Die Sagen vom Greifenstein
Nr. I. b. Lehmann, Obererzgeb. Schauplatz S. 181 sq. Nr. II. u. III. b. Ziehnert Bd. III. S. 209 sq. nr. II. novell. bearb. v. C. Winter in d. Constit. Ztg. 1854 Nr. 212 sq. (Anders erzählt b. E. V. Dietrich u. A. Textor, die romantischen Sagen des Erzgebirges: Bd. I. Annaberg 1822. 8. S. 134. 150 sq.) Nr. IV. b. Dietrich a. a. O. S. 123 sq. u. poetisch behandelt v. Ziehnert. Bd. I. S. 204 sq.
I. Zwischen Geyer, Thum und Ehrenfriedersdorf liegt der sogenannte Greifenstein hoch auf einer wilden Höhe im Walde: es sind Felsen, die sich gählings bald höher bald niedriger in die Höhe erheben und aussehen, als wären große Steine in einer gewissen Ordnung mit Fleiß auf einander geschichtet; rings herum liegen ebenfalls viele große Felsstücke mit Erde bedeckt und überraset, mit Bäumen und Sträuchern bewachsen, ganz so wie wahrscheinlich eine vorweltliche Erdumwälzung diese sonderbaren Steingruppen gestaltet hat; den Namen sollen die Felsen daher haben, daß hier einstmals ein Greif genistet hat. Unter einem dieser Felsen ist ein offenes Loch zu sehen, in welches ein Mensch ganz bequem hineinkriechen kann. Von diesem Loche erzählen alte Leute, daß vor Zeiten einst eine Magd, die sonst, wenn sie an dem Orte gegrast, öfters daselbst mit Namen gerufen ward, im Beisein einer anderen Magd auf abermaliges Rufen hinein gegangen sei, nachdem sie letzterer verlassen, sie solle ihr, wenn sie schreien werde, zu Hilfe kommen. Es hätte nun die hineingehende einen großen Kasten mit Geld und Gold und einen Hund dabeiliegend getroffen und auf Befehl einer Stimme das Grastuch damit angefüllt. Als aber inzwischen der Eingang ganz enge geworden sei und sie deshalb der anderen Magd um Hilfe zugerufen, wäre der Hund auf sie losgesprungen und hätte alles von ihr Eingeraffte wieder aus dem Grastuche herausgescharrt, darauf sie voller Schrecken von der andern herausgezogen worden, den dritten Tag nachher aber vor Furcht gestorben sei. Es sei auch einst ein gewisser alter Mann, Namens Christoph Hackebeil, [449] verführt worden, daß er des Nachts über daselbst in einer Höhle bleiben müssen. –
II. Einst lebte in Geyer ein armer Häuer Namens Hans Geißler, der war blutarm und hatte ein schwangeres Weib und viele Kinder und wußte sich oftmals keinen Bissen Brod. Am größten war aber seine Noth am Sylvesterabend, als die Niederkunft seines Weibes auf wenig Stunden nahe war, und er weder eine warme Stube noch sonst eine Erquickung, ja nicht einmal eine Wehmutter für sie hatte. Er eilte hinaus, eine erfahrene Muhme zu holen, verirrte sich aber bei dem gräßlichen Schneegestöber vom Wege und kam durch tiefe Wehen sich mühsam durcharbeitend, zuletzt an die Felsenschichten des Greifensteins. Er erschrack und wollte umkehren, als der Berggeist ihm erschien und mit freundlichem Blick ihn also ansprach: „Eile, glücklicher Vater! Gott hat Dein Weib mit drei holden Knäblein gesegnet! Wenn Du nichts dawider bist, will ich Dein Gevatter sein!“ Da verließ Hansen die Furcht und er antwortete: „In Gottes Namen magst Du mein Gevatter sein, aber wie thue ich Dir die Stunde der Taufweihe kund?“ Wie nun der Berggeist lächelnd sagte, daß er ohnedem zur rechten Zeit kommen werde, da verließ sich Hans darauf und eilte heim. Sein Weib hatte ihm wirklich drei holde Knäblein geboren. Am andern Tage, als Alles zur Taufe bereitet war, da ließ auch der Gevattersmann vom Greifenstein nicht auf sich warten. Er erschien in Häuerkleidung und übte das fromme Werk mit inniger Andacht und als die heilige Handlung vorüber war, da schenkte er Hansen einen Schlägel und ein Eisen und sprach: „Lieber Gevatter, bete und arbeite! Wo Du mit diesem Gezäh einschlägst, da wirst Du reiche Ausbeute finden, und dann denke allemal an Gott und Deinen Gevattersmann!“ Darauf verschwand er: seine Worte aber trafen ein, Hans ward ein reicher Mann und soll die Siebenhöfe bei Geyer gebaut haben.
III. Ein Wanderer, Namens Jahn, irrte bei Nacht einst in der Gegend des Greifensteins im Walde umher. Da trat [450] ihm plötzlich eine zwerghafte Geistergestalt entgegen und winkte ihm zu folgen. Nicht ohne Grauen folgte Jahn. Ueber Stock und Stein führte ihn der Zwerg, bis sie endlich an eine Höhle kamen, die sich, sobald sie eintraten, mächtig erweiterte und ein prächtiges Ansehen gewann. Die Wände waren von Silber, die Tische und Stühle von Gold. Tausend krystallene Leuchter mit langen Kerzen verbreiteten einen blendenden Glanz über das ganze Gewölbe. Zwölf Männer in stattlichen Rittergewändern mit langen Bärten saßen an einer langen Tafel und speisten. Der Zwerg lud den erstaunten Jahn ein, sich zu setzen und am Mahle Theil zu nehmen. Der Hunger besiegte die Schüchternheit. – Jahn setzte sich und aß und trank von dem, was ihm der Zwerg bot. Nie noch hatte er so köstlich getafelt; er ward erquickt und allmälig getrosten und frohen Muthes. Die zwölf Männer schienen sich über ihn zu freuen und geboten dem Zwerge, sein Ränzel zu füllen. Mit herzlichen Worten schied Jahn von seinen gastfreien Wirthen. Der Zwerg führte ihn aus der Höhle, die, wie Jahn jetzt bemerkte, im Greifenstein war und geleitete ihn auf die Straße, welche nach Böhmen führte und auf welcher Jahn sich nicht mehr verirren konnte. Dann verschwand er. Als nun Jahn sein Ränzel umpackte, um zu sehen, womit ihn die freigebigen Geister beschenkt hatten, da fand er in demselben eine ziemliche Anzahl Barren gediegenen Goldes und Silbers. Voller Freuden gelobte er, dasselbe recht gut anzuwenden. Er baute also in der Gegend des Freiwaldes bei Thum mehrere Häuser, welche er armen Leuten ohne Miethzins überließ und that auch sonst allerlei Gutes an Kranken und Armen. Später, als die Zahl jener Häuser sich vermehrte und ein ganzes Dorf daraus entstand, ward dasselbe ihm zum Andenken Jahnsbach genannt.
IV. Die Felsengruppe des Greifensteins zeigt an vielen Stellen Spuren von Mauerwerk, und da man auch innerhalb und bei demselben Pfeile, Eisenwerk und dergl. gefunden hat, so scheint die Vermuthung nicht unwahrscheinlich, daß jene einst ein Raubschloß in sich gefaßt habe. Das Volk [451] erzählt sich über den Untergang desselben eine schauerliche Geschichte, die also lautet. Im 11. Jahrhundert soll ein Ritter, Odo von Greifen, an dem Hofe des Herzogs Wratislaw von Böhmen gelebt haben und nachdem er sich von hier ein Fräulein entführt, mit dieser in den damals fast nur von wilden Thieren bewohnten Freiwald bei Thum gezogen sein und sich hier ein Schloß, die Greifenburg, erbaut haben. Hier lebten Beide nur der Erziehung ihres einzigen Sohnes, eines Tages aber brachte der Ritter von einem seiner Jagdzüge ein kleines Mädchen von ohngefähr 2 Jahren mit nach Hause, die er im Dickicht schlafend gefunden hatte. Diese ward nun mit dem jungen Ritterssohne zusammen erzogen, beide liebten sich wie Geschwister, als sie aber in das mannbare Alter getreten waren, versäumten ihre Eltern sie gehörig zu überwachen und ihrem beständigen Zusammensein Hindernisse in den Weg zu legen. So kam es, daß aus der geschwisterlichen Zuneigung ein weniger unschuldiges Verhältniß entstand, in einer unbewachten Stunde vergaßen sich die Liebenden und nach Verlauf einiger Monate fühlte sich das unglückliche Mädchen Mutter. Zwar hoffte sie, es werde ihrem Geliebten gelingen, seine Eltern dahin zu stimmen, daß sie ihre Einwilligung zu seiner Verheirathung mit seiner Pflegeschwester gewährten, leider fand sich aber keine passende Gelegenheit, und als eines Tags der Junker ausgezogen war, um einem Waffenbruder seines Vaters, Bruno von Scharfenstein, gegen einen Raubritter, Namens Rekko von Rauenstein, der schon vor 18 Jahren die schwangere Gemahlin des erstern geraubt hatte und jetzt abermals dessen Schloß belagerte, beizustehen, entdeckte seine Mutter die Schwangerschaft ihrer Pflegetochter. Natürlich konnte sie nicht im Zweifel sein, wer der Urheber derselben war, sie entdeckte also ihrem Gemahl Alles, allein da Beide sehr adelstolz waren, so fiel es ihnen gar nicht ein, den einmal geschehenen Fehltritt der beiden jungen Leute zuzudecken. Im Gegentheil, sie behandelten das unglückliche Mädchen ganz als sei sie eine freche Buhldirne und habe den Junker verführt, [452] und ließen sie unter schweren Mißhandlungen in’s tiefste Burgverließ werfen. Hier genaß sie unter furchtbaren Schmerzen eines Knäbleins, und da sie sich von Gott und Menschen verlassen glaubte, schleuderte sie dasselbe an die Mauer des Kerkers. Da stand plötzlich eine weiße Gestalt vor ihr, welche ihr sagte, sie sei seit undenklicher Zeit wegen einer ähnlichen Handlung zum ruhelosen Umherirren von dem Schicksal verurtheilt gewesen, jetzt aber durch sie erlöst worden, und sie werde nun ihre Stelle einnehmen, bis einst ein keusches Weib, welches niemals einen unreinen Gedanken in ihrer Seele gehegt, in stiller Mitternacht ihren Namen dreimal ohne Furcht rufen werde. Die Unglückliche sank tödtlich erschrocken zu Boden und erwachte nicht wieder, wohl aber erschien ihr Geist dem hartherzigen Pflegevater und verkündete seinem Hause Verderben. Reuig eilte er in ihren Kerker hinab, allein er fand nur ihren Leichnam und den ihres neugeborenen Kindes. Er ließ Beiden ein prächtiges Begräbniß ausrichten, allein eben als man sie beisetzte, kehrte sein Sohn als Sieger von seiner ersten Waffenthat zurück. Voller Freude eilte er der Burg seines Vaters entgegen, denn er hatte aus dem Munde des gefangenen Raubritters erfahren, daß seine Geliebte das von Letzterem im Freiwalde ausgesetzte Töchterchen der entführten Gemahlin des Ritters von Scharfenstein sei, und hoffte nun nichts gewisser, als daß seine Eltern nunmehr ihre Einwilligung zu seiner Verbindung mit ihr nicht mehr versagen würden. Böses ahnend, als er die Trauerfahne vom Schloßthurme wehen sah, sprengte er in den Schloßhof, wo ihm der Leichenzug entgegenkam. Die Wahrheit konnte ihm nicht verheimlicht werden, er stieß einen furchtbaren Fluch gegen seine hartherzigen Eltern aus und sank in eine tiefe Ohnmacht, aus der er nur wieder erwachte, um für immer in geistiger Nacht zu leben. Seine Eltern überlebten diese furchtbare Katastrophe nicht lange, ihr unglücklicher Sohn ward auf seine Lebenszeit in einem Kloster untergebracht und der Herzog Wratislaw übergab die Burg Greifenstein als erledigtes [453] Lehen einem andern böhmischen Ritter, der sie aber auch nicht lange behielt, denn da er mit seinen Nachbarn in beständiger Fehde lebte, vereinigten sich dieselben zuletzt gegen ihn und berannten, eroberten und zerstörten die Burg. Noch jetzt aber soll zwischen den Felsen der Geist jenes unglücklichen Mädchens, ihr zerschmettertes Kind auf den Armen, herumirren und den Wanderer durch sein Wehegeschrei erschrecken.