Die neue Wohnung
Die neue Wohnung.
Wir waren wieder einmal recht unzufrieden mit unserer Wohnung und sagten ihr alle möglichen schlimmen Dinge nach. Die Zimmer schienen mit jedem Tage zusammenzuschrumpfen, während die Treppen offenbar immer höher wurden, der Preis war ganz unverhältnißmäßig, der Straßenlärm machte uns krank, und wenn wir vor einem anderen Hause zwei kümmerliche Akazienbäume stehen sahen, dann wurden wir melancholisch und träumten von einem herrlichen Garten. Es kam endlich so weit, daß wir stundenlang mit sorgenschweren und gedankenvollen Mienen auf- und abgingen, uns bisweilen fragend ansahen und dann mit einer Harmonie, wie sie unter Eheleuten nicht immer zu finden sein soll, in die Worte ausbrachen: „Wir müssen ausziehen!“
Gewiß, wir mußten es. In diesen engen, drückenden Räumen, diesem Hühnerstalle, zu dem man erst gelangte, nachdem man drei halsbrecherische Treppen überwunden hatte, konnten wir unmöglich noch länger unser Leben vertrauern. Wir abonnirten sofort sämmtliche Zeitungen der Stadt, und schon am nächsten Tage wanderte ich mit dem Plane in der Hand durch Gassen und Straßen, die ich in meinem Leben noch nicht betreten hatte. Und mit welchen Gefühlen, mit welchen Gedanken! Das Wohnungsuchen ist ja eine Art Kriegführen, und nur langjährige Erfahrungen lehren uns die Kunst, jeden Hinterhalt des Feinden zu erforschen, alle seine Tücken zu Schanden zu machen. Wer eine Wohnung sucht, soll ein gewiegter Stratege sein, er soll Menschen- und Insektenkenntniß in ungewöhnlichem Maße besitzen, und wie ein Jagdhund das in der Ferne vorüberstreichende Wild wittert, so soll er auch in dem in sonntäglicher Stille, in idyllischer Ruhe daliegenden Hause die Anwesenheit von Klavieren, Violinen oder anderen modernen Marterwerkzeugen instinktiv verspüren. Was mich betrifft, so muß ich – trotzdem man es vielleicht unbescheiden finden wird – erklären, daß ich mich auf diese Wohnungsstrategik vorzüglich verstehe. Mein Lehrgeld habe ich redlich entrichtet, aber jetzt bin ich dafür ein kleiner Moltke, mit dem es der stärkste Hausherr nicht aufnimmt. Habe ich ein Haus ins Auge gefaßt, dann studire ich zuerst das Terrain, und alle Sinne müssen mir bei diesem Studium behilflich sein. Ich sehe nach den Firmenschildern der Umgebung, meine Ohren lauern auf Schlosser, Klempner und Genossen, meine Nase prüft die Luft nach der Anwesenheit von Chemikern, Zuckerbäckern und Galvanoplastikern. Dann gilt es, die Parteien des Hauses zu studiren, und die Dienstmädchen über musikalische Instrumente, Wickelkinder und Opernsänger zu befragen. Es ist natürlich, daß auch ein chemisches Laboratorium, eine Tragödin oder ein junges Ehepaar sofort verscheucht, von einem Restaurant oder einer Tanzschule gar nicht zu reden. Erst wenn ich günstiges Terrain gefunden habe, rücke ich vor und beobachte den Feind in der Nähe. So verfuhr ich auch diesmal, und so kam es, daß von dem Dutzend Wohnungen, die ich jeden Tag zu prüfen hatte, meist nur eine übrig blieb, mit der ich mich beschäftigen konnte.
Da waren zuerst fünf Zimmer in der B. Gasse, in einem hübschen Hause, wie es schien, sehr günstig für meine Zwecke. Ich klingelte und verlangte die Wohnung zu sehen, aber das Dienstmädchen schleppte mich fast mit Gewalt in das Zimmer des Hausherrn. Ein kleiner, dicker Herr mit einer großen Pfeife, der aussah wie ein gnomischer Tyrann im Schlafrocke eines neudeutschen Philisters, kam mir entgegen und musterte mich von Kopf bis zu Fuß.
„Ich möchte die Wohnung –“ begann ich schüchtern.
Aber er unterbrach mich und fragte kategorisch: „Mit wem habe ich die Ehre?“
„O bitte – ich möchte nur die Wohnung sehen.“
„Ihr Name?“ fragte er noch strenger.
„Mayer,“ antwortete ich ärgerlich.
Er riß die Augen auf und musterte mich wieder.
„Ihr Beruf?“
„Privatier.“
„Rentier?“ fragte er. Es lag etwas stark zweifelndes in seinem Tone. Jedenfalls zog er den Ausdruck „Rentier“ dem gar zu allgemeinen „Privatier“ vor.
„Ja,“ erwiderte ich. „Fünf Zimmer also –“
„Haben Sie Kinder?“
„Ja. – Fünf –“
Ich wollte von den fünf Zimmern sprechen, er aber ließ mich nicht ausreden. Er war puterroth geworden, und seine Augen funkelten wild.
„Fünf Kinder!“ rief er entsetzt. „Fünf Kinder! Und am Ende auch noch Hunde?“
„Nur drei –“
Ich wollte ihn aufklären, daß ich nur drei Kinder besitze, aber es war unmöglich. Er kochte vor Wuth und schrie so laut, daß ich schweigen mußte.
„Nur drei Hunde – nur drei Hunde! Hat die Welt so etwas gesehen? Fünf Kinder und drei Hunde – ja, was glauben Sie denn? Für Hunde habe ich mein Haus überhaupt nicht gebaut, und was die Kinder betrifft, so müssen sich die Parteien mit zweien begnügen. Das ist Vertragsparagraph, das habe ich drucken lassen, und ich denke, es ist genug, es ist human.“
„Dann thut es mir leid –“
„Guten Morgen.“ –
Nummer Zwei schien das Gegenstürk zu dem Tyrannen zu sein. Ein langaufgeschossener, sanftblickender Herr, der einen so hohen Preis forderte, daß ich erschrak. Darauf nahm er eine jammervolle Miene an und sagte in kläglichem Tone: „Sie wissen gar nicht, was so ein Haus kostet, wie das ins Geld geht. Maurer und Zimmerleute, Schlosser und Schreiner, Weißbinder und Tapezierer, Schieferdecker und Spengler, Anstreicher und Glaser! Ja, das thut sich zusammen, da fliegen die Tausender. Und was Einem zu Grunde geht! Und die Steuer! Man kann ein armer Mann dabei werden – ja, ja, ich beneide jeden, der kein Haus hat. Und die Wohnung – die Wohnung, sage ich Ihnen, ist rein geschenkt – rein geschenkt.“
Wir waren eingetreten und besichtigten die einzelnen Räume. Er fuhr liebkosend mit der Hand über die Wandflächen, über die Thüren und Fenster und begann aufs Neue zu jammern: „Diese Tapeten – da kostet mich das Zimmer dreißig Mark. Und die Thüren – dreimal gestrichen, habe Alles selbst beaufsichtigt. Und die Fußböden schauen Sie nur einmal genau hin – es thut Einem das Herz weh, darauf zu treten. Wenn ich d’ran denke, was das Alles gekostet hat – und wie es in einem Jahr aussehen wird – es ist eigentlich eine Sünde, so eine Wohnung zu vermiethen. Und dabei bin ich noch so rücksichtsvoll und sehe nur jede Woche einmal nach – nur einmal – aber das sage ich gleich – da müssen mir alle Zimmer aufgeschlossen werden – das kommt in den Vertrag. Und Bildernägel einschlagen dulde ich nicht, das muß der Tapezierer machen. Auch müssen Sie für jeden Schaden einstehen, und die Wohnung muß mir in demselben Zustand übergeben werden. Sehen Sie nur, wie schön und sauber das Alles ist, es thut mir wirklich leid, die Wohnung zu vermiethen, und dazu verschenke ich sie eigentlich – wahrhaftig, das ist doch kein Geld dafür!“
Ich unterbrach ihn und empfahl mich mit dem Versprechen, meine Frau zu schicken. Es ist kaum nöthig zu sagen, daß das eine Nothlüge war und daß ich froh aufathmete, als ich den sanftblickenden Hausherrn hinter mir hatte. Ich wollte nicht der Räuber seiner Herrlichkeiten werden und setzte nun meine ganze Hoffnung auf Nummer drei. „Wohnung mit Gartenvergnügen“, hatte die Ueberschrift des Inserates gelautet, und das „Gartenvergnügen“ hatte unsere Phantasie mächtig erregt. Ich sah schattige, tiefdunkle Laubgänge, in denen sich’s im Auf– und Abschreiten herrlich fabuliren ließ, und meine Frau berechnete, wie viel sie ersparen könnte, wenn sie ihren Kohl selber pflanzte und das Obst für die Kinder nur von den Bäumen herunter zu langen brauchte. Die kleine Hedwig aber sprang wie toll vor Freude und schwärmte von Rasenplätzen, auf denen man Haschen spielen konnte, von Seilspringen, Schaukeln, Criquet und allerlei ähnlichen schönen Dingen. Nach solch hochgespannten Erwartungen konnte die Enttäuschung nicht ausbleiben. Als ich nach dem Garten fragte, zeigte mir der Hausbesitzer einen viereckigen Platz hinter dem Hause, der von drei Feuermauern umschlossen war, so daß es aussah, als ob man in einen riesigen Schornstein hinabblickte. In der Mitte des Platzes befand sich ein kreisrundes Beet voll bunter Blumen, überragt von einer silberglänzenden Glaskugel. In den vier Ecken aber standen vier Tische und längs der Wände waren Rosenstöcke und Geranien gepflanzt.
„Und solch ein Gärtchen gehört zu jeder Ihrer Wohnungen, oder nur zu dieser?“ fragte ich.
[375] Er sah mich verwundert an. „Nein – das nicht, ‚Gartenvergnügen‘ nennen wir es, wenn sämmtliche Parteien den Garten benutzen.“
„So so,“ erwiderte ich von Neuem enttäuscht. „Und giebt es da nicht manchmal Zwistigkeiten?“
Er lächelte verschmitzt. „Dagegen haben wir unsere Gartenordnung. Dieselbe ist in jeder Wohnung angenagelt, ebenso wie die Hausordnung. Wenn es Ihnen angenehm ist, näher zu treten – hier ist sie.“
Ich folgte seiner Einladung und begann das in dem Vorraum neben der Eingangsthür angeheftete Blatt zu lesen:
§ 1. Jede der vier Parteien erhält einen Tisch, der zu ihrer ausschließlichen Benutzung ist.
§ 2. In den übrigen Raum theilen sich die Parteien, wobei liebenswürdiges Entgegenkommen erwartet wird.
§ 3. Besuche sind in den Garten nicht mitzubringen.
§ 4. Ebenso sind Hunde und Kinder unter acht Jahren ausgeschlossen.
§ 5. Cigarrenreste, Aepfelschalen u. dergl. dürfen im Garten nicht weggeworfen werden.
§ 6. Blumenpflücken ist nicht gestattet.
§ 7. Die Pflege des Gartens ist auf Kosten der Theilnehmer an dem Vergnügen einem Gärtner übertragen.
Für jeden Schaden haben die Parteien aufzukommen.
Ich hatte genug, verzichtete auf weitere Unterhandlungen und entfernte mich mit dem Versprechen, meine Frau zu schicken.
Auch dieser Traum war also wie Nebel zerronnen, und mit den andern ging es nicht besser. Als ich endlich eines Abends – seit vierzehn Tagen war ich auf der Reise nach dieser unglückseligen neuen Wohnung – heimkehrte und mich ermüdet auf das Sofa warf, bemerkte ich, daß meine Frau wieder ihre gedankenvolle Miene angenommen hatte und mich fragend ansah.
„Du siehst so nachdenklich aus,“ sagte sie.
„Ich? – O nein – aber Du.“
„Ich dachte, daß wir’s hier eigentlich recht glücklich getroffen haben. Kein Klavier, kein Schlosser –“
„Und kein Gartenvergnügen,“ fiel ich ihr ins Wort.
„Der Hausherr ist ein liebenswürdiger Mensch –“
„Und wohnt nicht im Hause, was das Liebenswürdigste an ihm ist. Auch finde ich, daß unsere Treppen viel bequemer sind, als die anderer Häuser.“
„Und die Zimmer sind so gemüthlich, so behaglich.“
Ich war aufgesprungen, und wir schritten Arm in Arm von Stube zu Stube. Ueberall entdeckten wir neue Vorzüge, neue Herrlichkeiten. Die alte, verhaßte Wohnung hatte sich plötzlich verändert, es war gar nicht mehr die alte, es war eine neue, die schönste und bequemste unter allen, die ich gesehen hatte. Und zugleich war sie uns auf einmal ans Herz gewachsen wie ein guter, lieber Freund, dessen theure Züge uns aus jeder Ecke entgegenblickten, und die Idee, diesen Freund zu verlassen, erschien mir so toll, daß ich plötzlich laut auflachte.
„Du hast ganz Recht,“ sagte meine Frau, als ob sie mein Lachen verstanden hätte. „Wir bleiben natürlich.“
„Natürlich,“ erwiderte ich, und der Leser wird meinen, die Geschichte sei nun zu Ende. Sie ist es aber nicht, und sie wird es vielleicht nie sein, denn wir wären keine Menschen – wenn sie sich nicht jedes Jahr wiederholte . . . .