Die Nahrungs- und Erwerbsverhältnisse

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Autor: Karl Biedermann
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Titel: Die Nahrungs- und Erwerbsverhältnisse
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 62–65
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[62]
Kulturgeschichtliche Bilder.[1]
6. Die Nahrungs- und Erwerbsverhältnisse.

Ueberbevölkerung! Massenarmuth! Pauperismus! so heißt das furchtbare Gespenst, dessen Alpdruck auf der modernen Gesellschaft lastet, das sich an die Fersen der vorwärtseilenden Civilisation heftet, und auf ihr stolzes Triumphgeschrei mit Jammertönen antwortet, das dem Menschenfreunde die Freude an den Fortschritten menschlichen Erfindungsgeistes, an den Siegen menschlicher Kunst über die lebenszerstörenden Kräfte der Natur, an dem blühenden Emporwachsen neuer Geschlechter vergällt durch den Gedanken, daß fast jeder dieser Fortschritte eine Menge fleißiger Hände außer Thätigkeit setzt und zahlreiche Familien ihres gewohnten Erwerbes beraubt, daß die längere Lebensdauer, welche der Mensch der Natur abringt, den sich immer dichter zusammendrängenden Existenzen mehr und mehr die Stätte ihres Daseins und die Gelegenheiten ihres Fortkommens verengt, und daß von [63] den rasch nachwachsenden Generationen ein immer größerer Theil nur dazu bestimmt scheint, zu erproben, wie weit die Fähigkeit der menschlichen Natur reiche, zu entbehren, zu darben und zu leiden.

Solche oder ähnliche Klagen über das, angeblich in fortwährendem Wachsthum begriffene Mißverhältniß der Bevölkerungszahl zu den vorhandenen Nahrungs- und Erwerbsmitteln, über die daraus hervorgehende Massenarmuth und ihre schrecklichen physischen und moralischen Folgen vernimmt man heutzutage häufig nicht blos aus dem Munde derer, welche geflissentlich darauf ausgehen, durch solche Schilderungen die Gemüther für ihre Ideen einer allgemeinen Gesellschaftsreform empfänglicher zu machen und die dringliche Nothwendigkeit derartiger Reformen zu beweisen, sondern auch von Solchen, die kein derartiges Parteiinteresse, vielmehr nur das allgemeine Gefühl der Menschlichkeit oder die Sorge um die Zukunft der Gesellschaft leitet. Es geht indeß mit dieser, wie mit den meisten Behauptungen so allgemeiner und unbestimmter Art: sie werden aufgestellt, für wahr gehalten, nachgesprochen und fortgepflanzt, ohne daß man sich die Mühe nimmt, ihre Nichtigkeit zu prüfen. Weil man die, unleugbar vorhandene, und nicht selten gräßliche Noth in der Gegenwart vor Augen sieht, so vergißt man, ganz nur von diesem Bilde erfüllt, zu forschen, ob es denn früher anders gewesen, und weil man dicht neben jener Noth – allerdings ein tiefschmerzlicher Contrast Wohlstand und Luxus, die Kinder der fortschreitenden Kultur der materiellen Interessen, der Industrie und des Handels erblickt, so meint man, diese dafür verantwortlich machen zu müssen, daß, während Einzelne im Ueberflusse schweben, Andere darben, und vergißt dabei ganz, daß zu einer Zeit, wo diese materiellen und industriellen Interessen noch in ihren Anfängen waren und zum Theil ganz brach lagen, es an ähnlichen, ja an noch schroffern Contrasten zwischen Arm und Reich, zwischen Wohlleben und Dürftigkeit nicht fehlte.

Aber, wird vielleicht Mancher einreden, was hilft es, zu erforschen, ob diese jetzt auf uns lastende Massenarmuth auch schon früher dagewesen, oder nicht? Wird das Uebel dadurch gelindert, daß wir nachweisen, es sei kein neues, sondern ein sehr altes? Oder kann es den Nothleidenden in der Gegenwart einen Trost gewähren, wenn sie erfahren, daß vor ihnen schon andere Geschlechter ebenso gelitten und gedarbt haben?

Und dennoch ist eine solche Untersuchung von großem, nicht blos wissenschaftlichem, sondern auch praktischem Werthe. Wenn wir durch sie zu der Ueberzeugung gelangen, daß Noth und Elend früher, bei einer viel dünneren Bevölkerung unsres Vaterlandes, ebenso groß, ja zum Theil größer gewesen, als heut, wo wir an vermeintlicher Uebervölkerung leiden, so werden wir weniger besorgt das fortschreitende Wachsthum der Bevölkerung wahrnehmen, und nicht so leicht Rathschlägen Gehör geben, welche, eben aus einer falschen oder doch übertriebenen Angst vor den Folgen eines solchen Wachsthums, darauf hinarbeiten, dasselbe durch künstliche Maßregeln zu beschränken. Wenn wir erfahren, daß zu den Zeiten eines strenggeschlossenen Gewerbebetriebes die Klagen über Nahrungsmangel und erdrückende Concurrenz nicht weniger häufig und oft begründeter waren, als jetzt bei größerer Freiheit der Gewerbe, so werden wir nicht allzu vorschnell dem Geschrei nach Wiedereinführung jenes beschränkten Zustandes unser Ohr leihen. Wenn der Arbeiter den Beweis durch Zahlen geliefert erhält, daß die Einführung des Maschinenwesens und der großen geschlossenen Etablissements seine Lage nicht verschlimmert, vielmehr verbessert hat, so wird er nicht auf den für ihn selbst wie für die Civilisation gleich unheilvollen Gedanken verfallen, diese Maschinen zerstören und an deren Stelle wieder die Handarbeit setzen zu wollen. Und so glauben wir denn nichts Ueberflüssiges zu thun, wenn wir den Versuch wagen, durch eine Gegenüberstellung der heutigen mit den ehemaligen Erwerbs- und Nahrungsverhältnissen, zunächst in unserm Vaterlande Deutschland jene Klagen über die, angeblich durch die Fortschritte der materiellen Kultur und den beschleunigten Bevölkerungszuwachs herbeigeführte Noth und Armuth auf ihr rechtes Maß zurückzuführen.

Zu dem Ende suchen wir zunächst uns ein Bild von dem Verbrauch der gewöhnlichsten Lebensbedürfnisse in einer früheren Zeit im Vergleich zu der jetzigen zu machen. Sollte sich dabei ergeben, daß sowohl der Verbrauch der ersten Nothwendigkeiten des Lebens, als der Genuß gewisser zu dessen Annehmlichkeit gehörenden Gegenstände trotz der vermehrten Bevölkerung nicht ab-, sondern zugenommen habe, so würde dies ein erfreulicher Beweis dafür sein, daß die Kultur in ihrer Richtung auf die Beschaffung der Bedürfnisse für die menschliche Gesellschaft mit der Zunahme der Bevölkerung nicht blos Schritt gehalten, sondern dieselbe sogar überflügelt und gleichsam der Natur den Rang abgewonnen habe. Und so ist es in der That, wie die nachfolgenden Thatsachen beweisen, die wir den freilich nur dürftigen statistischen Quellen jener früheren Zeiten entnehmen. Fangen wir bei dem ersten und wichtigsten Lebensbedürfniß, dem Brotgetreide an, so müssen wir annehmen, daß im Allgemeinen die Erzeugung desselben in Deutschland seit etwa hundert Jahren sehr bedeutend zugenommen habe, indem damals der Gesammtertrag der einheimischen Getreideproduktion nach ziemlich glaubwürdigen Berechnungen kaum mehr als den eigenen Bedarf der Bevölkerung deckte, höchstens einen geringen Ueberschuß zum Verkauf in’s Ausland darbot, wogegen jetzt nicht allein eine um ohngefähr die Hälfte stärkere Bevölkerung davon ernährt, sondern auch ein ziemlich beträchtliches Quantum nach außen abgesetzt wird. Nach den höchsten Schätzungen der damaligen Zeit (die aber von gewichtigen Statistikern stark in Zweifel gezogen werden) hätte Deutschland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine Kornausfuhr von etwa zehn Millionen Thalern gehabt. Heutzutage beträgt die Mehrausfuhr an Getreide nur allein im Zollverein einige 20 Millionen Thaler; die des ganzen Deutschlands ohne Oesterreich ward von dem bekannten Statistiker, Freiherrn von Reden, im Jahre 1845 auf 6 Millionen Scheffel Weizen, 6 Millionen Scheffel Korn, 1 Million Scheffel Gerste und 6 Millionen Scheffel Hafer veranschlagt, was einen Geldwerth von mindestens 30–40 Millionen Thalern repräsentirt.

Indeß, dieser Beweis der gestiegenen Mehrausfuhr von Getreide genügt allein für unsern Zweck noch nicht; denn es könnte ja sein, daß nur um deswillen jetzt mehr ausgeführt würde als früher, weil das Preisverhältniß des Getreides im Auslande ein günstigeres wäre, als im Inlande, mit andern Worten, weil die inländische Bevölkerung zu wenig Mittel besäße, um ein größeres Quantum von dem lm Inlande erbauten Getreide kaufen zu können, daher, trotz des vorhandenen Ueberflusses, sich doch nur dürftig zu nähren vermöchte. Allein auch dieser Einwand wird verstummen müssen, wenn sich zeigt, daß der Verbrauch der inländischen Bevölkerung, nach Köpfen gerechnet, wenn nicht gestiegen, doch auch nicht gesunken ist, wo sich dann nothwendig der Schluß ergiebt, daß die vermehrte Bevölkerung in Bezug auf dieses erste Lebensbedürfniß sich mindestens nicht schlechter befinde, als die frühere, dünnere. Und auch dieser Beweis läßt sich führen. Abgesehen von den Berechnungen einzelner Statistiker der neueren Zeit, welche eine bedeutende Vermehrung des Verbrauchs von Getreide in Deutschland annehmen, liegen uns die, jedenfalls sehr sorgfältigen und auf Glaubwürdigkeit in hohem Grade Anspruch machenden Ermittelungen des statistischen Büreaus in Berlin über die Verzehrung von Brotkorn in den letzten fünfzig Jahren vor, und diese ergeben, daß in den Jahren 1806, 1831, 1842 und 1849 gleichmäßig vier Scheffel Korn auf den Kopf kamen. Hiernach ist klar, daß die vermehrte Ausfuhr von Getreide in der Gegenwart ein wirklicher Ueberschuß ist, herrührend von einer bessern Bebauung und Fruchtbarmachung des Bodens, so daß also schon bei dem gegenwärtigen Stande dieser Kultur nöthigenfalls selbst eine noch größere Menschenmenge ausreichend ernährt werden könnte. Daß wirklich die Benutzung des Bodens zur Gewinnung von Lebensmitteln sowohl Ausdehnung als ihrer innern Vollkommenheit nach in höchst erfreulichem Grade zugenommen hat, zeigt nicht nur ein Blick auf die in den letzten 50 bis 60 Jahren allerwärts vorgenommenen Verbesserungen. Gemeinheitstheilungen, Zusammenlegungen von Grundstücken, vervollkommnete Betriebsmittel und rationellere Arten der Bewirthschaftung, sondern es liegen auch darüber einzelne unzweideutige Angaben vor. So z. B. ward im Kurhessischen bei der im Jahre 1764 vorgenommenem Katastrirung der Rohertrag eines Ackers bester Qualität zu 281/2 Metze berechnet, während man ihn jetzt auf mindestens 41 Metzen, d. i. ungefähr noch einhalb Mal so viel veranschlagt.

Ein zweites wichtiges Lebensbedürfniß ist das Fleisch. Dessen Verbrauch hat sich in den letzten 50 Jahren (nach den oben angeführten zuverlässigen Ermittelungen) von 33 Pfund per Kopf auf 40 Pfund, also um beinahe 23 Prozent, gehoben.

Wir dürfen dabei nicht außer Acht lassen, daß auch noch [64] manche ganz neue Nahrungsmittel, die früher theils gar nicht, theils nur wenig in Gebrauch waren, während der letzten hundert Jahre mehr und mehr in Aufnahme gekommen sind und gegenwärtig einen ziemlich bedeutenden Antheil zu dem Gesammtverbrauch von Lebensmitteln liefern. Dahin zählen wir namentlich die Kartoffel, die bis zum siebenjährigen Kriege ein kaum nennenswerthes Quantum der Verzehrung in Deutschland bildeten, seit der großen Hungersnoth der siebenziger Jahre aber in immer größeren Mengen angebaut ward und dermalen mindestens das Doppelte des Getreideverbrauchs beträgt. Mag immerhin dieses Nahrungsmittel vom diätetischen Standpunkte aus, namentlich als alleiniges oder vorwiegendes, gegründeten Bedenken unterliegen, so muß man doch sagen: ein minder gutes Nahrungsmittel ist immer besser, als gar keines, und die Kartoffel hat wenigstens das Verdienst, in Jahren des Getreidemangels uns vor förmlicher Hungersnoth zu schützen, wie solche in frühern Zeiten beim Mißrathen der Brotfrucht regelmäßig und oft in furchtbarster Gestalt auftrat. Und, wie sehr auch zu wünschen wäre, daß unsere Bevölkerung statt der 9 bis 10 Scheffel Kartoffeln, welche man auf den Kopf rechnet, und deren Nahrungsstoff etwa 2 Scheffeln Getreide gleichgestellt wird, lieber 2 Scheffel Getreide mehr verzehrte, so darf man doch nicht vergessen, daß, wie schon angeführt, der Verbrauch an Getreide noch mindestens ebenso groß ist, als solcher, so daß jene Masse Kartoffeln einen reinen Zuwachs an Nahrungsmitteln darstellt.

Wir gehen über von den nothwendigen Lebensbedürfnissen zu den angenehmen Lebensgenüssen. An Kaffee kamen noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts nicht mehr als 1 oder höchstens 11/2 Pfund auf den Kopf, und zwar in den Gegenden, wo dieses Getränk schon am Meisten üblich war und am Wenigsten durch die Concurrenz des Wein- und Biertrinkens zurückgedrängt ward. Heut zu Tage rechnet man im ganzen Zollverein, einschließlich der Bier und Wein trinkenden Länder, 21/2 Pfund auf den Kopf. In Preußen hat sich der Kaffeeverbrauch seit 1806 von 2/3 auf mindestens 4 Pfund gesteigert. Der des Thees betrug im vorigen Jahrhundert kaum 1/5 Loth auf den Kopf, gegenwärtig beträgt er wenigstens 1/2 Loth, freilich immer noch eine Kleinigkeit gegen das, was in England verbraucht wird, wo, um dies beiläufig zu erwähnen, schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts 31 Millionen Pfund Thee eingeführt wurden, etwa tausend mal so viel, als zu Anfange desselben Jahrhunderts. An Zucker verbrauchte man in Deutschland vor etwa 70 Jahren ungefähr 11/2 Pfund per Kopf, d. h. den dritten Theil des gegenwärtigen Bedarfs. Auch die Weinconsumtion hat sich bedeutend gesteigert. in Preußen z. B. von 3/4 Quart (1806) auf 2 bis 21/2 Quart (1849). Vom Taback, den ein so großer Theil unserer Bevölkerung zu den Unentbehrlichkeiten des Lebens rechnet, wird gegenwärtig mindestens dreimal so viel als früher verbraucht.

Ueberaus groß ist die Steigerung des Verbrauchs derjenigen Bekleidungsstoffe, deren Benutzung sich vorzugsweise auf alle Klassen der Bevölkerung erstreckt. So ist der Geldwerth, den der Einzelne durchschnittlich für Leder ausgiebt, binnen 50 Jahren von 12 auf 27 Silbergroschen gestiegen, und während von baumwollenen Zeuchen zu Anfang dieses Jahrhunderts nur erst 3/4 Elle auf den Kopf kam, hat sich dieser Verbrauch bis auf 16 Ellen, also um mehr als das Zwanzigfache, gesteigert. Da nun auch die übrigen Kleidungsstoffe in ihrem Verbrauche nicht abgenommen, sondern, wenn schon weniger bedeutend, ebenfalls zugenommen haben (Tuch von 5/8 Elle auf 1 Elle, Leinwand von 4 auf 5 Ellen, Seide von 1/4 auf 2/3 Elle), so ist jene Thatsache jedenfalls ein erfreuliches Anzeichen dafür, daß die zahlreichste Klasse der Bevölkerung, die sogenannte arbeitende Klasse, sich gegenwärtig mehr als früher in den Stand gesetzt sieht, solche Stoffe zu kaufen und zu tragen.

Wenn schon dieses eine Beispiel darauf hinweist, daß die allgemeine Steigerung des Verbrauchs nothwendiger und angenehmer Lebensbedürfnisse keineswegs etwa blos den höheren Klassen zu Gute gekommen ist, sondern daß auch die untern ihren verhältnißmäßigen Antheil daran haben, so lässt sich dieser Beweis dafür auch noch auf andrem Wege directer und überzeugender führen. Obschon nämlich durch die vermehrte Bevölkerung einestheils das Angebot der Arbeit gestiegen, anderntheils die Nachfrage nach den nothwendigen Lebensbedürfnissen erhöht ist, so ergiebt sich dennoch bei einer unbefangenen, sorgfältigen Vergleichung des Ehemals und des Jetzt, daß das Verhältniß zwischen den Arbeitslöhnen und den Preisen der hauptsächlichsten Bedürfnisse der Arbeiter im Allgemeinen eher ein günstigeres als ungünstigeres geworden ist. Wir wählen, um dies zu erweisen, ein naheliegendes Beispiel. Ein Tagearbeiter in Leipzig erhielt vor ohngefähr hundert Jahren taxmäßig 5 Neugroschen den Tag; dafür konnte er sich nach den damaligen Marktpreisen folgende Quantitäten der ersten Lebensbedürfnisse kaufen: 2/3 Kanne Butter, 1/2 Schock Eier, 2 Pfund Rind- oder Schöpsfleisch, 31/2-4 Pfund Kalb- oder Schweinefleisch, 105/12 Pfund Kernbrot, 1/20 Klafter weiches Holz. Gegenwärtig bekommt ein hiesiger Handarbeiter mindesten 10, sehr häufig 15 Neugroschen den Tag. Selbst bei den hohen dermaligen Preisen aller Lebensmittel erhält er für den erstern dieser Lohnsätze 1/22/3 Kanne Butter, 1/22/3 Schock Eier, 21/2 – 31/3 Pfund Rind- oder Schöpsfleisch, 4 Pfund Kalbfleisch, 12/3 – 2 Pfund Schweinefleisch, 10 – 11 Pfund Kernbrot, 1/141/18 Klafter weiches Holz. Schon bei diesem geringsten der heutigen Lohnsätze steht sich also der Arbeiter wenigstens ebenso gut, wie sein College vor hundert Jahren bei dem höchsten Tagelohn, das er erhalten konnte; denn, wir müssen dies hinzusetzen, der Arbeitslohn war damals nicht blos hier in Leipzig, sondern wohl allerwärts von Obrigkeit wegen streng festgesetzt und durfte selbst von den Arbeitgebern bei Strafe nicht überschritten werden. Nehmen wir nun aber vollends den, bei weitem häufiger vorkommenden höheren Tagelohn von 15 Neugroschen, so stellt sich heraus, daß der Arbeiter dafür fast durchweg entweder um die Hälfte mehr von den ersten Lebensmitteln, im Vergleich zu früher, verzehren oder sich etwas erübrigen kann. Daneben kommt noch in Betracht, daß andere Lebensbedürfnisse, wie namentlich alle Bekleidungsstoffe und überhaupt alle durch die menschliche Arbeit erzeugten Gegenstände, ganz bedeutend gegen früher billiger geworden sind, und daher auch, wie wir schon sahen, in ungleich größeren Mengen von der arbeitenden Klasse verbraucht werden. Das Verhältniß der Löhne in anderen Arbeitszweigen früher und jetzt haben wir hereits an einer andern Stelle (Nr. 32 des vorigen Jahrgangs) angedeutet. Auf eine Klasse der Arbeiter müssen wir noch etwas näher eingehen, weil man in der Regel annimmt, daß gerade diese Klasse durch den starken Bevölkerungszuwachs und das dadurch herbeigeführte massenhafte Angebot von Arbeitskräften vorzugsweise in ihrem Erwerbe bedrückt und in Dürftigkeit versetzt worden sei. Wir meinen die Arbeiter in der sogenannten Manufactur- oder Fabrikindustrie. Daß man hier nur zu häufig das allertraurigste Mißverhältniß zwischen Erwerb und Lebensbedarf, ja nicht selten die bare Unmöglichkeit antrifft, mit dem Ertrage des angestrengtesten Fleißes auch nur irgendwie auskömmlich und menschenwürdig zu leben, ist leider eine nicht abzuleugnende Thatsache. Nur täusche man sich darüber nicht, daß der Zustand dieser Bevölkerungsklasse auch in früheren Zeiten keineswegs ein besserer und zufriedenstellenderer war. Im Gegentheil müssen wir, der Wahrheit gemäß und auf Grund gewissenhafter geschichtlicher Forschungen bekennen, daß, wenn auch einzelne heruntergekommene oder durch besondere Conjuncturen gedrückte Gewerbszweige heutzutage ihren Arbeitern einen so kargen Verdienst abwerfen, als nur je früher vorgekommen sein mag (aber doch auch keinen kargeren), dagegen im allgemeinen Durchschnitt und nach der Mehrzahl der Gewerbe gerechnet, der heutige Arbeiterstand auch in der Fabrikindustrie, trotz seiner ungeheuern Vermehrung, sich dennoch eher besser als schlechter denn ehemals befindet. Es gab im vorigen Jahrhundert ganze Arbeitszweige (und noch dazu in größeren Städten), wo der Arbeiter im günstigsten Falle 2-3 Neugroschen den Tag, im ungünstigsten nur 1/2, ja 1/3 Silbergroschen verdiente, andere, wo der Allerfleißigste sich mit 8-10 Neugroschen in der Woche begnügen musste. Das ist freilich leidiger Trost für unsere armen schlesischen Weber und unsere sich kümmerlich nährenden erzgebirgischen Spitzenklöpplerinnen. Der Durchschnittsverdienst eines Spinners vor etwa 80 Jahren betrug 2/35/6 Thaler die Woche, und eine Familie von drei erwachsenen Personen konnte zusammen 2 – 21/2 Thaler erarbeiten. Heutzutage, wo das Spinnen fabrikmäßig, in geschlossenen Etablissements, betrieben wird, kann sich ein männlicher Arbeiter, je nach seiner Geschicklichkeit, von 21/6 Thaler bis zu 7 Thaler die Woche verdienen (im Mittel also wenigstens 3 Thaler), eine weibliche Arbeiterin 1 Thaler, so dass der Gesammtverdienst einer Familie von drei Personen auf’s Mindeste zwischen 4 und 5 Thalern beträgt, [65] aber auch bis zu 9 oder 10 Thalern ansteigen kann. Zieht man nun in Betracht, daß der Werth des Geldes gegen damals (im Vergleich zu den Preisen der andern Waaren) um etwa 50 p.Ct. gesunken ist, so erscheinen dennoch jene Lohnverhältnisse in der Gegenwart als die günstigeren. Dabei kommt noch wesentlich in Anrechnung, daß damals, wo diese Gewerbe im Hause betrieben wurden, der Arbeiter selbst für Licht, Feuer und Arbeitswerkzeuge zu sorgen hatte, während er jetzt alles dies in der Fabrik umsonst erhält.

Auch in den Handwerken hat man oft mit Unrecht die Folgen der Ueberbevölkerung angeklagt, als ob diese die Gewerbe übersetzt und so den Verdienst der einzelnen Gewerbtreibenden geschmälert hätte. Es liegen uns interessante statistische Vergleichungen über diese Verhältnisse vor, welche bis in den Anfang des 17. Jahrh. zurückgehen und das überraschende Ergebniß liefern, daß die Zahl der Gewerbsmeister im Verhältniß zu der Gesammteinwohnerzahl, während dieser langen Zeit theils sich gleich geblieben ist, theils sogar günstiger für die betreffenden Gewerbtreibenden geworden ist. So z. B. kamen in Kassel 1605 auf einen Schuhmacher 95 Menschen, auf einen Schneider 122, auf einen Schreiner 300; 1852 endlich auf einen Schuhmacher 119, auf einen Schneider 164, auf einen Schreiner 273. Noch weit günstiger gestaltete sich im Fortgange der Zeiten dieses Verhältniß für das Gewerbe der Bäcker und Fleischer. 1605 rechnete man in Kassel auf einen Bäcker 86 Personen, 1819 dagegen 334, 1852 aber gar 584; die durchschnittliche Zahl der Abnehmer auf einen Fleischer war 1605 ebenda 140, 1852 aber 525. Aehnliche Erscheinungen finden wir überall, wo nicht besondere Umstände, wie der fabrikmäßig eingerichtete Betrieb eines Gewerbes oder die Ausbreitung desselben über einen größern Kreis außerhalb des eigentlichen Betriebsortes einen überwiegenden Einfluß geübt haben.

Noch manche andre Thatsachen können wir anführen, aber es genügt wohl an den beigebrachten, um uns die Ueberzeugung zu verschaffen, daß die theilweise herrschende Noth und Dürftigkeit keineswegs etwa durch die neuesten Fortschritte unsrer Kultur und Industrie geschaffen, sondern lange vor diesen vorhanden gewesen, daß sie auch nicht im Verhältniß zu dem rascheren Wachsthum der Bevölkerung gewachsen, sondern hinter diesem zurückgeblieben, ja zum Theil trotz desselben geringer geworden ist. Wollen wir damit das vielfach vorhandene Mißverhältniß zwischen der Bevölkerungszahl und den zu Gebote stehenden Erwerbs- und Nahrungsmitteln leugnen? Keineswegs! Oder wollen wir denen widersprechen, welche eine theilweise Ableitung dieses Bevölkerungsüberschusses im Wege der Auswanderung, für wünschenswerth erklären? Ebensowenig! Nur warnen wollen wir, daß man sich nicht übertriebenen und oft unbegründeten Besorgnissen in Betreff der zunehmenden Bevölkerung hingebe, oder wohl gar, durch solche veranlaßt, der modernen Kultur und ihren rastlosen Fortschritten einen ebenso thörichten als erfolglosen Krieg erkläre.



  1. Vergl. Jahrgang 1854, Nr. 32, 38, 42, 47, 52.