligenz. Die Procession der Arbeiterinnen, zwei und zwei in Shawlen, Hüten und grünen Schleiern, als sie zum Mittagessen gingen, sah hübsch und sehr anständig aus, und die Mittagskost, die ich an einigen Tischen sah (sie essen an kleinen Tischen fünf bis sechs zusammen) schien ebenfalls gut und anständig zu sein. Ich bemerkte Speck und Kartoffeln nebst Torten mit Compotfüllsel. Mehrere junge Frauenzimmer vom Bildungscirkel bei Lowell wurden mir vorgestellt, unter ihnen einige ausgezeichnet schöne. In der Kutsche fuhr ich dann über den knarrenden Schnee (es war an diesem Tag 17° kalt) mit meiner Gesellschaft aus, um die Stadt und ihre Umgebung zu sehen. Die Lage ist schön an dem frisch brausenden Merrimacfluß (dem lachenden Wasser), und die Aussichten von den Höhen der Stadt bis zu den weißen Bergen in New-Hampshire, die ihre schneeigen Scheitel hoch über alle andern sichtbaren Berge erheben, sind großartig und prächtig. Die Stadt, die vor etlichen und dreißig Jahren durch den Bruder von James Lowells Großvater angelegt worden ist in dieser Zeit von einer Bevölkerung von einigen hundert Personen bis auf 30,000 angewachsen, und in demselben Verhältniß ist auch die Zahl der Häuser gestiegen. Man legt großes Gewicht auf den guten Charakter der arbeitenden Mädchen, wenn sie in den Fabriken angenommen werden, sowie auf ihr Verhalten während der Dauer ihrer Beschäftigung in denselben. Ich habe von der einen und andern Entführung erzählen gehört. Aber das Arbeiterleben ist hier mächtiger, als das Romanleben, obschon es stark genug in den Herzen und Gehirnen der jungen Mädchen spukt; es wäre auch übel, wenn es nicht so wäre. Die Fleißigen und Geschickten können sechs bis acht Dollars in der Woche verdienen, aber Keine bekommt weniger als drei. Und so viel kostet ihre Pension in der Woche. So ist mir gesagt worden. Die Meisten legen Geld zurück, so daß sie nach einigen Jahren die Fabriken verlassen und ein weniger beschwerliches Geschäft unternehmen können. Abends kehrte ich mit der Eisenbahn nach Boston zurück, begleitet von dem gefälligen Wachenfelt, der bei den Lowellianern sehr beliebt zu sein scheint.

Etwas verlor ich durch meinen Besuch bei Lowell, und das that mir unendlich leid, nämlich Mrs. Kembles Vorlesung Macbeths, die an demselben Abend stattfand. Die Zeitungen hatten just in diesen Tagen ausführliche Berichte über die Untersuchung der Parkmann’schen Ermordung gegeben, und diese unheimlichen Details hatten auf Mrs. Kembles Phantasie gewirkt (sie gesteht das selbst zu), so daß sie ihrer Vorlesung des Shakespeare’schen Dramas eine schreckliche Wirklichkeit und den nächtlichen Hexenscenen, sowie dem ganzen Stück eine beinahe übernatürliche Macht gab. So haben mir mehrere Zuhörer erzählt.

Letzten Sonntag war ich mit Miß Sedgewick, die auf einige Tage in die Stadt gekommen ist, und etlichen Herrn in der Matrosenkirche, um den berühmten Matrosenprediger, Vater Taylor, zu hören. Er ist ein wahres Genie und entzückte mich. Welche Wärme und welche Originalität, welcher Reichthum an neuen Wendungen, an poetischen Gemälden! Er muß wahrhaftig geistig Todte erwecken können. Einmal, just als er von dem bösen und lasterhaften Mann in seinem Zustand sprach, unterbrach er sich und begann einen Frühlingsmorgen auf dem Lande zu beschreiben, die Schönheit der Gegend, die Ruhe, den Duft, den Thau auf Gras und Laub, den Aufgang der Sonne; und dann kam er zu dem bösen Mann zurück und stellte ihm diese Naturherrlichkeit vor; aber „der Unglückselige! er kann sie nicht genießen!“ Ein andermal, so erzählte man mir, kam er in seine Kirche mit einem Ausdruck tiefer Bekümmerniß, mit niedergebeugtem Haupte und ohne wie gewöhnlich nach rechts und links zu sehen, (notabene, er muß durch die Kirche gehen, um auf die Kanzel zu gelangen), und, wie er zu thun pflegte, seinen Freunden und Bekannten freundlich zuzunicken. Und Alle wunderten sich, was an Vater Taylor sein möchte. Er trat auf die Kanzel, und da beugte er sich nieder, indem er im Tone tiefster Betrübniß aufrief: „Der Herr erbarme sich über uns, denn wir sind eine Wittwe.“ Und er zeigte auf einen Sarg, den er unter der Kanzel auf den Gang hatte stellen lassen. Einer der Matrosen aus der Gemeinde war vor Kurzem gestorben und hatte sein Weib nebst mehreren kleinen Kindern ohne alle Versorgungsmittel hinterlassen. Vater Taylor erklärte sich und die Versammlung jetzt als eins mit der Wittwe und schilderte ihren Kummer und Zustand, ihre traurigen Aussichten so ergreifend, daß die Gemeinde nach der Versammlung wie ein Mann aufstand und der Wittwe Geschenke brachte, die ihr auf einmal aus der Noth halfen. Wahrhaftig, unsere ihr Concept ablesende und kalt moralisirende Geistliche sollten von Vater Taylor lernen, wie man die Seele rühren und hinreißen muß. Nach der Predigt wurde ich dem Vater Taylor und seiner freundlichen Frau, die gleich ihm eine warmherzige Natur ist, vorgestellt. Der Greis (er ist ungefähr 60 Jahre alt) hat ein sehr lebhaftes und ausdrucksvolles Gesicht voll von tiefen Furchen. Auf unsere Danksagungen für seinen Vortrag antwortete er: „Ach, es ist aus, es ist aus mit mir! Ich bin gänzlich gebrochen! Ich muß mich mit Gewalt hinaufschrauben, um ein wenig ins Feuer zu kommen! Es ist jetzt Alles vorbei!“ Während er so sprach, schaute er auf und rief mit leuchtenden Blicken: „Was sehe ich? O, mein Sohn! mein Sohn!“ Und mit offenen Armen ging er auf einen riesigen Jüngling zu, der mit strahlender Freude auf seinem frischen gutmütigen Gesicht in die Kirche kam und jetzt von Vater Taylor und dann von seiner Frau mit großer Innigkeit empfangen wurde. „Ist Alles recht hier, mein Sohn?“ fragte Taylor, sich auf die Brust klopfend. „Ist Alles wohlbehalten hier? Ist das Herz nicht hart geworden von dem Golde?“ Und als er große Thränen in des Jünglings Augen schwellen sah, rief er: „O, ich sehe es, ich sehe es! Es ist Alles recht! Alles gut! Gott sei gelobt! Gott segne Dich, mein Sohn!“ Und jetzt kam es zu neuen Umarmungen. Der Jüngling war ein junger Seemann (mit Vater Taylor blos geistig verwandt) und hatte sich, vom „Kalifornienfieber“ ergriffen, nach dem Goldland begeben, von wo er jetzt nach einjähriger Abwesenheit zurückkam, ob mit oder ohne Gold, weiß ich nicht. Aber daß das Herz seine Gesundheit nicht verloren hatte, das sah man deutlich. Ich habe hier viel von Vater Taylors und seiner Frau Güte und Freigebigkeit, hauptsächlich gegen arme Matrosen von allen Stationen, erzählen gehört.

Nachmittags an demselben Tag wohnte ich dem Gottesdienst in Mr. Barnards Kapelle bei, wohin ich eingeladen worden war. Ich sah in seinem Haus Proben von der bewunderungswerthen Wirksamkeit dieses Mannes in Unterstützung der Armen und Unglücklichen durch Erziehung und Arbeit. In der Kapelle, wo ungefähr 500 Kinder anwesend waren, gab ich nach dem Gottesdienst all diesen 500 kleinen Republikanern und Republikanerinnen, einigen von ihnen sogar zweimal, die Hand. Die Knaben waren besonders eifrig. Und sie waren prächtige Kinder voll Leben. — Die warme Thätigkeit für die Erziehung des jungen Geschlechts, welche durch diese nördlichen Staaten pulsirt, ist eine der sichersten und schönsten Zeichen von ihrem gesunden Leben und enthält die Prophezeiung einer großen Zukunft. Mr. Barnard ist Missionär in der unitarischen Gemeinde und eines ihrer eifrigsten Mitglieder in der Arbeit fürs Menschenwohl. Notabene, die meisten größeren Sekten hier zu Lande haben Missionäre, oder, wie sie auch genannt werden, Reiseprediger (Ministers at large), welche ausgesandt werden, das Wort zu predigen, Schulen zu stiften und Werke der Barmherzigkeit zu verrichten; unterhalten werden sie von der Gemeinde, der sie angehören, deren Lehren sie predigen und deren Gebiet sie erweitern.

Ich habe während meines Aufenthaltes in Boston verschiedene Kirchen besucht, und es hat sich so gefügt, daß die meisten von ihnen dem unitarischen Bekenntniß angehörten. Boston wird allgemein die Unitarierstadt genannt, so groß ist das Uebergewicht dieser Sekte hier. Und da zufällig mehrere meiner näheren Bekannten derselben angehören, so glauben Viele, auch ich gehöre dazu. Du weißt, wie weit ich davon entfernt bin, wie ungenügend und unbefriedigend ich diesen Standpunkt finde, den ich selbst einige Monate meines Lebens inne hatte, dann aber mit einem umfassenderen vertauschte. Aber hier zu Lande ist mir daran gelegen, nicht meinen Sympathien zu folgen, sondern jede bedeutende Schöpfung des Herzens und Gedankens in ihrer Eigenthümlichkeit kennen zu lernen. Darum suche ich überall das zu sehen und zu studiren, was charakteristisch ist. Darum will ich auch in Amerika die Kirchen aller Sekten besuchen, womöglich die ausgezeichneten Lehrer aller Sekten hören. Ihre Verschiedenheiten sind zwar für die speculative Auffassung des Lebens in seinem ganzen System von Gewicht, aber für das praktische Christenthum, für das innere Leben von geringer Bedeutung. Darum kümmere ich mich im Grunde wenig darum. Alle christliche Sekten bekennen doch denselben Gott, denselben göttlichen Mittler und Lehrer, dieselbe Pflicht, dieselbe Liebe, dieselbe ewige Hoffnung. Die verschiedenen Kirchen sind getrennte Familien, ausgegangen von demselben Vater und zu seligen Wohnungen führend im ewigen Vaterhause. Jeder hat seine besondere Mission im Reich des Gedankens auszuführen. Gott hat ungleiche Verstandesgaben verliehen. Daher ungleiche Formen für die Auffassung und Aussprechung der Wahrheit. Die Wahrheit in ihrer Allseitigkeit und Ganzheit gewinnt dabei. Und die große Discussion über die höchsten Zwecke, die hier zu Lande durch die verschiedenen Kirchen und ihre Vertreter in der Presse geht (jede größere Religionssekte hat ihr eigenes Journal, das ihre Lehren verficht und die Angelegenheiten der Gemeinde bespricht), ist von unendlicher Wichtigkeit für die Entwicklung des religiösen Verstandes bei dem Volke. Sie muß überdieß zur steigenden Einsicht des wesentlich Gleichen bei allen cristlichen Gemeinden, zur Einsicht des Positiven im Christenthum führen und allmälig einer Kirche von universellem Charakter und Einheit auch in den Dogmen den Weg bereiten.

Die zwei kirchlichen Hauptabtheilungen in den Vereinigten Staaten scheinen Trinitarier und Unitarier zu sein. Die Unitarier erstanden im Protest gegen die mechanische Dreieinigkeit und die alte Staatskirche (die episkopale), welche sich dazu bekannte. Die letztere legt das größte Gewicht auf den Glauben, die erstere auf die Handlungen. Beide bekennen Christum (die einen als Gott, die andern als göttlichen Menschen), und setzen das höchste Ziel des Menschen in seine Nachfolge. Beide haben Bekenner, welche beweisen, daß man in beiden gleichweit in der Heiligung des Lebens kommen, und in gleichem Grade den Namen eines Christen verdienen kann.

Ich habe hier zu Lande ein paar gute Predigten von Predigern der alten Staatskirche gehört. Und es scheint mir, als werde diese Kirche als die eigentlich aristokratische im Lande betrachtet, denn die fashionable Bevölkerung gehört gewöhnlich ihr an. Dies gehört zum guten Ton. Aber der speculative Gedanke in der Kirche scheint mir noch nicht aus seiner mittelalterlichen[WS 6] Hülle hervorgekommen zu sein. Man setzt da noch Glauben und Vernunft einander entgegen, und ein erklärender Gedanke, wie der von Martensen in unserem Norden, zeigt sich hier zu Lande noch nicht im Gebiete der Theologie. Aber dieß sage ich, ohne vollkommene Gewißheit davon zu haben. Ich habe noch nicht genug von der theologischen Literatur des Landes gehört und gelesen.

Der vornehmste Führer und Kämpe der Unitarier dahier, Doktor Ellery Channing, auch der Heilige der Unitarier genannt, ist eines der schönsten Beispiele, wie weit ein Mensch in christlicher Sinnesart kommen kann. Von seinen Freunden habe ich mannigfache Züge des tiefen Ernstes und der Innigkeit gehört, womit dieser edle Mann das Rechte und Reine in Allem, auch in den geringsten Dingen suchte. Man sieht in seinen Portraits einen Blick, der nicht von dieser Welt ist, nicht sie sucht oder fragt, sondern einen höhern Freund und Rathgeber sucht und fragt. Man sieht dieß auch aus seiner Biographie und einzelnen Briefen, welche sein Neffe H. W. Channing neulich herausgegeben, und die derselbe mir zu überschicken die Freundlichkeit hatte. Ich lese mannichmal darin und muß dabei an Deinen geliebten Schriftspruch denken: Selig sind die Reinherzigen, denn sie werden Gott sehen.

Wie rein und schön ist nicht das Gefühl, das sich in folgenden Worten ausspricht, welche ich eben jetzt in dem Buche vor mir aufgeschlagen habe:

„Erkennt, wie ungerecht ihr gegen euch selbst seid, wenn ihr irgend einem menschlichen Wesen gestattet, eine Seele wie die eurige in ihrem Wachsthum zu hindern. Bedenket, daß ihr geschaffen seid, unendlich zu lieben; und laßt keine unerwiederte Ergebenheit die göttliche Quelle verschließen.“

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„Ich möchte euren Wunsch, zu sterben, nicht abweisen. Ich kenne keinen größeren Vortheil, als den des Todes, aber er ist ein Vortheil für diejenigen, bei welchen das Böse immer mehr bezwungen wird und die immer mehr über sich selbst hinaufsteigen. Diese uneigennützige, aufopfernde Menschenliebe möchte ich bei euch und bei mir selbst erwecken können, wie auch ein tieferes Bewußtsein von unserer eigenen geistigen Natur, Vertrauen zu dem göttlichen Princip in uns, dem innersten Grund unseres Wesens, und zu Gottes unendlicher Liebe, zu diesem göttlichen Leben in seinen geschaffenen Wesen. Nichts kann uns schaden, außer Untreue gegen uns selbst, außer Mangel an Verehrung für unsern eigenen höchsten Geist. Durch Mangel daran werden wir Sclaven der Umstände und der Mitmenschen. Wenn ich diese Verehrung hege, so finde ich mich stark und frei.“

Ueberall und in allen Dingen sieht man Channing zu dem göttlichen Lehrer in des Menschen Brust gewandt, erleuchtet von dem Göttlichen, der von Gott gesandt worden ist, das Gesetz zu vollenden, und von diesem Standpunkt der Innigkeit aus handelt er.

Und niemals hat wohl Gottes Segen sichtbarer auf einem Menschen geruht. Wie frisch, wie voll sind nicht die Ausdrücke seiner Dankbarkeit, obschon er altert; wie scheint er nicht mit jedem Jahr jünger, glücklicher zu werden! Er macht sich Vorwürfe, daß er so viel genieße, daß er sich so glücklich fühle in einer Welt, wo so viele leiden. Aber er kann da nicht helfen. Die Freunde, die Natur, die unsichtbare Liebes- und Dankesquelle, die immer reicher in seiner Seele schwillt, alles vereinigt sich, um sein Leben zu verschönern. Immer mehr erweitert sich sein Gesichtskreis, immer mehr steigert sich bei abnehmender Gesundheit sein Glaube und seine Hoffnung auf Gott und die Menschen, immer mehr seine Liebe zum Leben, dem großen herrlichen Leben.

Er schreibt folgendermaßen über sein Alter:

„Unsere Freundschaftsbande werden immer lieblicher für mein Gefühl. Ich meine mitunter, als ob ich vor dieser letzten Zeit noch nichts vom Leben verstanden hätte; aber so wird es immer. Wir werden zum Wunderbaren und Schönen in demjenigen erwachen, was wir vorher mit verhüllten Blicken gesehen haben, und wir finden eine neue Schöpfung, ohne einen Schritt aus unsern alten Wohnstätten herauszutreten.“

Oft spricht er von seinem Lebensgenuß im Alter. Jemand fragte ihn eines Tags, welches Alter im Leben er für das glücklichste halte. Er antwortete lächelnd, er glaube, dieß sei etwa um die 60.

Während der abzehrenden Krankheit, die seinem Leben ein Ende machte, scheint sein inneres Leben an Kraft und Größe zugenommen zu haben. Mit dem herzlichsten Interesse fragt er diejenigen, die ihm nahe kommen, um ihre Angelegenheiten. Jeder Mensch scheint ihm theurer, wichtiger geworden zu sein. Und dabei will sein Hirn rastlos mit großen Gedanken und Gegenständen arbeiten. „Können Sie mir helfen“[WS 7], sagte er in seinen letzten Tagen zu seinen Freunden, „[WS 8]meine Seele von diesen Bildern der Unendlichkeit, diesem Wasserfall von Gedanken zu alltäglichen Dingen herabzuziehen?“

Als man ihm einmal vorlas, sagte er: „Laßt das sein, laßt mich von Menschen und ihren Verhältnissen hören.“

In seinem letzten schmerzlosen Kampf hörte man ihn oft sagen: „Himmlischer Vater!“ Seine letzten Worte waren: „Ich weiß nicht, wann mein Herz so übergeflossen ist von dankbarem Gefühl für Gottes Güte.“ Und die allerletzte, schwach geflüsterte Aeußerung: „Ich habe manche Botschaft von dem Geist gehabt.“ Als der Tag sich neigte, fügt sein Biograph hinzu, wurde er schwächer und schwächer. Mit unserer Beihülfe wandte er sich gegen das Fenster, das eine Aussicht über die Thäler und waldigen Höhen im Osten gewährte. Wir zogen die Vorhänge weg und das Licht fiel auf sein Gesicht. Die Sonne war just untergegangen, und Wolken und Himmel strahlten in Purpur und Gold. Er athmete immer leiser, bis sein Körper ohne einen Seufzer einschlief. Wir konnten nicht bemerken, wann der Geist ihn verließ.

So sinkt blos ein sonnengleicher Mensch, so stirbt blos ein Mann, welchen Gott lieb hat und in dessen Herzen sein Geist wohnt.

Welche Gewalt dieser wahre Christ auf Menschen ausübte, schließe ich auch aus folgendem kleinen Ereigniß:

Eines Tags spazierte ich an Benzons Arm in den Straßen Bostons. Als wir an einem Haus vorbeigingen, beugte er ehrfurchtsvoll sein Haupt und sagte: „Dies ist ein Haus, dem ich mehrere Jahre nie ohne Gefühle der innigsten Verehrung nahte. Hier wohnte Doctor Channing.“

Was meine Freunde betrifft, so bekümmere ich mich nicht das Geringste darum, welcher Religionssecte sie angehören, ob sie Trinitarier oder Unitarier, Calvinisten oder Methodisten u. s. w. sind, wenn sie nur edel und liebenswürdig sind. Hier gibt es auch viele Menschen, die, ohne einer bestimmten Kirche anzugehören, gerne in irgend eine beliebige gehen, wo ein guter Prediger ist, und im Uebrigen nach den großen Wahrheiten leben, welche das Christenthum ausgesprochen und die sie in ihr Herz aufgenommen haben. Einige meiner besten Freunde hier zu Lande gehören zu dieser unsichtbaren Kirche Gottes.


Den 19. Februar.   

Schöne Tage! Drei Tage des lieblichsten Frühlingswetters. Und dieser strahlende blaue Himmel und diese Luft, so fein, so spirituös lebensvoll, so champagnergleich — ich habe nie etwas Aehnliches empfunden. Ich bin gleichsam etwas voll von ihr. Ich habe mich auch dieser Tage so wohl befunden, habe eine solche Fluth frischen Lebens in mir verspürt, daß ich darüber ganz glücklich war und kindisch genug, es allen Menschen, denen ich begegnete, selbst auf den Straßen sagen und sie bitten zu wollen, daß sie sich mit mir freuen möchten. Ich weiß auch, daß viele es thun würden, und ich weiß, daß ich selbst froh wäre, zu wissen, daß eine Person, die wie ich gelitten, sich so fühle, wie ich jetzt thue. In meiner Freude zwang ich meine kleine allopathische Doctorin Miß Hunt, Gott für mich und für den Erfolg der Homöopathie zu danken. Und sie that es herzlich. Ihr Herz ist lauter wie Gold. Ich habe mich in diesen schönen Tagen am Wetter und an Spaziergängen, an angenehmen Mcenschen und — an der ganzen Welt erfreut. Eines Tags kam Longfellow und holte mich zu einem Mittagessen bei — seinen Schwiegereltern, glaube ich — Du weißt ja, daß Genealogie nicht meine Stärke ist — Mr. und Mrs. Appelton. Es war der erste der schönen Tage, und als ich aus meinem Thore kam, blieb ich ganz verwundert über die Schönheit von Himmel und Luft, die meinen Sinnen entgegentrat, stehen. Ich sagte dem liebenswürdigen Dichter, er müsse es gewesen sein, der dies hervorgezaubert habe. Bei Appeltons sah ich eines der schönsten Hauswesen, die ich noch in Boston gesehen, und ein schönes älteres Paar. Der Herr Invalid, aber mit der freundlichsten Laune, die Frau frisch an Körper und Seele und sehr angenehm; und mit ihnen, mit Longfellow und seiner schönen Frau hatte ich ein sehr gemüthliches kleines Mittagsmahl.

Dieser Tage ließ Longfellow meine Hand in Gips modelliren, denn hier wie an andern Orten herrscht der Irrwahn, daß meine Hände schön seien, während sie doch blos fein und weiß sind. Als ich nach Haus kam, waren meine Zimmer voll von Leuten. Notabene, es war mein Empfangtag, und ich war über die Zeit ausgeblieben. Aber ich war um so artiger, und ich glaube, daß Niemand unbefriedigt wegging. Es war mir an diesem Tage so recht menschenfreundlich zu Muthe. Auch blieben die Menschen bis nach drei Uhr da. Als meine Gäste gegangen waren, kamen die jungen Lowells — das erste Mal nach ihrem Verlust — und Marie stellte einen großen Topf voll der allerschönsten Moose und Wickelflechten auf den Boden, die sie und James auf den Bergen für mich gesammelt hatten, da sie wissen, wie sehr ich sie liebe. Das rührte mich innig, und es rührte mich auch, ähnliche Flechtenarten zu sehen, wie ich selbst auf dem Berg im Park bei Arsta gesammelt habe, und ich konnte nicht helfen, ich benetzte sie mit Thränen. Meine Seele ist wie eine schwellende See, deren Wogen abwechselnd steigen und fallen. Sie werden jedoch von einem und demselben Element getragen.

Gestern Nachmittag war Waldo Emerson bei mir und wir hatten ein sehr ernsthaftes Gespräch mit einander. Ich fürchtete die Bewunderung, die er mir eingeflößt und der Zauber, den er auf mich geübt, habe mich veranlaßt, mein eigenes Glaubensbekenntniß zurückzuhalten, so daß ich den Schein auf mich geladen, als ob ich dem seinigen huldigte und somit meiner höhern Liebe untreu geworden wäre. Dieß wollte ich nicht. Und just weil ich Emerson für so edel und großsinnig halte, wollte ich sowohl vor ihm, als vor meinem eigenen Gewissen klar erscheinen. Ich wollte auch hören, welche Einwürfe er gegen eine Weltansicht vom christlichen Standpunkt aus machen könnte, der an concretem Leben und Wirklichkeit so unendlich über dem pantheistischen steht, welcher alles concrete Leben in einem elementarischen auflößt. Ich dachte, daß er blos durch das speculative Interesse aus dem blos allgemeinen zu dem Innerlichen geführt würde. Denn wenn Alles gesagt ist, was die antike Weisheit und der edelste Stoicismus von dem höchsten Wesen, von der „Oberseele“ als einer unendlichen gesetzgebenden, unpersönlichen Macht sagen können, welche alle Wesen hervorbringt und sodann in sich absorbirt, gleichgiltig für die Schicksale und Gefühle der Einzelnen, eine Macht, der sich Alle als einem ewigen, unerschütterlichen Weltgesetz blind unterwerfen müssen — wie groß und vollkommen erscheint nicht die Lehre, daß Gott mehr ist als diese Weltmacht, und daß er auch ein Vater ist, der sich um jeden Menschen als um sein Kind bekümmert und jedem nach seiner Art ein unendliches Erbtbeil in seinem Hause, in seinem Licht bereitet hat, daß er auch den fallenden Sperling sieht; — — sieh, das ist eine Lehre, welche ausreicht!!! …

Und wenn alles gesagt ist, was der edelste Stoicismus zu dem Menschen von seiner Pflicht und seinem höchsten Adel sagen kann, wenn er Epiktet und Sokrates geschaffen, und Simon Stylita auf seine Säule gestellt hat, wie überschwenglich hoch und überraschend kühn erscheint nicht den Menschen die Forderung:

Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.

Ein Wort, ein Ziel, welches auch für die Ewigkeit ausreicht!

Und wenn Alles gesagt ist, was alle Weisen der alten Welt und alle Transcendentalisten der neuen Welt über den ursprünglichen Adel der Seele und ihre Macht, sich durch beständige Anschauung des Ideals und Fernhaltung von dem Pöbel und Plunder der Erde edel zu erhalten, sagen konnten; — und wenn ein noch transcendentalerer Forscher, wenn der göttliche, aufwärts strebende Funke in uns, uns die Armseligkeit dieses blos negativen Standpunkts, sowie unser Unvermögen zu den höchsten Forderungen und zur höchsten Natur hinaufzukommen, erkennen ließ — wie groß und trostreich, wie vollendend erscheint nicht die Lehre, welche sagt, daß der göttliche Geist sich in Beziehungen mit unserem Geist setzen und alle unsere Mängel durch Eingießung seines Lebens ergänzen wolle!

Dieser äußerste Lebensproceß, diese neue Geburt und Entwicklung, von welcher die Schrift oft als von einer Vermählung, als von einem Kommen des Bräutigams zur Braut, als von einer neuen Geburt spricht, die wir auch im Naturleben vorgebildet sehen können, z. B. durch Einimpfung eines edeln Fruchtbaums auf einen wilden — ist endlich die einzige Erklärung und Erfüllung des menschlichen Lebens und Strebens.

Dieß alles wollte ich Emerson sagen, ich versuchte es zu sagen, aber ich weiß nicht, wie ich mich anschickte. Ich kann mich gewöhnlich nicht leicht oder glücklich ausdrücken, bevor ich warm geworden und über oder durch das erste Besinnen hinausgekommen bin. Und Emersons kühle und gleichsam bewachte Haltung hinderte mich in diese meine natürliche Region hineinzukommen. Ich befinde mich wohl mit ihm, bin aber mit ihm nie vollkommen ich selbst. Ich glaube auch nicht, daß ich mich jetzt so aussprach, daß er mich verstand. Er hörte mich ruhig an und sagte nichts Bestimmtes dagegen, schien aber auch seine Lebensansicht nicht als abgeschlossen geben zu wollen. Sein Standpunkt schien mir hauptsächlich polemisch gegen den blinden oder erheuchelten Glauben zu sein. Ich will nicht, sagt er, daß man sich dafür ausgebe, als wisse oder glaube man mehr als man wirklich weiß oder glaubt. — Die Auferstehung, die Fortsetzung des Daseins sind gegeben, sagte er auch, wir tragen die Bürgschaft dafür in unserer Brust; ich behaupte blos, daß wir nicht sagen können, auf welche Art und in welcher Form wir fortdauern werden.

Wenn mein Gespräch mit Emerson zu keinem besonders befriedigenden Resultat führte, so führte es doch mich zu der festen Ueberzeugung von seiner edeln Denkungsart und Wahrheitsliebe. Er ist treu dem Gesetz in seiner Brust, treu seiner Aufgabe und spricht die Wahrheit aus, die er in seinem Innern erkannt hat. Er handelt recht. Er wird dadurch den Weg zu einer wahreren Auffassung der Religion und des Lebens bereiten. Denn wenn dieser starke Blick, der in allem auf das Innerste, auf den Mittelpunkt und die Idee sieht, einmal die im Baum des Lebens verborgene Menschengestalt gewahr wird — wie man Napoleons Gestalt im Baume auf Sct. Helena wahrnimmt; — so wird er Andere lehren sie auch zu sehen, wird mit so starken herrlichen Worten darauf hinweisen, daß für Manche ein neues Licht aufgeben und daß man glauben wird, weil man sieht.

Zum Schluß unseres Gesprächs machte ich mir die Freude, Emerson ein Exemplar von Geijers schwedischer Geschichte in englischer Uebersetzung zu geben, was er auf die liebenswürdigste Weise annahm.

Spät an diesem Abend hörte ich Emerson eine öffentliche Vorlesung über den Geist der Zeiten halten. Er pries die Schönheit der liberalen Ideen, geißelte aber streng die Leiter derselben unter dem Volk und ihren Mangel an Charakteradel. „Die Schiefheit und Unreinheit des Parteigesetzes hinderten die Reinen sich an eine Partei anzuschließen.“ Emerson rieth den Augenblick abzuwarten, wo man für das Allgemeine wirken könnte, ohne seinen höchsten Glauben und Charakter zu verlieren. Alle Akkommodation sei eine Erniedrigung.

Emerson ist in England und auch hier als öffentlicher Redner sehr berühmt. Ich für meinen Theil finde ihn als solchen nicht merkwürdiger als bei einem Privatgespräch von tieferem Inhalt. Dieselben tiefen, kräftigen und gleichwohl melodischen, gleichsam metallischen Töne, dieselben plastischen Wendungen in Sprache und Ausdruck, dieselben glücklichen, natürlich glänzenden Worte, dieselbe Ruhe und ruhende Kraft. Aber sein Bild ist schön, wenn er vom Catheder über die Menge hinschweift, und seine Stimme erscheint mächtiger, wenn sie dieselbe beherrscht. Diesen Abend war das Wetter garstig, es blies heftig und der Regen fiel in Strömen, wie es überhaupt hier niemals mäßig oder sachte regnet, und sehr wenig Volk hatte sich bei der Vorlesung eingefunden. Emerson nahm dieß wie alles andre ruhig und sagte blos lächelnd zu Jemand: „Vor so einer kleinen Versammlung kann man seine große Kanonen nicht losschießen.“ Er meinte damit gewisse Knalleffecte in der Stimme, durch welche er berühmt ist.

Heute habe ich die Schiffswerften von Boston und Massachusetts besucht; ich schüttelte da den Offizieren der Flotte und ihren Damen die Hände im Hause des Commodors, wo ein Frühstück servirt wurde und ein Musikkorps die ganze Zeit hindurch eine schöne Instrumentalmusik aufführte. Eine prächtige Schiffswerfte und eine hübsche, freundliche Bewirthung, die mir Vergnügen machte.

In dieser Woche habe ich auch mit dem ausgezeichneten Schullehrer G. B. Emerson, einem Oheim Waldos, einige Kinderschulen besucht und ich konnte mich blos freuen über die vortreffliche Art, wie die Kinder, zumal die Mädchen lasen, nämlich mit einem Ausdruck und einer Lebendigkeit, woraus deutlich hervorging, daß sie Worte und Sinn vollkommen verstanden; auch die Fragen in der Naturgeschichte beantworteten sie sehr gut. Mr. Emerson hat selbst eine große Privatschule, die sehr berühmt ist.

Heute Abend werde ich Mrs. Kemble den Sommernachtstraum von Shakespeare vorlesen hören und später werde ich mit Emerson einer musikalischen Soiree bei einem ihm befreundeten vermöglichen Kaufmann, Mr. Adams, beiwohnen, der sein großes praktisches Talent, wie auch seinen redlichen, entschiedenen Charakter sehr hoch schätzt.

Und jetzt, meine liebe Agatha, bereite ich mich auf meine Reise in den Süden vor, zuerst nach New-York, sodann nach Philadelphia, hierauf nach Washington und von da nach Charlestonn im südlichen Karolina. Dort werde ich meinen weitern Reiseplan entwerfen. Gott sei Dank, daß ich mich jetzt kräftig und muthig zur Reise fühle. Einladungen und Wohnungsanerbietungen habe ich von allen Ecken und Seiten und beinahe aus allen Staaten. Von Philadelphia allein mehr als ein halbes Dutzend. Viele kann ich nicht annehmen, aber von einigen werde ich wohl Gebrauch machen, und es ist jedenfalls ein wohlthuendes Gefühl soviel warme und zuvorkommende Gastfreundschaft zu erfahren. Mein guter Doctor fährt fort mich täglich zu besuchen und mich, ich kann wohl sagen, mit väterlicher Liebe zu überwachen. Ich liebe ihn herzlich. Dieser Tage kam er mit einem allopathischen Arzt, Doctor Ware, den er mir vorzustellen wünschte, „weil ich,“ sagte er, „eine hohe Achtung vor ihm habe.“ Doctor Ware hat mehrere Wochen lang nebst zwei andern Allopathen einen gefährlich am Thypus erkrankten Herrn, der neben Benzon wohnt, einen der Gebrüder Clarke und einen der berühmtesten Prediger Bostons, behandelt. Die Krisis war glücklich vorübergegangen, der Patient lebte, blieb aber noch immer krank unter einer Menge sonderbarer Symptome, die Woche um Woche der Kunst und Wissenschaft der Aerzte Trotz boten. Einer von ihnen (Dr. Ware) sagte da: „Wir haben alles gethan, was wir als Allopathen thun konnten. Wir müssen einen Homöopathen rufen und ihn seine Kunst versuchen lassen.“ Und mein Doctor wurde gerufen. Er begann sogleich specifische Mittel gegen die Symptome, welche den Krankheitszustand chaotisch machten, anzuwenden, bewältigte sie binnen 1½ Tagen oder in noch kürzerer Zeit und brachte den Kranken zur Ruhe; aus einer mit homöopathischer Genauigkeit vorgenommenen Befragung ergab es sich dann, daß in der linken Seite des Patienten eine Eitergeschwulst sich gebildet hatte, die seinen Fieberzustand unterhielt. Sie wurde operirt und der Kranke befindet sich jetzt vollkommen auf dem Wege der Besserung, zur großen Freude seiner Familie und seiner vielen Freunde. Siehst Du, das hat die Homöopathie getan. Kürzlich hörte ich von einem kleinen Knaben erzählen, der sich durch Erkältung einen akuten Rheumatismus zugezogen hatte und in so schrecklichen Schmerzen dalag, daß er Niemand in seine Nähe kommen lassen wollte. Er wurde durch Homöopathie binnen 12 Stunden gänzlich von seinen Schmerzen befreit. Mein guter Doctor ist in seinen jungen Tagen Allopath gewesen und hat sich durch allzugroße Anstrengung in der Ausübung seines Berufs ein Nervenübel zugezogen, das dermaßen zunahm, daß die Aerzte ihn verloren gaben und ihn als eine Art von letztem Versuch nach Europa schickten. Dort traf er Hahnemann, der ihn durch seine Lehre nicht überzeugte, aber doch bestimmte, seine Mittel zu versuchen. Sie veränderten sogleich Osgoods Zustand und mit ihm seine medizinische Theorie. Als er nach Amerika zurückkam, war er gesund und — Homöopath. Auch ich preise die Homöopathie hoch. Aber ich glaube, daß die Allopathie ihr Gebiet hat und daß sie mit der Homöopathie Hand in Hand gehen muß, so wie der ehrliche Doctor Ware und Doctor Osgood kamen, als sie mich besuchten.

Einen Kummer hat mein guter Doctor mit mir. Die kleinen Pillen, welche Downing mir gab, und die mich so gut schlafen machten, haben ihre Zauberkraft über mich behalten und geben mir Schlaf, auch wenn Osgoods Medicin dieß nicht zu Stande bringt. Downing will den Namen dieses Heilmittels nicht sagen, sondern treibt eine kleine anmuthige Koketterie damit, indem er behauptet, nicht die Medicin, sondern die Beschwörungen, die er darüber lese, machen es so wirksam; und wenn ich nach dem Namen frage, so schickt er mir blos neue kleine Pillen. Mein guter Doctor brummt und sagt: „Ich liebe diese Downing’sche Medicin nicht, welche es der meinigen zuvorthut. Ich liebe sie nicht, weil ich es nicht bin, der sie Ihnen gegeben hat.“ Aber ich lache (und dann lächelt er auch) und habe immer meine Downing’sche Medicin jede Nacht auf meinem Nachttischchen stehen. Mit ihr lege ich mich getrost zu Bette. Es ist ein guter Geist in dem Fläschchen.

Den 25. Februar.  

Wo verließ ich Dich das letztemal? Ja richtig, als ich Fanny Kembles Vorlesung besuchen wollte. Sie las den Sommernachtstraum. Aber diesen Traum habe ich niemals verstanden oder nie Freude daran gehabt, und daß hatte ich auch jetzt nicht trotz Mrs. Kembles meisterhafter Vorlesung. Der Abend bei Adams war mir gut. Miß Adam ist ein braves und angenehmes junges Mädchen mit Verstand und Sicherheit des Benehmens, dabei ein wahres Talent auf dem Fortepiano. Ueberdieß war Emerson freundlich und gesprächig. Mrs. Kembles Persönlichkeit und Talent (er hat sie jetzt zum erstenmal gesehen) hat großen Eindruck auf ihn gemacht und er sagte von ihr: welche Vielseitigkeit! „Sie ist Miranda, Königin Catharina und dergleichen Alles auf einmal.“ Er liebt eine stark ausgesprochene Individualität und das thue ich auch. Aber Emerson betrachtet die Menschen gar zu sehr blos als Individuen. Er sagt von dem Einen: das ist eine Actrice; von dem Andern: das ist ein Heiliger; von einem Dritten: das ist eine praktische Person u. s. w. und stellt Jeden in seine Ecke, nachdem er auf Jeden seine Etikette geschrieben hat. Auch hat wohl jeder Planet seine Axe, um die er sich dreht, aber seine größte Bedeutung scheint mir in seinem Verhältniß zur Sonne, zu dem Centrum zu liegen, um welches er kreist, und das sein Leben und seinen Lauf bestimmt.

Ich schreibe Dir wohl nicht mehr aus Boston; denn ich muß mich reisefertig machen und bekomme viel mit Besuchen und Briefschreiben zu thun, um einigermaßen anständig von der Stadt und Gegend scheiden zu können. Aber ach, es wird wohl knapp genug zugehen. Ich vermag nicht viel. Die geringste Anstrengung macht mir Fieber. Die Luft ist wieder kalt und hart und ich bin wieder nicht wohl, ich weiß nicht ob es von der Luft oder der Nahrung, oder von meinem Abmühen mit den Leuten und Gesellschaftspflichten herkommt. Aber ich weiß doch, daß ich bald wieder wohl sein werde. Das Klima und ich sind hier zu Lande sehr veränderlich. Und wenn man mich fragt: — eine der stehenden Fragen, die ich oft höre — „wie verhält sich das Klima in Ihrem Lande zu dem unsrigen?“ so ist meine stehende Antwort: „wie ein solider Ehemann zu einem veränderlichen Liebhaber.“ Und dann lächelt man.

Einen angenehmen Abend hatte ich vorgestern mit Miß C. Sedgewick bei ihrer Pflegetochter, einer liebenswürdigen jungen Dame, Mrs. Meinert. Mrs. Kemble war da und ihr lebensvolles, stark ausgeprägtes Wesen ist immer belebend; ebenso auch Miß Sedgewicks Güte und ihr schöner Verstand. Fanny Kemble richtete quer über das Zimmer eine Frage über Lindblad an mich. „Was wissen Sie von unserem Lindblad?“ erwiederte ich. — „Sollte ich Lindblad nicht kennen," antwortete Fanny Kemble mit der Miene einer Königin und gleichsam beleidigt, „sollte ich diese schönen Gesänge nicht kennen?“ Und sie nannte mehrere von Lindblads Liedern mit Namen, solche, die sie, wie sie sagte, auch singen konnte. Es freute mich zu hören, daß Lindblads Poesieen auch in England und Amerika gekannt und geschätzt sind.

Für dießmal nichts mehr. Jetzt will ich vor Boston und Bunkerhill (dem Monument, welches durch die Arbeit der Frauenzimmer vollendet worden sein soll, nämlich sein Gipfel, da die Arbeit der Männer nicht ausreichte) mein Compliment machen, und nun — nach dem Süden! nach dem Süden!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „Kritik
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  5. Vorlage: ihm
  6. Vorlage: mittelalterlicheu
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  8. Anführungszeichen ergänzt
Neunter Brief Die Heimath in der neuen Welt. Erster Band
von Fredrika Bremer
Elfter Brief
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