Was will das werden?
Was will das werden?
Einer zu dem Andern: Was will das werden?
Apostelgeschichte II, V. 12
Ich habe es später stets als seltsam, aber auch als für mich charakteristisch angesehen, daß ein wirklicher Traum die Pforte war, durch welche ich aus der traumhaften Dämmerung der Kinderzeit in das hellere Licht getreten bin, welches das erwachende Bewußtsein über die Knabenjahre breitet.
Es mag da auch eine Täuschung unterlaufen: ich habe gewiß auch schon vorher die Menschen und die Dinge gesehen und mir meine kindischen Gedanken darüber gemacht; aber was ich, und was um mich her vor dem Traum war, und das Nachher – es sind doch für meine Erinnerung zwei scharf gesonderte Sphären, wie des Mondes beleuchteter Rand und sein übriges Rund, das sich nur kaum in matterem Blau von dem dunklen Azur des nächtlichen Himmels abhebt. Ja, ich habe die Empfindung, als ob jener Abend nur deßhalb nicht, wie alle, die vorhergingen, für mich in der Nacht der Vergessenheit versunken ist, sondern deutlich vor meinem inneren Auge steht, weil er gleichsam schon die Schwelle ist jener Traumespforte. Und selbst auf das Bild der goldenen Mondessichel mit der mattblauen Scheibe dahinter wäre ich schwerlich jetzt verfallen, nur daß gerade an jenem Frühlingsabend das himmlische Gestirn eben diesen Anblick bot, und ich, der ich das Wunder zum ersten Male bemerkte, meinen Kameraden Emil Israel darauf aufmerksam machte, mit dem ich in dem Gäßchen vor den Thüren unserer benachbarten elterlichen Wohnungen spielte. Aber Emil sagte, er könne das nicht sehen und auch nicht den Stern, der rechts unter der Mondsichel stand, und der Mond habe auch keine Messingränder, sondern Fransen nach allen Seiten rothe und gelbe wie seiner Mutter Umschlagetuch – und wir wollten lieber weiter spielen. Da ich keine Ahnung hatte, was das ist: kurzsichtig sein, wie es doch der gute Emil schon damals in hohem Grade war, so ärgerte ich mich ein wenig über ihn, und dann hatte ich den Mond und den Aerger vergessen, und wir spielten weiter.
Das Gäßchen hinauf und hinab – hinauf, bis es in den kleinen stillen Platz vor der Johanniskirche einmündete, und hinab, bis aus der ersten der drei oder vier Matrosenkneipen an dem anderen Ende nach dem Hafen Gesang und Lärm unsere lauschenden Ohren trafen. Weiter durfte Emil nicht: sein Papa hatte es ihm streng verboten, und es hätte des Verbotes wohl nicht einmal bedurft bei dem schüchternen Jungen, den ein Zittern befiel, wollte ich ihn einmal verführen, die geheiligte Grenze zu überschreiten. Dann sagte er: thu’s nicht, Lothar, es sind böse Menschen! und faßte mich bei der Hand. Und wir liefen die Gasse wieder hinauf und lachten über die ausgestandene Angst, an der ich, trotz meines gespielten Wagemuthes, doch wohl mein gemessenes Theil hatte; und waren glüklich, wie es eben nur Kinder sein können, zumal in solcher Stunde, wo in der hereinbrechenden Nacht ihre kleinen Lebensflammen aufleuchten wie die Sterne; die frischere Luft ihre zarten Busen wie mit himmlischem Athem und die feinen Gliederchen mit elastischer Kraft füllt, daß sie sich nicht wundern würden, wenn sie plötzlich von dem holprigen Pflaster sich heben und hinüber und herüber durch den Aether schweben könnten wie zwitschernde Schwalben.
Dann sitzen wir auf der Bank neben den Hausthürstufen unter dem Fenster von „Großmutters Stube“; aber Großmutter ist halb taub und macht ihr Fenster nie auf, so können wir uns ungestört unsere kleinen Geschichten erzählen. Vielmehr ich erzähle und Emil hört zu. Emil erlebt nie etwas; mir begegnet Merkwürdiges zu allen Zeiten. Ich habe freilich in diesem Augenblick eine Ahnung davon, daß ich den schwarzen Kater mit den feurigen Augen auf dem Schimmel in Nachbar Hopp’s Pferdestall weder gestern Abend, wie ich behaupte, noch jemals habe sitzen sehen; aber indem ich es erzähle, werde ich immer dreister; denn nun sehe ich ihn doch leibhaftig mit dem krummen Buckel und dem hochgestellten Schweif und er faucht mich an, und der alte Schimmel schnaubt vor Angst und schüttelt sich – da fällt der Kater herunter und fliegt als Fledermaus zum Stallfenster hinaus.
Emil drückt sich bei dieser grausigen Geschichte näher an mich, sagt aber doch: „Weiter, Lothar!“ wie jedesmal, ich mag nun erzählen, was ich will. Es fällt mir just nichts ein, und ich schlage vor, noch ein bischen zu spielen; da kommt der „Malle Heinrich“ und setzt sich zu uns auf die Bank, die wohl nur für zwei Personen ist. Aber Emil und ich brauchen zusammen nich’ viel Platz und der „Malle Heinrich“ nimmt auch keinen großen Raum ein: ein fadendürrer, schlottriger alter Mensch, der von der Stadt das Gnadenbrot empfängt, und den man frei umher laufen läßt, weil sein Blödsinn völlig harmlos ist.
Es ist die zweite der Stunden, an denen der „Malle Heinrich“ umgeht: die neunte Abendstunde; die andere ist die sechste des Morgens. Was er in der Zwischenzeit vornimmt, weiß kein Mensch. Zu diesen Stunden aber schweift er durch die Gassen, immer still vor sich hin lächelnd und mit sich selbst halblaut schwatzend, glückselig, wenn ihn, was selten geschieht, einer des Wortes würdigt und er demselben aus der großen Zeit seines Lebens erzählen kann. Das war aber vor einem Lebensalter, als er die Stadtmusikanten, die von dem Thurm der Hauptkirche den Tag an- und abblasen mußten, regelmäßig begleitet hat zu ihrem luftigen Orchester oben, nachdem er ihnen unten die Thurmthür aufgeschlossen. Er ist schon damals blödsinnig gewesen; aber die Musikanten haben sich die Gesellschaft des kleinen Küsterjungen gern gefallen lassen, besonders des Winterabends, wenn er wie eine Katze mit der Laterne die steilen Treppen vor ihnen her hinauflief, plappernd und glückselig lachend, daß auch dem furchtsamsten Neuling die Angst darüber vergehen mußte.
Denn die Musik, die schöne Musik da oben auf dem Thurm hören zu dürfen, das ist seine Glückseligkeit. Er kennt keine andere, er verlangt nach keiner anderen, er denkt an keine andere, er träumt, er spricht von keiner anderen, heute wie vor dreißig Jahren. Nur daß heute in seinem armen wirren Kopfe Alles sich verändert hat – ganz verändert! Zum Beispiel die Nikolaikirche selbst. Seitdem die schöne Musik oben nicht mehr gemacht wird, ist der Thurm kaum größer als die anderen; damals hat er bis halb in den Himmel geragt. Und aus den Schallluken heraus hat man am hellen Sommermorgen die ganze Welt sehen können von einem Ende bis zum anderen, Alles im wunderschönsten Sonnenschein, während oben sich der blaue Himmel aufgethan hat. Den lieben Gott kann man nicht sehen; der sitzt auf der Sonne in lauter Glanz und Schimmer, daß man die Augen schließen muß. Aber die Engel hat er dann manchmal gesehen durch die geschlossenen Augen: sie haben rothe und grüne und blaue Flügel und tanzen Ringel-Ringel-Rosenkranz. Sobald man aber die Augen wieder aufmacht, sind sie gleich wieder im Himmel. Ein paarmal, als sie nicht schnell genug hinaufkonnten, haben sie sich in weiße Tauben verwandelt und sind mit den anderen Tauben geflogen – Konsul Riekelmann seinen Tauben – ein paarmal rund herum um den Thurm. Dann haben sie sich aufgeschwungen und husch! durch die blaue Luft wieder zurück in den Himmel. Es giebt aber nach böse Geister, die können sich verwandeln in schwarze Dohlen und glotzäugige Eulen. Sie kommen des Abends in der Dunkelheit und krächzen und schreien um den Thurm und klappern mit den Läden an den Luken und pfeifen und heulen aus Leibeskräften immer gegen die schöne Musik an. Denn die können sie für den Tod nicht leiden und möchten sie zerreißen, sobald sie aus den Luken herauskommt. Manchmal haben sie auch ganze Stücke abgerissen von der schönen Musik, und die Musikanten haben dann blasen müssen aus Leibeskräften gegen die bösen Teufel: Nun danket alle Gott! Da sind die Teufel gar wild geworden und haben an den Thurm geschlagen und ihn gerüttelt, daß er gewackelt hat; aber die Musik, die schöne Musik ist ihnen immer über gewesen, und am andern Morgen hat Gottes Sonnenthron noch einmal so herrlich geglänzt, und die Luft ist ganz voll von schönen Engeln gewesen, und haben Ringel-Ringel-Rosenkranz getanzt zu der Musik, der schönen Musik.
„Hast Du denn auch blasen können, maller Heinrich?“ frage ich
Ich weiß aber ganz genau, daß er das nur hören will, wenn er auch sehr verschämt thut und sich bitten läßt. „Blase einmal, maller Heinrich: ‚Wie schön leucht’ uns der Morgenstern!‘“
„Das kann man mir am Morgen blasen,“ sagt der Malle Heinrich.
„Dann was Anderes!“
„Horch!“
Von der nahen Johanniskirche schlägt es neun. Der Malle Heinrich lauscht und zählt, und sobald der letzte Schlag verklungen, beginnt er auf der hohlen Hand zu blasen: Nun danket alle Gott! und wenn die Töne zu hoch oder zu tief werden, singt er den Text mit dünner meckernder Stimme, und dann bläst er wieder, und ich höre eifrig zu und blicke nach der Mondsichel hinauf, an der Wölkchen vorüberziehen mit gelben und röthlichen Rändern, die wie Flügel aussehen, und denke an die Engel, die des Morgens um Gottes Sonnenthron tanzen und manchmal sich in weiße Tauben verwandeln. Dabei mag ich wohl die Augen geschlossen haben – vielleicht in der Hoffnung, dann auch Engel zu sehen – als ich plötzlich einen Schritt neben uns höre und der Malle Heinrich jäh verstummt.
Vor uns aber steht mein Stiefbruder August, der Schlosserlehrling, die Mütze schief auf dem Krauskopf, die beiden Hände in den Taschen. Er kommt gewiß wieder aus einer von den Matrosenkneipen und ist berauscht. Nun schlägt er ein Gelächter auf, das mir häßlich durch die stille, mit Engelsträumen gefüllte Seele schrillt, und ruft: „Was thust Du hier auf unserer Bank, maller Heinrich?“ Und in demselben Augenblick hat er den alten Mann mit kräftigen Fäusten an den Schultern gepackt und von der Bank gerissen. Der arme Mensch taumelt ein paar Schritte seitwärts, stolpert und fällt, wobei er in ein klägliches Weinen ausbricht, wie ein kleines Kind. In dem Moment stürze ich mich auf August und schlage blindwüthend auf ihn los. Er ist so viel älter als ich, und ich könnte eben so gut hoffen, den Thurm der Johanniskirche umzuwerfen, als den Riesen niederzuringen. Es ist ein lächerlicher Kampf und ist doch ein Kampf, denn so oft er mich auch, halb lachend, halb ärgerlich, von sich abschüttelt: ich schnelle wieder empor, springe gegen ihn an, klammere mich an seine Beine, krampfe mich um seinen Hals, bis er mich wüthend von sich schleudert und ich mit der Stirn auf die scharfe Kante einer der Stufen der Hausthürtreppe schlage. Einen Schmerz fühle ich nicht, wohl aber ein fürchterliches Dröhnen durch den Kopf und raffe mich sofort wieder auf; aber die Häusergiebel tanzen um mich her, die Mondsichel fällt vom Himmel, mir gerade auf die Stirn; durch die Gasse vom Hafen saust und braust das Meer heran und schlägt über mir zusammen.
Als ich erwache, liege ich in meinem Bett und sehe beim matten Schein der Lampe, vor die irgend etwas gestellt ist, das Gesicht des Vaters, der an meinem Bett sitzt und gesenkten Hauptes bekümmert vor sich hinstarrt. Ich mag mich wohl geregt haben, denn er blickt schnell auf; ein freudiges Lächeln fliegt über das liebe blasse Gesicht, während er schnell in ein Waschbecken greift, das auf dem Stuhle bereit steht, die heiße Kompresse auf meiner Stirn mit einer frischen zu vertauschen. Das thut so wohl, und ich habe die Empfindung, daß keine andere Hand so leicht und zart sein könnte, wie des Vaters Hand, und will ihm danken und ihm sagen, daß ich gar nicht krank sei und er sich nicht ängstigen solle. Aber ich bringe es nicht über die Lippen. Plötzlich steht auch meine Mutter an dem Bett; sie mag wohl eben erst aus der Tiefe des Zimmers herangetreten sein oder hat auch zu meinen Häupten gesessen und sich just erhoben. Meine Blicke gehen von dem Vater, der dasitzt, zu der Mutter, die neben ihm steht, und ich bin sehr verwundert, denn der Vater bringt mich wohl oft zu Bett, aber die Mutter hat es schon lange, lange nicht mehr gethan, und ganz gewiß habe ich sie zusammen nie vor meinem Bette gesehen. Ich bin also wohl recht krank und will aus großem Mitleid mit mir anfangen zu weinen, bis mir plötzlich einfällt, daß, wenn ich sehr krank bin, ich gewiß morgen nicht zur Schule zu gehen brauche und den ganzen Tag spielen darf im Hof und in dem Wallgarten, oder beim Vater in der Werkstatt, während er hobelt und schneidet und leimt, und ich auch hoble und schneide und leime, aber keinen Sarg für Nachbar Hopp’s Gustav, sondern ein schönes großes Segelboot, das ich hinter dem Wall im Wasser schwimmen lassen kann.
So lächle ich denn dem guten Vater zu, ganz schon im Geist bei dem schönen Spiel morgen, und schlafe wieder ein und spiele weiter im Traum.
Aber nicht im Hof, im Wallgarten oder bei dem guten Vater in der Werkstatt, sondern in einem großen grünen Walde. Es kann aber auch eine Wiese sein, nur daß dann die Gräser so hoch wie Bäume sind, die sich geschmeidig aus einander thun, wenn ich hindurch will, die bunten Blumen zu pflücken, die unten wachsen. Manchmal aber sind die Blumen hoch über mir, daß ich nicht hinauflangen kann, und wiegen die großen Kelche hin und her, während bunte Vögel mit breiten weichen Flügeln um sie flattern. Ich weiß freilich, daß es keine Vögel, sondern Schmetterlinge sind, nur daß ich so große und bunte nie gesehen habe. Dann ist der Wald zu Ende, und vor mir breitet sich ein großes Wasser, das blitzt und blinkt im Sonnenschein, indem es an mir vorüberschießt. Oder ist es unter mir? Wohl unter mir, denn die großen Vögel, die unten auf dem Wasser schwimmen und, sich aus dem Wasser aufrichtend, mit den Flügeln nach mir schlagen und dazu die Schnäbel aufsperren und laut quaken, schießen unter meinen Füßen weg, und ich schwebe wie in der Luft und staune den mächtigen Wasserberg an, in dem sich immer etwas Dunkles klappernd dreht, und oben über dem klappernden Wasserberg hängt eine weiße Wolke, in der schimmert es bunt, und manchmal fliegt von der schimmernden Wolke etwas zu mir herüber und näßt mir das Gesicht und das Kleidchen. Es ist ein weißes Kleidchen, und ich wundere mich, wie ich in das weiße Kleidchen komme, das sich doch gar nicht für einen Quintaner schickt. Ich will das rothe Schälchen, das ich um den Leib habe, abknüpfen, um damit nach den Enten zu schlagen, und kniee auf dem Brückensteg, der auf einmal unter mir zittert, und dann hat mich ein Mann von dem Rande weggerissen und trägt mich von der Brücke und über den grünen Wald, in welchem ich vorhin gespielt habe, der aber nun, wie mich der Mann in seinen Armen trägt, tief unter mir liegt. Ich habe mich unterdessen von meinem Schrecken erholt, und weil die blauen Augen des Mannes so dicht über mir sind und so glänzen, fasse ich danach, so oft er den Kopf zurückbiegt, und ich nur noch bis an seinen Bart langen kann, an dem ich ihn zause. Er lacht und legt mich lachend einer Frau auf den Schoß, die mich mit Küssen bedeckt, während der Mann dabei steht und mit den glänzenden blauen Augen von seiner Höhe auf uns herabsieht.
Der Traum wandelt sich. Wieder schimmern die glänzenden Augen über mir, aber jetzt nicht in Güte, sondern in Zorn, und der Mann hebt sich aus einem Stuhle auf, vor dem meine Mutter auf den Knieen liegt und mich an sich zieht, und ich kniee neben ihr, wie des Abends in meinem Bettchen, wenn ich ihr das Gebet nachspreche. Ich weiß nicht, wie wir dahin gekommen sind; ich weiß auch, daß ich noch nie in dem Raum gewesen bin, der mir endlos scheint und in welchem ich mich verwundert umsehe, während ich so auf den Knieen liege mit gefalteten Händen. Auf dem Tisch steht eine Lampe, und der ungeheure Raum ist mit einem goldigen Halbdunkel gefüllt, aus dem hier und da Gesichter blicken, und in welchem seltsame Gestalten stehen, vor denen ich mich fürchte, so daß ich die Mutter am Kleid zupfe und sie bitte, daß wir wieder fort möchten. Die Mutter hört nicht auf mich, und ich fange an zu weinen, und die Mutter weint auch, während der Mann sie aufhebt und an sich zieht und auf die Stirn küßt. Dann ist es nicht mehr in dem goldschimmernden Raum mit den Gesichtern und Gestalten, die aus dem goldigen Halbdunkel quellen, sondern draußen im Freien, und die Mutter schluchzt immer leise vor sich hin, während sie mich durch die Nacht trägt und die Sterne oben flimmern. Zuletzt sind wir vor dem klappernden Wasserberg. Ich weiß es, obgleich es jetzt dunkel ist und ich den Wasserberg nicht sehe, sondern nur sein Klappern höre, und fühle, wie er mich mit seinem kalten Athem anhaucht. Die Mutter steht mit mir an dem Geländer des Stegs, und ich sehe unten im Wasser die Sterne tanzen. Sie biegt sich über das Geländer; ich fange an, mich zu ängstigen, ich weiß nicht, ob deßhalb, weil sie so weint, oder weil ich fürchte, sie wird mich fallen lassen, und ich klammere die Aermchen fest um ihren Nacken. Sie drückt und preßt mich an sich, und dann verschlingt sie und mich etwas Fürchterliches, das ganz schwarz und kalt ist und saust und braust.
Ueber dem Fürchterlichen fahre ich mit einem Schrei aus meinem Fieberschlaf auf und starre um mich her. Es dauert einige Zeit, bis ich mich zurecht finde. Der Traum ist so sonderbar deutlich gewesen. Ich blicke nach den Gesichtern, die aus dem goldigen Halbdunkel hervorgeschimmert haben, und frage den Vater, wo sie geblieben sind? und der Mann mit den blitzenden Augen und der klappernde Wasserberg? Der Vater murmelt etwas von
Wiederschlafensollen, während er mir eine frische Kompresse auf die Stirn legt, in der ich jetzt arge Schmerzen habe. Wie er sich dabei über mich beugt mit seinem lieben guten blassen Gesicht, ist es mir, als ob ich ihn zum ersten Male sähe. Und ich sehe, daß er ein alter Mann ist und nicht der Mann mit den blitzenden blauen Augen gewesen sein kann, vor dem meine Mutter und ich auf den Knieen gelegen haben.
Ich richte mich auf dem Ellbogen auf und sehe mich nach der Mutter um, als ob ich ihr diese sonderbare Entdeckung mittheilen müßte. Aber die Mutter ist nicht mehr da. Der Vater fragt mich, ob ich trinken wolle? Ich sage: ja, und trinke gierig ein paar Schlucke aus dem Glas, das er mir an den Mund hält. Dann sinke ich auf das Kissen zurück und starre in das gute, blasse, bekümmerte Gesicht des alten Mannes, und denke an den schönen Mann mit den blitzenden Augen, bis ich, was wohl schon nach wenigen Sekunden geschehen sein mag, wieder in meinen Fieberschlaf verfalle.
Ich weiß nicht, wie lange meine Krankheit gewährt hat, aber es mögen Wochen gewesen sein, und als ich wieder aufstehen und auf dem Wall hinter dem Gärtchen spielen durfte, war ich ein ganz Anderer, als der an jenem Abend mit Emil Israel in der dunklen Gasse gespielt hatte.
Auf dem Wall aber hinter dem Gärtchen brachte ich jetzt in der Zeit der Genesung manche Stunde zu, mit den durch die Krankheit und die Nachwirkung des Traumes verwandelten Sinnen in die Welt blickend, die ich jetzt zum ersten Mal wirklich gesehen haben kann, denn wie ich sie damals sah, so ist sie in meiner Erinnerung geblieben; und will ich sie mir in ihrem vollen Glanze zurückrufen, stehe ich sicherlich im Geist auf dem Walle hinter dem Gärtchen und blicke in die Zauberwelt hinein.
Ja, die Zauberwelt! Süßer können die Vögel im Paradiese nicht gesungen, heller kann der Himmel nicht geblaut, kann die Sonne nicht geglänzt haben! Die Vögel aber sangen in der Wildniß der Haselsträuche, mit denen der Wall überdeckt ist, hier dünner, dort dichter; und zwischen den Haselsträuchen nickte langes Gras, das niemals geschnitten wurde, und gelbe Butterblumen, über denen große weiße Schmetterlinge sich in der blauen Luft wiegten.
Der Wall mochte in der Befestigung der Stadt einmal eine Rolle gespielt haben – in den Schwedenzeiten vielleicht, als es galt, diese Seite des Hafens vor einem Angriff von der See her zu schützen. Jedenfalls hatte er seit urvordenklicher Zeit jede fortifikatorische Bedeutung verloren und war herrenloses Terrain geworden, auf dem die Anwohner der Hafengasse, als auf ihrem Eigenen, schalteten, mit ihren Gärtchen bis auf die Höhe hinaufkletternd und oben auf den sonnigen Stellen ihre Wäsche trocknend, ihr Leinen bleichend, während die Kinder in den Büschen Räuber und Gendarmen spielten oder auch an hellen Sommermorgen, während die anderen in der Schule saßen, ein kleiner Träumer wie ich das ganze Gebiet für sich allein hatte und ungestört nach allen Richtungen durchschweifen mochte.
Nach der Seeseite fiel der Wall steiler ab, so daß man nur auf einigen Stellen, wo das Erdreich über die Futtermauer unten bis an das Wasser gerutscht war, sicher hinab gelangen konnte. Das Wasser aber bildete hier eine Bucht, die früher wohl ein Stück vom Hafen gewesen, jetzt aber völlig versandet und verschlammt war, so daß die paar kümmerlichen, den Anwohnern gehörigen Boote nur wenn der Wind von Westen, von der See, kam, flott gemacht werden konnten. Hatte aber der Wind ein paar Tage vom Lande geweht, so staken die Boote halb oder ganz in dem schwarzen Schlamm, über den man auf Steinen, die nun hervortraten, bis zu den Booten und über dieselben hinaus auf reinlichen Sand gelangen konnte, um da alle möglichen merkwürdigen Dinge zu finden: todte Fische, Muscheln, die das Meer zurückgelassen; dazu Tauenden, zerbrochene Ruder, Korkstöpsel, zerfetzte Bastkörbe, zerbrochene Cigarrenkästen und der Himmel weiß, was noch sonst von dem eigentlichen Hafen herübergetrieben war. Der Hafen lag zur Linken vor der eigentlichen Stadt, durch ein Stück freies Wasser, das für das Kinderauge außerordentlich breit schien, von uns getrennt: mit seinen großen und kleinen Schiffen, von deren Masten die bunten Wimpel flatterten, und dem Gewimmel der Boote, die zwischen den Schiffen hin und her fuhren, während von der Werft, je nach dem Stand des Windes, das Klopfen der Hämmer und Schlägel und der Duft des Theeres mehr oder weniger deutlich und scharf herüberkam. Hinter dem Hafen die Stadt mit ihren Häusermassen und ragenden Thürmen, alles umflossen von goldigem Morgensonnenschein.
Denn im Morgensonnenschein sehe ich, was ich hier zu schildern versuche, nur im goldigsten Morgensonnenschein, als hätten die bösen Geister des Mallen Heinrich gestern Abend gar schlimm gegen den Nikolaithurm und die schöne Musik gewüthet, und der liebe Gott lächle über die gerettete Erde mit seinem gütigsten Lächeln. Ueber die Erde und das Meer! Ueber das noch besonders! Wie blaut es in seiner stolzen Breite, zwischen dem Festlande und der Insel drüben sich westwärts in das Endlose dehnend! Wie glitzert und blinkt es in der Nähe, übersäet von Millionen hüpfender goldener Sternchen! So, daß es die ganze Schärfe des Kinderauges erfordert, um die Möve wiederzufinden, deren schneeweiße Fittige eben noch durch die blaue Luft schwingten, und die sich jetzt, die Fittige zusammenlegend, niedergelassen hat in dem Meer von goldnen Sternchen, Und von des Mallen Heinrich schöner Musik ist noch ein gutes Stück übrig geblieben; ja, das ganze wonnige Erden- und Meeresrund ist von ihr erfüllt. Ist es nicht Musik, das dumpfe taktmäßige Geräusch der zwischen den Pricken sich reibenden Ruder von dem Boot, das da durch das glitzernde Wasser gleitet? Die Entfernung ist nicht gering – ich kann nur eben noch unterscheiden, daß ein Mann rudert und im Stern eine Frau mit einer hohen Kiepe sitzt, die sie vor sich gestellt hat; aber die Stille ringsumher ist so groß – ich kann hören, wenn sie von Zeit zu Zeit mit einander sprechen. Ist es nicht Musik, das leise Plätschern der Wellchen unten an der Futtermauer? Denn es ist heute Hochwasser, obgleich das Meer ganz ruhig ist; und ich habe nicht hinabgekonnt, sondern bin oben auf dem Wall und kaure da auf meinem Lieblingsplatz im Schatten von ein paar besonders hohen und dichten Haselsträuchen, in denen zu meinen Häupten auf schwankem Zweig ein Vögelchen sitzt und, ohne sich durch meine kleine, stille Gegenwart stören zu lassen, sein Liedchen singt; wenn es schweigt, antwortet sofort ein zweites aus einem etwas hinter mir stehenden Gebüsch. Das ist gewiß Musik. Aber für mein empfängliches Kinderohr ist es auch das Gezwitscher der Spatzen, die sich durch die Büsche jagen; und ganz gewiß auch das Gackern des Huhns, das eben, häufig den Kopf mit dem gerötheten Kamm wendend, durch das nickende Gras herankommt. Es ist eines von Nachbar Hopp’s schwarzen Hühnern (wir haben keine) und will gewiß ein Ei legen und hat sich dazu vermuthlich meine Büsche ausgesucht, denn, wie es meiner gewahr wird (trotzdem ich mich ducke und den Athem anhalte), kräht es ordentlich vor Schrecken und Aerger, macht Kehrt und läuft in der Richtung, aus der es gekommen, zurück, lauter und ängstlicher als zuvor gackernd. Ich folge ihn, und sehe nur noch eben, wie es von dem Wall hinab in den Hopp’schen Hof fliegt zum Schrecken der andern Hühner, die auseinanderrennen und, des Hahns, der einen durchdringenden Warnruf erschallen läßt und, als er sieht, daß die Sache nichts zu bedeuten hat, sich aufrichtend, mit den Flügeln schlägt und dazu mächtig kräht.
Aber meine Aufmerksamkeit ist bereits von den Hühnern weg nach dem Leichenwagen gerichtet, der aus dem Schuppen gezogen ist und von Karl Brinkmann, dem Fuhrknecht, abgewaschen wird. Die schwarzen Tücher, die sonst von dem Verdeck herab gardinenmäßig nach den Seiten zusammengenommen sind, hat Karl Brinkmann, um sie nicht naß zu machen, über das Verdeck hinauf geschlagen, so daß man nur die nackten vier Säulen sieht. Dazu pfeift Karl Brinkmann, während er mit dem leeren Eimer nach der nahen Pumpe geht, den kreischenden Schwengel schwingt, mit dem gefüllten nach dem Wagen zurückkehrt und das Wasser durch die Räder gießt, daß es klatscht. Ich wundere mich, ob das wirklich derselbe Wagen ist, in welchem sie vor meiner Krankheit meinen Freund Gustav, eines der vielen Kinder des Fuhrherrn, auf den St. Johanniskirchhof gefahren haben; und Karl Brinkmann selbst hat ihn gefahren, und hinterher kamen sämmtliche vier Hopp’sche Kutschen mit Vater und Mutter Hopp in der ersten, und die Verwandten und Befreundeten, zu denen auch mein Vater gehörte, in den anderen. Und Karl Brinkmann, der jetzt in bloßem Kopf und in Hemdärmeln ist, hatte einen großen Dreispitz auf, von dessen Ecken Trauerflore herabhingen, und einen großen schwarzen Mantel mit vielen Kragen an und hatte ein so feierliches Gesicht gemacht! Denn Gustav war sein großer Liebling gewesen, und unter seiner Anleitung schon fast ein richtiger Kutscher geworden, der die Pferde an- und abspannen konnte und mit ihm zu dem Schmiede Papendiek unten in der Hafengasse oder in die Schwemme draußen vor dem Schwedenthore ritt. Das ist alles so kurze Zeit her – als wenn es gestern gewesen – und Karl Brinkmann ist in Hemdärmeln und kann pfeifen, während er den Wagen wäscht, auf dem er Gustav Hopp nach dem Kirchhof gefahren vor dem Schwedenthore!
Was dem kleinen Träumer da oben durch den Kopf geht? Er bringt es nicht recht zusammen, aber eine Ahnung der Vergänglichkeit des Irdischen mag es doch gewesen sein, wohl erklärlich und begreiflich bei dem Zehnjährigen, der eben erst aus einer schweren Krankheit erstanden ist, in welcher er so wunderliche Dinge geträumt, und dem die Großmutter in ihrer häßlichen Weise erst gestern gesagt hat, der kleine gelbe Sarg, der eben fertig in der Ecke von Vaters Werkstatt stand, sei für mich gewesen, und es sei schade, daß er nun leer bleiben sollte.
Ich habe dem Vater die bösen Worte der Großmutter weinend wiedererzählt, und er hat mich in seiner milden Weise beruhigt: die Großmutter meine es nicht so schlimm; sie meine überhaupt gar nichts, denn sie habe einen schwachen Kopf und rede nur, um zu reden. Den kleinen gelben Sarg aber habe er auf Vorrath gearbeitet, und leer werde derselbe wohl nicht lange bleiben: es stürben heuer gar viele Kinder.
Ist es der Gedanke an den immer Gütigen und Liebevollen, den ich in der Werkstatt zu finden sicher bin; oder bin ich des Umherschweifens oben auf dem sonnigen Wall müde – ich gehe den schmalen abschüssigen Pfad durch unser Gärtchen, in welchem es süß nach Reseda duftet, hinab in den Hof, mich der schattigen Kühle freuend, die mich da umfängt. Es ist in meiner Erinnerung immer schattig und kühl in dem schmalen Hof, denn auf der einen Seite ragt die kahle hohe Hinterwand von Nachbar Hopp’s Wagenremise mit dem steilen Dache darüber, und auf der andern steigt über des Vaters Werkstatt und dem Holzschuppen die Mauer von Nachbar Israel’s Kornspeicher noch viel höher, kahler und steiler empor. In Wirklichkeit ist der so eingeschlossene Raum wohl etwas dumpf und feucht gewesen und erfüllt von einem leichten Modergeruch, der aus dem mit Gras und Lattich hier und da übersponnenen Pflaster, den frisch geschnittenen Brettern, den verrottenden Spähnen und den Oelfarbetöpfen aufstieg. Aber ich weiß nichts davon, vielmehr athme ich den Duft mit Behagen ein, und ich brauche nur die Augen zu schließen und mir den Duft zurückzurufen, um mich im Geiste an den Ort zu versetzen und in die wohlige Empfindung, mit der ich an jenem Morgen aus der Sonnenhelle oben in den kühlen Schatten des Hofes trete.
Der Vater ist in der Werkstatt und ich sehe ihn durch die jetzt im Sommer stets offene Thür ein Brett hobeln. Er ist allein; mein ältester Bruder Otto, den er sich zum Gehilfen und Gesellen heranzieht, wird eine Kommission in der Stadt haben. Das Brett, an welchem der Vater hobelt, ist die Rück- oder Vorderwand eines Sarges. Der Vater arbeitet fast nur Särge; er hat in der Stadt dafür das Monopol, welches er, wie er mir selbst gesagt, der Nachbarschaft des Fuhrherrn Hopp verdankt. Denn weil man nothwendig den Leichenwagen von Herrn Hopp nehmen muß, da es kein anderes Geschäft der Art in der Stadt giebt, bestellt man gleich den Sarg nebenan bei Tischler Lorenz: es ist dann nur ein Weg. Auch fragt es sich, ob Nachbar Hopp die Leiche fahren würde außer in einem Sarge von Nachbar Lorenz. Die Särge aber sind unweigerlich gelb, während sie, bevor mein Vater in die Stadt kam, ausnahmslos schwarz Waren. Er hat die Mode eingeführt. Er meint, der Tod sei ohnedies, wenn auch nicht für den Todten, so doch für die Zurückbleibenden traurig genug und das Grab dunkel genug; so möge der Todte über und unter der Erde ein freundliches Haus haben. Deßhalb ist auch jeder Sarg, der aus seiner Werkstatt kommt, ein kleines Kunstwerk mit zierlichen Hohlkehlen, Knäufen und sonstigen schmuckhaften Zuthaten, die man nicht bestellt hat und auch nicht bezahlt, und die er deßhalb mit Vorliebe gerade an den Särgen der armen Leute anbringt.
Ich gehe nicht direkt in die Werkstatt, sondern sehe erst nach meinen Kaninchen, denen ich an der Ecke des Hofes (da, wo die Werkstatt an das hölzerne Gartengitter stößt) eine Wohnung bereitet habe, in welcher meine Augen den Triumph der Erfindsamkeit erblicken. Der Haupttheil besteht aus einer großen umgestülpten Kiste, deren Vorderwand sich in der oberen Hälfte aufklappen läßt, so daß man einen vollen Einblick in den Familiensaal hat, ohne daß doch die Bewohner ohne Weiteres heraus können. In der Hinterwand aber ist unten auf jeder Seite je eine viereckige Thür, durch welche man, das heißt die Kaninchenfamilie, in die eigentlichen Wohnräume gelangen kann, die sich in einer zweiten, aber flacheren Kiste befinden. Das Ganze ist mit Erde und Rasen bedeckt, so daß es als ein kleiner grüner Berg erscheint, auf welchem auch Blumen wachsen; dazu sind die Pflastersteine unten entfernt und so der minirenden Thätigkeit der Bewohner keine Schranke gesetzt, was sie sich denn auch durchaus zu Nutz und geheimnißvolle Hinter- und Ausfallspforten in das Wallgärtchen gemacht haben, durch die sie aber nur des Abends und mit großer Diskretion schlüpfen, zu meiner größten Verwunderung und zum Ergötzen des Vaters, der mit mir seine Freude an den Thierchen hat, wenn sie im Halbdunkel zwischen den Büschen herumhuschen. Daß er sie während meiner Krankheit gemeinschaftlich mit meinem Freunde Emil Israel treulich gepflegt und abgewartet hat, versteht sich für mich von selbst.
Ich habe ihnen jetzt das vom Walle mitgebrachte frische Futter gegeben und gehe zum Vater in die Werkstatt. Er nickt mir freundlich zu und fährt in seiner Arbeit fort; ich setze mich ermüdet still hin und blicke unverwandt in sein liebes Gesicht, als ob ich es noch nie gesehen hätte, und ich glaube, ich habe es an diesem Morgen im eigentlichen Sinne wirklich zum ersten Male gesehen. Denn, wenn ich jetzt des guten Mannes denke, erscheint mir sein Bild sicherlich stets, wie ich es zu jener Stunde sah, während ein schräger Sonnenstreifen, in welchem Millionen Staubatome tanzen, über dem Dache von Nachbar Hopp’s Wagenremise durch die beiden oberen, in allen Farben schillernden Scheiben des verstäubten Fensters in der Werkstatt fiel und, wenn er sich gelegentlich von seiner Arbeit aufrichtete, um die Kante des Brettes, an welchem er hobelte, zu prüfen, seinen Kopf streifte. Der Kopf erglänzte dann aber in dem Sonnenlichte, denn er war ganz kahl bis auf einen schmalen Kranz grauen krausen Haares, von dem ich jetzt, wo er mir das Gesicht zuwandte, nichts sah, als je einen Tupfen über den Ohren. Das schmale blasse, in der unteren Hälfte von einem grauen krausen Bart bedeckte Gesicht hatte stets einen ernsten, aber keineswegs wehmüthigen oder kummervollen, vielmehr eigentlich heiteren Ausdruck, besonders wenn er, was sehr oft, aber immer nur für Momente, geschah, lächelte, wobei sich dann um die Ecken der hellblauen Augen, die fast keine Brauen hatten, kleine freundliche Fältchen zogen, welche mit dem Lächeln gleich wieder verschwanden. Die Augen waren groß, aber für gewöhnlich halb von den Lidern bedeckt, was mit daher kommen mochte, daß sie so viele Stunden auf die Arbeit gesenkt blieben. Wenn er sie aufschlug, hatten sie einen zugleich träumerischen und erstaunt fragenden Ausdruck, wie ich ihn später nur noch in Kinderaugen beobachtet habe. Kein Wunder freilich, da keines Kindes Seele reiner und harmloser sein konnte, als dieses guten Mannes, der so viel erduldet hatte und erduldete, ohne daß die Fülle seiner Liebe auch nur durch einen Gran von Menschenhaß abgemindert, oder die Taubenfrommheit seiner Seele durch ein Minimum von Schlangenklugheit getrübt worden wäre.
Und diese guten Augen mit dem träumerisch erstaunt fragenden Blick richtet er nun auf mich.
„Wo bist Du gewesen, Kind?“
Er nennt mich immer „Kind“, im Gegensatz zu meinen Geschwistern, die so viel älter sind als ich und die er stets bei ihren Vornamen nennt.
Ich fange an, meine kleinen Erlebnisse zu erzählen, und unterbreche mich, weil ich bemerke, daß der Sarg, welcher nach Aussage der Großmutter für mich bestimmt gewesen ist, sich nicht mehr in der Werkstatt befindet.
„Ich sagte Dir ja, er würde nicht lange leer bleiben,“ erwidert der Vater auf meine Frage, „und es ist ein recht trauriger Fall, aus dem Du auch lernen kannst, Kind; denn Dir hätte dasselbe schon hundertmal passiren können.“
Ich höre mit gespanntester Theilnahme, was nun der Vater berichtet.
[21] Ernst von Vogtriz, der Sohn des Majors, um ein paar Jahre älter als ich, war in dem Stalle von einem Reitpferde seines Vaters geschlagen worden und, gegen die Schläfe getroffen, auf der Stelle todt gewesen. Ernst hatte bereits in Oberquinta gesessen, während ich noch Unterquintaner war; aber ich kannte ihn wohl: er hatte große blaue Augen und braune Locken gehabt, die ihm weich und lang auf den breiten Hemdkragen fielen, und ein rosiges, immer freundliches, wunderhübsches Gesicht. Ich hatte nie ein Wort mit ihm gesprochen ihn dafür aber immer aus der Ferne mit scheuer Bewunderung angestaunt als eine Art von überirdischem Wesen, das sich natürlich um den armen Tischlerjungen und Unterquintaner nicht bekümmert hatte und nicht zu bekümmern brauchte. Und nun war er todt, und wer fütterte nun seine Kaninchen?
„Hat er denn welche gehabt?“ fragt der Vater.
Darauf bleibe ich die Antwort schuldig. ich weiß es nicht. Möglicherweise hat er keine gehabt: es haben ja viele Knaben keine; aber es scheint mir, daß es viel hübscher sei, welche zu haben und sie füttern zu können, als keine zu haben und noch dazu todt zu sein. Darüber fällt mir ein, daß Karl Brinkmann drüben auf dem Hopp’schen Hofe den Leichenwagen gewiß für Ernst von Vogtriz aus dem Schuppen gezogen hat und zurecht macht. Ich theile diese Entdeckiung, auf die ich sehr stolz bin, dem Vater mit, der sie mit einem Kopfnicken bestätigt, um, während er jetzt eifrig weiter arbeitet, eine dringende Warnung daran zu knüpfen vor Pferden im allgemeinen und den Hopp’schen Pferden im besonderen; und daß er sich immer geängstigt habe, wenn ich mit Gustav drüben im Pferdestall und auf dem Heuboden gespielt; und daß er hoffe, ich werde nun, da Gustav todt sei, und die übrigen Hopp’schen Kinder älter oder jünger als ich, diese gefährlichen Spiele nicht wieder anfangen.
Ich habe mich bereits gewöhnt, nach dem Vorgang des wilden Bruders August auf die Aengstlichkeit des guten Vaters, die uns überall von Gefahren umgeben sieht, kein großes Gewicht zu legen; aber in diesem Falle finde ich seine Sorge doch ganz gerechtfertigt. Daß ich gesund geworden bin, während zwei beinahe gleichaltrige Knaben, von denen der eine noch dazu mein intimer Freund gewesen ist, kurz hinter einander dem Tode erlegen sind, hat mir einen bedeutenden Respekt vor mir selbst eingeflößt und vor der Kostbarkeit meines so ersichtlich geschützten Lebens. Ich verspreche also mit ordentlicher Rührung dem Vater, in Zukunft besonders vorsichtig zu sein, und berühre dabei mit dem Finger unwillkürlich die Narbe auf meiner Stirn, von der erst seit einigen Tagen die
Binde entfernt ist, als wolle ich dieses Erinnerungsmal meines neulichen Unfalls zum Zeugen der Aufrichtigkeit meines Versprechens anrufen. Ja, ich glaube, ein übriges thun zu müssen, um dem guten Vater einen Beweis zu geben meiner Wohlgeneigtheit und des Wunsches, ihm gefällig zu sein, und erkläre, daß ich fest entschlossen sei, nicht mehr, wie früher, Kutscher werden zu wollen. Es sei der Gedanke dazu auch eigentlich mehr von Gustav Hopp ausgegangen, als von mir, und wenn Gustav gesehen hätte, wie Karl Brinkmann den Wagen, auf dem er ihn nach dem Johanniskirchhof gefahren, in Hemdärmeln gewaschen und dazu gepfiffen, würde er Karl Brinkmann auch nicht so lieb gehabt haben.
„Was möchtest Du denn nun werden?“ fragt der Vater.
ich sinne nach mit halbgeschlossenen Augen, vor denen die schöne Welt in ihrer Herrlichkeit auftaucht, an der ich eben erst da oben auf dem Wall meine morgenfrische Seele berauscht habe. Und es ist wohl aus diesem Rausche heraus, daß ich mit zitternden Lippen antworte:
„Ich möchte etwas Großes werden, etwas ganz Großes und Schönes, das blinkt und leuchtet, ich möchte König oder Kaiser werden!“
Der Vater, der den Hobel hat ruhen lassen, sieht mich so eigen mit seinen träumerischen Augen an. Ich breche deßhalb ab und füge schüchtern hinzu. „Das heißt, wenn Du es erlaubst.“
Ich denke, der Vater wird nun etwas sagen und mir die Erlaubniß geben, König oder Kaiser zu werden – erlaubt er mir doch sonst alles! Aber er antwortet nicht, sondern blickt mich nur immer so weiter nachdenklich an, während die Linke langsam durch den Bart streicht.
Ich kenne die liebe runzlige braune Hand mit den arbeitstumpfen Nägeln so genau, und daß sie vierfingerig sei, ist bis heute für mich so selbstverständlich gewesen, wie, daß der eine der beiden Thürme der Nikolaikirche keine Kuppel hat; aber ich sagte schon: es war dies ein besonders merkwürdiger Tag in meinem Leben, an dem die kleine Menschenpflanze auf einmal einen großen Schuß that, der dann wieder für lange Zeit reichen mochte und auch wohl gereicht hat.
So sind denn meine Königsträume plötzlich zerflattert bei dem Interesse, das mir des Vaters Hand einflößt, und ich frage so plötzlich, daß ich mich selbst darüber verwundere:
„Warum hast Du nur vier Finger an Deiner Hand?“
Der Vater legt den Hobel weg, setzt sich – ein Zeichen, daß er in der Arbeit eine Pause machen will – auf den dreibeinigen Schemel und drückt das abgetragene rothe Fez, welches stets neben ihm auf der Hobelbank lag, auf den kahlen Scheitel. Ein Lächeln spielt um die Augen und um die nachdenklich herabgezogenen Winkel des Mundes, indem er erst die obere und dann die untere Fläche der Hand betrachtet, als ob er selbst heute zum ersten Male den Schaden bemerkte.
„Sie haben ihn mir abgeschossen,“ sagt er.
„Wer?“
Der Vater bleibt die Antwort schuldig.
Ein fremder, langsamer und leiser Schritt kommt über den Hof, und in der offenen Thür steht der Major von Vogtriz. Er faßt an die Mütze und fragt: Tischler Lorenz?
Der Vater sagt: ja, indem er sich schnell von dem Schemel wieder erhebt, das Fez abnimmt und sich, im Aufstehen, den Hobelstaub von der blaugrünen Schürze streift.
Der Major tritt durch die Thür, wobei er sich ein wenig bücken muß, und nimmt, die Höflichkeit meines Vaters erwidernd, ebenfalls die Mütze ab. Er läßt einen flüchtigen Blick durch die Werkstatt schweifen, der auch wohl mich streift, sich alsbald aber auf den Vater heftet, mit dem er an zu sprechen fängt – ich höre nicht worüber und was – so ganz bin ich in den Anblick des Mannes versunken, als hätte meine heute gefeite Seele die Ahnung durchzuckt, daß einst an dieses Mannes Geschick mein eigenes sich knüpfen sollte. Doch das ist ein nachträglicher Gedanke. Was in jenen Minuten mein Auge an ihn fesselte, war schwerlich etwas Anderes als seine Erscheinung, die mir unsäglich imponirte, der ich nichts Vornehmeres und Schöneres gesehen zu haben glaubte, vielmehr gesehen hatte, und – darf ich jetzt hinzufügen – später im Leben gesehen habe. Eine so ritterlich hohe und zugleich so schlank anmuthige Gestalt, von der jede Bewegung das Auge wohlthuend berührte, wie das Ohr ein verschwebender Ton; so edel klare, vom reinsten Wohlwollen belebte Züge; so wundervolle dunkle mandelförmige Augen, die für gewöhnlich eine sanfte Schwermuth erfüllte, während sie in Momenten der Begeisterung von einem fast überirdischen Feuer erglänzten; dazu eine Stimme weich und mild, nur tiefer wie eine Frauenstimume, und die doch beim Kommandiren oder, wenn er erregt war, einen ehernen Klang hatte, vor welchem und vor dem Blitz, der dann aus seinen Augen zuckte, ich Gegner, die mit dem liebenswürdigsten der Menschen leicht fertig zu werden meinten, habe erbleichen sehen.
Das klingt wie die Schilderung eines Romanhelden – ich weiß es wohl; und ist doch nichts, als die lauterste Wahrhaftigkeit, die nach einem Ausdruck ringt, von dem sie fühlet, daß er hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Und wenn ihr Romanheld nennt, der für das Leben zu gut und zu edel ist, und dessen Gleichen man deßhalb im Leben schwerlich findet – nun, du Bester, Edelster, sie haben dir so oft gesagt, daß du in das Leben nicht taugtest! Und hast diese Untauglichkeit so schwer büßen müssen! Den Spott erdulden müssen, welchem der nicht entgeht, der den Schaden hat! Und erdulden müssen von solchen, die nicht werth sind, seine Schuhriemen zu lösen. So laß dir immer den Titel eines Romanhelden gefallen: er ist in meinen Augen dein höchster Ehrentitel.
Da sind meine Gedanken wieder bei dem Jetzt und sollten doch bei dem Damals sein. Ich weiß nicht, wie die Romanschreiber es machen, bei denen sich alles so glatt eines aus dem anderen entwickelt, und man auf der einen Seite nie weiß, was auf der nächsten stehen wird. Ich sehe jetzt, welch eine schwere Kunst das sein muß, und doch werde ich ein wenig in die schwere Kunst zu pfuschen lernen müssen, oder ich werde mein Vorhaben nicht ausführen: aus der Betrachtung meines Lebens zu entnehmen, wie sich aus dem Früher das Später, aus dem Damals das Jetzt entwickelt hat; wie ich werden mußte, was ich geworden bin.
So, du kleiner Kerl, da sitzest du wieder ein paar Schritte abseits und starrst mit großen Augen auf den Mann, der deiner staunenden Kinderseele ist, was dem Gläubigen eine himmlische Vision. Die Beiden haben ihre Unterredung beendet, die, wie ich mich dunkel erinnere, von dem Sarge gehandelt hat, der vorhin von Bruder Otto dem Major ins Haus gebracht ist, und an welchem dieser noch, ich weiß nicht was, verändert oder angebracht zu sehen wünscht. Indem er sich zum Gehen wendet, streift sein Auge mich zum zweiten Male. Er bleibt in halber Wendung stehen, während mein Blick, wie magnetisch angezogen, an dem seinen haftet, der auf mir mit einem unbeschreiblichen Ausdruck ruht. Und haften bleibt, als er jetzt an mich herantritt und mir die Hand auf den Kopf legt, während aus den schönen feuchten Augen, in die ich emporstarre, zwei große Thränen sich lösen und langsam die braunen Wangen hinabrollen in den glänzend schwarzen Bart, der, kurzgeschoren, Mund und Wangen des Mannes umrahmt.
„Wie alt bist Du?“ fragt er.
Ich sage es.
„Mein Ernst war nur ein Jahr älter,“ murmelt er.
„Er hatte so große blaue Augen und so schön dunkle Locken,“ sage ich.
„Du hast ihn gekannt?“ fragt er, indem er mich mit beiden Händen an den Schutern ergreift und vor sich hinstellt. Und jetzt rollen die Thränen unaufhaltsam über seine Wangen.
„Ja,“ sage ich; „er war aber in Oberquinta, ich bin erst in Unterquinta.“
Der Major mag sich gewundert haben, wie das Tischlerkind auf das Gymnasium kommt, und hat dann wohl meinem Vater einen fragenden Blick über die Schulter zugeworfen, denn mein Vater antwortet. „Es ist mein Stiefsohn.“ Er hat es nur gemurmelt und ich bin überzeugt, ich habe es nicht hören sollen. Aber ich habe es gehört, das Wort – wohl zum ersten Male in meinem Leben und ohne seine Bedentung zu kennen, oder darüber nachzudenken für den Augenblick, der ganz dem schönen Wundermann gehört. Der spricht jetzt wieder mit dem Vater und läßt sich, glaube ich, von diesem berichten, wie ich zu der Narbe auf der Stirn gekommen bin, und daß ich schon seit Wochen nicht in die Schule gehe.
Jetzt wendet er sich wieder zu mir.
„Was willst Du denn werden, mein Sohn?“
„Soldat!“
Ein wehmüthiges Lächeln zuckt über das schöne Gesicht.
„Auch mein Ernst wollte Soldat werden,“ murmelt er.
Er sinnt nach, indem er mich aufmerksamer als je betrachtet. Ich weiß jetzt, was er damals in seiner Seele erwogen hat, Aber er war nicht der Mann, eine Lücke, die das Unglück in sein Leben gerissen, auf Kosten eines anderen Menschen zu füllen, und ein Blick in das bleiche stille Gesicht meines Vaters, dessen gute Augen während dieser kleinen Scene zärtlich auf mich gerichtet gewesen sind, hat ihm gesagt, wer der sei, der die Kosten würde zu tragen haben.
„Und Du liebst Deinen Vater sehr?“ fragt er mich.
„Ja,“ sage ich treuherzig.
„Fahre fort ihn zu lieben, und Gott segne Dich!“
Er hat mich zu sich emporgehoben, mich geküßt, und will zur Thür hinaus.
Der Vater hat einen jener Momente, wie sie ihm häufig kommen, wo er, alles um sich her vergessend, in sich hinein träumt und mechanisch mit der Linken durch den grauen Bart streicht. Der Major sagt freundlich: „Adieu, Meister!“
Der Träumer erwacht und blickt dabei unbewußt auf seine Hand, da sie es gewesen, von der seine Träumerei ausgegangen ist. Der Major bemerkt die Verstümmelung und sagt in demselben freundlichen Ton: „Das muß die Arbeit sehr erschweren, Meister.“
Der Vater wird roth und macht eine verlegene Bewegung, als wolle er die Hand verbergen.
„Ich habe mich daran gewöhnt,“ murmelt er.
„Ist es eine Schußwunde?“ fragt der Major; „es sieht so aus.“
„Ja,“ sagt der Vater zögernd.
„Soldat gewesen?“ fragt der Major.
„Nein.“
„Jäger?“
Der Vater schüttelt den Kopf. Und als er den Blick des Majors noch immer fragend auf sich gerichtet sieht, murmelt er ein paar Worte, die ich nicht verstehe.
„Ah!“ sagt der Major.
Ueber sein schönes Gesicht zieht es wie eine Wolke, aber nur für einen Moment. Dann lächelt er wieder wehmüthig freundlich und sagt: „Aber nicht wahr? heute keinen Groll mehr!“ und dabei streckt er dem Vater die Hand entgegen.
„Nicht gegen Sie, Herr Major,“ antwortet der Vater, indem er seine Hand in die des Majors legt.
Wie oft, wie oft habe ich später dieses Augenblickes denken müssen, als der hohe Soldat in seiner schönen Uniform da stand und meinem armen Vater in seinem Werkeltagszeug die Hand reichte, und der Sonnenstreifen über beide fiel!
Aber jetzt denke ich nicht daran, und das Gespräch der Beiden hat keine Bedeutung für mich gehabt. Ein Funke ist in meine Seele gefallen und hat sie in Flammen gesetzt. Als der Vater, der den Major über den Hof und durch das Haus auf die Straße begleitet hat, in die Werkstatt zurückkehrt, findet er mich dort nicht mehr. Ich bin hinaus und hinauf auf den Wall geeilt und spiele Soldat auf eigne Hand mit imaginären Feinden, die ich mit Hurrah aus den Haselbüschen vertreibe und über den Wall hinab in die See werfe, um die eilig Davonrudernden mit höhnenden Reden zu verfolgen.
Von dem Tage an Wochen oder auch Monate hindurch hatte Emil Israel einen schweren Stand.
Bis dahin hatte ich die wilden Spiele ausschließlich mit Gustav Hopp und seinen zahlreichen Geschwistern oder sonstigen Kameraden gespielt auf Hopp’schem Revier im Pferdestall, in der Wagenremise, eingeschlossen den darüber liegenden Heuboden bis zum obersten Balken hinauf; die zahmen Spiele ebenso ausschließlich mit Emil auf unserm kleinen Terrain, manchmal (wie an jenem denkwürdigen Abend) auf der Gasse, niemals auf Israel’schem Gebiet, das zum Spielen nicht verlockte.
Seit Gustav todt war und sich in mir ein Widerwille gegen Karl Brinkmann, den Kutscher, festgesetzt hatte – sehr mit Unrecht, denn es war ein braver Bursch und den spielenden Buben stets ein treuer Eckart gewesen – mußte Emil als Genoß für alle Spiele eintreten. Ich aber wollte nichts Anderes spielen als Soldat. Zum größten Kummer Emil’s, dem es an jeglicher Sympathie für meine kriegerischen Gelüste fehlte und ebenso an der physischen Veranlagung zur regelrechten Ausführung einer militärischen Operation oder fortifikatorischen Anlage. So erschien mir in Anbetracht unserer gefährdeten Lage unabweislich, daß den Feinden, welche uns von der Seeseite angriffen, eine Schanze auf der Höhe des Walles entgegengethürmt werden müßte, von der wir ihr Nahen (das sie heimtückisch immer erst unter dem Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit versuchten) beobachten und durch ein wohlgezieltes Feuer unsrer Kanonen abweisen könnten. Schon bei Errichtung der Burg (sie war kreisrund mit einer einzigen Oeffnung nach der Landseite, zwei Schießscharten nach der Seeseite, auswendig mit Rasen belegt, inwendig mit Heu und Stroh gepolstert, oben mit Stangen, Reisig und Haselzweigen überdeckt und mochte, alles in allem, einer Vogelhütte en miniature gleichen) hatte Emil bei dem besten Willen, den er offenbar zu dem Werke mitbrachte, an dem unser Heil hing, eine Ungeschicklichkeit an den Tag gelegt, die mich manchmal ergötzte, viel öfter aber empörte. Noch viel schlimmer aber wurde die Sache, als es nun galt, Abend für Abend, das große Werk zu vertheidigen, was selbstverständlich in der Weise geschah, daß einer als Besatzung in demselben blieb, während der andere die dichten Büsche absuchte, in welchen sich die heimlich Gelandeten versteckt haben konnten, oder, wenn in den Büschen schlechterdings nichts zu entdecken war, den Wall bis zum Strand hinabpatrouillirte, dort nach den zweifellos Kommenden, lautlos Heranrudernden (sie hatten die Ruder stets mit Stroh umwunden) auszuspähen. Emil erwies sich gleich unbrauchbar zum Wachdienst, wie zum Patrouillendienst. Anstatt in der Burg zu bleiben, was seine heilige Pflicht war, fand ich ihn, so oft ich von meiner Patrouille zurückkam, vor dem Eingange kauernd, bleich vor Sorge und Angst über mein langes Ausbleiben; kam nun die Reihe des Patrouillirens an ihn, so schlich er zaghaft und still um die dunkeln Büsche herum, während seine Ordre dahin lautete, mit wildem Geschrei in dieselben einzubrechen und wer sich ihm entgegenstellte, mit dem Bajonnet über den Haufen zu rennen. Nun gar den Streifzug bis zum Strande auszudehnen, konnte ich ihn durch nichts bewegen. Es ist wahr, die Piraten, mit denen ich da unten (auf meinen Patrouillen) oft Brust an Brust zu kämpfen hatte, waren gräuliche Mordgesellen mit schwarzen Bärten, funkelnden Augen, ellenlangen, haarscharf geschliffenen Schwertern und spitzigen Dolchen. Aber es war doch seine Pflicht, mir zu Hilfe zu kommen, wenn ich, zu hart bedrängt, von unten her um Hilfe rief, um dann freilich, da keine Hilfe kam, den Strauß allein auszufechten und die Mordgesellen mit blutigen Köpfen ins Meer zurückzuwerfen.
So schalt ich auf den guten Jungen ein und schämte mich meiner Grausamkeit (und meiner Lügen), wenn er bei meinem Bramarbasiren immer stiller und verlegener wurde, immer krampfhafter an der langen Unterlippe sog und ihm wohl gar die Thränen aus den kleinen braunen kurzsichtigen Augen an der langen fleischigen Nase herabliefen. Aber alle Angst, die ich ihn ausstehen machte, die schlechte Behandlung, welche ihm nur zu oft zu theil ward, Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit, die ihm sicher schon in diesem militärischen Stadium unsrer Freundschaft kamen und ihm, der die Wahrheitsliebe selber war, schwere Skrupel bereiten mußten, – nichts konnte ihn in seiner Treue und Liebe zu mir erschüttern, nichts auch nur den Wunsch in ihm erregen, mir die für ihn oft so lästige Gefolgschaft und demüthigende Botmäßigkeit zu kündigen. Er war und blieb mein Höriger und Vasall, seinem Lehnsherrn zu aller Zeit hold und zu jeder Dummheit, die dieser zu dekretiren beliebte, gewärtig. Dafür darf ich denn ohne Ruhmredigkeit behaupten, daß ich meine lehnsherrlichen Rechte nicht ausübte, ohne der obligaten Pflichten eingedenk zu sein. Und diese Pflichten waren nicht immer leicht. Es kam meiner Eitelkeit oft schwer genug an, dem Spott der andern Knaben gegenüber mich zu dem häßlichen „Judenjungen“ als meinem Freund und Kameraden zu bekennen. Und blieb es doch nicht immer beim Spott! Wie manchmal habe ich ihn ritterlich aus einer Bande ihn mißhandelnder Gassenjungen herausgehauen, ohne der Knüffe und Püffe zu achten, die dabei für mich abfielen! Auch hatte ich immer Zeit, ihm, dem das Lernen entsetzlich schwer wurde, die Exercitia zu korrigiren, die Aufsätze Wort für Wort in die Feder zu diktiren, die Vokabeln Silbe für Silbe einzutrichtern. Und wenn ich mir dafür von ihm die Exempel rechnen ließ, so that das meiner Würde keinen Eintrag, da, in dieser Kunst zu excelliren, für einen, der Kaufmann werden sollte, selbstverständlich war, während es sich für einen künftigen Soldaten kaum geschickt haben würde.
Uebrigens wurden meine Verdienste um Emil nicht bloß von diesem, sondern auch von den Seinigen auf das Bereitwilligste anerkannt, und wenn ich das Nachbarhaus betrat, durfte ich mir schmeicheln, ein gern gesehener, ja, weit über seine kleine Person geehrter Gast zu sein.
Ich kam aber jetzt, seitdem Emil nach dem Tode Gustav Hopp’s in den alleinigen Besitz meiner Freundschaft getreten war, öfter als vorher in das Israel’sche Haus, das sich von dem Hopp’schen in jeder Beziehung des Aeußeren und Inneren völlig unterschied, so daß auch dadurch das frühere Stadium meiner Kinderzeit von dem Stadium der Knabenjahre, das jetzt begonnen hatte, charakteristisch sich abhebt.
War aber das Hopp’sche Anwesen mit seinem geräumig niedrigen Wohnhaus und den Appendixen der Ställe, Scheunen und Wagenremisen in behaglicher, schier endloser Breite hingelagert, so hob sich das schmalbrüstige Israel’sche Haus mit seinem alterthümlichen Giebel schier endlos in die Höhe. Roch es dort beständig nach Pferden und frischem Heu, so herrschte hier ausschließlich der muffige Duft des Korns in seinen verschiedenen Species; schleppte man dort das zertretene Stroh des unsauberen Hofes bis in die Zimmer hinein, so war hier alles – in den Wohnzimmern mit ihren blank gescheuerten nackten Dielen, auf den Böden, wo das Korn in sorgfältig geschichteten Haufen lag – von der peinlichsten Akkuratesse und Sauberkeit. Widerhallte das Hopp’sche Anwesen vom Morgen bis in die Nacht hinein vom vieltönigen Lärm wiehernder Rosse, polternder Wagen, durch einander sprechender, schreiender Menschen, so trat man hier zu jeder Zeit in klösterliche Stille, die selbst von den Arbeitern respektirt wurde, welche wöchentlich ein paar Mal die vom Lande hereingekommenen Kornsäcke vom unteren Flur aus mittelst einer Winde in die sich über einander thürmenden Böden schafften, oder auf den Böden die Kornhaufen mit breiten hölzernen Schaufeln schichteten und worfelten.
Waren nun schon die beiden Nachbarhäuser, zwischen denen unser dürftiges Häuschen fast verschwand, in allen den beregten Punkten wie zwei verschiedene Welten, so gipfelte diese Differenz in Ausdruck, Betragen, Charakter und wahrlich nicht zum wenigsten in der äußeren Physiognomie der Bewohner, die sich auch numerisch Widerpart hielten. Wimmelte es doch in der Hopp’schen Familie förmlich von pausbäckigen, blondhaarigen Kindern beiderlei Geschlechts und jeden Alters! Auch vertrautere Freunde, ja, ich glaube, die Eltern selbst konnten ohne vorhergegangene Rechnung die Zahl derselben niemals genau fixiren; und wenn eines starb – wie mein Freund Gustav – wurde die Lücke kaum empfunden, jedenfalls in möglichst und für mich immer überraschend kurzer Zeit ausgefüllt. Dazu Onkel, Tanten, Vettern, Kousinen – Verwandte aller Grade, die kamen und gingen, wochen-, monatelang blieben, so daß keiner, und manchmal wohl sie selbst nicht, wußten, ob sie zum eigentlichen Hausstand gehörten, oder nicht – ein sorgloses, lebensfrohes, immer essendes und trinkendes, lärmendes, vielleicht ein wenig rohes, aber im Grunde gemüthliches germanisches Wesen, für das Vater und Mutter Hopp die wahren Repräsentanten waren. Er, jetzt noch ein Mann in den besten Jahren mit kurzgeschorenen starren Haaren über der niedrigen Stirn und dem rothen Gesicht, von mittelgroßer, stämmiger Figur, die wie sein Hauswesen durchaus ins Weite und Breite ging, beständig polternd, ohne es jemals bös zu meinen; sie ein behagliches, dralles, rundes Weibchen, dem die nicht immer saubere Mütze stets schief auf dem sehr flüchtig gemachten reichlichen blonden Haare saß, im linken Arm den jedesmaligen Säugling, in der rechten einen Kochlöffel, scheltend, scherzend, weinend, lachend – alles in einem Athem – im Grunde der Seele immer gut und immer vergnügt.
Die Israel’sche Familie bestand nur aus vier Personen: Vater, Mutter, meinem Freunde Emil und seiner um zwei Jahr älteren Schwester Jettchen. Während drüben der Personenstand fortwährend wechselte, schien hier der Gedanke der Möglichkeit einer Verändernug ausgeschlossen, als gehörten diese Vier nicht nur zusammen, sondern seien auch von Anfang an zusammengewesen. Dies mochte wohl mit daher kommen, daß die beiden Kinder eigentlich ganz alte Gesichter hatten, und zwar genau die der Eltern. Emil das der Mutter, Jettchen das des Vaters, so daß sie nicht sowohl die Kinder, als etwa die jüngeren Geschwister ihrer Eltern zu sein schienen. Von der Mutter, welche mit ihrem Vornamen Sarah hieß, unterschied sich Emil zu seinem Vortheil nur dadurch, daß er nicht, wie diese, eine hohe rechte Schulter hatte, sonst waren sie gleich häßlich, aus braunen kleinen zwinkernden Augen kurzsichtig, mit denselben langen fleischigen Nasen, derselben dicken, stets in Verlegenheit zitternden Unterlippe, denselben platten, kurzfingerigen, stumpfnägligen Händen. Jettchen, ihres Vaters Ebenbild, war, wie dieser, ein kleines magres Wesen, mit krummer, wenn auch wohlgebildeter Nase und braunen runden Augen, was ihren Physiognomien etwas Vogelartiges gab, welcher Einduck noch durch die dünnen zwitschernden Stimmchen und eine gewisse Rastlosigkeit in der Haltung vermehrt wurde.
Der Umstand, daß Herr Isidor Israel (auf den Säcken stand I. I., und so wurde er auch spottweise von den Nachbarn genannt und ausschließlich so von Herrn Heinrich Hopp, vermutlich, weil dieser sich für das H. H. entschädigen wollte, mit welchem er auf Kegelbahnen und sonst von seinen Freunden gerufen wurde) — ich sage, daß Herrn Isidor Israel’s Kraushaar bereits anfing zu grauen, während Jettchen’s, wie die Hobelspäne in Vaters Werkstatt gewundene Löckchen in ursprünglicher Schwärze bläulich schimmerten, machte in meinen Augen keinen großen Unterschied, weil ich mich nicht eben gewundert haben würde, wenn die Kleine mit dem alten Gesicht auch eines Tages grau erschienen wäre.
Es gab allerdings auch physiognomische Unterschiede zwischen Vater und Tochter, und zwar sehr bedeutende, nur daß mir diese erst allmählich klar wurden, vielleicht auch erst im Laufe der Jahre schärfer hervortraten. Ich weiß nur, daß eine Zeit kam, wo ich nicht mehr begreifen konnte, wie ich die beiden jemals auch nur ähnlich hatte finden mögen.
In Einem aber waren sich alle Mitglieder der Familie damals völlig gleich: in der ausgesuchten, wenn auch schüchternen Höflichkeit, mit welcher sie mich jederzeit empfingen und behandelten.
Das Haus war mit Ausnahme der Stunden, wo Korn abgeliefert wurde, stets verschlossen. Zog ich nun die Schelle, welche einen eigenthümlich klappernden Ton hatte, so wurde der Riegel inwendig meist von Herrn Israel eigenhändig weggeschoben, der zu diesem Zwecke aus seinem kleinen Comptoir zur Rechten des Hausflurs von dem hohen dreibeinigen Schemel vor seinem Pulte herabgerutscht war, und mir stets zum Willkomm sein kleines dürres Händchen reichte, um mich bis an die Thür des etwas größeren Wohnzimmers zur Linken zu geleiten, welche er mir selbst öffnete.
Dort empfingen mich die Frauen, oder eigentlich immer nur die Mutter, da Jettchen sofort bei meinem Eintreten in das kleine Hinterzimmer huschte, um Emil herbeizurufen. Meistens hatte die Mutter im Fenster (aber so, daß sie von der Straße nicht gesehen werden konnte) bei einer Näharbeit gesessen, und Jettchen am Klavier — einem alten Kasten mit abgegriffenen Tasten, dessen Ton einen dünnen, an die klappernde Hausthürschelle mahnenden Klang hatte, und dem ich doch gern lauschte, weil — was ich damals freilich nicht wußte — Jettchen bereits eine kleine Virtuosin war. Doch gelang es mir nur selten, und es kostete jedesmal eine beredte Bitte meinerseits und stumme ermuthigende Blicke und Zeichen von seiten Emil’s und der Mutter, um die Schüchterne wieder an den Platz zu bringen, von welchem ich sie durch mein Erscheinen verscheucht hatte. Dann öffnete sich auch wohl geräuschlos die Thür nach dem Flur, Herr Isidor huschte herein, das Köpfchen auf die Seite geneigt, andächtig lauschend, um, sobald der letzte Akkord verklungen war, ebenso geräuschlos wieder hinauszuhuschen.
Unter diesen vier Menschen herrschte eine Einigkeit, die für mich etwas Feierlich-Mysteriöses hatte, wohl weil ich sie instinktiv in Gegensatz brachte mit dem Ton in dem Hopp’schen Hause, wo sich den lieben langen Tag jeder mit jedem zankte. Hier verstand man sich und sogar ohne Worte, erhob sich, setzte sich, ging, kam, brachte einander das Gewünschte, ohne daß auch nur für
[26] menschliche Augen sichtbare Winke gegeben wurden, wie bei einer Schar fliegender Tauben man vergeblich nach dem Zeichen späht, auf das hin alle zugleich steigen, fallen, einschwenken, umschwenken. Dies wort- und winklose Sichverstehen und -verständigen schien mir um so merkwürdiger, als die Sinne bei allen mangelhaft ausgebildet waren; die Mutter hochgradig kurzsichtig wie mein Freund; die Tochter wie der Vater schwerhörig, wenigstens für menschliche Rede, während sie doch für Musik ein leises, feines Ohr hatte. Diese Mängel mochten durch die enge Berührung ausgeglichen werden, in welcher sie beständig lebten, jahraus, jahrein und Tag und Nacht sich auf die kleine Wohnstube nach der Gasse und ein paar enge halbdunkle Kämmerchen nach dem schmalen Hof beschränkend, aneinander drängend wie meine Kaninchen in ihrem Ställchen, an die sie mich auch sonst vielfach erinnerten. Besonders wenn sie, um den kleinen runden Tisch herumsitzend, ihr frugales Mahl knusperten, das, stets aus Brot, Salat, Früchten und dergleichen bestehend, wirklich ein kaninchenmäßig-vegetabilisches Ansehen hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals ein Stück Braten oder eine Flasche Wein auf ihrem Tisch bemerkt zu haben, wiederum im Gegensatz zu den Hopps, die fortwährend an ägyptischen Fleischtöpfen schmausten und dazu tranken wie homerische Phäaken.
So hätte denn, alles in allem, das düstere Haus mit dem muffigen Duft (welcher besonders in der Wohnstube stark ausgeprägt war) und seinen lichtscheuen knuspernden Bewohnern keinerlei Anziehungskraft für einen lebhaften phantastischen Knaben gehabt, wäre nicht meine Freundschaft für Emil gewesen, die eben jetzt in voller Blüthe stand, und hätte das Haus nur ein Unten und kein Oben gehabt. Aber es hatte ein Oben, und welch prachtvolles: die vier übereinander liegenden Kornböden in dem thurmartig aufragenden und sich zuspitzenden Giebel. Auf dem untersten und breitesten war der Weizen aufgeschichtet, dann kam der zweite, bereits etwas schmalere, mit dem Roggen, der dritte mit der Gerste, der vierte, oberste schmalste, mit dem Hafer. Von oben aber bis auf den Flur mitten durch das Haus schnurrten die Seile der großen Winde, deren mächtiges Rad unter den Dachsparren befestigt war, und die unten mit schweren eisernen Haken die zusammengeschnürten Säcke faßten, um dieselben, je nach ihrem Inhalt, in den verschiedenen Böden abzusetzen auf das von oben dumpf herabschallende Stopp! das Signal für die beiden Männer unten, vom Ziehen abzulassen. Stand man aber oben und blickte durch die offenen Luken (sie wurden hernach wieder geschlossen) niederwärts, so war es, wie wenn man von dem Deck eines mächtigen Auswanderungsdampfers durch die verschiedenen Etagen in den untersten Raum blickt, nur daß die Höhe noch viel beträchtlicher war, und man schon vollständig schwindelfrei sein mußte, um sich über die aufgestellten Klappen der Luke zu biegen und auf die beiden Aufwinder hinab zu sehen, die dann nicht größer zu sein schienen als ich selbst. Und während ich dann mit wollüstigem Schauer in die Tiefe starrte, stand Emil hinter mir, mich ängstlich an der Jacke zupfend, mit weinerlicher Stimme anflehend, zurückzustehen, entsetzt zurückprallend, wenn nun das emporschwebende Säckebündel in der Oeffnung auftauchte, und ich mit den Abnehmern oben lustig mein Stopp! in die Tiefe hinabschrie.
War das aber schon ein herrlicher Sport und das Wühlen mit den Worfelschaufeln in den breiten goldenen Getreidehaufen ein anderer — als der allerherrlichste erschien mir damals (und erscheint mir noch heute), da oben an einem schönen Sonntagssommermorgen in einem der Giebelfenster (es waren freilich keine Fenster, sondern nur mit hölzernen Läden verschließbare Oeffnungen) auf dem selbst noch hier oben mannesdicken Mauerrand zu sitzen und aus langen thönernen Pfeifen Seifenblasen in die blaue Luft zu schicken. Auch bei diesem Vergnügen starb der gute Emil fast vor Angst, ich könnte doch einmal, mich zu weit vorbiegend, von der Höhe auf das Hofpflaster hinabstürzen. Und dann: für sein kurzsichtiges Auge verschwanden die schillernden Ballons, auch wenn sie in windstiller Luft langsam davonschwebten, allzubald, und für ihn vergebens überhauchte der Sonnenschein die luftigen Kugeln mit allen Farben des Regenbogens. Aber für mich! Guter Gott, ich könnte weinen, denke ich der Seligkeit da oben in freier schwindelnder Höhe, die ganze schöne Welt unter mir: braune Häuserdächer, schattige Höfe, die grüne Erde und das blaue Meer, über mir der blaue Himmel, an dem weißschimmernde Wölkchen schweben, wie unten auf dem Meer weißschimmernde Segel, — ach, da zu sitzen, während die junge Brust, in unbewußter Wonne den sonnigen Aether athmend, von unaussprechlichen Empfindungen schwillt, und der reinen, morgenwindumfächelten Stirn Phantasien entschweben, luftig, bunt und zerflatternd wie die Seifenblasen, und in denen wir doch vielleicht schon alles Höchste und Größte vorträumen, was später jemals unsere Seele entflammen wird!
Und schon hatten die phantastischen Träume meiner jungen Seele angefangen, bestimmtere Formen anzunehmen. Das Bild des schönen hohen Majors, wie er da über die Schwelle in des Vaters Werkstatt trat (die mir in jenem Moment zum ersten Male klein und ärmlich erschien), war unverwischt in meiner Erinnerung geblieben, ja hatte nur noch stattlichere Dimensionen und leuchtendere Farben angenommen. Ich hatte ihn auch bereits zweimal wiedergesehen: aus der Nähe eines Morgens, als er an der Spitze des Bataillons zum Exerciren mit klingendem Spiel durch unsere Gasse kam; aus scheuer Entfernung das zweite Mal, als er bei der Parade auf dem Marktplatze unter den anderen Offizieren stand eines Sonntagvormittags, er der schönste und herrlichste von allen. Wie aber Phantasie und Gemüth eines Volkes von einer mächtigen Persönlichkeit, welche unter ihm aufsteht, so ergriffen und erfüllt werden kann, daß seinem mächtigen Willen nachzuleben höchste Ehre und Pflicht scheint, und Denken und Empfinden eines Jeden allmählich die Farbe seines Denkens und Empfindens annimmt, so war jetzt der Major für mich mein Ideal und mein Heros, nur daß ich mir schmeichelte, ihm dereinst nicht bloß ähnlich, sondern gleich zu werden, Major zu werden; an der Spitze einer Schar, die sich für meine Phantasie ins Endlose dehnte, zur Stadt hinaus zu reiten, während von dem Trommelschlag die Fenster klirrten, und die Leute vor den Thoren alle nach mir schauen, wie ich jetzt nach ihm.
Es war ein keckes Vorwegnehmen zukünftiger Herrlichkeit, wenn ich mich bereits jetzt von dem guten Emil „Herr Major“ bei unseren Spielen nennen ließ, und in dieser meiner Würde (welche mir die höchste auf Erden schien) von unserer Bodenluke aus die Welt, die mir zu Füßen lag, und über welche meine bunten Seifenblasen dahinschwebten, vertheilte. Freilich zu ungleichen Theilen. Indem ich Emil alles, was diesseit des Wassers lag, großmüthig überließ, nahm ich für mich die Insel drüben, die ich noch nie betreten hatte, und in welcher ich, wenn ihre mit grünen Streifen durchschlängelten Sandufer im Sonnenschein herüber schimmerten, das Land erblickte, wo alles, was sich meine Seele träumte, vollste herrlichste Wirklichkeit war.
Und wenn man sie nun kennen lernt, diese Wirklichkeit, und sieht, daß die reinsten schönsten Träume unserer Jugend an ihrer Rauhheit zerflattern wie Seifenblasen; der Widerstand der stumpfen Welt, von welchem der Dichter spricht, sich mit nichten besiegen läßt (oder doch wiederum nur in der Phantasie); in Wirklichkeit aber uns besiegt, in den Staub tritt, uns den Fuß auf den Nacken setzt und, nachdem er uns von der Welt die tiefste Schmach angethan, nun noch die allertiefste von uns heischt, der Sünden größte: das Abschwören unserer Ueberzeugung — ach! ist es für ihn, der so zurückschaut auf ein verfehltes und verfehmtes Leben — ist es lächerliche Feigheit, zu wünschen: wärst du doch an einem jener duftigen Sommermorgen aus deiner Sonnennähe und deinen Ikarusträumen hinabgestürzt und hättest dir den Kopf zerschellt unten auf den spitzigen Steinen des Hofes! Oder, es wäre dir beschieden gewesen, nie aus deinen Träumen zu erwachen zum Bewußtsein dessen, was ist, sondern, dem „Mallen Heinrich“ gleich, so weiter durch das Leben zu gehen, das für dich nicht existirt, die Seele voll von Musik, der schönen Musik, vor der die Teufel heulend in den Abgrund stürzen, während sich oben die Himmel öffnen, wo Gott Vater auf seinem strahlenden Sonnenthron sitzt, umschwebt von Engeln, deren Flügel in allen Regenbogenfarben schimmern — wie Seifenblasen!
Ich denke schaudernd der Unglückseligen, aus deren verstörter Seele heraus ich diese Worte geschrieben habe.
Und wer von uns — uns Jüngeren zumal — darf sich berühmen, daß er nie zu diesen Unglückseligen gehören wird?
[41]
Während ich so in dem hochgegiebelten Israel’schen Hause aus- und einging – ein stets willkommener, durch Höflichkeiten und Zuvorkommenheiten von allen Gliedern der Familie ausgezeichneter und verwöhnter Gast – versank für mich mein dürftiges Elternhaus gleichsam in tiefen Schatten, wie der, welcher an jenem Maienmorgen über dem Hof lag, nur daß er den heranwachsenden Knaben nicht mehr wohlig berührte.
Den heranwachsenden Knaben! Denn, wie jetzt zum andren Male mein Elternhaus und seine Insassen in meiner Erinnerung auftauchen, müssen seit der Zeit, die ich vorhin zu schildern versuchte, Jahre vergangen sein – zwei oder drei oder vier — ich weiß es nicht, es kommt auch nichts darauf an. Sind es doch die, in welchen die junge Menschenseele nach dem ersten kecken Ausblick in die Welt, wie unbefriedigt von dem, was sie sah, sich wieder in sich zusammenschließt, zu sinnen, zu grübeln, zu erstaunen, zu erschrecken über die Wunder der Welt, welche, erst in dämmernden Umrissen, dann heller und heller, sich aus der Tiefe der Seele hebt. Wenigstens war es so bei mir. Das Draußen kann mich nicht gekümmert haben. Ich wüßte nicht zu sagen, wann und wie jener troglodytische Prachtbau meines Kaninchenheims aus der Ecke zwischen der Werkstatt und dem hölzernen Gartenstaket verschwunden ist, und wo die lieben Thierchen geblieben sind. Jedenfalls sind sie den Weg aller Kaninchen gegangen; und an der Stelle, wo der Prachtbau sich wölbte, ragt ein luftiges Vogelhaus, das aber auch bereits wieder halb zerfallen ist, und in welchem nacheinander (vielleicht auch nebeneinander) Strandläufer, Kampfhähne, Kanarienvögel, Stieglitze, Dompfaffen, ein junger Turmfalke und eine alte vermauserte Dohle gesessen haben. Letztere ein Geschenk des „Mallen Heinrich“, der sie wiederum von einem Schieferdecker geschenkt bekommen und mir triumphierend gebracht hat als einen Beweis, daß die bösen Teufel noch immer um den Nikolaiturm flögen und das Geheimniß besäßen, sich in krächzendes Federvieh zu verwandeln.
So ist auch von der stolzen Burg auf dem Wall nichts geblieben als eine kleine Erhöhung, die aber schon wieder Gras und Lattich überwuchern. Haben sie – wie ich Emil erzählt – die Piraten unter wildem Geschrei, das ich bis in meine Kammer gehört, in der Nacht erstiegen und dem Erdboden gleich gemacht; hat, was ich glaube, Bruder August
sie zerstört, um mir einen Possen zu spielen — ich weiß es nicht und kümmere mich nicht darum.
Ich kümmere mich auch um viel größere Dinge nicht, zum Beispiel um den Krieg, der zwischen Preußen und Oesterreich entbrannt ist, und in welchen mein ältester Bruder Otto hat ziehen müssen — von Berlin aus, wo er — ein überlanger und überschlanker Jüngling — vorher bereits ein Jahr lang in der Garde gedient hatte. Ich vermisse ihn nicht. Er war zwar immer freundlich zu mir gewesen und hatte mich stets gegen August in Schutz genommen; aber die große Differenz des Alters hatte ein eigentliches Verhältniß nicht zwischen uns aufkommen lassen, um so weniger, als er, bei aller Herzensgüte, ein lässiger, schlaffer Mensch war, der an nichts ein wirkliches Interesse hatte, sondern nur so mit seinen wasserblauen Augen in den Tag hinein träumte. Man hätte ihn für den echten Sohn und das Abbild des Vaters halten können, und viele nahmen ihn dafür, — mit Unrecht, denn er war nur die Karikatur des einzigen Mannes. Dennoch bedauerte ich ihn aufrichtig, als ich vernahm, daß er bei Königgrätz durch die Brust geschossen sei, und nun in Berlin im Lazarett liege, von den Aerzten aufgegeben. Es wäre ihm besser gewesen, die Aerzte hätten Recht gehabt. Aber die Aerzte hatten einmal wieder nicht Recht, und er wurde aus dem Lazarett entlassen — als Vollinvalide, um uns vier Wochen — oder waren es Monate? — später mit der Nachricht zu überraschen, daß er die Tochter des Meisters, bei dem er in Dienst getreten war, geheirathet habe. Er wolle sich nun selbständig etabliren, eine Tischlerei errichten, vorausgesetzt, daß ihm der Vater dazu Geld schicke; denn das habe er nicht (wie sich der Vater wohl denken könne), — und seine Frau auch nicht; aber der gute Vater —
Jawohl, der gute Vater! Ich sehe ihn noch, wie er dastand in der Werkstatt, das rote Fez schief auf dem Kopf, mit der vierfingrigen Linken sich durch den grauen Bart streichend, während die herabgesunkene Rechte den Brief hielt, welchen er mir so weit vorgelesen, und ein melancholisches Lächeln um den Mund spielte.
„Da werde ich wohl noch etwas mehr arbeiten müssen,“ murmelte er, indem er wieder zu seinen Werkzeugen griff, an einem halbfertigen Sarge weiter zu schaffen.
„Noch mehr arbeiten?“
Ich stand noch in dem glücklichen Alter, wo man sich seine Gedanken über alles Mögliche macht, nur nicht darüber, woher das Geld kommt. Auf den Bäumen wächst es nicht, auf der Gasse findet man es auch nicht — das ist sicher; es kommt eben irgend wo her. Vielleicht stieg in diesem Augenblicke sogar die Vermuthung in mir auf, es möchte das Wort des Vaters vom Mehr-arbeiten-müssen mit der von Bruder Otto angeregten Geldfrage in Zusammenhang stehen, aber wie es geschehen möge, daß er, der bereits jetzt den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der Werkstatt sich mühte, noch mehr arbeiten könne, fragte ich mich nicht. Ich wußte nichts von Lampen, welche die Nacht hindurch brennen, und deren tödliches Licht über Stirnen flimmert, von denen kalter Schweiß rinnt, und in starren Augen wiederscheint, die von Fieber glänzen.
In dieser Zeit muß es auch gewesen sein, daß der zweitälteste Bruder August zum Soldaten ausgehoben wurde und, ich glaube, seiner krummen Beine wegen, zur Kavallerie in eine entfernte Garnison kam. Zwei Menschen kannte ich, denen mit seinem Fortgang ein Alp von der Seele wich, das waren der „Malle Heinrich“ und ich. Seit jenem Abend vor der Hausthür, als er den armen Blödsinnigen von der Bank auf das Straßenpflaster warf, hatte er denselben, so oft er ihm begegnete, verhöhnt und insultirt. Und leider begegneten sie sich nur zu oft, da beide sich des Abends regelmäßig auf den Straßen umhertrieben — der „Malle Heinrich“, um in seinen himmlischen Phantasien zu schwelgen, der „tolle August“ (wie er jetzt von allen, die ihn kannten, genannt wurde), um mit harmlosen Vorübergehenden Händel anzufangen, die nicht selten einen blutigen Ausgang nahmen, und sonst in allerhand wilden Streichen seine Kraft und seinen Uebermuth auszutoben. An mir hatte er sich seit jener Nacht nicht wieder thätlich vergriffen, aber er blieb mir feindlich gesinnt und gab dieser Gesinnung jeden sonst nur möglichen Ausdruck, trotzdem ich es um ihn in keiner Weise verdiente. Ich hatte ihm jene Unbill, die er mir angethan, nicht nur nicht nachgetragen, sondern mich ihm, liebebedürftig wie ich war, in Liebe wieder zu nähern gesucht. Denn ich hatte einen gewaltigen Respekt vor seiner Kraft und Kühnheit, und bei nicht ungroßmüthigen, phantasievollen Knaben grenzen ein solcher Respekt und Liebe dicht aneinander. Das Gemüth des „tollen August“ war dadurch nicht gerührt worden. Er neidete mir die Liebe des Vaters, trotzdem er für sein Theil nach derselben nicht das mindeste Verlangen trug; schnödelte über meine Mutter; verhöhnte mich „das Muttersöhnchen, das Milchgesicht, den Zuckerprinz, den Bruder Joseph, dem er den tiefsten Brunnen graben möchte, um ihn da hinabzuwerfen und — nicht wieder herauszuholen, darauf könne ich mich verlassen“. Und als er fort mußte, und ich ihm zum Abschied treuherzig einen Kuß geben wollte, hatte er mich hohnlachend von sich gestoßen: „er danke schön für den Judaskuß von so einem bleichsüchtigen, glattzüngigen, verdammten Aristokraten.“
Mir traten die Thränen in die Augen, indem ich scheu zurückwich, weniger vor seiner Wuth, als weil ich mich in die Seele des wilden Gesellen hinein schämte. Und dann hatte ich das letztere Wort noch nie gehört und hielt es in meiner Unschuld für ein neues, besonders schlechtes, gemeines Schimpfwort, mit dem er mich zu guterletzt so recht habe kränken wollen. Ich hatte nicht weit vom Ziel geschossen: auch für ihn war das Wort neu und es war in seinem Sinn das ärgste, was er einem verhaßten Menschen ins Gesicht schleudern konnte.
Das kleine Haus wird stiller: auch die Großmutter in der Vorderstube ist tot. Sie war mein Schrecken gewesen, solange ich denken konnte; und es mochte wohl auch nicht leicht etwas Schrecklicheres geben als die lange, hagere, altergekrümmte Gestalt mit den starren verglasten Augen und den von körperlichem Schmerz und Seelenangst gräßlich verzerrten Zügen, wie sie von Zeit zu Zeit die Vorderstube, in der sie sich sonst eingeschlossen hielt, verließ, um einen schauerlichen Rundgang durch Haus und Hof zu halten, immerfort unverständliche Flüche und Schimpfworte vor sich hinmurmelnd, jedem, der ihr begegnete, die Faust vor dem Gesicht schüttelnd, worauf sie dann wieder auf lange Zeit in ihrem Verließ verschwand. Und dies Grauengespenst, von dem, Gott sei Dank! kein Tropfen Blut in meinen Adern floß, hatte der arme Vater zwanzig Jahre lang in seinem Hause gehabt, ohne daß vorher oder nachher jemals das leiseste Wort des Unmuths, der Ungeduld über seine Lippen gekommen wäre! Und der Sarg, den er ihr dann baute, war um nichts geringer, als der reicher Leute. Im Gegentheil, eher noch kunstvoller und mit ganz besonders glänzender gelber Farbe angestrichen und extra blank lackiert. Und Nachbar Hopp mußte seinen vornehmsten Leichenwagen aus der Remise ziehen, obgleich er dazu etwas von „alter Hexe“ in sein Doppelkinn brummte, und Karl Brinkmann, der dabei stand, ein übriges von des „Teufels Großmutter“ in seine Bartstoppeln murmelte, als ich hinüber gegangen war, die Bestellung auszurichten. Der Vater aber, als ob er wüßte, was ich darüber zu hören bekommen, sagte, als ich zurückkam:
„Wir dürfen ihr nicht noch über den Tod hinaus bös sein. Sie ist sehr unglücklich gewesen, denn sie konnte keinen Menschen lieben. Das ist schon die Hölle auf Erden.“
So ist es denn ganz still geworden in dem kleinen Hause. Wenn ich in meinem Kämmerchen, dessen Fenster nach dem Hof hinausgeht, über meinen Schularbeiten sitze, höre ich Zug um Zug des Vaters Säge und jeden Strich seines Hobels. Auf dem Wall drüben, der mir die weitere Aussicht versperrt, nicken die langen Grashalme und wiegen sich die Zweige der Haseln und Erlen. Weht der Wind von Osten, vernehme ich das dumpfe Rauschen des Wassers, das bis an die Futtermauer gestiegen ist. Manchmal kommt auch wohl eine Krähe geflogen, setzt sich auf einen der schwanken Wipfel, läßt ein ärgerlich heiseres Krächzen erschallen, als könne sie dem Orte heute, wo der Strand überfluthet ist, keinen Geschmack abgewinnen, und schwingt jählings davon. Dafür hebt sich über den Wall eine Möwe unregelmäßigen Fluges, wie vom Winde auf- und niederwärts geschaukelt, den spitzen Schnabel nach unten gekehrt, der Beute lauernd, auf die sie herabstößt, plötzlich hinter dem Rand des Walles verschwindend, wie ein Stein, der fällt.
Es ist sehr still in dem kleinen Hause. Ich höre jetzt nichts als das Kritzeln meiner Feder, die in fliegender Eile auf dem Papier weiter hastet an meinem Aufsatz über „Die Freuden der Jugend“, und den gleichmäßigen Zug von des Vaters Hobel an irgend einem Brett zu einem Sarge. Ich bin an einen schwierigen Punkt gerathen und lege sinnend die Feder hin; der Vater mag auf eine schlechte Stelle im Brett gestoßen sein, die er jetzt prüfend betrachtet, während der Hobel ruht.
Es ist lautlos still in dem kleinen Hause.
Und in der lautlosen Stille hebt ein Singen an, leise und süß wie Aeolsharfenklang, und ach! so klagend, so schmerzlich klagend! so sehnsuchtsvoll, so voll schmerzlicher Sehnsucht!
Ich lausche dem süßen leisen Gesang, der die Stille nur noch stiller zu machen scheint.
Und wie ich so lausche, quillt es auch in meinem jungen Busen auf von Klage und Sehnsucht — Klage um mich, der ich hier einsam sitze; Sehnsucht nach ihr, die einsam sein will, nichts von der Liebe ihres Kindes wissen will, das doch sie so grenzenlos liebt!
Meine starren Augen werden feucht. Ich drücke das Gesicht in die Hände und weine heiße Thränen auf den Aufsatz über „Die Freuden der Jugend.“
Nicht Zufall ist es, wenn ich in diesen Aufzeichnungen jetzt erst ausführlich auf sie zu sprechen komme, der in der Herzensgeschichte eines jeden gutgearteten Menschen der erste Platz gebührt. Ich bin um dies Kapitel herumgeschlichen, wie ich oft um ihr Zimmer schlich; und habe jetzt wieder gezögert, die Feder dazu anzusetzen, wie ich immer erst mein Herzklopfen überwinden mußte, bevor ich zögernden Fingers an ihre Thür pochte. O dreimal glückselig ihr, die ihr eine Mutter habt, die euch liebt, und wenn sie bös auf euch ist und euch schilt (wie ihr es gewiß verdient), euch erst recht liebt! Und habt ihr sie nicht mehr, die hehre Göttin eurer Kinderzeit, die liebereiche, helfende, rettende, tröstende, beste Freundin eurer spätern Jahre — glückselig auch dann, die ihr das Höchste doch einmal besaßt und nun zu ihm aufschaut als zu dem strahlenden Leitstern für den Rest eures Lebens!
Meine Mutter, ach! sie hat mich nie gescholten, aber sie hat mich auch nie geküßt. Ihr wißt ja nicht, was Furchtbares in dem Worte liegt für ihn, der es von sich sagen muß. Das heißt, eine Pflanze sein, die nie ein Sonnenstrahl traf; das heißt, als ein Krüppel geboren sein; das heißt, kein glückliches Kind gewesen sein, kein fröhlicher Knabe; das heißt, die Anwartschaft erhalten haben auf ein Leben jenseit der Schranken, innerhalb deren es sich gut wohnen und friedliche Hütten bauen läßt!
Betrat ich dann aber auf ihr leises Herein! das Zimmer, so sah sie mich, von ihrer Stickerei oder ihrem Buche aufblickend, an, nicht eigentlich unwillig, aber gewiß auch nicht gütig, sondern mit jener fürchterlichen höflichen Gleichgültigkeit, die dem, welcher liebevoll und nach Liebe sich sehnend herantritt, das Herz zuschnürt, auf ihn fällt, wie Mehlthau auf eine junge Pflanze. Auch hatte ich längst die traurige Klugheit gelernt, mir die Beschämung, abgewiesen zu sein, dadurch vor mir selbst zu verschleiern, daß ich nie kam außer mit einem bestimmten Auftrage, etwa vom Vater, oder unter einem Vorwande, den ich mir vorher sorgfältig ausgedacht und einstudirt hatte, um ihn möglichst unbefangen vorbringen zu können. Hatte ich dann mein Gewerbe ausgerichtet, nickte sie mir zu — wiederum mit jener grausam gleichgültigen Höflichkeit — und warf ich noch einen scheuen Blick zurück, bevor ich die Thür schloß, sah ich sie bereits wieder über ihre Stickerei oder ihr Buch gebeugt. Selten, sehr selten, daß sie dann noch einmal die Augen hob und mit ihrer leisen Stimme fragte: „Möchtest Du noch etwas, Lothar?“ und ich mit einem gestammelten: „Nein, Mama! Doch nicht, Mama!“ mich eilig hinausdrückte.
„Nein Mama! Doch nicht, Mama!“ — Großer Gott, ich wußte ja, daß sie das, wonach meine Seele schrie, nicht gewähren konnte oder wollte!
Warum nicht?
Ich zermarterte mein Gehirn nach diesem fürchterlichen Warum. Ich flehte Gott an in heißen Gebeten, er möge mir es offenbaren. Aber mein Gehirn fand keine Antwort und mein Flehen keine Erhörung. Oder das, was mir auf Stunden und Tage eine Antwort, eine Lösung des Räthsels schien, mußte ich doch bald wieder kopfschüttelnd als unzutreffend oder unzugänglich aufgeben und fahren lassen. Ich hatte mir dann vielleicht einreden wollen, ich sei ein böser wilder Knabe, an dem eine Mutter kein Wohlgefallen haben könne. Aber die Hopp’schen Rangen waren noch viel böser und wilder, und wurden doch von ihrer Mutter gescholten und geküßt nach Herzenslust. Oder vielleicht war ich häßlich, und häßliche Kinder wurden von ihren Müttern nicht geküßt; zum Beispiel Emil: ich hatte nie gesehen, daß er von seiner Mutter geküßt wurde. Das hielt, soviel ich mich erinnere, eine geraume Zeit vor. Dann fragte ich einmal Emil, während mir die Wangen brannten und die Kehle mir wie zugeschnürt war — so ganz aus dem Stegreif: ob ihn seine Mutter manchmal küsse? und der gute Emil erwiderte unbefangen: ja, oft! So war es auch damit nichts: ich mochte nicht schön sein; aber so häßlich wie Emil war ich sicher nicht.
Freilich, wie konnte es mir auch beikommen, meine Mutter und ihr Thun und Lassen nach anderen Müttern und ihrem Thun und Lassen beurtheilen zu wollen? Ist doch, oder sollte doch jedem Kinde seine Mutter eine Gottheit sein, die keine anderen Gottheiten neben sich hat; und meine Mutter war ein so besonderes Wesen, daß sie mir nichts ihr Aehnliches, geschweige denn ihresgleichen zu haben schien. Alle Göttinnen des griechischen Olymp, dessen Glanz jetzt zum erstenmale die verwunderten Knabenaugen traf — mochte es nun die stolze Hexe sein, oder die strenge Pallas, oder die holdlächelnde Kypris — sie erschienen mir wohl in besonderen Gewanden und mit verschiedenem Ausdruck, aber im Grunde waren es doch nur ein wenig veränderte Abbilder meiner Mutter. Und hörte oder las ich in der Geschichte von einer hohen Frau, welche die Herzen der Männer entflammt und ihren Muth zu kühnen Thaten begeistert — so war es wiederum meine Mutter. Und die Dichter mochten ihre Herzensköniginnen mit braunen oder blonden Locken schmücken, aus dunkeln oder blauen Augen schmachten lassen — es war und blieb immer meine Mutter.
Wie wäre es auch anders möglich gewesen! hatte ich doch in Wirklichkeit keine schönere Frau gesehen; und wenn das für meine kleine Welt von damals nicht viel bedeuten will — die große Welt, so weit ich sie kennen lernte, — hat mir eine schönere nicht gezeigt.
Keine wenigstens, deren Züge von Liebreiz so — darf ich sagen: durchsüßt gewesen wären? — es klingt läppisch — ich fühle es wohl — und doch weiß ich kein anderes Wort, den Zauber wiederzugeben, der von diesem Antlitz ausging. Es hätte, trotzdem sich in dem dunkeln Haar schon einzelne silberne Fäden zeigten, das eines bildschönen Mädchens sein können, welches eben zur Jungfrau heranreift, und deren Herzensreinheit noch von keinem leisesten Anhauch dieser Welt getrübt ist, — wären die Augen nicht gewesen. Sie und sie allein schienen gelebt und — erlebt zu haben; sie und sie allein schienen zu wissen, daß es eine böse Welt gibt, auf die man nur mit trüber Gleichgültigkeit oder bitterer Verachtung blicken soll. Und eine andere Welt, zu der man aufschauen darf in flammender Begeisterung, in gluthvoller Liebe, in brünstiger Sehnsucht. Ich hatte wenigstens den Abglanz dieser Gluth gesehen, ein- oder zweimal, als ich trotz meiner gewöhnlichen Vorsicht allzuschnell in ihr Zimmer trat, und sie, von dem Betschemel, auf welchem sie gekniet hatte, sich erhebend, mir gegenüber stand mit jenen Augen, vor welchen eben die Glorie der Himmel aufgethan gewesen war und über die nun rasch der dichte Schleier fiel, den Kindesliebe nicht zu lüften vermochte.
Ich wußte jetzt, daß meine Mutter Katholikin war. Es gab sehr wenige Katholiken in unserer streng protestantischen Stadt, so wenige, daß sie kein eigenes Gotteshaus hatten, sondern sich mit einem kleinen Betsaal, der möglichst zu einer Kapelle umgeschaffen war, begnügen mußten.
Den Gottesdienst und die Seelsorge in der kleinen Gemeinde leitete ein Geistlicher, den innerer Drang oder oberer Befehl muthig oder doch standhaft auf diesem verlorenen Posten ausharren ließ. Er war selbstverständlich auch der Beichtiger meiner Mutter und kam, deucht mir, jetzt öfter als sonst zu ihr, immer in der Abenddämmerung, wo er dann, dunkel und lautlos, wie der Schatten der Nacht, durch das stille Haus die schmale steile Treppe hinaufhuschte. Doch war ich ihm auch ein und das andere Mal draußen begegnet und hatte mit scheuen Augen auf ihn geblickt: ein bereits älterer Mann, – so erschien er mir, obgleich er noch in den Dreißigern stand, — der den langen dürren Leib bis an den mit einem schmalen weißen Streifen umgebenen Hals in den schwarzen Rock geknöpft hatte, unter welchem eben nur ein wenig von den schwarzwollenen Strümpfen und den plumpen Schnallenschuhen hervorsah. Er hatte ein scharf geschnittenes bartloses Gesicht, das ganz blutleer zu sein schien, und trug den aristokratisch feinen kleinen Kopf immer tief gebeugt. Auch war er von Adel: ein Herr von Ruver, aus einem alten niederrheinischen Geschlecht. Ich hatte eine große Scheu vor ihm, trotzdem er bei unseren flüchtigen Begegnungen immer sehr freundlich zu mir war, gelegentlich mir auch die schlanke, wohlgepflegte Hand reichte und ein paar Worte an mich richtete. Ich sollte später erfahren, daß es nicht an ihm gelegen hat, wenn ich nicht zu seiner Herde gekommen bin – meine Mutter wollte es nicht. Hätte sie doch fürchten müssen, mir im Himmel wieder zu begegnen und an die leidige Erde und den Erdenrest, den von sich abzustreifen ihr einziges Verlangen war, schmerzlich wieder gemahnt zu werden! Guter Gott, ich wollte ihr ja nicht im Wege stehen, weder hüben noch drüben; ich, der ich beglückt gewesen wäre, hätte sie mich nur still neben sich geduldet, mich satt zu schwelgen an ihrer Holdseligkeit; und der seine Anwartschaft auf den Himmel und seiner Seelen Seligkeit mit Freuden hingegeben haben würde für einen Kuß von ihrem geliebten Munde!
Nun freilich, da mir das brennende Verlangen ewig unbefriedigt blieb, erfaßte mich allmählich ein immer tieferes Grauen vor der katholischen Religion, in welcher ich die Ursache meines Leides zu erkennen glaubte. Vielleicht verbot sie den Müttern, ihre Kinder zu lieben und zu küssen, wie es andere Mütter dürfen: protestantische und jüdische, und heidnische in den Kauf, denn aus dem Alterthum wurde doch von so mancher heroischen Liebe berichtet, die zwischen Mutter und Sohn gewaltet. Nicht zwischen erdgebornen Menschen nur! Hatte doch selbst Thetis, die göttliche, sich ihres unglücklichen Sohnes erbarmt! Ach, noch fühle ich die brennenden Thränen, die ich vergoß, als ich zum erstenmale las, wie sie, eilenden Schwungs der finsteren Fluth entsteigend, sich zu dem Thränenbenetzten setzt und, ihn sanft mit der Hand streichelnd, die tröstenden mitleidigen Worte spricht:„Kind, was weinest du doch? Was rühret dein Herz mit Betrübniß?“
Wie viel heiße Thränen hatte ich nicht schon vergossen in der Stille meines Kämmerleins, und die Thür hatte sich nicht aufgethan, und sie war nicht hereingeglitten, hatte sich nicht auf den Bettrand gesetzt und mitleidsvoll gefragt:
Kind, was weinest du doch?
Ja, die Religion verbot es ihr, die katholische, grausame, welche die Ketzer zu Tausenden verbrannt hatte und schöne Jungfrauen als Nonnen in ein dumpfiges Kloster sperrte, und wenn die Unseligen sich wieder hinaussehnten in die Sonne zu den Menschen, lebendig einmauerte.
War meine Mutter eine Nonne?
Ich wußte, daß sie ihre Nachtwachen und ihre Fasten mit grausamer Strenge hielt; daß sie nur geistliche Bücher las, nur geistliche Lieder sang; daß selbst die Teppiche und Tücher, an denen sie in den freien Stunden stickte, für Kirchen und Kapellen bestimmt waren. Aber Nonnen lebten doch nur in einem Kloster, und gesetzt auch, sie durfte draußen leben, weil wir in unserer Stadt und in unserer Provinz, soviel ich wußte, vielleicht im ganzen preußischen Lande (was ich nicht wußte) keines hatten — Nonnen durften doch nicht verheirathet sein, was doch die Mutter war! und durften gewiß keine Kinder haben, und ich war doch ihr Kind! Und wenn ich nicht das Kind des alten guten Mannes da hinten in der Werkstatt, wenn er nur mein Stiefvater, wie er an jenem Morgen zu dem Major gesagt hatte, — einen wirklichen Vater mußte doch jeder Mensch haben — soviel wußte ich nun mittlerweile auch — wer aber war dann mein Vater gewesen?
Hier hätte ja nun scheinbar nichts näher gelegen, als daß ich mich mit dieser Frage vertrauensvoll an meinen Stiefvater gewandt hätte; in Wirklichkeit lag nichts ferner — wenigstens für mich. Es war mir einfach unmöglich. Er hätte es wahrlich nicht um mich verdient. Er, der mich, solange ich denken konnte, mit der rührendsten Sorgfalt gehegt und gepflegt — noch in meiner letzten schweren Krankheit, — der nie, nie einen unfreundlichen Blick, ein rauhes Wort, immer nur Liebe und Güte und herzlichen Zuspruch für mich gehabt hatte; ja, dessen Liebe zu mir auf Kosten der Liebe zu seinen beiden rechten Kindern von Jahr zu Jahr gewachsen war — ihn hätte ich fragen sollen: wer war der Mann meines Traumes mit den blitzenden Augen, vor dem meine Mutter und ich auf den Knieen gelegen in jener Nacht, in die er uns hinaustrieb aus dem goldschimmernden Raum mit den geheimnißvollen Gesichtern und Gestalten unter die flimmernden Sterne, die plötzlich vor dem klappernden Berge in dem Fürchterlichen erloschen, das ganz schwarz war und sauste und brauste?
Ich hätte ebenso wohl ein kleines Kind mißhandeln, ein hilfloses Thier quälen können, als ihn mit der Frage angehen, wenn ich ihn, der emsig weiter schaffte, auf meinem alten Kinderplatze in der Werkstatt sitzend, still beobachtete, oder er mir jetzt, für einen Moment rastend, mit dem schwermüthigen Lächeln um den guten Mund und in den treuen blauen Augen freundlich zunickte:
Ist es gut gegangen in der Schule, Kind?
Ja, Vater, aber mit der Mathematik wird es immer schlimmer.
Und ich erzähle ihm getreulich all’ meine Schulleiden und Freuden. Und daß ich einen großen Respekt vor unserem Ordinarius, Herrn von Hunnius habe, der in Wirklichkeit ein Böhme sei, von dem die Jungen aber sagten, daß er von den Hunnen abstamme, und der auch wie ein Hunne aussehe mit seinen wirren krausen Locken und seiner aufgestülpten Nase, aber Latein spreche, wie Wasser, und bei dem man tüchtig was lernen könne, wenn man nur aufpasse. Und von Ulrich von Vogtriz, der neu hinzugekommen und mit seinen sechzehn Jahren so groß und stark sei wie ein Mann. Sei aber sonst ein guter Junge trotz seiner Täppigkeit. Es sei auch noch ein Vogtriz gekommen, aber älter als Ulrich und gleich nach Prima, und beide seien von der Ritterakademie auf der Insel und Neffen des Majors und bei dem Direktor selbst in Pension.
So mochte ich stundenlang sprechen, ohne daß der gute Vater je müde geworden wäre zuzuhören. Im Gegentheil: wie er des Kindes treuer Hüter und bester Spielgesell gewesen war, indem er dem schweifenden Triebe erst die feste Richtung, den zerflatternden Phantasieen Form und Gestalt gab, so nahm er jetzt denselben innigen Antheil an allem, was der Knabe erlebte und erstrebte, und sein einziger Kummer war, daß er mir bei den Exercitien und den vertrackten Exempeln nicht mehr so ausgiebig helfen könne, wie beim Bogenschnitzen und Drachenkleben oder bei dem Bau des Kaninchenpalais oder der Errichtung des Vogelhauses. Und wenn ich früher gemeint hatte, daß er trotz aller Theilnahme an meinem Wohl und Wehe doch für die brennende Frage meines jungen Lebens kein Verständniß habe, so war ich mittlerweile eines andern belehrt worden. Darüber belehrt worden, daß ich an dem Treuen auch in dem Leide meines jungen Lebens einen Gefährten habe, dessen weiches Herz sich in diesem Leide verzehrte, wie die Kerze in der Flamme.
Ein sonderbarer Zufall hatte mir diese Entdeckung gebracht.
Neben der Werkstatt nach dem Wohnhause zu war ein kleines Gelaß, das seinen einzigen Eingang nach der Werkstatt hatte und von oben durch ein schräg gestelltes Fenster sein kümmerliches Licht empfing. Es hatte keine Dielen, sondern einen von Alter zermürbten, in wirren Spalten klaffenden Estrichfußboden und war, wenn schon im Sommer kühl, so im Winter bitter kalt, denn der kleine Kanonenofen in der Ecke wurde selten oder nie geheizt. In der anderen Ecke, unter dem schrägen Fenster im Dache, stand ein altes Stehpult, dessen Klappe man aufheben mußte, um zu dem darunter befindlichen Kasten zu gelangen. An diesem Pult besorgte der Vater seine wenigen Schreibereien. Sonst war nur noch Platz für einen ebenfalls alten Schrank, in welchem seine paar besseren Kleider hingen (die er kaum jemals anzog), einen großen Koffer voll allerlei Kram, und ein niedriges schmales Gurtenbett mit einer durchgelegenen Seegrasmatratze, über welche eine wollene Decke gebreitet war, die der Vater einst als überschüssiges Exemplar einer Pferdedecken-Lieferung vor langen Jahren von Nachbar Hopp – das Hopp’sche Zeichen „H. H.“ schmückte in jetzt halb verblichenen großen rothen Buchstaben den einen Zipfel – für ein Billiges erstanden hatte. Die drei gekalkten Wände (die vierte nach der Werkstatt zu war nur ein bretterner Verschlag) entbehrten jeglichen Schmuckes, man hätte denn die drüberhin zerstreuten Feuchtigkeits-Flecke, in denen ich bald — je nach der Laune — Drachen und sonstige Ungeheuer, oder die vielgezackten
Ufer vom Meer umflutheter, von der Brandung umtobter Robinson-Eilande sah, als solche nehmen wollen. Ein armseliges, trauriges Gemach, das ich dennoch kaum jemals ohne ein Gefühl betrat, welches ich mir damals nicht recht klar machen konnte: jenes Gefühl zugleich ehrfürchtiger und neugieriger Scheu, mit welchem, glaube ich, gutgeartete Kinder immer das Zimmer des Vaters betreten, und in das sich bei mir nur noch eine Empfindung des Mitleids mischte, oder, wenn das zu viel ist: des Bedauerns, daß der gute Vater es nicht einmal, daß er es lange nicht so gut hatte wie ich. Denn war mein Kämmerchen unter dem Dache auch nicht minder klein, es hatte doch blaue Tapeten mit zahllosen kleinen Blumen, in denen man bei einigem guten Willen Rosen und Rosenknospen erkennen konnte, ein handgroßes Spiegelchen über der Kommode, auf der meine kleine Bibliothek in Reih und Glied stand, und vor dem Fenster einen Kornelkirschbaum, der unten längst ausgegangen war, aber auf den obersten Zweigen im Spätfrühling noch Blätter trieb und manchmal sogar Knospen, nur daß die Früchte nie reif und selbst von den Spatzen als zu bitter verschmäht wurden. Das Gemach hinter der Werkstatt nun gar mit dem Zimmer zu vergleichen, welches (nebst einer daran stoßenden Schlafstube) den oberen Stock des Hauses ausmachte und von der Mutter bewohnt wurde, kam mir niemals in den Sinn. Es verstand sich für mich von selbst, daß sie für ihr Theil so viel Raum hatte als die übrige Familie, selbst zur Zeit, da die Großmutter noch lebte und die Brüder im Hause waren, zusammengenommen; und wenn ich über ihre Schwelle nicht in ein klösterlich einfach ausgestattetes, niedriges Zimmer mit drei kleinen gardinenverhängten Fenstern, sondern in einen prachtvollen Königssaal oder meinetwegen auch in einen hohen, von magischem Dämmerlicht durchflutheten Kirchenraum getreten wäre –– es würden in meinen anbetenden Augen die rechten Räume für die Einzige, Unvergleichliche gewesen sein.
Es war an einem Sonnabend-Nachmittage im Winter. Ich saß bei dem Vater in der Werkstatt und erzählte ihm von der ersten Konfirmationsstunde, die ich heute Morgen bei Pastor Renner, dem neuen Prediger an der Johanniskirche, gehabt hatte. Ich war in großem Eifer, denn, was ich da gehört, hatte mein Innerstes gar mächtig aufgeregt. Der Pastor, schien es, hatte die jungen Seelen gleich scharf angreifen wollen und von der Nachfolge Christi gesprochen, in die wir jetzt alles Ernstes zu treten hätten, und den Bedingungen, unter denen diese Nachfolge, an welcher das Heil unserer Seele hänge, einzig möglich sei. Daß zu den ersten dieser Bedingungen das Aufgeben der irdischen Schätze gehöre, – dagegen hatte der Fünfzehnjährige nichts einzuwenden, dem die Erinnerung an seine weißen Kaninchen längst schattenhaft geworden war und der die Grabstätte der vermauserten Dohle, der letzten Bewohnerin des Vogelhauses, unter den Haseln auf dem Wall mit Sicherheit nicht mehr anzugeben vermochte. Aber der Pastor hatte auch von einem Besitz gesprochen, auf welchen jenes Wort von dem Rost und den Motten nicht gemünzt, der im Gegentheil an und für sich höchst wünschenswerth, ehrwürdig und heilig sei und dennoch anfange, zweifelhaft und bedenklich zu werden, sobald es sich um den Ruf handle, dem wir folgen müßten, und mit dem die Stimmen derer, die wir auf Erden am meisten liebten, nicht oder doch nicht immer im Einklang seien: die Stimme des Vaters, der Mutter, der Brüder, der Schwestern. Denn es stehe geschrieben: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht werth. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht werth.“
In meinem trefflichen Gedächtnisse hatte ich alles, wie es der beredte Geistliche in feuriger Rede vorgetragen, treulich behalten; den angeführten Spruch hatte ich auch schon vorher gekannt. Und während ich nun, ohne es zu wollen und zu wissen, des Geistlichen Ton und Sprechweise nachahmend, das Gehörte recitirte, klopfte mein Herz wieder vor Zweifel und Unwillen.
„Und das kann ich nicht glauben,“ rief ich; „und das ist auch nicht für uns; das ist bloß für die Katholiken.“
„Wieso für die?“ fragte der Vater, ruhig weiter arbeitend.
„Weil die einander überhaupt nicht lieben dürfen.“
„Das habe ich nie gehört,“ erwiderte der Vater kopfschüttelnd; „das kann auch nicht so sein.“
„Und doch ist es so,“ rief ich, „denn, wenn es nicht so wäre, wenn sie einander lieben dürften, wie ich Dich liebe und Du mich liebst, weßhalb –“
Ich hatte jäh abgebrochen; der Vater schaute ein wenig erstaunt auf.
„Nun?“ fragte er.
Sollte ich es ihm sagen, mein trauriges Geheimniß? Aber wie durfte ich es, wenn er es nicht einmal ahnte? seine blauen Kinderaugen mich so ruhig freundlich anblickten?
Aber plötzlich ging eine Veränderung in den Augen vor: ich sah es deutlich. Der freundliche Blick wurde trüber und ernst und irrte verlegen ab und wandte sich dann wieder auf mich mit einem Ausdruck halb des Schreckens und halb des Mitleids, während ich mit brennenden Wangen da saß und starren Augen, aus denen Thränen brechen wollten.
Die sonderbare Scene wurde durch einen Kunden unterbrochen, der in die Werkstatt kam, eine Rechnung zu fordern, nach welcher er schon mehrmals vergeblich geschickt habe. Der Vater bat um Entschuldigung: er habe gerade in den letzten Tagen so viel zu thun gehabt; die Rechnung solle sofort ausgeschrieben werden. Aber der Mann, der sehr laut sprach und heftig gestikulirte, hatte keine Zeit zu warten; habe auch noch zu Herrn Hopp zu gehen, von dem man ebenfalls keine Rechnung bekommen könne, wolle in einer Viertelstunde wieder kommen, Damit war er wieder davon gestürzt.
Ich hatte mich bereits auf einen Wink des Vaters in die Kammer begeben, die Rechnung zu schreiben. Ich besorgte dies Geschäft jetzt öfter für den Vater. Es war einfach genug: „Ein Sarg mit Zuthaten so und so viel“, je nach der Größe, bloß daß die Särge der Armen immer ein gut Theil billiger waren.
In der Kammer war es bereits dämmerig, indessen noch hell genug, um schreiben zu können. Aber in meiner Erregung verdarb ich ein paar Blätter und mußte nach reinem Papier in dem Kasten des Stehpultes suchen. Ich fand nicht sogleich welches, und als ich hastig und ungeschickt weiter kramte, kam mir, ich weiß nicht wie, ein kleiner Gegenstand in die Hände, deßgleichen ich noch nicht gesehen hatte, wenigstens sicher ncht so schön und kostbar: ein oblonges goldnes Kapsel-Medaillon mit einem verschlungenen Namenszuge auf der einen und einem in Email ausgeführten Wappen auf der anderen Seite. Habe ich die Feder absichtlich berührt, ist es von selbst aufgesprungen, ich wüßte es nicht mehr zu sagen. Ich weiß nur, daß mich ein jäher Schrecken durchzuckte, als ich in dem Bilde der Dame, welches es enthielt, meine Mutter erkannte. Nicht auf den ersten Blick, denn ich hatte sie nie anders als in einem schwarzen Kleide gesehen, das ihre zierliche schlanke Gestalt bis an den Hals umschloß, während ein schwarzer Spitzenschleier das braune gescheitelte Haar bedeckte und, unter dem Kinn leicht geschürzt, das köstliche Oval des blassen anmutigen Gesichts umrahmte, und hier sah ich sie mit freiem, eigenthümlich an den Schläfen bauschig toupirtem Haar, welches im Nacken zusammengenommen war, aber nicht so fest, daß nicht ein paar flatternde Locken sich rechts und links über die runden Schultern auf den Busen gestohlen hätten; um den Hals eine Perlenschnur, Perlengehänge in den zierlichen Ohren; das holde Antlitz, das ich niemals auch nur hatte lächeln sehen, ganz durchglänzt von Heiterkeit, die sich doch wieder in den strahlenden braunen Augen zu koncentriren schien; die rosigen Lippen des entzückenden Mundes leicht geöffnet und auch wieder gerundet wie zu einem zärtlichen Kuß.
Es mußte ein Maler ersten Ranges gewesen sein, der in dieses kleine Rund diese Welt von Anmuth und Schönheit zu bannen verstanden hatte; aber davon wußte meine junge Seele ja nichts, so wenig wie von der Welt, zu deren Vorrechten es gehört, in dem Glanz und Zauber solcher Anmuth und Schönheit zu schwelgen, sich zu berauschen, zu rasen, so lange bis – ach! ich wußte ja nichts, als daß meine Mutter so wonnig hatte lächeln können und diese strahlenden Augen mir nie geglänzt hatten, diese holden Lippen mich niemals hatten küssen wollen!
Und nun brachen die Thränen, deren ich mich vorhin nur noch eben enthalten, in Strömen aus meinen Augen; und, mir das Taschentuch gegen das Gesicht drückend, daß der Vater mein Schluchzen nicht hören möge, weinte ich, über das Pult gebeugt, das Medaillon in der herabhängenden krampfhaft geschlossenen Linken.
Ich hatte ihn nicht kommen hören und sehen, aber ich fühlte plötzlich, daß der Vater neben mir stand. Ohne aufzublicken und nur noch heftiger weinend, hielt ich ihm das Medaillon hin. Er nahm es mir schweigend aus der Hand, ohne ein Wort zu sagen. Ich sah durch die geschlossenen Augen, während ich, jetzt leiser, weiter schluchzte, wie er das Bild betrachtete, und fühlte nun, daß seine Augen sich zu mir hoben. Ich blickte empor. Seine Augen ruhten auf mir schmerzensreich, unendlich mitleidsvoll.
„Sie hat mich nie geküßt!“ schrie ich und stürzte mich an seinen Hals.
Er drückte mich fest an seine Brust, die sich stürmisch hob und senkte. Und dann brach aus der treuen verschwiegenen Brust ein Stöhnen, das mich erschreckte. Ich wollte mich aus seinen Armen lösen; aber er preßte mich nur noch heftiger an sich. Ich sollte die Thränen nicht sehen, die der verlassene, liebekranke Mann auf das Haupt des verlassenen, liebekranken Knaben weinte.
Seit jenem Winternachmittage war in meinen Gefühlen zur Mutter eine Wandlung eingetreten. Nicht, als ob ich sie nicht noch geliebt hätte ich hätte ebensowohl aufhören können zu athmen – aber in meine Liebe hatte sich ein Etwas gemischt, das ich früher nicht gekannt hatte. Mir war es früher nur als ein Verhängniß erschienen, daß ich von ihr nicht geliebt wurde, jetzt fing ich an, darin ein Unrecht zu erblicken, welches sie mir anthat. Ich wäre darauf sicherlich nicht für mein Theil verfallen. Aber ich hatte mein Leid in dem des Vaters wie in einem Spiegel gesehen, und es stand nun in einem anderen, klareren Lichte vor mir. War doch, was da an dem guten Vater geschah, das baare Unrecht. Warum war sie seine Frau geworden, wenn sie nichts mit ihm zu schaffen haben wollte? ihn sich von Morgen bis in die Nacht hinein in der dunklen Werkstatt abmühen ließ, ohne ihm ein freundliches Wort, einen freundlichen Blick zu gönnen, ja, ohne ihn tage-, was sage ich! wochenlang auch nur zu sehen? Denn sie nahm, was sie früher wenigstens nicht gethan hatte, jetzt auch ihre Mahlzeiten allein, und das Geschirr, dessen sie sich dazu bediente, durfte von Niemand sonst benutzt werden, als wenn eine Berührung von anderer Hand es verunreinigt haben würde. So durfte ich auch, wenn ich zu ihr kam, nur immer auf einem bestimmten Stuhle sitzen, den ich dann in eine Ecke zu tragen hatte, wo ich ihn das nächste Mal wieder vorfand – ein für sie unbrauchbares, durch mich entheiligtes Möbel. Der Vater sagte: „Es liegt in ihren Nerven. Sie hat einmal ein schweres Unglück gehabt, das sie in eine lebensgefährliche Krankheit warf. Davon ist sie nie wieder völlig genesen, und nun treten die schlimmen Folgen nur deutlicher auf. Wir müssen Mitleid mit ihr haben.“
Ach, er hatte ja mit aller Kreatur Mitleid. Mit einer Fliege, die er sorgsam aus der Schale Wasser rettete und in die Sonne setzte; mit einem zertretenen Wurm im Wege, den er lieber, so schwer es ihm ankam, selber tödtete, damit das arme Geschöpf nicht länger sich zu quälen brauchte! Wie sollte er nicht Mitleid haben mit ihr, welche er, wie ich jetzt weiß und damals wenigstens ahnen konnte, mit der Gluth eines Jünglings hoffnungslos liebte?
Woher ich das ahnen konnte?
Aber hatte es sich denn nicht auch bereits, ihn jetzt mit verwunderter Neugier, jetzt mit ahnungsvollem Bangen erfüllend, in Sinnen und Herzen des Knaben-Jünglings zu regen begonnen? und war jenes Bild der Mutter und die heißen Thränen, die er bei dem Anblick desselben vergossen, für sein junges Herz nicht gewesen, was ein Frühlingsgewitter für die sprossende dürstende Saat?
[57] Ich hatte das Bild meiner Mutter nicht wieder gesehen und scheute mich, den Vater zu bitten, es mir noch einmal zu zeigen. Es bedurfte dessen auch nicht, denn, als wäre es nun in meiner Seele, sah ich es vor mir mit den kleinsten Eigenheiten, sobald ich nur die Augen schloß. Besonders des Abends vor dem Einschlafen. Sogar des Nachts im Traum; nur daß ich es dann nicht festzuhalten vermochte, wie im Wachen, sondern es sich verwandelte, immer wieder in weibliche Gestalten: in Frau Hopp oder ihre Tochter Christine, die mir im Alter gleich war, oder in Frau Israel oder Jettchen. Und am Tage, wenn ich ihnen begegnete, sah ich sie, von denen ich geträumt hatte, mit scheuen Augen darauf an, ob sie mir wohl was sie doch im Traum gethan, einen Kuß geben würden, wenn ich sie darum bäte.
Denn dies, ein einziges Mal von einem weiblichen Munde geküßt zu werden, war bei mir zur fixen Idee, zu einem Verlangen geworden, das mich verfolgte, wie den Gelehrten, den Dichter das Problem, dessen Lösung ihnen vorschwebt, nur daß sie die fliehende, zerflatternde nicht ergreifen und festhalten können. Mein Problein wäre scheinbar leicht zu lösen gewesen: das Mädchen, das unsere kleine Wirtschaft besorgte, war ein hübsches leichtfertiges Ding mit blitzend weißen Zähnen in dem immer lächelnden großen Munde und großen grauen begehrlichen Augen. Sie hätte mich sicher geküßt, wenn ich sie darum bat, ja, es fehlte nicht viel, so hätte sie es ungebeten gethan; aber ich hatte sie einmal des Abends in der Dämmerstunde auf dem Wall zwischen den Haselbüschen den tollen August küssen sehen – von ihr wollte ich keinen Kuß. Und wenn ich es mir recht überlegte, von den Anderen auch nicht. Am wenigsten von Frau Israel, deren kleine kurzsichtige Augen beständig zwinkerten und stets etwas geröthet waren, und in deren Munde zwei obere Schneidezahne über die Unterlippe so weit vorragten, daß ich alles Ernstes zu überlegen begann, ob die gute Frau beim besten Willen wirklich einen Kuß geben könne und Emil, der „oft“ von ihr geküßt sein wollte, nicht aus Pietät gelogen habe. Bei Frau Hopp waren dergleichen Ausstellungen nicht zu machen; auch wußte ich, sie würde den armen Jungen aus reiner Gutherzigkeit so oft geküßt haben, wie er wollte. Aber gerade das war es. Ihr Kuß hätte mir immer noch viel höher gestanden, als der der hübschen Marie; aber ein rechtes Verdienst wäre doch dabei nicht gewesen. Sie küßte eben Mann und Kinder, Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen – alles, was ihr in den Weg kam. Und dann, sie hatte ihr dickes blondes Haar nie ordentlich gemacht und trug beständig ausgetretene Schuhe. Und darin glich ihr Christine wie ein kleineres Ei dem größeren, nur daß dazu der Wildfang immer ein Kleid anhatte, das irgendwo aus der Naht geplatzt und ebenso irgendwo zerrissen und – wenigstens während des Sommers – mit den
Flecken derjenigen Kirschen betupft war, die gerade reif standen, und die sie sich mit Vorliebe selbst aus den Bäumen holte.
So blieb denn freilich niemand übrig, als Jettchen Israel, und sie war es, welche ich als Königin auf den leerstehenden Thron meines Herzens setzte. Nicht ohne einiges Zaudern. Denn in Wirklichkeit trug ich nicht das mindeste Verlangen danach, gerade von ihr geküßt zu werden, worauf es mir doch, als auf die Lösung des Problems, in erster Linie ankam. Aber eben weil der Preis des Sieges ein rein idealer war – die Tilgung eines Unrechts, das an mir geschah, und das ich immer mehr als eine Schmach zu empfinden begann – desto rühmlicher schien mir der Sieg, desto heroischer der Kampf. Es war die reine Don-Quixoterie. Der edle Don ist ja nicht blind, er sieht die Windmühlen, er sieht die Schafheerde, so gut wie Sancho; aber er will sie nicht sehen; sie sollen nicht sein, was sie sind; sie sollen das sein, wozu er sie macht und machen muß, oder er ist nicht der Ritter ohne Furcht und Tadel, der eine aus den Fugen gegangene Welt einzurichten hat, sondern mag ruhig nach Hause gehen und mit seinem Sancho Kohl pflanzen und Schweine hüten.
So sah ich denn auch Jettchen vollkommen, wie sie war: ein in seinem Wachsthum verkümmertes, linkisches, verschüchtertes Mädchen, das, wenn sie sprach (was sie selten that), stark lispelte und dazu mit ihren sanften scheuen braunen Augen überall hinblickte, nur nicht auf den, welcher mit ihr redete. Aber ich wollte sie so nicht sehen; in meines Geistes Aug’ war sie die Rose von Saron, eine schlanke Palme in der Wüste, ein Reh, das unter Lilien weidet; war sie vor allem Rebekka, die Tochter Isaak’s von York. Hieß doch ihr Vater wirklich Isaak und konnte ich mir doch einbilden, daß in den stets verschlossenen Räumen des oberen Stockes im Giebelhause all’ die märchenhaften Schätze aufgehäuft waren, welche das Auge des treuen Schweinehirten blendeten, als sich ihm die Geheimnisse des Judenhauses in York öffneten. Da zu der Rebekka selbstverständlich ein Ivanhoe gehörte, so war ich offenbar der nächste zu dieser rühmlichen Rolle, in die ich mich mit um so größerer Leidenschaft warf, als ich bald heraus fand, daß sie nicht minder schwierig als rühmlich sei. Denn woher in aller Welt die belagerte Burg nehmen, in deren Erkerzimmer die schöne Jüdin den kranken Helden pflegt (während der grimme Front de Boeuf ihren altem Vater auf einem Rost braten will)? woher das stolze Templerschloß, in dessen Hof ich um sie, die bereits auf dem Scheiterhaufen steht, auf Tod und Leben mit dem wilden Templer kämpfe? Es fehlte eben in traurigster Weise an allen und jeden Requisiten, aber wann hätte sich ein Knaben-Jünglingsherz durch den Mangel an dergleichen Kleinigkeiten irre machen und von seinem Ziele abschrecken lassen! Zuerst konnte ich noch immer indirekt dadurch mich als Jettchens Ritter erweisen, daß ich ihren Bruder vor seinen diversen Feinden in Schutz nahm, und das that ich denn auch auf die geringste Veranlassung hin in so übertriebener Weise, daß ich mit meiner Freundschaft für den „Judenjungen“ binnen kurzem zum Gespött der gesammten Sekunda geworden war. Sodann, wenn die Abenteuer dem Helden nicht in den Weg kommen wollen, muß er sie eben aufsuchen und bei dem Bestehen derselben daran festhalten, daß er mit jeder kühnen That, auch wenn die Beziehung auf seine Dame unerfindlich ist, doch stets seiner Dame dient und einen Schritt weiter thut auf dem steilen und rauhen Wege zu dem erhabenen Ziel.
So war es ein steiler Pfad, den ich auf Wendeltreppen und Leitern mit dem „Mallen Heinrich“ bis auf die oberste Galerie des Nikolaithurms hinaufklomm und weiter bis in die höchste Spitze unter dem Wetterhahn. Das Letztere aber that ich mit ganz augenscheinlicher Gefahr meines jungen Lebens, weil der „Malle Heinrich“ von der Galerie aus, trotzdem die Sonne glorreich leuchtete und eine große Flucht Tauben den Thurm umkreiste, so weit er auch die blöden Augen aufriß oder mit den zugekniffenen in die Sonne blinzelte, keine Spur von blauen, grünen und rothen, Ringel-ringel-rosenkranz tanzenden Engeln entdecken konnte. Ach, er entdeckte sie auch oben durch die schmale Luke unter dem Wetterhahn nicht und fing, während er da auf der Leiter hockte (die ich der sehr fraglichen Sicherheit wegen unten hielt), so bitterlich an zu weinen, daß mir vor Mitleid mit dem armen Menschen und vor Sorge um ihn (und auch wohl ein wenig um mich), trotzdem ein fürchterlicher Wind durch die Ritzen pfiff, der helle Angstschweiß von der Stirn tropfte und ich trotz meines Heldenthums Gott dankte, als wir endlich aus der wackelnden Thurmröhre heraus und die Leitern und Treppen hinab wieder unten auf dem grasdurchwachsenen Pflaster des Kirchhofs standen.
Und rauh war auch der Pfad, den ich mit Fritz Brinkmann (Kutscher Brinkmann’s Sohn) gegen Sturm und Wellen nach unserm Ankerplatz unter dem Wall an einem dunkeln Herbstabend zurückkreuzte. Fritz Brinkmann, mit dem ich das alte halbverrottete Boot in wochenlanger Arbeit kalfatert und segelfertig gemacht hatte, war der Meinung gewesen, wir sollten uns zu der Probefahrt einen stilleren Tag mit Nord-West wählen, da wir heute bei dem scharfen Südost leicht zu weit vom Lande ab- und in die See treiben konnten, auch wenn sich „die“ Boot regieren lasse, was er für sein Theil noch gar nicht beschwören wolle. Das war gewiß sehr verständig, und da Fritz bereits Halbmatrose war (sein Schiff lag im Hafen, um Israel’schen Weizen nach England einzunehmen), so mußte er die Sache auch kennen. Aber wo wäre das Abenteuer geblieben, wenn man die Gefahrlosigkeit des Unternehmens beschwören konnte! So that er mir denn den Willen (wie ich auch sonst das fragliche Glück hatte, die Menschen mir leicht willfährig zu machen), und wir segelten stolz aus unserer Bucht, um drei Stunden später, nachdem wir Mast und Segel verloren, heimzukehren, dem Tode nur um eines Haares Breite entronnen und von der fürchterlichen Arbeit des Ruderns so erschöpft und zerschlagen, daß, als wir „die“ Boot endlich wieder auf den Strand gezogen hatten und nun vom Strand aus den Wall hinauf mehr krochen als schritten, die verthierten Piraten, welche ich so oft an eben dieser Stelle bekämpft, Mitleid mit den armen Schiffbrüchigen gehabt haben würden.
Wenn ich nun so die Genossen zu meinen Abenteuern nahm, wie diese selbst, aus dem Stegreif, so bleiben jene Streifereien in meiner Erinnerung die herrlichsten, wo ich auszog, Niemand zur Begleitung als meine allzeit geschäftige Phantasie. Und ich dann, müde vom Umherstreifen, im dichten Forste dem Winde lauschte, der in feierlichen Cadenzen durch die hohen Fichtenwipfel strich, hingelagert am Rande des Grabens, in dessen braun-klarem Wasser die Käfer geschäftig ruderten, während das Abendroth immer tiefer zwischen den dunklen Riesenstämmen entglomm und am grünlichen Himmel über dem Walde die goldene Sichel des Mondes heller erglänzte, den Träumer zur Heimkehr mahnend, und nun dem Heimkehrenden, ehe er sich’s versah, die Nacht hereinbrach, die ihm vertraute Gegend in Dunkel und Geheimniß hüllend, aus der die Möglichkeit aller Gefahren von rechts und links hervorzulugen und zu wispern schien, und der melancholisch ahnungsvolle Ruf der wilden Schwäne, die unsichtbar hoch über ihm gen Süden zogen, in seinem jungen Herzen ein Bangen und Sehnen wachrief nach einem Glück jenseit der Erdenschranken, für das Menschenworte keinen Ausdruck haben.
Und für das er nun doch, war er in sein Kämmerchen zurückgekehrt, beim Schein des Lämpchens über Büchern und Papier nach einem Ausdruck suchte in holperigen Versen und unreinen Reimen, die, wenn sie keine Poesie waren (für die er sie hielt), im Gebiet der Prosa gewiß ebenso wenig eine Stelle fanden.
Bei diesem ritterlich-poetischen Mühen war nun das eigenthümlich, daß ich über den Mitteln anfing das Ziel aus dem Auge zu verlieren. Apoll schien mir zuzuwenden, was Amor, in dessen Dienst ich mich doch wußte, nicht gewähren mochte, bis der Gott seinen Heiligen doch auf einem seiner wunderbaren Wege dahin führte, wohin er selbst nun schon gar nicht mehr wollte.
Es war an einem Frühlingstage in der Dämmerstunde. Ich war drüben bei Israels. Der Vater Isaak arbeitete in seinem Komptoir, die Mutter schaffte in der Küche an dem bevorstehenden Abendessen, Emil war auf irgend eine Kommission in die Stadt geschickt, so war ich mit Jettchen allein in der Wohnstube, wo es niemals sehr hell war und jetzt schon zu dunkeln begann. Ich erinnere mich nicht, mit ihr jemals vorher allein gewesen zu sein; aber ich kann nicht sagen, daß mir deßhalb heute das Herz lebhafter klopfte. Im Gegentheil: ich dachte gar nicht an sie, sondern saß in meine Träumereien verloren da, während sie an dem klappernden Klavier leise, wie um mich nicht zu stören, phantasierte. Sie hätte mich gern stören mögen: es waren keine goldenen Träume, die mich umgaukelten. Ich hatte die Mutter wieder einmal eine volle Woche nicht zu Gesicht bekommen, und seit einigen Tagen war auch der Vater, verstimmt über eine dringende Arbeit, die ihm mißrathen war, gegen seine Gewohnheit theilnahmlos oder zum mindesten wortkarg für mich gewesen. Ich fühlte mich allein und verlassen wie noch nie in unserm einsamen Hause und war eben deßhalb hinüber zu Israels geflüchtet. So, in mich hinein brütend, hatte ich Jettchens Gegenwart und ihres Spiels gar keine Acht mehr gehabt, als sie plötzlich zu singen begann. Ich hatte sie noch niemals singen hören, und das war es auch wohl, was mich aufhorchen machte. Sie sang mit ganz leiser, überaus zarter Stimme, daß es wie Schwalbengezwitscher war und nur durch die rhythmische Folge und herrliche Reinheit der Töne zu Menschengesang zu werden schien. Auch verstand ich erst, trotzdem ich ihr ganz nahe saß, den Text nicht, bis auch der dem betroffen Lauschenden zum Bewußtsein kam: ein Lied, das ich nie zuvor gehört hatte und seitdem nie wieder gehört habe, ohne voll Rührung jener Stunde zu gedenken, das schöne Volkslied von jenem Armen, der sich so allein und verlassen weiß „wie der Stein auf der Straßen“. Wie paßte das doch so sonderbar auf mich und in meine Stimmung! Ich saß da mit starren Augen und klopfendem Herzen und regte mich nicht, als sie jetzt endete und die zarten Hände von den Tasten auf den Schoß gleiten ließ. Ein paar Momente blieben wir so still neben einander, bis sie auf einmal die Hände vor das herabgeneigte Gesicht drückte und bitterlich zu weinen anfing.
„Warum weinest Du, Jettchen?“ fragte ich erstaunt.
„Weil auch Du so allein und verlassen bist,“ flüsterte sie.
Das Wort, das ich nicht erwartet hatte, traf mich ins Innerste.
„Jettchen“ stammelte ich.
„Du armer Junge!“ rief sie schluchzend.
Und plötzlich hatte sie mich, der ich in meiner Erregung vom Stuhl aufgesprungen war, mit beiden Armen umschlungen und mich geküßt.
Und war dann, einem verschüchterten Vögelchen gleich, aus dem Zimmer gehuscht.
Ich aber stand an allen Gliedern zitternd da und suchte mir klar zu machen, daß Jettchen mich geküßt hatte, daß mich ein weiblicher Mund zum ersten Mal geküßt hatte.
So war denn das große Problem auf eine für mich völlig unerwartete Weise gelöst, und wirklich kam von jenem Abend an nach dieser Seite eine gewisse Beruhigung über mich. Die Ritterthaten im Dienst der unbekannten Herzenskönigin waren für die Zukauft unnöthig geworden; an Stelle der glänzenden Träume war die bescheidene Wirklichkeit getreten; die in so viel Gedichten angeschwärmte Geliebte hatte sich in eine Schwester verwandelt. Denn das war mir Jettchen geworden: eine Schwester und Freundin, von der ich wußte, daß sie in ihrer bescheidenen Weise an meinem Wohl und Wehe herzlichen Antheil nahm, und auf die ich deßhalb einen Theil des Vertrauens und der Liebe übertrug, welche ich bis dahin ausschließlich dem guten Vater entgegengebracht hatte. Daß ich in diesem Verkehr, wo ich im Grunde immer nur Rath heischte und das kluge Mädchen Rath ertheilte, viel mehr der Empfänger als der Geber war, bemerkte ich nicht. Ich sah für jetzt und später in dem allen eine Art von Herablassung meinerseits und wurde in diesem Hochmuth durch das schüchterne Kind bestärkt, welches jede Gutthat in Worten und Werken, die sie mir erzeigte, als eine Ehre darstellte, welche ich ihr erwies.
Wie dem aber auch sein mochte, ich hatte nun eine Schwester, die nicht meine Schwester war, wie ich einen Vater hatte, der nicht mein Vater war; und von denen ich doch nur Liebes und Gutes empfing, das einzige Gute und Liebe, das mein liebebedürftiges Herz als solches anerkennen wollte: ein kostbarer Besitz, an den ich mir nicht rühren lassen durfte, es sei auch, von wem es sei.
Und nun mußte jener feurige Prediger, zu welchem ich seit einem Jahre in die Konfirmationsstunde ging, gerade an dieses mein Heiligstes rühren und mit, ach! wie rauher Hand! Da ich ihm auch später auf meinem wirren Lebenswege begegnet bin, als er und ich andere geworden waren, ist es mir nicht leicht, mir sein Wesen von damals zu vergegenwärtigen – ich sehe ihn eben zu deutlich, wie er heute ist. Und ich meine, er war damals der bessere Mann, trotzdem mir durch ihn viel Leid angethan ist. Denn er that es mir jener Zeit an aus seiner Ueberzeugung heraus, zur Rettung meiner Seele, die er auf dem Wege, welchen ich trotzig gehen wollte, verloren sah.
Er war aber damals noch ein junger Mann, der Pastor Renner, wenn auch natürlich nicht in meinen so viel jüngeren Augen, mittelgroß, schlank mit einem von nächtlichen Studien bleichen Gesicht, das oft die tiefste Abspannung und Erschöpfung zeigte, bis es sich im Feuer der Rede wieder belebte und die trüben Augen unter den buschigen Brauen zu glänzen und zu glühen begannen. Wie er selbst von seinem nichts weniger als dumpfen Verstande jedes Opfer forderte, welches der Glaube erheischte, so schenkte er seinen jungen Zuhörern nichts – nicht die Forderung der Entsagung von jenem Wissen, das Stückwerk ist; nicht die Furcht vor dem Teufel, der umgeht wie ein brüllender Leu und suchet, wen er verschlinge. Nun schienen ja die übrigen Knaben, welche größtentheils aus der armen und rohen Bevölkerung der Hafengasse stammten, weiches Wachs in seinen starken Händen zu sein. Oder bestanden ihre Seelen auch nur aus jenem Stoff, von welchem der Dichter sagt, daß er „breit und nicht stark“ werde, man mag ihn treten, wie man will? Jedenfalls waren sie keine Fäuste, wenn sie sich auch weder vor Hölle noch Teufel fürchteten und von Skrupeln und Zweifeln irgend welcher Art völlig frei wußten. Sie saßen geruhig da, es mochten sich über ihnen die Himmel öffnen oder zu ihren Füßen der Abgrund gähnen; sagten ihre Artikel und Sprüche auf schlecht und recht und beantworteten die Fragen des eifrigen Lehrers je nach ihrer Fähigkeit, das Gehörte zu reproduciren, aber immer in seinem Sinne, das heißt, in dem Sinne, von welchem sie wußten oder muthmaßten, daß es der seine sei.
Mit mir hatte er einen schwereren Stand. Nicht als ob in meiner Seele nicht jenes Streben gewohnt hätte, sich dem Höheren, Unbekannten vertrauensvoll hinzugeben, und das wir mit dem Dichter „fromm sein“ nennen. Es wohnte mir sogar in einem vielleicht nicht gewöhnlichen Maße bei, und er erkannte es auch willig an. Aber ich hatte mich spät und nach langem bangen Bedenken zur Konfirmation entschließen können, stand mit meinen sechzehn Jahren im Begriff nach Prima versetzt zu werden, war ein guter Grieche und Lateiner, und der Herr Pastor meinte, meine religiöse Empfindung, das sei im besten Falle die Frömmigkeit der Heiden. Keinesfalls die echte christliche Frömmigkeit, der Glaube nicht, der Berge versetzen könne und das noch viel Schwerere vollbringe, uns bis an die Pforten des Himmels zu tragen, die sich freilich nur dem öffneten, der die Liebe habe. Und die doch eben wieder ohne den Glauben nicht die rechte Liebe sei, abermals nur die Liebe, wie sie etwa auch ein weiser Heide empfinden mochte: ein Sokrates, ein Platon; und die bei all ihrer relativen Würdigkeit an Werth unter der wahren christlichen so weit stehe, wie böhmisches Glas unter dem echten Diamanten. Ich vermochte nicht einzusehen, was doch der Glaube mit der Liebe zu schaffen habe; ich kannte solche, die jenen Glauben, von dem der Herr Pastor spreche, nicht hätten, und die doch die Liebe selber seien, und kannte wieder solche, die des Glaubens voll und dabei lieblos wären wie ein Stein.
Es war nicht das erste Mal, daß wir so an einander geriethen, natürlich nicht vor den anderen Konfirmanden, sondern nach der Stunde, oder zu einer besonderen, die er mir anberaumt hatte, um mir gewisse Fragen, die ich während des Unterrichts gestellt, gewisse Zweifel, die ich bescheidentlich geäußert, ausführlicher zu beantworten, gründlicher zu beseitigen, als es dort geschehen könne. So war es auch heute. Die Konfirmation sollte in Kurzem sein. Mein Geburts- und Taufschein waren nicht zu beschaffen gewesen. Der Pastor hatte darüber wegsehen zu wollen erklärt, aber es müsse zu einer Entscheidung kommen, ob meine Seele in ihrem dermaligen Zustande verharren dürfe, oder eine Wandlung in ihr vorgehen müsse, bevor ich zur Einsegnung würdig und reif sei.
Ich dachte aber, indem ich so hartnäckig auf der Möglichkeit einer derartigen glaubenlosen Liebe bestand, an den Vater, von dem ich, obgleich er mit mir nie von diesen Dingen gesprochen, zweifelte, daß er jenen Glauben habe, und an Jettchen Israel, die ihn doch, als Jüdin, in dem Sinne des Pastors gewiß nicht hatte.
Und ich dachte an eine, die ihre Tage in Beten und Fasten verbrachte, und sich wochenlang nicht darum kümmerte, ob ihr Kind lebte oder todt war.
„Nein, Herr Pastor“, wiederholte ich; „der Glaube hat mit der Liebe nichts zu schaffen.“
Er ging vor dem armen Sünder, der, die flachen Hände zwischen den Knieen zusammengeklemmt, auf seinem Stuhle saß, mit ungleichmäßigen Schritten in dem großen, von dem Schein einer Studirlampe mäßig erhellten Zimmer hin und her, bald die blutlosen Finger ringend, daß sie krachten, bald mit denselben durch das starre kurzgeschorene Haar fahrend; jetzt leise flüsternd, jetzt Unverständliches vor sich hinmurmelnd.
Plötzlich blieb er mitten im Gemache stehen und rief, die beiden Arme in gewaltsamer Bewegung nach oben schleudernd:
„Schweigen Sie! Ich darf das nicht hören, und ich will’s nicht hören! Wer bist Du, der Du ein Herz hast, Dein Ohr zu verschließen gegen die sanfte Stimme, die da sprach: kommt her zu mir alle! Der Du wagst, Dich aufzulehnen gegen die Autorität der Evangelisten und Apostel. eines Johannes, eines Paulus; gegen das Beispiel all’ der heiligen Männer, die früher und später, ihrem Meister folgend, die Kraft ihres Glaubens durch den Märtyrertod besiegelt haben? Und wenn Du, wie ich fürchte, bereits genascht hast von jener gräulichen Irrlehre, die im dem Buche der Bücher nicht Gottes Wort sieht, sondern ein profanes Werk, an dem man deuteln und kritteln kann, und mit ihnen sprichst: dies sei erwiesen und jenes nicht – sieh mich an, der ich kein Evangelist und kein Apostel und kein Heiliger bin, sondern ein sündiger Mensch, wie Du, und gezweifelt habe, wie Du, und der ich mich losgerungen habe von Zweifel und Teufel und von der Hölle, die mich schier verschlingen wollte, durch die Kraft des Gebetes! Und der ich Dich losringen will durch des Gebetes Kraft. Auf die Kniee! nieder, nieder auf die Kniee!“
Er hatte, meinen Arm packend, mich vom Stuhle zu sich auf die Kniee gerissen mitten im Zimmer auf die nackten Dielen und begann zu beten mit lauter, fast schreiender Stimme, während ich, halb in Schauder vor dem Feuereifer des Mannes, der mir wie Wahnsinn erschien, halb voll Unwillen über den Zwang, der mir offenbar angethan wurde – denn er hielt mich während der ganzen Zeit fest am Arm gepackt, außer ein paar Mal, wo er in höchster Ekstase die Hände zusammenkrampfte – wohl oder übel neben ihm auf den Knieen verharren mußte. Endlich ließ er mich los, indem er sich zugleich erhob und nach seinem Arbeitssessel schwankte, in welchem er, wie gebrochen, zusammensank.
Ich stand wieder auf den Füßen in einiger Entfernung von ihm, zitternd an allen Gliedern, nun von dem Anblick des fast Ohnmächtigen, der doch seine letzte Kraft für mich hingegeben hatte, zum ersten Mal während dieser sonderbaren Scene wirklich gerührt. Ich bin überzeugt, er hätte mich jetzt für ein einziges Wort haben können. Ich darf sagen, ich wartete nur auf das Wort, das mir die Brücke schlagen sollte von dem Unglauben, den ich frei geäußert, zu dem Glauben, welchen ich jetzt, da ich mir wie ein Gefangener und Gefesselter erschien, bekennen sollte.
Und plötzlich schnellte er, einer sich bäumenden Schlange gleich, aus dem Sessel auf und rief mit einer heiser zischenden Stimme:
„Was stehst Du da, wie der Feigenbaum an dem Wege, da der Herr wieder in die Stadt ging und ihn hungerte? Und fand nichts daran, denn allein Blätter. Weißt Du, was da der Herr zu ihm sprach? Weißt Du es?“
Er war unmittelbar vor mir, mich mit glühenden Augen anstarrend. Ich stand in dumpfem Schweigen. Er schrie, indem er mich an beiden Schultern ergriff und bei jedem Worte schüttelte:
„Weißt Du, was weiter geschrieben steht in selbigem Verse?“
Ich wußte es; aber verharrte in meinem Schweigen, nicht aus Trotz, denn ich fühlte mich bis ins Innerste erschüttert, nur daß mir die Zunge wie gelähmt war.
So vergingen ein paar bange Sekunden. Endlich vermochte ich zu stammeln:
„Lassen Sie mir Zeit!“
„Jetzt oder nie!“ schrie er. „Ja, oder nein?“
Ich wollte Ja sagen und wieder versagte die Zunge mir den Dienst. Er murmelte etwas durch die Zähne – es mochte der Fluch des Herrn sein, den auszusprechen er sich doch wohl scheute und stieß mich von sich. Ich wankte nach der Thür, ohne zu wissen, daß ich es that. Aber bevor ich sie erreichte, stand er wieder vor mir, mir den Weg vertretend, nicht mehr der eifrige zornige Priester, der trotz alledem mein Freund war – ein anderer Mann, den ich mir zum Feinde gemacht hatte, und dessen feindliche Gesinnung schon aus seinem Auge schielte, bevor er noch die zuckenden Lippen öffnete, um in bitterem Hohn zu sprechen:
„Und nun geht es hin, das Produktlein modernen Aufklärichts, in seines Vaters Werkstatt, des glauben- und kirchenlosen Mannes, sich die Särge anzusehen, in welchen die Todten ihre Todten begraben, sie, die auch einst erwachen werden, aber in der Hölle, und wird daselbst sein Heulen und Zähneklappen. Oder in das Haus nebenan zu schleichen, wo die Abkömmlinge derer wohnen, die den Herrn gekreuzigt haben, auf daß sie weiter tanzen können um das Goldene Kalb. Geh! Du bist des Einen und der Anderen werth!“
Er hatte mir Raum gegeben; ich wankte aus dem Zimmer, aus dem Hause und stand auf der Gasse, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war, es erst bemerkend, als der Nachtwind, der rauh vom Meere herauf kam, mir um die heiße Stirn, die glühenden Wangen strich, daß es mich schüttelte wie im Fieber.
Und wie im Fieber wankte ich weiter durch die dunkle Gasse, nicht nach Haus, wohin ich nur wenige Schritte hatte, sondern hinauf in die Stadt. Ich wußte wohl: der Vater wartete in dieser Stunde mit dem Abendbrot auf mich; aber ich konnte ihm jetzt nicht gegenübertreten. Ich hätte ihm alles gesagt – das fühlte ich, und das wollte ich nicht. Ich wollte keinen Helfer in dieser Sache, und das wäre er mir zweifellos gewesen; ich wollte einen unparteiischen Richter; aber wo den finden? Einen Augenblick hatte ich an Jettchen gedacht; aber sie war ja auch Partei, gerade wie der Vater, und dies ging doch wohl so wie so über ihr Verständniß. Dann fiel mir der Beichtvater meiner Mutter ein. Der höfliche Mann würde mich gewiß nicht so rauh anfassen, und ich gönnte dem Pastor den Schrecken, wenn er hörte, daß er, den er aus seiner Schaar vertrieben, in das andere Lager gegangen sei. Aber es stand ja bei mir fest, daß meine Mutter, die sich von mir losgesagt hatte, auch die religiöse Gemeinschaft mit mir von sich wies, daß, zu ihrer Konfession übertreten, mich bei ihr einschleichen, eindrängen wollen heiße. Und dagegen sträubte sich mein ohnehin bereits durch ihre hartnäckige Zurückweisung meiner Liebe tief verletzter Stolz.
So kehrte ich denn auf dem Wege, den ich bereits nach der Wohnung des Geistlichen in einer Gartenvorstadt auf der entgegengesetzten Seite der Stadt zum größten Theil zurückgelegt hatte, wieder um und irrte rath- und ziellos weiter; vorbei an unserm Gymnasium und an der nahegelegenen Wohnung des Ordinarins meiner Klasse. Plötzlich blieb ich stehen: das war der rechte Mann. Er war unerbittlich streng, aber auch unbedingt gerecht, und ich hatte stets das vollste Vertrauen zu ihm gehabt. Ueberdies kannte er den Vater, und dieser ihn aus dem Handwerkerverein, dessen Vorsitzender er war, nachdem er selbst die für unsere Stadt völlig neue Schöpfung erst vor wenigen Monaten ins Leben gerufen. Wie er denn überhaupt an der Spitze aller gemeinnützigen städtischen Unternehmungen und ebenso der liberalen Partei stand, welche mit dem umliegenden Landkreis ihn sogar im vorigen Jahre zum Abgeordneten für den Norddeutschen Reichstag erwählen wollte, nur daß er das Mandat abgelehnt hatte. Er wisse ja schon nicht, wie er seine Arbeit bewältigen solle. Ja, das war der Mann!
Ich zog die Schelle und trat in das Haus auf den von einer spärlichen Lampe kaum erhellten Flur. Als die Magd ging, mich, der ich ein dringendes Anliegen an den Herrn Professor habe, zu melden, und zu dem Zweck, die Thür eines Zimmers
rechter Hand öffnete, von wo ein vielstimmiger dumpfer Lärm erschallte, hatte ich den flüchtigen Blick auf die lange Tafel, an welcher der Professor mit seiner zahlreichen Familie und seinen sechzehn Pensionären saß. Es fuhr mir durch den Kopf, daß man in der Stadt sprichwörtlich sagte: „Sie sind so eng verpackt wie Herrn von Hunnius’ Pensionäre.“ Man drängte sich eben zu ihm.
Der kleine Mann – ich war bereits um einen halben Kopf größer als er – erschien alsbald auf der Schwelle, noch ein paar Worte mit seiner eigenthümlich durch die Nase schnarrenden Stimme in das Speisezimmer zurückrufend, trat dann rasch auf mich zu und sagte:
„Sie kommen zu mir, wie Nikodemus in der Nacht. Was bringen Sie mir?“
Das letztere fragte er immer, wenn man zu ihm kam. Ich wußte es und hatte mich darauf vorbereitet.
„Ich bringe nichts, Herr Professur,“ antwortete ich; „ich komme etwas zu holen: Rath in einer für mich wichtigen Angelegenheit.“
Es mochte wohl in dem Tone etwas Besonderes gelegen haben. Er fixirte mich einen Moment durch die großen runden Brillengläser und sagte kurz:
„Dann kommen Sie mit mir auf mein Zimmer.“
Er schritt mir voran, die Treppe hinauf, in sein Arbeitszimmer, schob die Oellampe, welche auf einem mit Büchern und Papieren überdeckten Tisch, dem Verlöschen nahe, dämmerte, in die Höhe; nahm in seinem Korbsessel vor dem Tische Platz und sagte, indem er für mich auf einen Stuhl in der Nähe deutete:
„Setzen Sie sich und sprechen Sie!“
Ich brauchte nicht nach Worten zu suchen; mir war das Herz so voll. Ich sagte ihm alles: wie ich mit meinem Unglauben, meinen Zweifeln gerungen hätte, lange, bevor mir der Herr Pastor so ins Gewissen geredet, wie heute; und daß ich auf dem Punkte gestanden, ihm den Willen zu thun, aber nicht, weil ich überzeugt, sondern weil ich durch seinen Eifer um mein Seelenheil gerührt und erschüttert gewesen sei; und wie der Herr Pastor durch den Fluch, den er über meinen Vater und die Israels ausgestoßen, die immer so gut zu mir gewesen, alles wieder verdorben habe; und wie wir dann geschieden seien.
Der Professor hatte mir, von Zeit zu Zeit die große Brille mit dem Zeigefinger auf die kleine Nase hinaufschiebend, zugehört, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Auch jetzt, als ich nun endlich schwieg, antwortete er nicht sogleich, sondern blickte starr vor sich hin. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihn durch meine sonderbare Beichte in Verlegenheit gesetzt habe, und sagte daher:
„Ich bitte um Verzeihung, Herr Professor, daß ich Sie belästige. Aber ich wußte mir keinen andern Rath.“
Er hob rasch den großen Kopf und sagte lebhaft:
„Von Verzeihen kann hier keine Rede sein. Im Gegentheil: Ich danke Ihnen, daß Sie zu mir gekommen sind, denn es beweist mir, daß Sie etwas von mir halten, was ich wohl nur von wenigen Ihrer Kommilitonen sagen kann, die mich einfach hassen. Nun: oderint, dum metuant! Und ich halte etwas von Ihnen. Sie haben einen offenen Kopf und ein offenes Herz und machen keine Phrasen, was mir ein Gräuel ist, selbst im Lateinischen, obgleich sie da für euch arme Schelme fast unvermeidlich sind. Ich soll Ihnen also rathen in diesem kritischen Falle. Nun wohl, ich will es thun, so gut ich es vermag. Zuerst: haben Sie Ihrem Vater von dem allen gesagt?“
„Wäre ich dann zu Ihnen gekommen, Herr Professor?“ „Bene dixisti: Ihr Vater wäre auch nicht die geeignete Person gewesen – für diesmal aus zwei Gründen. Einmal ist er hier gewissermaßen Partei, und zweitens ist er kein konfessioneller Christ. Nicht wahr?“
„Ich weiß es nicht, Herr Professor, er hat mir noch nie ein Wort über Religion gesprochen.“
„Eben darum. Gleichviel, nehmen wir es an, wie es jedenfalls der Herr Prediger annimmt. Er ist ein zu eifriger Seelsorger, als daß er nicht, trotz der kurzen Zeit, die er hier im Amte ist, bereits sämmtliche Glieder seiner Heerde genau kennen und auf ihren kirchlichen Werth taxiren sollte. Und Freidenker und Juden das ist Wasser auf seine Mühle. Er nimmt sie ja, wie ich höre, in jeder Predigt vor, zum Exempel soll er in der letzten auf Herrn Isaak Israel, Ihren Nachbarn und meinen sehr würdigen Freund und Parteigenossen, fast unverblümt exemplificirt haben. Nun, er kann es auf diesem Wege noch weit bringen. Doch das gehört nicht hierher. Ihr Vater ist nicht Ihr rechter Vater. Wer war das?“
„Ich weiß es nicht,“ erwiderte ich; „es wird nie über ihn gesprochen; mein Vater hat mich adoptirt.“
„Ganz recht. Ihre Mutter ist Katholikin – hat mir irgend Jemand gesagt; und daß Ihnen Ihr Vater – ich meine Ihr rechter – einiges Vermögen hinterlassen hat?“
„Ich glaube, ja,“ sagte ich zögernd. Ich fand, daß dies doch auch ‚nicht hierher gehöre‘.
„Man muß in solchen Lagen auch die Verhältnisse beachten,“ fuhr der Professor, der offenbar meinen Gedanken errathen hatte, fort. „Zum Beispiel, daß Sie, so viel ich weiß, und wofür ich andererseits durchaus bin, studiren wollen. Nun wäre es doch sehr schade, wenn Sie sich, indem Sie sich mit der Staats-, also mit der herrschenden Kirche überwerfen, von vornherein jede Staatskarrière kompromittirten, ja, wie die Dinge liegen, unmöglich machten. Selbst in Ihrer Schullaufbahn kann Ihnen das hinderlich sein. Man wird Ihnen freilich trotzdem die Versetzung Ostern nicht verweigern – dazu fällt meine Stimme, als Ihres jetzigen Ordinarius, zu schwer ins Gewicht; aber die Zukunft, mein lieber junger Freund, die Zukunft! Sie sehen, ich mochte Ihnen gern Ihre Zukunft retten.“
„Aber doch nicht auf Kosten meiner Ueberzeugung, Herr Professor,“ wagte ich einzuwerfen.
Er schob die Brille hoch, die von der kleinen Nase fast herabzugleiten drohte, und räusperte sich.
„Die Ueberzeugung!“ sagte er; „freilich, das ist eine schöne, ehrwürdige Sache und werth, daß man ihr hohe Opfer bringt. Aber Ueberzeugungen, besonders die von jungen und so jungen Köpfen, wie der ist, der auf Ihren Schultern sitzt, die können wechseln. Ihr Vater ist ein alter Achtundvierziger, ich auch. Ich habe im Frankfurter Parlament gesessen auf der äußersten Linken und war der Ueberzeugung, daß Deutschland nur durch die Republik zur Einigkeit gelangen könne. Nun sind wir zur Einigkeit auf dem besten Wege, der ein ganz, ganz anderer Weg ist; ja, wir haben sie eigentlich bereits, die heißersehnte Einigkeit, und ich habe mich überzeugen müssen, daß meine damalige Ueberzeugung ein Irrthum war. So war ich überzeugt und habe daraufhin meine Doktordissertation geschrieben, daß eine gewisse Schrift dem Cicero ab- und dem Atticus zuzusprechen sei, und mich überzeugen müssen, daß ich einen Bock geschossen. Mit einem Worte: unsere Ueberzeugungen können wechseln, müssen wechseln: politische, wissenschaftliche, weßhalb also nicht auch religiöse? Ist nicht aus dem Saulus ein Paulus geworden? Sind Sie so sicher, daß nicht auch Ihnen einmal ein Tag von Damaskus kommt?“
„Gewiß nicht, Herr Professor,“ sagte ich; „aber eben deßhalb bin ich auch nicht sicher, daß er mir kommt.“
Ein flüchtiges Lächeln zog über die wunderlichen Züge. Das machte mir Muth, weiter zu sprechen:
„Sagen Sie mir nur das Eine, Herr Professor: glauben Sie, Sie selbst denn an das alles, wozu ich mich bekennen soll?“
Das Lächeln war sofort verschwunden.
„Ich meine, es handelt sich hier nicht um das, was ich glaube, sondern um das, was Sie glauben, respektive nicht glauben,“ sagte er mit Nachdruck und fuhr, als er meine bittere Verlegenheit sah, in milderem Tone fort: „Lieber junger Freund, ich gehöre wahrlich nicht zu denen, welche, wenn ihr Kind zu ihnen kommt, sie um ein Stück Brot zu bitten, ihm einen Stein reichen. Sie sind nicht mein Kind, und sind kein Kind mehr – das beweist der Muth, den Sie in dieser Angelegenheit an den Tag legen. Aber Sie sind doch auch noch kein Mann, und so ist es schwer, Ihnen die Wahrheit zu sagen und so zu sagen daß Sie sie verstehen. Ich will es versuchen und will Ihnen bis an die äußerste Grenze entgegenkommen, die ich freilich nicht überschreiten darf. Sehen Sie, die Sache ist die, daß heutzutage wenige – ich meine von den wahrhaft Gebildeten, die nicht bloß studirt, sondern auch gedacht haben – den Lutherischen Katechismus, wie er da steht, in Bausch und Bogen mit gutem Gewissen und aus voller Ueberzeugung unterschreiben könnten. Dennoch bekennen sie sich zur Kirche und mit Recht. Die Kirche mag ihnen hier und da als ein alter Schlauch erscheinen, für den ein neuer dringend noth thäte, aber der Inhalt des Schlauches – das Christenthum – ist ein so kostbarer, unschätzbarer Saft, der seit nun beinahe zwei Jahrtausenden die Menschheit erquickt hat und noch Jahrtausende erquicken wird; und was wir sind und haben, hat in ihm seine Wurzel und Kraft, wie alle Organe des Leibes in dem Blute, das sie speist – es darf von diesem kostbaren Blutsaft kein Tropfen verloren gehen, geschweige denn das Ganze, wie wir fürchten müssen, wenn wir es aus dem alten Schlauch in einen neuen umfüllen wollten. Darum lassen wir es bei dem alten und bekennen uns als Christen, gleichviel, ob wir mit einem oder dem anderen Glaubenssatze in unserer Vernunft fertig werden können; oder ob dieser oder jener Heißsporn der Kirche um dieses einen oder anderen Satzes willen seine Vernunft zu Tode hetzt und die unsere gleichfalls zu Tode hetzen möchte. Es ist damit wie im politischen Leben, wo wir auch je zuweilen auf den Ausdruck unserer Ueberzeugung verzichten oder unser besseres Wissen dem schlechteren der Partei unterordnen, um diese zu erhalten, die im Ganzen und als Ganzes doch klüger, besser und zumal mächtiger ist als wir, Ich darf so reden, denn ich habe in meinem Leben um meiner Ueberzeugung willen viel gelitten, habe bis auf den heutigen Tag darunter zu leiden, und wer weiß, was noch über mich verhängt ist! Nun ziehen Sie – Sie sind klug genug dazu – für sich die Konsequenzen aus dem, was ich gesagt habe. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“
Er machte eine Bewegung in seinem Stuhle; die Unterredung sollte zu Ende sein; ich erhob mich. Er war ebenfalls aufgestanden und reichte mir die Hand. Ich dankte ihm mit zitternder Stimme für seine Güte und ging nach der Thür, als er mich beim Namen rief. Ich wandte mich. Er stand noch an seinem Stuhl, den großen Kopf, um den das krause Haar in widerspänstigen Locken nach allen Richtungen starrte, tief gesenkt; das wunderliche Gesicht, welches ein sogenannter Zimmermannsbart einrahmte, in nachdenkliche Falten verzerrt; den Zeigefinger der Linken fest gegen den Bügel der Brille drückend, welche durchaus nicht mehr auf der kleinen Nase halten zu wollen schien.
„Im Falle Sie sich nicht sollten entschließen können –“
Er machte eine Pause, ob ich etwas antworten würde, und fuhr, da dies nicht geschah, fort:
„In diesm Falle müßten wir auf einen Ausweg denken, wie Sie wenigstens nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Ist ihr Vater vielleicht Mitglied der Freien Gemeinde?“
„Ich weiß es nicht, Herr Professor.“
„Ich halte es nicht für unmöglich. Ich liebe, offen gestanden, die Freien Gemeinden nicht. Sie gedeihen nicht, Was nicht gedeiht, beweist schon dadurch, daß es nicht aus einer machtvollen Idee hervorgeht. Gleichviel, es wäre ein Ausweg. – Uebrigens für den äußersten Fall, von dem ich wünsche und hoffe, daß er nicht eintritt. Eine gesetzliche Nöthigung, daß evangelische Eltern ihre Kinder konfirmiren lassen und dazu eventuell zwangsweise anzuhalten sind, liegt nicht vor. Ich weiß das zufällig aus einer Debatte über den fraglichen Punkt im Gustav-Adolf-Verein, dessen Mitglied ich bin.“
„Ich danke Ihnen, Herr Professor.“
„Und noch eines. Was Sie auch beschließen sollten – ich weiß, daß Sie etwas auf mich geben – Sie werden in meinen Augen nicht einbüßen.“
„Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Professor.“
„Ein Letztes!“
Er war an mich herangetreten, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, die anders – weicher und weniger zuversichtlich klang, als die, in welcher er bisher gesprochen:
„Es liegt mir auch an Ihrer Achtung. Und wenn Sie als ein reifer Mann an diese Stunde denken, wie Sie zweifellos thun werden, und ich dann ebenso zweifellos todt bin – und Sie dann in meinen Worten deutlicher lesen werden, als Sie es jetzt im Stande sind – dann lassen Sie mir Gerechtigkeit widerfahren und denken und sagen Sie: er konnte nicht anders sprechen.“
Er ließ die Hand von meiner Schulter und hatte sich schnell von mir gewandt. Ich murmelte noch einmal meinen Dank und Gute Nacht und eilte hinaus.
Als ich auf die Gasse trat, schlug es von dem Thurme der Nikolaikirche, an der ich vorüber mußte, gerade neun. Ein heftiger Wind, der, vom Meere her, durch die Stadt brauste, zerriß die Töne, daß einzelne wie mit Gewalt zu mir herabfielen, andere fast klanglos nach oben flogen. Wirres Gewölk, dessen Ränder der unsichtbare Mond hier und da nit schmutzigem Roth färbte, jagte über den Thurm, von dem jetzt, als ich dicht unter ihm hinschritt, das mißtönende Gekreisch eines Uhus erscholl, in das sich das Krächzen vom Sturm aus ihren Ruheplätzen aufgescheuchter Dohlen mischte.
Ich starrte und horchte hinauf und es durchschauerte mich bis ins Mark von der eisigen Luft, die um den Thurm pfiff, und von einer entsetzlichen Empfindung, die mich wie ein Schwindel jäh befiel. Es war mir aber, als stünde ich oben auf dem Thurme, wie neulich mit dem Mallen Heinrich, aber allein in der wilden Sturmesnacht, und die Teufel rissen sich nicht um die Glockentöne, sondern um meine arme Seele und rissen ganze Stücke ab und flögen damit kreischend und krächzend hinaus in die wilde Nacht.
Und wie Jemand, der von einem Abgrund zurückprallt, in welchen ihn die nächste Sekunde stürzen würde, eilte ich weiter mit gesträubtem Haar und wildbewegtem Herzen, dessen Klopfen ich bis in die Kehle fühlte. Dann war es vorbei. Das Grausen wich von mir; ich knöpfte den dünnen Rock, den ich in meiner Angst aufgerissen hatte, wieder zu und drückte mir die Mütze fest in die Stirn.
Nein! es war nichts damit: ein Spuk nur für den, der sich fürchtet. Der Malle Heinrich neulich da oben hatte, wie sehnsüchtig er auch durch die Thurmritze starrte, keine Engel gesehen, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gab. Gab es aber keine Engel, so gab es auch keine Teufel, die sich um meine Seele stritten; und meine Seele flatterte nicht da oben in der Luft, sondern war hier in meinem Kopf und in meinem Herzen. Und wenn ich es nicht begreifen konnte, so war es nicht meine Schuld – ich konnte doch mit keinem anderen Kopfe denken, als mit meinem eigenen. Und wenn mein Herz so unruhig hin und her zuckte, so war es, weil sie es nicht zur Ruhe kommen ließen, weil sie alle an ihm rissen: der Pastor mit seiner fanatischen Wuth und der Professor mit seiner weltweisen Güte. Denn überzeugt hatte auch er mich nicht, das fühlte ich ganz klar. Und wenn ich ihm folgte, so that ich es doch wieder nicht aus Ueberzeugung. Und eine Ueberzeugung, wie er sie meinte, von der man ein Stück preisgab und ein anderes zurückbehielt – das war ja ebenso schlimm wie die arme Seele, von der die Teufel so viel abrissen, als sie ergattern konnten. Gab es denn keinen Menschen, dessen Kopf mit dem Herzen im Frieden war? in dessen Seele die Ruhe war, nach der mich doch so innig verlangte?
Auf einmal, als fiele es mir wie Schuppen von den Augen, stand das Bild des guten Vaters hell vor mir da. Wie hatte ich nur einen Augenblick schwanken können, an wen ich mich wenden sollte in meiner Noth! Ihn hätte ich fragen sollen, ihn allein; ihn, aus dessen Munde keine Lüge ging und keine halbe Wahrheit, in dessen Seele immer stiller Friede war, und der so oft durch sein sanftes Wort, ja nur durch den Blick seiner treuen Augen die Unrast und Verstörtheit meines Herzens zur Ruhe gebracht hatte!
Und wie ein Kind, das zum Schoß der Mutter flüchtet, lief ich durch die menschenleeren Gassen zu ihm, der nicht mein Vater war und der mir doch Vater und Mutter gewesen von meinen Kindesbeinen an.
Er wartete auf mich in der Werkstatt mit dem Abendbrot. Seitdem die Mutter nicht mehr mit uns speiste, nahmen wir unsere frugalen Mahlzeiten oft in der Werkstatt ein, zumal an Tagen, wo es den Vater mit der Arbeit pressirte. Das war auch heute der Fall gewesen. Ein Sarg, der morgen in der Frühe abgeliefert werden mußte, hatte fertig werden sollen. Und da war er fertig und stand mitten in der Werkstatt auf der Drehscheibe, auf welcher der Vater immer die einzelnen Stücke zum Ganzen zusammenfügte: groß und gelb mit kräftigen gedrechselten Knäufen und feiner kunstvoller Täfelung, besonders sorgfältig ausgeführt, wie ich auf den ersten meiner durch lange Uebung geschärften Blicke sah.
„Für die Mutter Möllern,“ sagte der Vater als Erläuterung, sein Werk mit zufriedenen Blicken betrachtend. „Die alte Seele hat nicht Kind, nicht Kegel und keinen Menschen, der sich um sie gekümmert hat, die dreißig Jahre, die sie im Spittel war. Sie wird natürlich auf Spittelkosten begraben; wir werden unsern kleinsten Satz nehmen müssen.“
Er hatte sich die blaugrüne Schürze abgebunden, in der Kammer die Hände gewaschen und kam nun wieder in die Werkstatt mit einem noch besonders freundlichen Lächeln auf dem lieben sanften Gesicht.
„Nun,“ sagte er, „da stehst Du noch gerade wie vorhin? Bist Du nicht hungrig, Kind?“
Ich raffte mich aus meiner Verstörung auf. Der Vater hatte vom frühesten Morgen bis jetzt ununterbrochen sich abgemüht; war es recht, ihm nun, wo er der Ruhe, der Erholung so bedürftig war, sich nach einem stillen friedlichen Beisammensein mit mir sehnte, mit meinem Leid, mit meiner Noth zu kommen? ihm, dem Mitleidigen? ihm, der Anderer Noth stets tiefer empfand, als seine eigene? Was mir noch vor einem Augenblick als selbstverständlich und als einziger Ausweg erschienen war, däuchte mir nun eine egoistische Grausamkeit. Nein, lieber mochte es werden, wie es wollte.
Ich hatte eben Zeit zu dieser Ueberlegung gehabt. Der Vater hatte sich geschäftig nach dem Tischchen in der Ecke der Werkstatt gewandt, auf welchem unsere Mahlzeit hergerichtet war, über die er sorgsam die Zipfel eines reinen Tischtuches nach allen Seiten in die Höhe geschlagen hatte. Jetzt nahm er dieselben vorsichtig auseinander: zwischen Brot, Butter und kaltem Aufschnitt stand statt des üblichen kleinen irdenen Kruges mit Bier eine Flasche Wein und zwei Gläser.
Er blickte mich lächelnd an.
„Was sagst Du, Kind, zu dieser Verschwendung? Ich fand sie heute, als ich da“ – er deutete nach der Kammer – „in der großen Kiste eine Zeichnung suchte. Weiß nicht, wie sie da hinein gekommen ist; aber es muß lange her sein; ich erinnere mich nicht, seitdem wir hier sind, Wein gekauft zu haben, oder daß mir wer welchen geschenkt hätte. Gleichviel! Und da dachte ich, die willst Du mit dem Kinde ausstechen, wenn es nach Hause kommt. Weißt Du, auf wessen Wohl?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Deines, Kind, Deines!“ rief er triumphirend; „es ist ja heute Dein Geburtstag.“
Er hatte die Arme ausgebreitet; ich warf mich an seine Brust. Die gewaltsame Spannung, in welcher meine Nerven diese letzten Stunden hindurch gewesen waren, lösten sich in einer Thränenfluth.
Er war erschrocken über meine stürmische Heftigkeit, die er sich in seiner Weise auslegte.
„Laß gut sein, Kind, laß gut sein!“ bat er, indem er mir wie einem wirklichen Kinde die nassen Wangen streichelte und die wirren Locken aus der heißen Stirn strich. „Sie ist eben krank, sonst hätte sie es sicher nicht vergessen. Und ich, schlechter Kerl, hätte es auch beinahe vergessen über all’ der Arbeit. Laß gut sein, Kind! laß gut sein!“
Ich fühlte, wie ich ihn quälte, und richtete mich entschlossen aus seinen Armen auf.
„Ja, Vater,“ sagte ich, „es ist gut. Du und ich! Wenn ich Dich nur habe, das ist mir genug. Das ist besser als alles Andere. Laß uns essen; ich bin schrecklich hungrig.“
Ich war es gar nicht; ich mußte mir die Bissen hinunterwürgen. Er bemerkte es glücklicherweise nicht, um so weniger, als ich mich zu einer Gesprächigkeit zwang, welche mir der Wein erleichterte. Ich hatte drüben bei Hopps oft Wein zu trinken bekommen, so trefflichen nie. Er glänzte in den Gläsern wie flüssiges Gold, und ein herrlicher Duft stieg aus ihm empor. Auch der Vater erlabte sich sichtlich daran. Eine leichte Röthe, die ihm schon nach dem zweiten Glase in die sonst bleichen Wangen stieg, und das sanfte Licht, das sich in den guten blauen Augen entzündete, ließen ihn um viele Jahre jünger erscheinen. Zum ersten Mal in meinem Leben fiel mir ein, daß auch er einmal jung gewesen sein müsse. Und weiter, daß ich doch so gar nichts von seinem Leben wisse. Und weiter, daß, wenn ich den Muth fände, ihn zu bitten, mir von sich und was er erlebt zu erzählen, und er, woran ich nicht zweifelte, es thäte, dabei doch irgend einmal eine Gelegenheit sich ergeben werde, wo ich die Rede auf meine Angelegenheit bringen könne.
Ich hatte den Gedanken, wie er in meinem von dem Feuerwein erregten Gehirn aufgestiegen war, kaum erfaßt, als ich nur noch auf eine Wendung in dem Gespräch wartete, die es mir möglich mache, meine Bitte vorzubringen, ohne mich zu verrathen. Und der Augenblick sollte bald kommen. Der Vater hatte wieder von der Zeichnung angefangen, die er suchte, als er den Wein fand. Das Blatt lag mir zur Hand auf dem Werkzeugtisch. Ich langte darnach und sah zu meinem Erstaunen, daß es nicht nur mit zierlichen Ornamenten bedeckt war, wie sie die Kunsttischler brauchen, sondern auch mit schönen Figuren, männlichen und weiblichen, theils nackt, theils in prächtigen faltenreichen Gewandungen. Ich hatte mich selbst hin und wieder im Zeichnen versucht und wußte wenigstens, wie schwer so etwas zu machen sei.
„Ist das auch von Dir, Vater?“ fragte ich.
Er nickte mit bescheiden vergnüglichem Lächeln.
Ich starrte wieder auf das Blatt, entschlossen, jetzt, wo die Gelegenheit so günstig war, meine Bitte vorzubringen, als ich plötzlich nicht mehr die Figuren vor mir auf dem Blatte sah, sondern die geheimnißvollen Gestalten und Gesichter, die auf mich herabgeblickt hatten aus dem golddurchblitzten Halbdunkel jenes großen schönen Gemaches, in welches mich der seltsame Traum geführt, der mir meine Mutter und mich gezeigt hatte, wie wir vor dem Manne mit den blitzenden Augen auf den Knieen lagen.
Dieselbe abergläubische Furcht, die mich schon einmal befallen hatte, als ich Emil Israel den Traum erzählen wollte - ich hatte es sonst gegen Niemand gethan - befiel mich wieder. Aber jetzt war ich kein Kind mehr, und die letzten Stunden hatten zu hart in meine Seele gegriffen. Der Augenblick war gekommen wo ich mit den Zweifeln, die mich so lange gemartert, ein Ende machen mußte, mich nicht mehr schrecken lassen durfte von heiligen oder unheiligen Geheimnissen. Und gesetzt auch, der gute Vater konnte mir das Geheimniß des Glaubens nicht lösen, so doch vielleicht das jenes Traumes.
Dies alles muß binnen wenigen Sekunden durch mein Gehirn gezuckt sein, denn, als ich jetzt aufblickte, hatte des Vaters Gesicht noch genau denselben lächelnden Ausdruck, mit dem er vorhin meine Frage bejaht, die mir nun erst wieder einfiel.
„Aber wenn Du so Schönes machen kannst,“ sagte ich, „das viel viel schöner ist als unsere schönsten Vorlegeblätter in der Schule, wie kommt es –“
„Daß ich Sargtischler geworden bin?“ vervollständigte er, mich unterbrechend, meinen Satz. „Das möchtest Du wissen?“
„Ja,“ sagte ich, „das möchte ich wissen.“
„Das ist zwar keine lange Geschichte,“ sagte er „aber ich fürchte, Du würdest nicht so viel Freude daran haben, als an den Märchen, die ich Dir sonst zu erzählen pflegte. Es war einmal ein König – weißt Du?“
„Gleichviel,“ sagte ich eifrig. „Ich bin heute sechzehn Jahre alt, und – thu’s mir zu Liebe! Das wäre mir das rechte Geburtstagsgeschenk.“
Er blickte nachdenklich vor sich nieder.
„Ein wunderliches Geschenk,“ murmelte er.
Und dann, das Gesicht wieder hebend und mich mit den treuen Augen liebevoll anlächelnd, sagte er:
„Du hast Recht, Kind. Ich hätte es schon früher thun sollen: Du und ich, wir sind ja wie zwei gute Kameraden. Aber Du weißt, welch’ ein scheuer Kauz ich bin. Und wenn Du es noch nicht wüßtest, würdest Du es erfahren, wenn ich Dir erzählen soll, wie ich Sargtischler ward. Will Dir’s erzählen, als wär’s just nicht ich, dem’s passirte, sondern irgend einem armen Jungen von den vielen Tausenden; da wird es, glaube ich, besser gehen.“
Er nippte an dem herrlichen Wein, strich mit der Linken durch den grauen Bart und begann.
Es war also einmal ein armer Junge, der hieß Peter Lorenz, gerade wie ich.
Er war aber ‚oben vom Walde‘, wie sie in jener Gegend sagen. Und er durft’s gewiß sagen: sein heimisch Dorf lag nicht nur ganz ‚oben‘ auf dem Kamme, es war auch ganz ‚vom Walde‘ umgeben. Alles fürstlicher Wald. Es mochte eine Zeit gewesen sein, wo nicht aller Wald fürstlich war, oder aber die fürstlichen Hirsche haben es zu arg getrieben. Jedenfalls ging einer seiner Aelterväter zu schlimmer Stunde, da der Mond schien, in den Wald und schoß ein paar Hirsche todt, wofür er denn auf einen lebendigen Hirsch gebunden wurde, hinter dem man die Meute losließ, die das Thier zu Tode hetzte und zerriß und seinen Aeltervater auch, der aber hoffentlich vorher schon todt war.
Es mag der letzte Fall im Lande gewesen sein, wo man etwas so Gräßliches beging, und wohl schon ein paar Jahrhunderte her. Aber die Sage davon hatte sich erhalten, ja, war in einem Holzschnitte dargestellt worden, welcher in der einzigen Stube an der Wand dicht unter der Decke hing. Der arme Junge hatte ihn so oft angesehen: er konnte, wenn er wollte, die Augen fest zumachen und sah ihn doch: den Hirsch, der sehr lange, steife Beine hatte, mit dem armen nackten Menschen auf dem Rücken, voraufspringend vor vielen Hunden her, die auch alle auf sehr langen und steifen Beinen liefen, dem Walde zu, über welchem eine Sonne mit Strahlen nach allen Seiten aufging. Wieder über der Sonne war der liebe Gott mit Engeln und Teufeln zur Rechten und Linken und sonst noch Mancherlei, was der arme Peter aber nicht deutlich erkennen konnte, denn das Bild hatte an seiner Stelle schon viele, viele Jahre gehangen und war schier so schwarzbraun wie der wurmstichige Rahmen, von dem Rauch, der aus dem Flur, wo die Esse stand, fortwährend in die Stube kam. Sein Vater war aber Nägelschmied, und seine Väter waren Nägelschmiede gewesen, und wer weiß, ob auch nicht schon der unglückliche Aeltervater, und ob er nicht aus eben unserem Häuschen an jenem schlimmen Morgen hervorgegangen ist. Denn alt genug war es dazu: ganz klein, auf einem Unterbau von zerbröckelnden Steinen, mit einem steinernen Treppchen, dessen Stufen völlig ausgehöhlt waren; sonst aus Holz und Lehm, Alles so schief und krumm und durchlöchert und verwittert – es war ein Wunder, daß es so viele Winterstürme durchgehalten.
Denn es stürmte des Winters gar grausam da oben auf dem Walde, und es war dann bitterkalt und die Kinder froren erbärmlich, trotzdem das Feuer auf der Esse im Flure während des Tages nie ausging und die glühende Asche des Nachts sorgfältig zugedeckt wurde, bis der Vater sie, lange bevor der Morgen
graute, wieder anschürte. Er mußte aber wohl bei der Arbeit bleiben, der gute Alte: es waren da viele hungrige Münder zu stopfen, und Nägelschmieden ist ein kümmerliches Handwerk. Für einen Sack mit tausend Nägeln, von denen jeder einzeln auf dem Amboß gehämmert werden mußte, bekam er, wenn der Preis gut war, zehn Groschen und meistens weniger. Die Kinder wußten das am besten, denn wenn der Vater ein paar Säcke voll fertig hatte, mußten sie dieselben hinab in die Dörfer tragen, und es dauerte oft recht lange, bis sie ihre Waare los wurden, und hatten dabei gar viel von Wind und Wetter und schlechten Menschen auszustehen. Es gab aber auch hier und da gute, die Mitleid mit den armen Kindern hatten und ihnen die Nägel abnahmen, die sie manchmal gewiß nicht einmal brauchen konnten. Auch konnten die armen Schelme nicht sagen, daß sie sich unglücklich fühlten. An das Frieren und Hungern waren sie gewöhnt, und sie froren und hungerten ja nicht immer. Besonders des Sommers nicht, wenn die Schwämme und die Beeren im Walde wuchsen, die sie einsammelten und mit denen die Buben sich auch manch guten Groschen verdienten, ebenso wie die Mädchen mit ihren Zöpfen, die ihnen abgeschnitten wurden, wenn sie lang genug waren, und welche die Mutter dann in der Stadt verkaufen ging.
Und dann war es gar herrlich des Sommers obem im Walde: der Himmel so blau und die Bäume so hoch und grün, und durch die hohen grünen Bäume schlüpften die goldenen Sonnenstrahlen und flogen die Vögel, die so lieblich sangen und von denen die Kinder jeden kannten, wie auch jede Pflanze und jedes Moos im Walde. Nicht dem Namen nach, außer solchen, die sie ihnen selber gaben, denn irgend welchen Unterricht, außer etwa einem Bischen Lesen und Schreiben während des Winters hatten sie nicht, und von dem Bischen vergaßen sie das Meiste im Laufe des Sommers wieder, und im Winter lag der Schnee oft wochenlang so hoch, daß sie nicht in die Schule konnten, welche überdies eine Viertelmeile entfernt lag. Sie wuchsen eben halb wild auf. Manche von ihnen waren, glaub’ ich, nicht einmal getauft, und daß der arme Peter nicht eingesegnet war, wußte er sicher. Du wolltest etwas sagen, Kind?“
Der Vater nippte an dem Wein. Ich hatte rufen wollen: Auch Du, Vater, bist nicht eingesegnet! aber ich mochte jetzt nicht an die Frage rühren. Ich mußte fürchten, daß darüber die Erzählung des Vaters von seinen Erlebnissen eine Unterbrechung erleide, und für den Augenblick flößte mir diese ein größeres Interesse ein, als meine eigenen Angelegenheiten. Dazu war in dem Ton des Vaters, während er, ohne zu stocken, ohne jemals nach einem Worte zu suchen, erzählte, etwas so erquicklich Schlichtes und Bescheidenes, daß es mir wie Musik klang und ich immer nur hätte zuhören mögen. Ich versicherte deßhalb heftig, daß ich nichts habe fragen oder sagen wollen und schenkte ihm, obgleich er sanft abzuwehren suchte, das Glas wieder voll. Er nippte abermals mit sichtbarem Wohlbehagen und fuhr fort:
„Du kannst Dir denken, daß die Kinder aus dem kleinen Hause mußten, sobald sie zu groß wurden für das Hausiren mit den Nägelsäcken, denn ohne das Mitleid der Leute hätte das Geschäft schon gar nicht rentirt. So wurden sie durch das Land zerstreut; einer ist aber geblieben und setzt das armselige Gewerbe des Vaters in dem armseligen Häuschen fort bis auf den heutigen Tag. Die Mutter, von der Peter ein Bild in der Seele hatte, als ob sie eine steinalte Frau gewesen wäre, obgleich sie gar nicht alt geworden sein kann, war schon vorher gestorben. Nun hatte sich auch der Vater die letzten Nägel zu seinem Sarge geschmiedet. Es muß sich wohl irgend ein Nachbar der armen Verwaisten angenommen haben – oder ein Ortsvorstand, obgleich Peter nie von einem solchen gehört – genug, man hatte einen entfernten Verwandten der Mutter in einer kleinen sächsischen Stadt am Fuße des Waldes ausfindig gemacht, zu dem er in die Lehre kam. Der Onkel, so nannte er ihn, war Steinmetz. Er hatte keine leichte Zeit bei dem Onkel. Es war ein gewaltsamer, jähzorniger Mann, der fortwährend auf Gott und die ganze Welt, besonders auf die Regierung schalt und, was für den armen Peter viel schlimmer war, bei der geringsten Veranlassung zuschlug – Peter meinte: oft nur, weil es ihm ein körperliches Bedürfniß war. Im Grunde war es ein braver Mensch, der das Gute wollte, so weit er es eben verstand, und alles an seine Ueberzeugung setzen konnte, wie er es hernach bewiesen hat. Der arme unwissende Junge vom Walde suchte ihm möglichst zu Dank zu leben und es wurde ihm das nicht schwer, denn er war von Natur fleißig und die Arbeit machte ihm Freude. Der Onkel fertigte zumeist Thürschwellen und Fensterrahmen aus Sandstein, aber auch Grabsteine und Kreuze aus Granit und einer schlechten Sorte Marmor. Manchmal wünschten die Kunden auch sinnbildliche Verzierungen: ein flammendes Herz oder ein Auge Gottes, schließlich sogar Engel und sonstige Figuren. Das war aber ein Kreuz und ein Leid für den Onkel, der sich auf dergleichen nicht verstand, und so war es denn eine große Erleichterung für ihn, als sich bald herausstellte, daß Peter für solche Dinge eine natürliche Begabung hatte. Ja, er brauchte in Kurzem selbst für die Engel nur noch eine ganz flüchtige Thonskizze zu machen und konnte dann sofort an die Ausführung in Marmor gehen. Der Onkel brummte freilich dazu, denn je bessere Sachen der Junge machen lernte, desto mehr Bestellungen der Art kamen; auch aus entfernteren Orten, einmal sogar aus Dresden. Dort hatte ein sehr berühmter Bildhauer eine seiner Arbeiten zu sehen bekommen und darauf bestanden, daß ein junger Mensch, der ohne alle Anleitung so etwas machen könne, ordentlich in die Lehre müsse. Der gute Mann hatte in seinem Leben mit ganz ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, und er ruhte nicht – der Onkel mochte wettern, wie er wollte – bis Peter zu ihm in das Atelier kam.“
Der Vater brach ab, führte mit zitternder Hand das Glas an den Mund, nippte hastig ein paar Tropfen, setzte das Glas wieder hin und versank in jenen ihm eigenthümlichen Zustand, in welchem er alles rings um sich her vergaß. Aber wenn dann meistens seine Stirn umwölkt und seine starren Augen trübe waren, so leuchtete jetzt förmlich sein ganzes Angesicht, während sein Blick groß und still wie auf einer weiten schönen Ferne ruhte. Das dauerte wohl eine Minute, während derer ich mich nicht zu regen, kaum zu athmen wagte. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, schaute auf mich, wie jemand, der aus einem tiefen Traum erwacht, und sagte, nun in einem ganz anderen, helleren Ton und offenbar ohne sich zu erinnern, daß er bis dahin von sich als von einer dritten Person gesprochen hatte:
„Wo war ich doch stehen geblieben? Ja so, in Dresden, bei Meister Rietschel. Ja, das war eine schöne Zeit, eine goldige Zeit! Mir ging’s wie dem Manne, der in eine Zauberhöhle kam, wo alles von Rubinen, Smaragden und Diamanten glänzt, daß er nicht weiß, wohin er zuerst greifen soll. Ich arbeitete Tag und Nacht, ich hatte ja so viel nachzuholen, wenn man das von einem sagen kann, der, wie ich, alles von Anfang an lernen mußte. Aber der Meister half, wo und wie er konnte, und ich fand gute Gesellen, die auch halfen; und machte solche Fortschritte, daß der Meister eines Tages sagte, was ich nun noch lernen könne, müsse ich aus mir selber lernen, Notabene, nachdem ich zuvor ein Jahr in Italien gewesen. Ein Stipendium hatte ich freilich nicht, brauchte ich aber auch nicht; ich hatte noch nicht verlernt, knapp zu leben und, wenn’s sein mußte, zu hungern. Auch hatte ich mir etwas Geld verdient und damit ging’s nach Italien. Ja, Kind, ich bin in Italien gewesen: in Florenz und Rom und weiter hinab bis Syrakus, wo ich eine herrliche Venus mit ausgraben half, von der ich an Ort und Stelle eine Kopie machte, die ich nach Hause schickte, und die mir ein tüchtiges Stück Geld eintrug, so daß ich noch ein zweites Jahr in Rom leben konnte wie ein Fürst. Bloß, daß der reichste Fürst gar nicht so glücklich sein kann, wie so ein armer Künstler, wenn er sich den Tag über rechtschaffen müde gearbeitet hat an einem Werk, von dem er sich Ruhm und Ehre verspricht; und nun des Abends auf dem Monte Pincio steht, wo einem die Stadt so zu sagen unter den Füßen liegt mit der grünen Campagna dahinter, in welche die Kuppel von St. Peter hoch hinaufragt – alles rosig und purpurn überglänzt von der untergehenden Sonne. Und er, der junge Mensch da oben, in all der Herrlichkeit doch eigentlich wieder nichts sieht, als das angefangene Thonbild, das er mit nassen Lappen zugedeckt hat, als er seine dunkle Werkstatt verließ. Nur ist es jetzt fertig und kein brauner Thon mehr, sondern glänzender Marmor, aus dem, wie aus einem Spiegel, all die Schönheit wiederstrahlt, die sich da tausendfältig vor ihm breitet.“
Der Vater schwieg, für den Moment überwältigt von seinen Erinnerungen; ich saß da, berauscht von dem Feuerwein und dem Märchen, das ich da vernahm. Denn das war doch gewiß ein schönes Märchen: Italien, Rom, der Monte Pincio, die Peterskirche – ich brauchte ja nur die Augen aufzumachen. Da war die enge, dumpfe Werkstatt, in der es nach Leim und Firniß roch: und da stand der Sarg, der morgen früh fortgeschafft werden sollte, für die alte Mutter Möllern aus dem Spittel!
Der Vater mußte den Blick, mit dem ich unwillkürlich den Sarg betrachtet, aufgefangen haben.
„Es kommt schon,“ sagte er. „ich bin nun über die Höhe weg, auf der die Sonne so schön schien, und es geht bergab auf der Schattenseite: ich gehöre eben nicht zu den Menschen, die sich auf der Höhe halten können. Die müssen mehr Kraft haben, als ich, und, vor allem, nicht immer erst an andere denken und was wohl aus denen wird, wenn sie selbst, ohne sich umzusehen, ihren Weg gehen. Dabei kommt man nicht weit, aber ich habe immer gemeint, wenn Gott zugleich allmächtig und allgütig ist, kann er nur in seiner Weisheit herausgefunden haben, wie sich das zusammen reimt. Wir armen schwachköpfigen Menschen bringen es nicht fertig und haben nur die Wahl, ob wir unserem Ehrgeiz oder unserem Herzen folgen wollen. Und für mich ist dabei nicht einmal eine Wahl gewesen, und was mir mein Herz gesagt hat, das habe ich immer gethan, ohne mir erst lange darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich sage das aber, Kind, um dessen willen, was mir noch zu erzählen bleibt, und was ich selbst zum Theil nicht verstehen würde, wäre ich nicht überzeugt, es lag einmal in meiner Natur, so handeln zu müssen, und daß ich deßhalb wieder so handeln müßte, geriethe ich nochmals in dieselbe Lage und wüßte, was dabei für mich herauskommt.
Ich war also wieder in Dresden, den Kopf und die Mappe voll von allerhand schönen Entwürfen, wie sich da ein paar auf das Blatt verirrt haben. Ich hatte ein eigenes Atelier, wohnte aber wieder bei der Wittwe, bei der ich als Schüler gewohnt. Sie hatte eine einzige Tochter, die noch halb ein Kind war, als ich nach Italien ging, und inzwischen zur Jungfrau herangewachsen war. Das arme Mädchen that mir bitter leid. Der Vater war seiner Zeit ein geschätztes Modell gewesen – weißt Du, was das ist, Kind? – Gut! – aber als Trunkenbold gestorben, nachdem er die Seinen in tiefes Elend gebracht. Auch die Mutter hatte kein gutes Leben geführt und, grausam heftig, wie sie war, ihre schlimmen Launen immer an dem armen Kinde ausgelassen. Ich hatte es stets zu trösten gesucht und, so weit ich vermochte, in Schutz genommen und ihr gesagt, wenn ich als ein reicher und berühmter Mann wieder käme, wollte ich für sie sorgen. Nun war ich freilich noch lange kein berühmter Mann und reich war ich gewiß nicht, aber ihr ging es mißlicher als je. Sie war in ihrer Weise hübsch geworden, und die Mutter wollte sie zwingen, auch Modell zu stehen, was für ein ordentliches Mädchen unmöglich ist. Ich sah keine andere Rettung für sie, als daß ich sie zu meiner Frau machte. Das brachte mich in meinem Geschäfte just nicht weiter und, wie ich bald sehen sollte, in meiner Kunst zurück. Die Kameraden schalten oder spotteten und gingen mir aus dem Wege; auch der Meister war sehr unzufrieden, ließ mich aber deßhalb nicht fallen, sondern suchte mich zu fürdern, wenn auch nicht mehr so eifrig wie früher, und wandte mir einen und den andern Auftrag zu.
Es wollte mir nichts Rechtes mehr gelingen. Der Künstler muß in seinem Hause eine reine wohlige Luft athmem, und wenn es nicht der Fall ist, spürt man es bald an seinen Werken: es liegt kein Glanz mehr darauf, oder aber sie werden aus Schwächlichkeit übertrieben, wie Jemand, der fühlt, daß er Unrecht hat, heftig wird. Ich merkte es wohl, lange bevor die Anderen es mir sagten. Das machte mir tiefen Kummer, hauptsächlich meines Meisters wegen, der so große Hoffnungen auf mich gesetzt hatte, die ich nun so gründlich täuschen sollte. Ich selbst that mir wohl auch leid, aber noch viel mehr leid würde mir meine Frau gethan haben, hätte ich sie entgelten lassen, woran sie doch im Grunde unschuldig war. Und mußte ich meinen Traum vom Monte Pincio fahren lassen, dereinst ein großer Künstler zu werden – ein guter Gatte und ein guter Vater konnte ich immer sein, und je mehr mein Talent nach der andern Seite abzunehmen schien, desto kräftiger entwickelte es sich nach dieser, wie denn die verstümmelte Natur sich immer wieder zu helfen sucht. Auch die Liebe ist eine Kunst, zu der man, glaube ich, das Talent mit auf die Welt bringen muß. Dies Talent hatte ich, und das konnte mir Niemand und nichts rauben. Ich liebte meine Frau von ganzem Herzen, trotzdem wir wenig zu einander paßten, und ich war überselig, als uns unser Otto geboren wurde. Dann nach ein paar Jahren kam auch der August, und ich hätte so still in meinem Winkel weiter leben können – kein selbständiger Künstler mehr, aber doch ein treuer und gesuchter Gehilfe – wäre nicht das Jahr Achtundvierzig über uns hereingebrochen.
Wenigstens über mich brach’s herein. Ich hatte mich im Leben nicht um Politik gekümmert, wußte gar nicht, daß es so etwas auf der Welt gab. Plötzlich redete alle Welt davon – viel thörichtes Zeug, wie ich jetzt wohl sehe; aber auch Manches, das ich für recht und billig schon damals hielt und dafür halte bis auf den heutigen Tag. Ich hatte mir früher die Fursten als gräßliche Wütheriche vorgestellt, die ihren Spaß daran hatten, arme Menschen nackt auf einen Hirsch zu schnüren und sie von wilden Hunden zerreißen zu lassen, und mich schrecklich vor ihnen gefürchtet. Das that ich jetzt nicht mehr; aber eine Abneigung gegen sie und ein leises Mißtrauen war mir in der Seele sitzen geblieben. Ich hielt dafür, daß Menschen, die nie gefroren und gehungert hatten, nicht wissen könnten, wie den armen Leuten zu Muthe sei und was sie bedürften, und schon deßhalb nicht richtig für diese Bedürfnisse sorgen könnten beim besten Willen. Und weiter, daß sie diesen Willen oft genug gar nicht haben würden, denn es sind ja schließlich doch auch nur Menschen, und der weiseste der Menschen hat gesagt: wo unser Schatz ist, da ist auch unser Herz.
Der Schatz der Fürsten aber ist ihre Macht und Herrlichkeit, von der sie nicht lassen und lieber ihr Leben daran setzen, wie es denn so Manche gethan haben. Mit einem Worte, Kind, ich war von jeher Republikaner gewesen, ohne es zu wissen, und war es jetzt wissentlich, oder wäre es doch gern gewesen, wenn es sich hätte machen lassen. Das schien nun nicht der Fall; aber dann, meinte ich, sollten die Fürsten wenigstens ihre Völker regieren, wie diese regiert sein wollten, denn die Völker seien nicht der Fursten wegen da, sodern umgekehrt, und wenn das deutsche Volk einen Kaiser wollte, dem die anderen Fürsten gehorchen sollten in allen großen Angelegenheiten, so dürfe Der, welchem es die Krone böte, nicht Nein sagen. Das schien mir Alles so sonnenklar, und ich begriff gar nicht, wie die Leute darüber so lange Reden halten konnten, wie der Onkel seiner Zeit gethan hatte. Und richtig, da war auch der Onkel. Er hatte gehört, daß es bei uns in Dresden bald losgehen werde, und war herbeigeeilt mit seiner treuen Büchse, um für ,die gute Sache‘ zu kämpfen und zu fallen, wen’s denn sein müsse. Nun, Kind, es ging los, und er hat für die Sache, die er für die gute hielt, gekämpft und ist gefallen an meiner Seite auf der Barrikade in der Schloßstraße, mitten durch seine breite Brust und sein braves Herz geschossen.“
Der Vater strich sich nachdenklich durch den grauen Bart. Mein Blick blieb mit einem ehrfurchtsvollen Schauder auf der verstümmelten Hand haften; ich brauchte jetzt nicht mehr zu fragen: warum hast du nur vier Finger? wie an jenem Morgen, als der Major hier in der Werkstatt war und auch danach fragte, und der Vater die leise Antwort gab, die ich nicht verstand. Ach, wie vieles brauchte ich jetzt nicht mehr zu fragen! und wie vieles hatte ich doch noch zu fragen! Meine Seele war in einer zitternden Erregung, als wüßte sie, daß dieser Abend über mein Leben entscheiden sollte.
„War er auch dabei, der Major?“
Der Vater nickte.
„Als blutjunger Lieutenant. Sie hatten ein paar Regimenter aus Preußen kommen lassen; dabei ist er auch gewesen. Er hat mich sogar selbst gefangen genommen und mir auch wohl das Leben gerettet. Denn die wüthenden Soldaten wollten uns alle todt schlagen, obgleich wir uns nicht mehr wehren konnten; und er hat sich mit gezogenem Degen zwischen sie und uns geworfen. Er erinnert sich natürlich des armen blutenden zerschundenen Barrikadenmannes nicht mehr; ich habe ihn sofort wieder erkannt, als ich vor acht Jahren hierher kam: ich meine, er hat sich seitdem kaum verändert.“
„Und dann hast Du wohl gefangen gesessen, Vater?“
„Dann habe ich gefangen gesessen – in Waldheim in Sachsen; man hatte mich auf Lebenszeit zum Zuchthaus verurtheilt.“
„Auf Lebenszeit!“ rief ich entsetzt.
„Der Tod wäre mir freilich lieber gewesen,“ erwiderte er mit seinem schwermüthigen Lächeln, „aber man fragte mich eben nicht. Ebensowenig, ob ich das Tischlern verstehe, wozu man mich kommandirt hatte, als neine Hand so weit geheilt war. Siehst Du, Kind, so bin ich Tischler geworden und auch sogleich Sargtischler. Denn es waren viele von uns in einem jämmerlichen Zustande ins Gefängniß gekommen; gar manchem zehrten Kummer, Gram und Verzweiflung am Herzen und die bange Sorge um die Ihren, die sie oft hilflos zurückgelassen; dazu die veränderte Lebensweise und – genug, der Tod hielt reiche Ernte, besonders in den ersten Jahren, und ich hatte vollauf Gelegenheit, mich in meiner neuen Kunst zu üben. Mein Fleiß und meine Geschicklichkeit blieben nicht unbemerkt; man machte mich zu einer Art von Oberarbeiter und gewährte mir sogar einen kleinen Nebenverdienst, worauf ich es eben abgesehen hatte. Konnte ich doch so aus dem Gefängniß heraus für Frau und Kinder, wenn auch kümmerlich, sorgen; das Uebrige, hoffte ich, würden ja wohl barmherzige Menschen thun. Da – Kind, erschrick nicht! – da eines Tages läßt mich der Direktor rufen, um mir mitzutheilen, daß meine Frau sich habe von mir scheiden lassen, wozu sie, als Gattin eines zu entehrender Strafe Verurtheilten – abgesehen von der Lebenslänglichkeit der Strafe – berechtigt sei. Und wieder ein paar Monate später folgte dieser Mittheilung die andere, daß sie geheirathet habe. Ich war darauf gefaßt gewesen, aber die Wahl, die sie getroffen hatte, erschreckte mich: ein früherer Kollege von mir, der aber bereits, ehe ich nach Waldheim kam, in Trunk und Wüstheit schier verkommen und in den Maitagen als Spion und Verräther der Sache, zu der er sich scheinbar bekannte, gebrandmarkt war. Und ich wußte, wer die Aermste, die nie einen eigenen Willen hatte, zu diesem Schritt gedrängt, der sie ins Verderben führen mußte – sie und meine unglücklichen Kinder. Sie war für mich verloren und war verloren, und der barmherzige Tod hat denn auch bald ein Einsehen gehabt und sie erlöst. Aber die Kinder! die Kinder! Die mußte ich zu retten suchen. Acht Tage später war ich aus dem Gefängniß entsprungen.“
„Hurrah!" rief ich und schlug dann die Augen nieder, beschämt von der tiefen Schwermuth, die aus dem Auge des Vaters blickte, trotzdem er über meinen knabenhaften Enthusiasmus zu lächeln versuchte.
„Nun ja," sagte er, „es war schon eine schöne Sache, wieder einmal die Luft außerhalb der Gefängnißmauern zu athmen und die Bäume des Waldes über mir rauschen zu hören. Und dazu hatte ich jetzt Tag und Nacht Gelegenheit, denn ich lebte im Walde – in meiner Heimath – ,oben auf dem Walde‘, weißt Du – wie in der Kinderzeit: von Beeren und von dem Brot, das mir der Bruder Nagelschmied und die anderen verstohlener Weise reichten, wie ich denn auch verstohlener Weise manchmal in einer ihrer Hütten schlief. Denn sie waren mir fortwährend hart auf der Spur, wie es denn auch thöricht von mir gewesen war, gerade nach der Heimath zu fliehen, wo sie mich am ehesten suchen mußten. So konnte ich denn auch nicht daran denken, zu den Kindern zu gelangen, trotzdem ich wußte, wo sie sich befanden. Es war gekommen, wie ich gefürchtet: der schlechte Mensch hatte sie aus dem Hause gejagt – sie und die Großmutter, trotzdem gerade diese ihm die Tochter ausgeliefert. Ich mußte also weiter und gelangte unter mancherlei Gefahren immer durch Wald und Oeden auf Pfaden, die nur Kohlenbrenner und Schmuggler kannten, über die Grenze nach Böhmen, wo ich mich einigermaßen sicher fühlen durfte und bald die Kinder sammt der Großmutter nachkommen lassen konnte. Ich hatte nämlich, von einigen Gesinnungsgenossen unterstützt, das im Gefängniß erlernte Handwerk wieder aufgenommen; an die Kunst dachte ich nicht mehr; sie war und blieb mir ein Heiligthum, dessen ich mich unwürdig gemacht hatte und das ich nie wieder betreten durfte. Auch nicht wieder betreten wollte trotz des Zuredens Deiner Mutter. Ich weiß nicht, ob sie es gutheißen würde, daß ich Dir dies alles erzähle; aber –“
Der Vater machte eine kleine Pause, sich die Lippen zu netzen. Ich wagte nicht, die Augen aufzuschlagen, damit er das Fieber der Erwartung, von dem ich fühlte, daß es in ihnen brennen müsse, nicht sehen möge. Meine Mutter! Zum ersten Male trat sie in die Erzählung ein. Woher? Wie? mir siedete das Blut in den Schläfen, während ich so da saß mit, wie ich glaubte, unbefangener Miene. Sie möchte auch wohl anderen so erschienen sein; aber für das zartbesaitete Herz des Mannes mir gegenüber, das nur im Mitgefühl lebte, gab es keinen Schein.
„Armes Kind,“ sagte er, mir über den Tisch hinüber die verstümmelte Linke auf meine Hand legend; „sieh, noch einen Finger gäbe ich darum oder ein paar, könnte ich Dir nach so manchem Leid und Weh, von dem ich zu berichten hatte, nun von lauter freundlichen und erfreulichen Dingen erzählen. Aber so wenig wie ich mir den Finger wieder wachsen lassen kann, wie nöthig ich ihn oft brauchte, so wenig kann ich die Geschichte meines Lebens, die jetzt auch die Deiner Mutter und Deine eigene wird, anders und heller machen, als sie in Wirklichkeit war, wie gern ich’s möchte. Ich möchte Dir vor allem einen recht wackeren Mann zum Vater geben; aber das ist Dein Vater nicht gewesen. Er hat Deine Mutter, die, als eine Waise, bei entfernten Verwandten im südlichen Rußland aufgewachsen ist, wie es scheint, nur eines nicht unbedeutenden Vermögens willen geheirathet, das sie besaß, und das er bereits nach wenigen Monaten zum größten Theil durchgebracht hatte, als er in einem kleinen Neste da unten in der Krim starb. Da bist Du auch geboren – auf einer Reise, die Deine Mutter zu ihm, der sie verlassen hatte, unternahm, nachdem er sie in zu später Reue an sein Sterbebett gerufen. Deine Mutter hatte sich dann nach Deutschland begeben, woher sie ursprünglich stammte, weil ihr die zweite Heimath so schwer verleidet war, und um ihre Gesundheit, welche arg gelitten hatte, wiederherzustellen. Da hat sie hier an verschiedenen Orten gelebt unter ihrem Mädchennamen – Katharina Frank – Dein Vater hieß Herzog – war übrigens auch ein Deutscher – meistens in Bädern, eben ihrer erschütterten Gesundheit willen. Und eben war sie wieder auf der Reise nach einem böhmischen Bade, als sie in unserm kleinen Orte liegen bleiben mußte, da eine schwere Krankheit, mit der sie sich wohl schon länger getragen hatte, und die durch einen großen Schrecken befördert sein mochte, welchen sie auf der Reise gehabt, zum Ausbruch kam. Es scheint, daß sie selbst und Du, Kind, in irgend welcher Lebensgefahr gewesen seid, aus der man Euch nur eben noch gerettet hat. Ich nehme das aber aus den Phantasieen an, von denen sie während ihrer Krankheit fortwährend gequält wurde, und die ich wohl mit anhören mußte, da sie in meiner kleinen Wohnung lag. Es gab wohl einen elenden Gasthof im Orte, aber der Wirth wollte die Kranke, die ihm die anderen Gäste verscheuchte, in seinem Hause nicht dulden, so nahm ich sie auf und pflegte sie, so gut es ohne Arzt und Apotheker möglich war, mit Hilfe einer barmherzigen Schwester, welche der Geistliche des Ortes herbeigeschafft hatte. Der Geistliche war in seiner Weise ein guter Mann, und er mochte es für seine weitere Pflicht halten, daß, nachdem er die leibliche Krankheit hatte bekämpfen helfen, er nun auch die gefährdete Seele retten müsse. So wurde Deine Mutter katholisch, Kind, und ich wäre es ihr zu Liebe beinahe geworden, denn ich liebte sie sehr, Deine Mutter, und hätte für sie jedes andere Opfer gern gebracht. Nur lügen konnte ich nie, und ein katholisches Bekenntniß, oder irgend ein religiöses Bekenntniß wäre für mich eine Lüge gewesen. Anders aber wollte der Priester uns nicht zusammengeben, und als er es zuletzt dennoch that, war es ein segenloser Bund. Fern sei es von mir, Deine Mutter anzuklagen! Sie hat mir nie verhehlt, daß sie mich nur aus Freundschaft und Dankbarkeit für das, was ich an ihr und Dir getan, heirathen könne; und wenn ich trotzdem hoffte, daß sie mich, den verkommenen Künstler, der zum Handwerker geworden war, und den schon damals das feuchte Loch, in welchem ich in Waldheim drei Jahre lang geschlafen, zum alten Mann gemacht hatte – daß sie mich dennoch dereinst lieben lernen würde, so war das nur einer von den vielen unerfüllten Träumen meines Lebens. Vielleicht wenn ich wieder Künstler und ein berühmter Künstler geworden wäre! Die Möglichkeit dazu war wenigstens gegeben. Mein guter Meister hatte, ohne mein Hinzuthun und Wissen, bei dem Könige von Sachsen meine Begnadigung ausgewirkt; ich hätte, wenn nicht in Dresden, wo es nicht wohl gegangen wäre, so doch wo anders mein Heil versuchen können. Ich aber wußte, daß meine Kraft gebrochen war, daß alles Mühen und Ringen vergeblich sein und mir nur die Ruhe rauben würde, die sich nun doch nach den harten Stürmen in meiner Seele eingefunden hatte, und mir süßer dünkte als alles irdische Glück.
So dachte auch Deine Mutter, nur freilich in ihrer Weise. Wir kamen überein, daß wir in der Freundschaft, zu der wir uns verbunden, neben einander für unsere Kinder leben wollten an einem stillen Ort, möglichst abgeschieden vom Getreibe der Welt. So sind wir aufgebrochen, einen solchen Ort zu finden. Und zuletzt hierher in unsere Stadt gekommen. Die abgesonderte Lage, die ernste Nähe des Meeres, die Sonntagsruhe in den alterthümlichen Straßen sogar an einem Werkeltage gefielen uns gar wohl, und ich armer Thor glaubte, es würde noch alles gut werden. Deine Mutter nahm sich, wie sie versprochen, mit treuem Ernst der Kinder an, ertrug geduldig die schlimmen Launen der Großmutter, und, wenn ich Dir ein guter Vater war, meinte ich – es hat nicht sein sollen. Kaum ein Jahr, nachdem wir uns hier niedergelassen, begannen bei Deiner Mutter die Folgen jener schweren, wohl miemals recht ausgeheilten Krankheit und des grausamen Herzeleids, welches sie so früh erfahren mußte, deutlicher hervorzutreten, daß sie allmählich so wurde, wie Du sie ja nur noch kennst: voll Abscheu vor der Welt, ängstlich jeden Verkehr meidend außer mit dem Einen, dem sie anvertraut hat, was sie das Heil ihrer Seele nennt. Daß sie darüber auch der Freundschaft vergessen, die sie mir einst versprochen – ich habe über etwas, das nur mich selbst betrifft, auch wenn’s mich hart trifft, zu klagen verlernt. Aber daß sie verlernt hat, Dir Mutter zu sein, wie es andere Mütter ihren Kindern sind – das beklage ich tief. Aber, Kind, beklagen und verklagen, nicht wahr, das sind zwei verschiedene Dinge? Wir dürfen nicht vergessen: sie ist eben krank. Und, nicht wahr, Kind, wenn Du auch so Deiner kranken Mutter nie recht hast froh werden können, wir beide haben doch manche gute Stunde zusammen gehabt, wie auch diese wieder eine war? Und nun, Kind, das letzte Glas, wie das erste, auf Dein Wohl!“
Er schenkte die Neige aus der Flasche in unsere beiden Gläser, sorgfältig darauf achtend, daß in meines mehr kam, als in seines. Als wir die geleerten Gläser wieder niedersetzten, überkam mich plötzlich – ich wüßte nicht zu sagen, woher, es wäre denn aus dem Umstande, daß der Wein, den wir getrunken, ein ausländischer südlicher war – der sonderbarste Einfall, der mir das Blut im Herzen jählings stocken machte, als wenn mir jeder Tropfen, den ich von diesem Wein getrunken, zu Gift werden müßte.
„Was hast Du?“ fragte der Vater, erschrocken über meine veränderte Miene. „War etwas in dem Wein?“
„Ja,“ sagte ich, „es war etwas in dem Wein; und es thut mir bitter leid, daß wir ihn getrunken haben. Der Wein kommt von dem Manne, der meine Mutter unglücklich gemacht hat und Dich und mich – uns alle!“
Der Vater schüttelte den Kopf.
„Es kann ja sein,“ erwiderte er, „obgleich es mir sehr unwahrscheinlich däucht. Indessen, wenn es wäre: der Wein wird dadurch nicht schlechter, und soll man seinen Feinden sieben Mal siebzig Mal vergeben – wie oft muß man es seinem Vater, Kind!“
„Ich habe keinen Vater, ich will keinen Vater, als Dich allein,“ rief ich, aufspringend und mich in seine Arme stürzend. „Die Andern sind alle schlecht und feige und drücken sich um die Wahrheit herum. Du, Du allein bist gut und tapfer und verachtest die Lüge.“
Und ganz außer mir warf ich mich von Neuem in seine Arme. Er war kaum weniger erregt als ich, suchte mich aber mit gütigen Worten zu beruhigen, sich dabei anklagend, daß er mich durch seine Erzählung in so große Aufregung versetzt habe.
Ich ließ ihn nicht ausreden.
„Nein, nein!“ rief ich. „Du brauchst Dir nichts vorzuwerfen. Ich hätte Ursache mir zu zürnen, weil ich Dich nicht schon längst gebeten habe, mir alles zu sagen. Ich hätte mir dann diese letzten schrecklichen Stunden erspart. Von jetzt an bist Du mein Pastor und mein Beichtiger, und wenn ich wieder in Noth bin, wie heute, dann komme ich zuerst zu Dir, dem Todten, der seine Todten begräbt!“
„Was willst Du damit sagen, Kind?“ fragte er sanft.
„O,“ rief ich wild. „es ist nur eine Erinnerung an die letzten Worte des Herrn Pastors, und auf Dich hatte er sie gemünzt.“
„Der Todte seine Todten!“ murmelte er.
Er war an den Sarg getreten, auf den er den rechten Arm lehnte, und blickte nachdenklich vor sich nieder.
„Der Todte seine Todten!“ murmelte er noch einmal. Und dann, die Augen erhebend und mich mit seinem schwermüthigen Lächeln anlächelnd:
„Ja, Kind, darin hat der Mann so unrecht nicht; nur ist es anders, als er’s gemeint hat. Sieh, Kind, ich habe vorhin gesagt, daß alle meine künstlerischen Hoffnungen und Entwürfe längst in mir gestorben sind. Das ist auch wahr, insofern, als ich weiß, daß keine, keine, zu fröhlichem Leben wieder erwachen wird. Aber begraben habe ich meine lieben Todten noch nicht, oder begrabe sie doch nur einen nach dem anderen in jedem Sarge, der da zur Thür hinausgeht. Ich brauche sie nicht zu rufen, sie kommen von selbst und sitzen oder stehen bei mir, während ich die Bretter schneide und hoble und leime, wie sie vor mir saßen und standen, damals in den Römischen Tagen: nur daß sie jetzt alle fertig sind, und schöner fast, als ich sie damals geträumt – mir wird es manchmal recht weh ums Herz, wenn ich sie dann in den Sarg lege und sage: Ade! auf Nimmerwiedersehen! Denn die ich einmal so eingesargt habe, die kommen nicht wieder, die sehe ich nicht wieder. Heute –“
Er schlug die Augen nieder und fuhr mit geisterhaft leiser Stimme fort:
„Heute, als ich so eifrig arbeitete, kam eine Gestalt, an die ich nie wieder gedacht seit achtundvierzig, und die ich mir damals so ausgeträumt, trotzdem ich längst wußte, daß ich keine Kraft mehr hatte, sie auszuführen und keine Zeit in dem Waffenlärm auf den Barrikaden; die Gestalt eines Jünglings, der den Genius des Volkes darstellen sollte, das sich, erwachend, auf sein Freiheitsrecht besinnt. Aber heute wollte die Gestalt mir nicht wieder deutlich werden, und je eifriger ich mich darum mühte – auch das Blatt da geholt hatte, meiner Erinnerung wo möglich nachzuhelfen – desto mehr verwandelte sie sich aus dem, was ich noch dunkel wußte, in etwas Anderes, Neues – in Dich, Kind; nahm Deine Gestalt, Deine Züge an, daß ich schier erschrak und sehr traurig wurde, weil mir war, als müßte ich nun nicht Dein Bild, sondern Dich selbst hier in den fertigen Sarg legen und sei dann allein – ganz allein. Bis ich mich besann, wie kindisch das doch sei, und daß Dein Geburtstag sei, und ich die Flasche da hinstellte, aus der ich mit Dir auf Dein Wohl trinken wollte. Und das habe ich gethan – jeden Tropfen – von ganzem Herzen auf Dein Wohl, und daß Dir in Erfüllung gehen möge und zur Wirklichkeit werde alles, was ich für mich nur habe träumen dürfen: Glück und Liebe und hohe Künstlerschaft und ein einiges Deutschland, in dem nur freie Menschen leben. Und daran soll der Wein, in welchem ich Dir das getrunken habe, nichts ändern, er mag nun kommen, woher und von wem er will. Der Wein, den der Priester spendet, ist auch nicht heilig von Haus aus – er wird nur heilig durch die Liebe. Und an ihre Göttlichkeit und Wahrheit, an ihre Kraft und ihren Segen glaube ich und sonst an nichts, denn alles Andere ist nur Menschenwitz und Menschenwahn und Lug und Trug. Und so, Kind, obschon ich ein einfältiger, unwissender Mensch bin, der überall sonst im Leben und mit allem Schiffbruch gehabt hat und vom berühmten Künstler, den er sich einst träumte, zum Sargtischler geworden ist, den Niemand kennt – eines – das Beste – habe ich doch gerettet: ein Herz voll Liebe zu aller Welt und in Sonderheit zu Dir, mein verlassenes, geliebtes Kind. Und nun, Kind, ob Dir die Priester fluchen – wer flucht, der hat die Liebe nicht. Die Liebe kann nur segnen, und mit dieser meiner Liebe segne ich Dich.“
Ich hatte, als er zu reden anhub, am Tisch gestanden, das Herz voll Groll und Haß, wie sie urplötzlich gewaltsam in einem Knabenherzen auflodern, das sich gegen ein Unrecht aufbäumt, welches dem Verstand wie im Blitz klar geworden ist. Dann war es zuerst der unbeschreiblich milde Klang seiner Stimme gewesen, der in meine Seele gefallen war, wie Oel in wildbewegte Brandungswogen. Aber noch immer waren es nur Worte gewesen, die an mein Ohr schlugen, und deren Sinn ich nicht verstand. Und so wäre es auch wohl geblieben, hätte ich nicht nun doch die in dumpfem Unmuth niederwärts blickenden Augen aufgeschlagen. Und hätte ihn gesehen, wie er da stand, überflossen vom sanften Licht der Lampe, er, der lange vor der Zeit zum Greise gewordene Mann mit der kahlen Stirn, den verwitterten, vergrämten Zügen und dem grauen Bart – an dem Sarge, den sein emsiger Fleiß so sorgsam hergestellt für die alte verlassene Spittelfrau. Und als er jetzt die verstümmelte Hand, wie beschwörend, gegen mich streckte, während die träumerischen Augen von einem Glanze leuchteten, der nicht mehr irdisch schien – da war es der Anblick dieses guten, edlen Menschen, der eindringlicher zu mir sprach, als seine Worte. Da war es dieser gute, edle Mensch, vor dem ich, als er nun geendet, anbetend in die Kniee sank.
Und dann lag ich in meinem Bett mit gefalteten Händen und starr offenen Augen, während in einem breiten Mondstreifen auf der Wand die vom Wind durchzausten dürren Zweige des Kornelkirschbaums vor dem Fenster unheimlich tanzten – und wollte beten für alle Menschen. Ich konnte es nicht. Ich konnte für alle Menschen beten, für den Pastor, der dem Vater geflucht hatte, konnte ich es nicht. Nicht für ihn und nicht für den andern, der um meine Mutter schlich. Und nicht einmal für die Mutter selbst, die nichts von mir wissen wollte und nichts von dem Manne da unten, der jetzt auf dem harten Lager in der dumpfigen Werkstattskammer ruhte und der tausendmal besser war als sie.
Ich wälzte mich unruhig hin und her, und eine große Angst befiel mich, daß ich nun doch nicht die Liebe hätte, und daß mich der Vater umsonst gesegnet. Dazu fiel mir ein, was er von der Liebe gesagt, daß sie sich so wenig übertragen und lehren lasse, wie die Kunst; daß wir ihr wahres Geheimniß nur aus uns selber schöpfen, nur aus uns selber lernen können. Würde ich es je lernen?
So rang in bitterer Selbstqual die junge Menschenseele nach Licht und Klarheit, wie draußen über Land und Meer der Aequinoktiensturm wühlte und brauste.
Nur daß in der Natur die Zeiten des Jahres nach ewigen Gesetzen in unwandelbarer Folge sich aneinander reihen, und das arme trotzige Menschenherz nimmer weiß, ob seinem stürmenden Frühling je ein stetiger Sommer folgen wird.
Meine Knabenzeit war völlig zu Ende mit jener Nacht. Ich wußte es nicht, obwohl ich etwas derart spürte an der festeren Kraft, mit der ich jetzt die Dinge angriff, und der größeren Sicherheit, mit der ich den Menschen gegenübertrat. Vergebens, daß der Pastor Renner, der seine Heftigkeit bereuen mochte, jetzt durch freundliches Zusprechen, zuletzt durch offene Bitte, das verscheuchte Schaf zur Heerde zurückzulocken suchte; vergebens, daß der Direktor, welchem er den bösen Fall anvertraut, wieder umgekehrt, zuerst mit Güte, dann gewaltsam und unter Androhung der Strafe der Nichtversetzung meine Hartnäckigkeit zu beugen oder zu brechen unternahm – ich blieb fest, ohne auch nur meine Dränger auf eine spätere Zeit zu vertrösten, in der ich etwa anderes Sinnes werden würde. Ich hörte später, daß man mich, als einen sittlich Unreifen, vom Examen habe ausschließen wollen und daß darüber in dem Lehrerkollegium eine stürmische Scene stattgefunden. Aber Professor von Hunnius war nicht der Mann, der sich durch Heftigkeit, der kein Recht zur Seite stand, einschüchtern ließ. Er bestand darauf, daß ich versetzt und als der Erste versetzt werden müsse; und sagte mir, daß er es gesagt, und daß ich mich nun zusammennehmen solle. Es hätte für mich der Mahnung nicht bedurft; ich wußte ohnedies, was auf dem Spiel stand, durchschiffte muthig und geschickt alle Scyllen und Charybden des Examens und löste das Wort, das der brave Mann für mich verpfändet, ehrlich ein. Die Stimme, mit welcher der Direktor das Resultat verkündete, klang etwas rauh, und er hätte mich bei dem „Qui proficit in litteris“, mit welchem er seine Ansprache an die Versetzten schloß, nicht so grimmig zu fixiren brauchen – ich und alle wußten, daß es auf mich gemünzt war.
So erschlossen sich mir widerwillig knarrend die Pforten der Prima.
Es war an dem ersten Tage nach den Ferien in der großen Zwischenviertelstunde. Die „Alten“
musterten im Vollgefühl der höheren Würde die „Füchse“ und schienen, nach ihren mißvergnügten Mienen zu schließen, an den neuen Acquisitionen keine besondere Freude zu haben, besonders nicht an Emil Israel, der sich, als der Letzte, noch eben durch das Examen gedrückt hatte und der, in Folgte dessen, jetzt auch wieder als der Letzte still auf seinem Platze saß, verschüchtert durch so viel auf ihn gerichtete übelwollende Blicke, daß er nicht mehr die kurzsichtigen Augen aufzuschlagen wagte. Ich hatte mich mit einem ganz Neuen unterhalten, einem, der von auswärts gekommen und mir durch die ernste Miene seines blassen, feingeschnittenen Gesichtes aufgefallen war. Er hatte mir seinen Namen genannt: Adalbert von Werin, und wir wollten uns eben in eine schwierige Optativ- Frage, die in der eben stattgehabten Homer-Stunde nicht zum Austrag gekommen war, vertiefen, als meine Aufmerksamkeit auf unliebsame Weise abgelenkt wurde.
Vor dem armen Emil stand Astolf von Vogtriz, der Bruder von Ulrich (welcher ebenfalls zu den „Füchsen“ gehörte, während Astolf bereits ein Jahr in der Prima saß), und ließ es sich angelegen sein, den „Judenjungen“ nach Gebühr zu hänseln. Ich hatte das Wort über dem Lärmen, das in der Klasse herrschte, nicht gehört, aber ich las es dem schönen Astolf förmlich von den hochmüthig gekräuselten Lippen und sah, wie es den armen Emil gekränkt, an dem weinerlichen Zucken seines Mundes, das ich so gut kannte. Mit ein paar raschen Schritten war ich von meinem neuen Bekannten weg an Emil’s Seite und ersuchte den Andern mit ruhiger Stimme, trotzdem mir bereits das Blut heftig wallte, „meinen Freund ungeschoren zu lassen“.
Die schönen, hochmüthigen Augen wandten sich auf mich mit einem Blick mehr des Erstaunens als des Zornes.
„Und wer bist Du denn?“ fragte er, mich von Kopf bis zu den Füßen messend; „ich habe, so viel ich weiß, noch nicht die Ehre gehabt.“
„Die Ehre würde allerdings auf Deiner Seite sein,“ erwiderte ich, „nach dem Betragen zu schließen, dessen Du Dich hier eben beflissen hast. Ich meinestheils sehe wenigstens keine Ehre darin, einen offenbar Schwächeren zu hänseln, noch dazu in einer so brutalen Weise.“
Wir standen uns dicht gegenüber mit blassen Gesichtern (wenn meines, wie ich vermuthe, so bleich war wie seines); und daß mein Athem in kurzen Stößen kam und ging, wie der seine, hörte ich deutlich genug. Und jetzt sprühten seine Augen hellen Zorn; ich mußte im nächsten Moment einen Schlag von seiner geballten Faust erwarten. Aber er bezwang sich zu meinem Erstaunen und sagte, sich auf den Hacken umdrehend, nur so über die Schulter:
„Wir sprechen uns ein andermal.“
„Ich trage kein Verlangen danach,“ rief ich hinter ihm her.
Ein paar „Alte“, die der Streit herbeigelockt, schienen einen andern Ausgang erwartet zu haben, und nahmen die Sache, die jener hatte fallen lassen, wieder auf. Höhnende Worte von allen Seiten, drohende Gesten. Und dann weiß ich nicht, hatte ich einen, der sich in beleidigend unbequeme Nähe herangedrängt, zurückgestoßen; hatte einer wirklich Hand an mich gelegt – plötzlich ertönte der Ruf „Hinaus!“ und zwölf Hände zugleich hatten mich erfaßt, die Exekution zur Ausführung zu bringen. Es war nicht so einfach, wie sie sich gedacht haben mochten: gewandt und für meine Jahre stark, wie ich war, hatte ich mich mit einer blitzschnellen gewaltsamen Bewegung von ihnen befreit und war meinerseits zum Angreifer geworden, so daß es mir gelang, mir meine sämmtlichen Gegner vom Leibe zu halten, freilich nicht, ohne die Kunst des Boxens, wie ich sie von meinen Freunden in der Hafengasse erlernt, ausgiebig zur Anwendung zu bringen. Dennoch hätte ich zweifellos der Ueberzahl der Feinde in kürzester Frist erliegen müssen, wie der wackere Ivanhoe den seinen am zweiten Tage des Turniers von Asby, wäre mir nicht, eben wie dem „Deschidado“, ein „Schwarzer Ritter“ gekommen, auf den ich nicht gerechnet hatte.
„Hollah!“ rief eine helle Stimme, die den Lärm übertönte, „sechs gegen einen! Schämt ihr Euch nicht?“
Und zwei Fäuste griffen in dem Schwarm einen und schleuderten ihn sechs Schritt links, und einen Zweiten und schleuderten ihn sechs Schritt nach rechts, und als sie so dem, welchem sie gehörten, freie Bahn gemacht, stand er selbst neben mir – Ulrich von Vogtriz – und seine helle Stimme rief:
„Kommt heran, wenn ihr noch etwas wollt! Das sage ich Euch aber, den Ersten, der sich heranwagt, schlage ich nieder, daß er das Aufstehen vergessen soll.“
Es hatte offenbar Keiner Lust, mit dem Hünen anzubinden, als plötzlich Astolf, der sich übrigens an der Rauferei nicht betheiligt hatte, rasch auf seinen Bruder zuschritt, der ihn mit finster zusammengezogenen Brauen erwartete. Aber bevor noch die beiden Brüder aneinander kamen, hatte ich mich zwischen sie geworfen, Ulrich zurufend:
„Halte mir nur die Anderen vom Leibe! Mit Deinem Bruder werde ich schon selber fertig!“
„Hast Recht,“ sagte Ulrich, bei Seite tretend, und dann zu seinem Bruder in gutmüthigem Spott: „Sieh Dich vor, Astolf! es sollte mir um Deine Nase leid thun. Ich weiß, Du hältst große Stücke darauf.“
Adolf schleuderte ihm ein heftiges Wort zu und wandte sich gegen mich, aber es sollte uns glücklicherweise eine Fortsetzung der leidigen, für eine Prima unerhörten Scene erspart werden; der Ordinarius, Professor Willy, trat herein, ließ unter den halb gesenkten Lidern für ein paar Momente seinen Blick über unsere glühenden Gesichter schweifen, machte dann aber mit seiner sanften Stimme nur eine Bemerkung über den häßlichen Staub, welchen wir doch schon um unsertwillen zu erregen vermeiden sollten, bestieg das Katheder und die Lektion begann.
Eine Litteraturlektion, in der das Thema zu unserm ersten deutschen Aufsatz: „Schiller’s Idealismus, mit besonderer Beziehung auf ‚Das Lied von der Glocke‘“ von ihm exponirt wurde in einem Frage- und Antwortspiel, das er geschickt zu leiten wußte und von Zeit zu Zeit durch Exkurse unterbrach, in welchem er schwierigere Punkte zusammenhängend erläuterte. Es war für mich ein eigener Zauber in diesen Ergießungen, denn so mußte man sie wohl nennen. Offenbar war das Herz des Mannes in den Worten die ihm in einem sanft dahingleitenden Strom von den schöngeschwungenen Lippen flossen. Und manchmal wallte es aus dem Strom auf, aber nicht in unruhigen Wirbeln, sondern wie wenn eine Quelle aus der Tiefe nach oben dränge, ihr lauteres Wasser mit dem des Stromes zu mischen, und dann hoben sich wohl auch die halb gesenkten Lider vollends: man durfte in ein paar große, fast schwärzlich blaue Augen blicken, und die schöngeschwungenen Lippen zitterten. Ich hatte dergleichen noch nie erfahren und vernommen. Das war nicht des Pastors Feuereifer, der den Hörer versengte; das war nicht die kühle Logik, mit welcher Professor von Hunnius seinen Schülern die konfusen Köpfe zurechtsetzte – ein paarmal wurde ich wohl an den Vater erinnert, aber doch nur, wie man sich bei einer prunkhaften Zierblume, deren Duft uns berauscht, der bescheidenen Wiesenblume erinnert. Ich fühlte förmlich, wie mir dieser Rausch zu Kopf stieg, aber willig gab ich mich einer Empfindung hin, die mich über mich selbst hinauszuheben schien. Wie gebannt hing mein Blick an dem Redner, und es mochte wohl deßhalb sein, daß auch sein Blick sich wiederholt auf mich wandte und er zuletzt nur noch zu mir zu sprechen schien. Jedenfalls hatte ich alle Anderen und alles Andere – und gewiß die eben stattgehabte Scene – völlig vergessen und erwachte, als die Stunde zu Ende war, mit einem tiefen Athemzuge, wie aus einem schönen Traume.
Und in dieser traumhaften Stimmung war ich noch, als ich durch die Straßen, in welchen heller warmer Frühlingssonnenschein lag, nach Hause schlenderte. Allein: Emil Israel, mein sonstiger stetiger Begleiter auf den Schulwegen, mußte vorausgelaufen sein. Ich mochte ihn heute leicht entbehren. Durfte ich doch überzeugt sein, daß der gute Junge von dem Vortrage unseres neuen Professors kaum ein Wort verstanden habe! Ich aber wälzte, was ich vernommen, eifrig in meiner bewegten Seele und schritt so, nachdenklich, vor mich hin, als sich plötzlich der „ganz Neue“, Adalbert von Werin, zu mir gesellte. Es stellte sich heraus, daß wir so ziemlich denselben Weg hatten: er wohnte mit Mutter und Schwester in einer der Hafengasse zunächst benachbarten Straße, die er mir nannte. Die Straße war womöglich noch weniger vornehm als die Hafengasse, ja, fast verrufen, und ich sagte mir sofort mit jenem Scharfsinn, welchen selbst arme Knaben für dergleichen Dinge haben, daß Leute, die sich da einquartierten, mindestens nicht reich sein könnten. Eine verstohlene Musterung, die ich jetzt zum ersten Male mit dem Anzug meines neuen Gefährten anstellte, schien das zu bestätigen: ein peinlich sauberer, aber auch ebenso dürftiger und augenscheinlich von einer wenig geschickten Hand, vermuthlich zu Hause gefertigter Anzug, der etwa noch zu der nachlässigen Haltung der lang aufgeschossenen hageren Gestalt, aber gar nicht zu dem vornehm spöttischen Ausdruck des feinen blassen Gesichtes stimmte. Und dieser Ausdruck trat noch deutlicher hervor, als er jetzt, nachdem wir uns so weit gefunden, plötzlich fragte:
„Du schienst ja sehr erbaut von all’ den schönen Dingen, die uns der Herr Professor aufgetischt hat?“
„Ja,“ sagte ich erstaunt; „es scheint, Du nicht?“
„Nein, ganz und gar nicht.“
„Und warum nicht?“
„Das ist nicht so einfach. Ich will versuchen, es in dem Aufsatz zusammenzubringen, vorausgesetzt, ich komme nicht, wie ich vermuthe, vorher zu der Einsicht, daß ich besser thue, meine Weisheit für mich zu behalten.“
„Ich möchte gern ein Stück davon hören.“
„Glaub’ ich Dir. Vielleicht wenn wir einmal näher mit einander bekannt sind. Vorläufig meine ich, Du hättest den besten Kommentar zu des Professors Friedens- und Eintrachtspredigt an dem erbaulichen Spektakulo vor der Stunde.“
„Was hat das mit der ,Glocke‘ zu thun?“
„Es ist eben ein Kommentar. Wie heißt es doch gleich:
,Dem Schicksal leihe sie die Zunge;
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
Begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel.‘
Nun, und das Schicksal von langnasigen Judenjungen ist, daß sie von hochnasigen adligen Jungen geprügelt werden und daß, um etwas Abwechselung in das Spiel zu bringen, ein braver Bürgerssohn – Du sagtest, Dein Vater sei Tischler – sich für den Juden mit den Adligen rauft, damit zuguterletzt der Jude beiden, Adligen und Bürgerlichen, die Haut über die Ohren zieht. Und da die Glocke eingestandenermaßen ,selbst herzlos‘ ist, so kann sie ja auch ,ohne Mitgefühl‘ die saubere Bescheerung mit ansehen oder gefälligst ,mit dem Schwunge‘ begleiten.“
„Wenn Du es so nimmst,“ sagte ich, „aber so ist es eben nicht zu nehmen. Einmal ist das ,Schicksal‘, wie wir vom Professor gehört haben, eine Idee, welche Schiller aus der griechischen Weltanschauung in seinen idealen Humanismus hinüber genommen hat, und auf die wir deßhalb nicht allzu viel Gewicht legen dürfen. Und zweitens, wenn das Schicksal oder das Los des Menschen hart ist und Kampf und Zwietracht unter ihnen herrscht, so ist es ja eben die Aufgabe des Idealismus und Humanismus, diese Gegensätze zu mildern, auszugleichen und uns durch die Schönheit zur Freiheit, das heißt zur Einigkeit und Brüderlichkeit zu führen.“
Er war stehen geblieben und blickte mich mit seinem spöttischen Lächeln an:
„Der Tausend! hast Du ein famoses Gedächtniß! gratulire zu der Nummer Eins unter dem Aufsatze! Den bekannten ,ewig Blinden‘ läßt Du aus der schönen Geschichte wohl besser weg? Du weißt, der verdammte Kerl versteht keinen Spaß und hat eine verzweifelte Neigung, mit des Lichtes Himmelsfackel auf Erden etwas unvorsichtig umzugehen, was ihm, in Anbetracht, daß sie ihm nicht strahlt, auch weiter nicht groß zu verdenken ist. Das sind arge Ketzereien, nicht wahr? Vielleicht denkst Du etwas anders darüber, wenn Du so alt bist wie ich.“
Wir schritten schweigend neben einander hin. Ich war nichts weniger als überzeugt, aber es war doch eine Saite in meiner Seele berührt, die von den krausen Reden des seltsamen Genossen wiederklang. Ich weiß nicht, weßhalb mir plötzlich das Bild einfiel von des Vaters Aeltervater, den sie auf einen Hirsch gebunden hatten. Mit fast scheuem Blicke betrachtete ich meinen seltsamen Gefährten, der, ohne für die ihm doch neue Scenerie der Straßen die mindeste Aufmerksamkeit zu zeigen, neben mir herschlenderte.
„Wie alt bist Du?“ fragte ich.
„Achtzehn,“ erwiderte er. „Ich war als Kind viel krank, das hat mich zurückgebracht. Auch habe ich mich erst jetzt entschieden, daß ich studiren will. Vorher sollte ich Soldat werden; bin auch schon ein paar Jahre auf einer Kadettenschule gewesen.“
Wir waren an der Ecke seiner Straße angekommen. Er deutete auf ein Haus linker Hand und sagte:
„Da, in der Spelunke, wohnen wir, Vielleicht besuchst Du mich einmal, wenn Du Zeit hast. Meine Mutter ist ein wenig wunderlich, was ich Dir sagen zu müssen glaube, damit Du an manchen Reden, die sie führt, keinen Anstoß nimmst. Uebrigens sehr gescheidt. Von meiner Schwester sage ich nichts: sie wird Dir schon gefallen. Und, welin ich mich nicht irre, Du ihr auch. Wirst Du kommen?“
Ich versprach es. Er nickte mir zu und schlenderte die Straße hinauf. Ein paar kleine Jungen balgten sich schreiend und heulend in seinem Wege. Er ging um sie herum, aber ohne auch nur nach ihnen hinzublicken, und trat in das bezeichnete Haus, das nicht gerade eine Spelunke, wie er sagte, aber gewiß auch keine Wohnung war, wie sie sich nach meinen Begriffen für eine adlige Familie zu schicken schien.
Ich war während der letzten Wochen selten in das Israel’sche Haus gekommen. Meine Einsegnungshändel, dann die Vorbereitungen zu dem Examen, das ich ehrenhalber glänzend absolviren mußte, hatten mir wenig Zeit übrig gelassen, und dieses Wenige hatte ich darauf verwandt, Freund Emil „einzupauken“. Es war das eine harte Arbeit gewesen, und mehr als einmal hatte ich es schier aufgegeben, dem guten Jungen, der doch mit den grausamsten Logarithmen Fangball spielte, die Geheimnisse des Accusativ cum Infinitiv jemals beizubringen. Auch heute hatte er mir durch einen haarsträubenden Optativ, den er in der Homerstunde verbrochen, die Schamröthe in die Wangen getrieben; dazu der Streit, in welchen er mich in der Zwischenpause verwickelt, und der meine ohnehin schwierige Stellung in der Schule nur noch mehr gefährdete, ohne daß er, um dessenwillen ich mich so ausgesetzt, das kleinste Dankeswort für mich gehabt hätte – mit einem Worte: ich war böse auf ihn, und gerade deßhalb ging ich gegen Abend hinüber, ihm meine Meinung zu sagen.
ich fand Jettchen allein in dem dämmerigen Wohnzimmer, in welchem mir heute das koncentrirte Parfum der vier Getreidearten auf dem Boden ausgesprochener schien, als je zuvor. Sie kam mir mit ihrer gewohnten Taubenschüchternheit entgegen und reichte mir die kleine magere Hand mit niedergeschlagenen Augen, denen ich sofort ansah, daß sie geweint hatten.
„was giebt es, Jettchen?“ fragte ich. „Der unglückliche Emil hat doch nicht gar –“
„Ja, es ist Emil’s wegen,“ sagte sie schnell. „Ich freue mich, daß Du gekommen bist; ich wollte so gern mit Dir darüber reden. Wir sind für den Augenblick ganz allein.“
Wir hatten uns in das Fenster hinter die mit grüner Gaze bespannten Rahmen gesetzt, durch welche ein abscheuliches Licht auf das Gesichtchen mit den rothgeweinten Augen mir gegenüber fiel. Die Dame meiner Ritterthaten kam mir zum ersten Male entschieden häßlich vor. Ich war in der übelsten Laune, die ich höchst unritterlich an dem schuldlosen Mädchen ausließ. Es sei erbärmlich vom Emil, so aus der Schule zu schwatzen und seine Leute zu Hause mit dergleichen Albernheiten zu behelligen. Wenn das noch einmal vorkomme, würde ich meine Hand von ihm ziehen und ihn seinem Schicksal überlassen.
„Du wirst Dich von jetzt nicht mehr so mit ihm zu quälen brauchen,“ sagte das arme, durch meine Heftigkeit vollends verschüchterte Kind. „Emil soll von der Schule abgehen.“
„Wie?“ rief ich erstaunt.
Sie horchte ängstlich hin, ob sich im Hause oder an der Hausthür etwas rege, und fuhr mit leiser, hastiger Stimme fort:
„Es ist nicht recht, aber Dir muß ich es sagen. Vater war schon vorher entschieden, daß Emil nur noch nach Prima kommen solle, um Einjähriger werden zu können, weißt Du. Aber Doktor Lewin, unser neuer Arzt, weißt Du, hat dem Vater versichert, es sei ganz unmöglich; Emil müsse zurückgewiesen werden, schon seiner Augen wegen, er übernehme die Garantie dafür. So wäre auch das garstige Examen unnöthig gewesen – ich meine garstig für Dich, denn Du hast Dich ja so mit ihm plagen müssen – aber Vater bestand darauf, er solle wenigstens einen Tag in Prima gesessen haben.“
„Nun,“ sagte ich, „das kommt mir freilich unerwartet, aber schlimm ist das doch nicht. Warum hast Du denn darüber geweint?“
Sie hob für einen Moment die schweren Lider, blickte aber sofort wieder in den Schoß und erwiderte fast tonlos:
„Darüber nicht. Ich freue mich sogar, daß Du ihn los wirst. Je älter Ihr wurdet, eine desto schwerere Last wurde er für Dich. Einmal des Lernens wegen und dann der andern Knaben wegen. Es war schon schlimm genug hier in der Gasse, und ich habe mich oft halb zu Tode geängstigt; aber in der Schule ist es noch schlimmer – viel schlimmer, zum Beispiel heute: Du hast Dich gegen zwölf Gegner wehren müssen –“
„Sechs,“ warf ich stolz bescheiden ein.
„Gleichviel – es bringt Dir nur Schaden, zumal Du wegen der anderen Sache schon so schlecht angeschriebem bist. Und deßhalb finde ich es auch nicht recht –“
Sie stockte und fuhr dann mit verhaltenem Weinen fort:
„Vater hätte doch nur einfach zu sagen brauchen, daß Emil abgehen solle, da ja doch schon alles vorher beschlossen war. Aber er ist so außer sich über die Sache in der Schule heute – und nun ist er zum Direktor gegangen, um sich darüber zu beklagen, und daß er deßhalb Emil vom Gymnasium nehmen müsse. Ich habe ihn so gebeten, er solle davon nicht reden, denn jetzt würde von der Sache gewiß nicht weiter gesprochen, während es nun herauskommt, daß Du Dich gleich am ersten Tage in der Klasse gerauft hast –“
Sie konnte nicht weiter vor dem Weinen, das sich in unaufhaltsamen Thränen Luft machte; kaum, daß sie noch hervorzubringen vermochte:
„Nun bist Du gewiß bös und willst nichts mehr mit uns zu thun haben."
Ich war allerdings sehr entrüstet. Wer konnte wissen, wie der mir feindlich gesinnte Direktor die leidige Affaire gegen mich ausbeutete, nachdem ihm dieselbe officiell als Grund des Abgangs eines Schülers mitgetheilt war. Ich hatte freilich den Streit nicht provocirt; aber die Vogtriz waren seine Pensionäre, und ich hatte gegründete Veranlassung, auf den Gerechtigkeitssinn des Herrn Direktors nicht allzuvertrauensvoll zu bauen.
Dies überdenkend, saß ich in stummem Unmuth da, während Jettchen jetzt leiser weiter weinte, als, nun doch von uns unerwartet und überhört, die Mutter hereintrat. Sie sah sofort, daß Jettchen mir alles gesagt hatte, und auch ihre Sorge war, wie ich es nehmen würde. Sogar ihre Entschuldigung war dieselbe: der Vater sei außer sich gewesen.
Ich weiß nicht, war es die Wiederholung der identischen Worte, war es eine fast instinktive Empfindung, die im Grunde doch aus meiner intimen Kenntniß der Personen hervorging: ich konnte an das „Außersichsein“ von Isaak Israel über eine derartige Veranlassung nicht glauben. Und hatte weiter den Verdacht, daß auch die beiden Frauen daran nicht glaubten. Ich hütete mich natürlich zu sagen, was in mir vorging, und wurde auch der Mühe, meinerseits zu lügen und die Frauen durch gespielte Unbefangenheit zu beruhigen, überhoben, da jetzt die Hausthürschelle klapperte und Herr Israel mit seiner quecksilbernen Beweglichkeit in das Zimmer trippelte. Er stutzte, als er mich sah, faßte sich aber alsbald und bat mich, ihm in seinem Komptoir einige Minuten zu schenken. Ich folgte ihm sofort über den Flur, wo er mit zwei Schlüsseln: einem großen und einem kleinen, die Thür zum Komptoir aufsperrte und mich hinein und auf ein hartes zweisitziges Sofa komplimentierte, während er selbst auf dem hohen Drehstuhl vor dem Stehpult niederhockte.
Doch nur für wenige Augenblicke, um dann aufzuspringen und heftig gestikulirend vor mir in dem schmalen Zimmerchen zwischen dem großen Geldschrank im Hintergrunde und dem Stehpult am Fenster auf- und abzulaufen:
„Das Maß sei voll; er könne und wolle nicht mehr geduldig mit ansehen, wie sein Emil, sein einziger Sohn, mißhandelt werde aus keinem anderen Grunde, als weil er ein Jude sei und fest im Glauben seiner Väter stehe. Bis jetzt habe er es ertragen in der Hoffnung, daß aus den oberen Klassen einer gelehrten Schule dergleichen Brutalitäten ein für allemal verbannt seien. Er sei mir ja persönlich auf das Innigste dankbar für den Schutz, den ich nach wie vor seinem Emil gewähre; aber dieser Schutz genüge ihm nicht; er wolle den des Gesetzes. Und der werde ihm nicht werden. Diese Ueberzeugung habe er aus seiner Konferenz mit dem Direktor gewonnen„ von welchem er eben komme. Der Direktor habe nicht versprochen, den jungen Herrn Astolf von Vogtriz zu bestrafen, sondern den ,Schuldigen‘, und wer der sei, werde erst die Untersuchung herausstellen. – ,Nun Herr Direktor,‘ habe ich gesagt, ‚ich habe es etwas eilig und keine Zeit, das Resultat abzuwarten, bei dem sich am Ende herausstellt, daß mein Emil ,der Schuldige‘ ist. Ich ziehe es vor, ihn aus einer Anstalt zu nehmen, in welcher ein Knabe selbst in der obersten Klasse nicht ungestraft Jude sein kann. Lieber soll er drei Jahre die Muskete tragen; lieber unter der Last, der seine Schultern nicht gewachsen sind, zusammenbrechen, als noch einen Tag länger die Zielscheibe vergifteter Pfeile sein.‘ – Das habe ich gesagt, und das Wort werde ich halten, so wahr ich Isaak Israel heiße! He?“
Er hatte wieder auf dem hochbeinigen Schemel gesessen, von dem er nun bei den letzten Worten abermals wie elektrisirt herabhüpfte. Ich hatte den Mann nie so gesehen. Ich traute meinen Augen kaum und ebenso wenig meinen Ohren. Was er da vorbrachte, war ja nach dem, was ich eben drüben aus Jettchens wahrhaftigem Munde gehört, ganz offenbar gelogen. Er würde Emil auf jeden Fall jetzt aus der Schule genommen haben. Welchen Grund hatte er, ein anderes Motiv vorzuschützen und aus einer einfachen Sache eine Haupt- und Staatsaktion zu machen?
Er war in dem Hintergrunde des Zimmerchens vor dem großen Geldschranke stehen geblieben, mir den Rücken zuwendend und mit den Schlüsseln in der Tasche klimpernd. Plötzlich drehte er sich wieder um und rief mit heiserer Stimme:
„Wenn der Herr Direktor sagt: es müsse freilich Aergerniß in die Welt kommen, wehe aber Dem, durch den es käme, und damit meinen Emil meint – es giebt viel Aergerniß in der Welt. He? Mir sind Leute ein Aergerniß, die nicht rechnen und nie mit ihrem Gelde auskommen können und sich dabei den Luxus hochmüthiger Herren Söhne verstatten zu dürfen glauben. Wir werden uns nächsten Johanni wieder sprechen, der Herr von Vogtriz auf Nonnendorf und ich, wir werden uns wieder sprechen! – Wollen Sie das Wechselchen prolongiren, lieber Israel? – Thut mir leid, Herr Baron, kann’s beim besten Willen nicht so lang machen wie eine Judennase! He?“
Isaak Israel lachte, und es klang fast wie das Klappern der Hausthürschelle. Es beleidigte mein Ohr, wie die Reden, die der Mann führte, mich innerlich verletzt, ja empört hatten. Ich verstand zwar von Geschäften ganz und gar nichts, hatte nur eine äußerst vage Vorstellung von einem Wechsel, glaubte aber annehmen zu dürfen, daß es ein gefährliches Ding sei, welches Dem, der es in seinem eisernen Geldschrank habe, einen großen Vortheil gebe gegen Den, von welchem er es habe, und daß Herr Israel sich dieses Vortheils gegen den Vater der beiden Vogtriz bedienen wollte, und um sich desselben recht nach Herzenslust bedienen zu können, jetzt den Beleidigten spiele, ohne danach zu fragen, ob er mich – den Freund seines Sohnes – dadurch nicht in die größten Ungelegenheiten bringe. Ja, war denn das nicht buchstäblich, wie mein spöttischer Begleiter auf dem Nachhausewege gesagt hatte? Hatte ich, der Bürgersohn, mich nicht für den Judensohn nur deßhalb mit den Adligen geschlagen, damit jetzt der Vater Jude sein Müthchen kühle an den Adligen auf Kosten des Bürgersohnes?
Ich erschrak über das grelle Licht, das da plötzlich in meine Seele fiel. Bisher hatte ich den kleinen Mann, der mich immer mit so ausgesuchter Höflichkeit behandelte, den ich gegen die Arbeiter und nun gar gegen seine Familie nie anders als wiederum höflich und freundlich gesehen, für das harmloseste Wesen von der Welt gehalten. Nun, wie er da vor mir in dem Zimmerchen hin- und herhuschte mit seltsam zappelnden Bewegungen während des eifrigen Sprechens, das beinahe ein Kreischen war, bald die rechte, bald die linke Hand an das Ohr legend, um zu hören, ob sich auf dem Flure etwas rege, oder ich vielleicht ein Wort geäußert habe, erschien er mir wie ein böses Thier, wie eine große Ohreule, die nach Mäusen jagt. Ich konnte ihm das natürlich nicht sagen und saß schweigend da, aber der Ausdruck meiner Mienen mochte beredt genug gewesen sein, oder es war dem klugen Manne auch von selbst beigefallen, daß er seine Karten denn doch allzu offen gezeigt, selbst einem jungen Menschen gegenüber, der von dem Spiele des Lebens so wenig verstand. Wieder legte er die Hand an das Ohr: ich saß noch immer stumm. Er kam zu dem Drehstuhle zurück, hüpfte hinauf, räusperte sich und
[98] sagte – jetzt in einem ganz anderen, seinem gewohnten Tone schmeichelnder Höflichkeit, welcher manchmal sogar etwas Schalkhaftes hatte:
„Habe Ihnen eben ein abschreckendes Beispiel gegeben, lieber Herr Lorenz, he? Ja, ja, alte Leute sollten sich nicht ereifern. Wenn das am dürren Holze geschieht, was soll an Eurem jungen grünen Holze geschehen? Und was können Sie dafür, daß jetzt die Herren Gelehrten, wie früher die Herren Adligen, ihr Müthchen kühlen wollen an dem armen Juden? Der arme Jude wird ihnen zeigen – sagten Sie etwas? he? Nun, ich dachte, Sie würden mich schelten, weil ich zu dem Herrn Direktor gegangen bin. War übrigens so weit ganz höflich, der Herr Direktor. Und daß Ihnen aus der Sache eine Unannehmlichkeit erwächst, daran ist nicht zu denken. Da habe ich vorgebeugt. Und auch meinem Emil dürfen Sie es nicht nachtragen; Sie müssen sein Freund bleiben. Was wäre mein Emil ohne Sie! Und – Sie sagten etwas? he? Nun, ich wollte eben bemerken: ich würde glücklich sein, wenn ich etwas dazu thun könnte, Sie meinem Emil auf die Dauer zu erhalten, immer an seiner Seite, als sein Berather und starker Helfer. Mein Emil ist nicht stark –“
„Außer im Rechnen,“ murmelte ich.
Herr Israel hatte es diesmal doch gehört, ohne die Hand an das Ohr gelegt zu haben. Er lächelte schalkhaft:
„Außer im Rechnen! he? ganz recht. Und deßhalb soll er auch Kaufmann werden – ich habe bereits vorläufig mit Konsul Riekelmann gesprochen – konfuser Kopf, aber doch die größte Firma hier am Platze – was ich sagen wollte! ja: zum Kaufmann gehört mehr als bloß Rechnen. Dazu gehört Muth, Welt- und Menschenkenntniß, ein feines Benehmen, ein einnehmendes Exterieur – lauter Dinge, die Sie entweder bereits besitzen oder sicher mit den Jahren sich spielend aneignen werden. Sie sagten? he? Wozu auch: Sie sind viel zu klug, um es nicht längst gewußt zu haben, wo ich hinaus will. Was könnten Sie, wie heute die Geschäftslage ist, Besseres thun, als Kaufmann werden? Ihr Stiefvater ist ein braver Mann, aber – unter uns – in bedenklicher Weise unpraktisch. Ich sehe die Zeit kommem, wo er nur noch mit Schaden arbeitet. Ihre Frau Mutter hat, glaube ich, einiges Vermögen – Sie sagten etwas? he? – Nun, so muß ich freilich offen sein. Ihre Frau Mutter hat einiges Vermögen, das in meinem Geschäft angelegt ist, he? und das ich höher verzinse, als sonst üblich. Es ist so viel: Sie könnten dereinst von den Zinsen leben, das heißt: bei bescheidenen Ansprüchen. Aber wer steht Ihnen dafür, daß Ihre Frau Mutter, im Falle das Unglück wollte, daß Ihr lieber Stiefvater stürbe, nicht wieder heirathete? Sie sagten? he? Sie halten es für unwahrscheinlich? Ganz und gar nicht: Ihre Frau Mutter ist nach meiner Rechnung kaum in der Mitte der Dreißiger, he? und eine selten schöne Dame, die jetzt für die Andacht lebt, aber das kann sich ändern. Und Sie sind dann auf sich angewiesen – à la bonne heure! Robinson Crusoe? he? Lamas – Kartoffeln in der Asche – Goldklumpen? he? Alles Hirngespinnste, glauben Sie mir: pure Hirngespinnste! In der Welt, wie sie geht und steht, da heißt es Konnexion, Protektion, Gehorsamsein, Katzenbuckeln, den Mantel nach dem Wind hängen, Ja und Nein sagen in einem Athem. Sie sagten? Das sei nicht Ihre Art? he? Das ist es ja gerade, weßhalb Sie Kaufmann werden müssen. Heut zu Tage giebt es nur einen freien Mann: den Kaufmann – natürlich, wenn er Geld hat. Aber dazu ist er ja eben Kaufmann, um welches zu machen. Es giebt heut zu Tage keine Macht, als das Geld. Alles Andere scheint nur Macht, ist aber keine. Sie müssen Alle zu uns kommen: Edelleute, Bauern, Fürsten, Konservative, Liberale, selbst die Socialdemokraten – Alle! Alle! Alle! he?“
Der kleine Mann zappelte mit Händen und Füßen, daß der Drehstuhl in die Wette mit seiner Stimme knarrte, und ich dachte, er müsse herunterfallen. Der komische Anblick und des zappelnden Mannes wunderliche Sprechweise mit den „He’s“ und „Sie sagten?“ wirkten viel stärker als seine Lobpreisung eines Dinges, das ich so gründlich verachtete, wie das Geld. Auch war ich für meine Jahre und mein Temperament heute schon zu lange ernsthaft gewesen – ich versuchte es noch damit, daß ich die Lippen auf einander biß, aber es that’s nicht, und ich brach in ein schallendes Gelächter aus.
„He? He?“ sagte der kleine Mann mit beiden Händen an den Ohren. Ich sprang von dem harten Sofa auf und trat zu ihm.
„Verzeihen Sie, Herr Israel – es ist sehr unschicklich von mir – aber ich: ein Kaufmann und Geld machen! – Sehen Sie, da könnten Sie mich ebenso gut lebendig in Ihren eisernen Schrank –“
Das Lachen wollte wieder ausbrechen, aber ich bezwang mich und sagte ganz ernsthaft:
„Nein, lieber Herr Israel, wenn ich was vermöchte, dann würde ich dafür sorgen, daß es gar kein Geld mehr in der Welt gäbe und Keiner mehr zu katzenbuckeln brauchte und alle Menschen freie Menschen wären, alle, alle!“
Herr Israel saß da, ohne sich zu regen – mit dem auf die Seite geneigten Kopfe, der langen, krummen Nase, den runden, zu mir aufblinzelnden Augen und der Hand, die noch an seinem rechten Ohre lag, mehr als je einer alten Eule ähnlich – wie ich wähnte, in tiefstem Nachdenken über das, was ich eben gesagt hatte, und was mir in meinem jugendlichen Dünkel als der Abgrund der Weisheit erschien.
Und im Vollgefühle dieses meines intellektuellen und moralischen Triumphes über den armen banausischen Geldmacher stolzirte ich zum Komptoir und zum Hause hinaus.
Hinter mir, als ich die Hausthür schloß, klapperte die Schelle überlaut. Wäre ich nicht ein Triumphator gewesen, hätte ich wohl daraus das Lachen hören können, das auf seinem Drehstuhle Angesichts seines eisernen Geldschrankes sicherlich in diesem Augenblicke Isaak Israel hinter dem jugendlichen Phantasten gelacht hat.
[113]
Emil war bei Konsul Riekelmann Sohn als Lehrling in das Geschäft getreten und trug von Stund an Stehkragen und einen hohen Hut, was ihn in meinen Augen nicht schöner machte, da er in Folge der steifen Kragen den Kopf stets krampfhaft reckte, als ob er in der Höhe des Nikolaithurmes nach den Tauben von Konsul Riekelmann Vater mit blinzelnden Augen spähe, und ihm in Folge davon der Hut immer tief im Nacken saß, wodurch er wiederum an Konsul Riekelmann Sohn erinnerte, der seinen Hut so zu tragen in England gelernt. Das kluge Jettchen hatte Recht gehabt: ich empfand seinen Abgang von der Schule als eine wirkliche Erleichterung. Es war nun einmal schlechterdings keine Ehre mit dem guten Jungen einzulegen, und ich hatte lange genug seinetwillen mit den Altersgenossen vornehm und gering auf dem Kriegsfuße gestanden, um mich einigermaßen nach einem ehrenvollen Frieden sehnen zu dürfen. Ein solcher aber schien mir jetzt in der Klasse um so mehr gesichert, als einige Wochen später auch Der, welcher der moralische Urheber der leidigen Zwischenstundenscene gewesen war, Astolf von Vogtriz, aus derselben trat. Er hatte mich freilich seit jenem Tage nicht eines Blickes, geschweige denn eines Wortes gewürdigt, trotzdem wir, ich als der Erste der Neuen, er als der Letzte der Alten, neben einander saßen, und lieber keine Antwort gegeben, als sich von mir „vorsagen“ lassen; aber da wir einmal „nicht für einander existirten“, wie mir unnöthiger Weise einer seiner Freunde vermelden mußte, so war es ja besser, wenn unsere Lebenswege sich trennten. Wie bald sie wieder, und wie oft und hart sie noch später sich kreuzen sollten, ahnte ich zum Glück in meiner Freude über sein Fortgehen nicht. Uebrigens war merkwürdiger Weise auch sein Abgang bereits vorher beschlossene Sache und sein Platz auf einem Institute einer nahe gelegenen Stadt der Provinz, in welchem junge Leute von Adel zum Fähnrich „gepreßt“ wurden, schon seit Ostern offen gewesen. Man hatte nur so lange gezögert, um den Schein zu vermeiden, als stehe sein Fortgehen mit der bewußten Affaire in irgend einer Beziehung.
Dies Alles erfuhr ich durch seinen Bruder Ulrich, der inzwischen mein guter Freund geworden war, ohne sich an das Nasenrümpfen seiner zahlreichen adligen Genossen mehr zu kehren als an die Warnungen und Ermahnungen des Direktors, seines „Nährvaters“, wie Schlagododro ihn nannte. So aber hatte ich ihn umgetauft, sobald ich mir diese Vertraulichkeit erlauben durfte, jenes Wortes eingedenk, mit dem er für mich in die Schranken getreten. Ich wollte ihn erst „Löwenherz“ nennen, aber „Schlagododro“ war entschieden besser, wenn er auch beim Himmel das Herz eines Löwen und die Stärke eines Löwen – Beides ins Menschliche übersetzt – hatte. Nur daß seine blonde Mähne stets nach allen Seiten völlig ungesalbt
starrte und seine mächtigen Glieder ebenso höchst unköniglich durch einander schlenkerten. Auch war ihm die Drohung, „Den oder Jenen todtzuschlagen“, sehr geläufig, wobei es dann aber sein Bewenden hatte, trotzdem er leicht zu einem Berserkerzorn gereizt werden konnte. Sich an einem Schwächeren zu vergreifen, wäre seiner Großmuth unmöglich gewesen – ich könnte ebenso gut silberne Löffel stehlen, sagte er – und einen ihm an Kraft Ebenbürtigen oder gar Ueberlegenen gab es in der Prima nicht. Mußte doch selbst mein Freund Fritz Brinkmann, Vollmatrose, wie er jetzt war, nachdem ihn Schlagododro, mit dem er sich im Scherze zu messen versuchte, auf dem Walle hinter dem Garten in das Gras platt auf den Rücken geworfen „wie einen Flunder“, sich die strammen zerschlagenen Glieder reibend, eingestehen, „daß ihm so was noch nicht vorgekommen“.
Es verging jetzt aber kaum ein Tag, daß Schlagododro nicht in das kleine Haus in der Hafengasse gestürmt wäre, welches ihm, wie er mir selbst später sagte, eine neue Welt erschlossen hatte. Ich höre ihn noch das erste Mal die enge wurmstichige Treppe zu meinem Dachstübchen heraufpoltern und an die Thür donnern, wie der schwarze Ritter mit der Streitaxt an das Thor von Front de Boeuf’s Burg. Und sehe ihn eintreten mit den rollenden verwunderten Augen, die zuerst prüfend nach der Decke fuhren, an die denn freilich die blonde Mähne beinahe streifte. Und wie er sich auf den Stuhl setzte, den ich ihm angeboten, in offenbarer Sorge, ob das wackelige Ding nicht unter ihm zusammenbrechen würde, und wie die rollenden Augen sich dann in aller Stille weiter wunderten. Denn er war viel zu zartfühlend, sich über die Aermlichkeit von Verhältnissen, in die er so zum ersten Male gerathen war, eine Bemerkung zu erlauben. Im Gegentheil: er fand Alles „famos“: mein Zimmerchen, die Ausstattung, das viereckige Fenster mit den vergilbten Scheiben, den halbvertrockneten Kornelkirschbaum vor dem Fenster, den stillen feuchten Hof, über den ich ihn dann durch das Gärtchen oben auf den Wall führte, ihm von dort die Welt meiner Knabenjahre und ihre Herrlichkeit zu zeigen. Sie erschien mir nun, da ich sie gleichsam durch die Augen meines neuen Freundes sah, gar nicht so herrlich. Der Wall kam mir ungewöhnlich niedrig vor und ich ärgerte mich sehr über die Hopp’sche Wäsche, die nachbarlich von den Leinen flatterte und uns die Aussicht auf den Hafen benahm. Dazu war schon seit Tagen Ostwind und in Folge dessen der Vorstrand unter dem Walle ein schwarzer, mit Topfscherben, zerbrochenen Flaschen, Korkstöpseln und dergleichen übersäeter Morast, der Kirchhof nebenbei von unterschiedlichen großen und kleinen Fischen und ein oder zwei ertränkten Katzen. Schlagododro aber fand Alles „famos“, besonders Hopp’s Christine, welche in Begleitung ihrer Mutter und einiger Mägde – alle in sehr zweifelhaften Kostümen – zwischen den Wäscheleinen wirthschaftete und, so weit es die Entfernung irgend zuließ, mit dem blonden Hünen frei und fröhlich zu kokettiren versuchte.
Dann mußte ich ihn zu dem Vater in die Werkstatt führen, wo dann wiederum seine blauen Augen etwas zu rollen bekamen, während er, auf einem Haufen frisch geschnittener Bretter sitzend, sich so bescheiden und verständig mit dem Vater über dessen Handwerk unterhielt, als ob er demnächst in dasselbe eintreten wolle.
„Dein Vater ist famos,“ sagte er nachdenklich, als wir wieder über den Hof nach meinem Zimmer zurückgingen; „aber wo ist denn Deine Mutter?“
Der Zufall wollte, daß wir ihr am Fuße der Treppe begegneten in Begleitung des Geistlichen, der sie zu irgend einem barmherzigen Besuche, wie sie deren häufig machte, abgeholt zu haben schien. Wenigstens trug sie ein mit einer Serviette zugedecktes Körbchen am Arm. Sie war wie immer ganz schwarz gekleidet bis auf das schmale weiße Krägelchen um den Hals; der obere Theil des Gesichts war mit einem schwarzen Spitzenschleier bedeckt. Dennoch war, als sie so, ohne sich aufzuhalten, mit flüchtig kühlem Gruße an uns vorüberschritt, von ihrem süßen Gesicht genug zu sehen gewesen, um die rollenden Augen meines Gefährten vor Verwunderung starr zu machen. Diese wunderschöne, trotz ihrer klösterlichen Einfachheit elegante Dame, die bei der Begegnung kein Wort, kaum einen Blick für mich hatte, war meine Mutter! Der herzige Kahlkopf mit dem zerzausten grauen Barte in Hemdsärmeln, ausgetretenen Schuhen und der defekten, einst grün gewesenen Schürze da hinten in der dunklen Werkstatt war mein Vater! – wie reimte sich das? Ich sah die Frage wohl auf seinem Gesichte und hörte sie aus der Schweigsamkeit, in welcher er während der übrigen Zeit dieses ersten Besuches verharrte – ich konnte sie ihm jetzt noch nicht beantworten.
Ich konnte es später, als wir vertrauter geworden waren und er mit dem sicheren Takte seines Herzens das Eis der Zurückhaltung gebrochen hatte, indem er mir unaufgefordert über die Vogtriz’schen Familienverhältnisse in seiner ungenirten Weise reichliche Auskunft gab.
„Siehst Du, Kind,“ sagte er – er hatte mich so vom Vater nennen hören und der Ausdruck gefiel ihm, daß er ihn sofort adoptirte – „was wir Vogtriz sind, so haben wir uns auf allen Schlachtfeldern herumgehauen, so lange die Welt steht. Denn so alt sind wir wenigstens, wenn nicht noch ein bischen älter. Viel Geld und Gut scheinen wir nie gehabt zu haben; jedenfalls niemals auf lange Zeit: ,Vogtriz, Mutterwitz, aber keinen Vätersitz’ – ist ein Wort über uns schon aus dem vierzehnten Jahrhundert. Na, das mit dem Mutterwitz will ich auf sich beruhen lassen: man mag damals wohl nicht viel Ansprüche nach dieser Seite gemacht haben. Mit dem ,keinen Vätersitz’ hat es aber seine Richtigkeit bis auf den heutigen Tag, denn Nonnendorf, wo wir wohnen, kommt von meiner Mutter, der ich schon viel von Dir geschrieben habe und die sich darauf freut, Dich in den großen Ferien kennen zu lernen. Na, darüber sprechen wir noch. Also: Geld und Gut hatte der Vogtriz von jeher verzweifelt wenig, brauchte aber desto mehr und mußte deßhalb wohl oder übel anderen Herren, die besser zu wirthschaften verstanden, als er, Heerfolge leisten. Zumal den Hohenzollern, die uns darin und in vielen anderen Dingen entschieden über waren. Du weißt ja: Gefolgschaft – uralte germanische Sache, darauf beruhend, daß der Fürst oder König die Mannen an seinem Hochsitz schmausen und zechen läßt und ihnen rothes Gold in Form von Bechern, Armspangen etc. schenkt, wofür denn der Manne sich für den König todt schlagen läßt, respektive andere Leute todt schlägt und es für die größte Schande erachtet, den gütigen Herrn im Kampfe zu überleben. Nun, wie viel Leute die Vogtriz schon für die Hohenzollern todt geschlagen haben, oder wie viel von ihnen bei diesen Gelegenheiten selber todtgeschlagen sind, weiß ich freilich nicht, es müßte aber auf beiden Seiten eine bös lange Liste geben. Kann ein Vogtriz seinen bedrängten Verhältnissen durch eine reiche Heirath aufhelfen, so hat er principiell und praktisch nichts dagegen, wie zum Beispiel mein Vater und ein Großonkel von mir, der hier nicht gut that und in Amerika eine Millionärstochter heirathete, aber die Unvorsichtigkeit beging, bald darauf zu sterben, so daß es mit dem ,Onkel aus Amerika’ für uns leider nichts ist. Manchmal geht auch Einer, der sich von dem traditionellen Mutterwitz eine größere Portion zutraut, in den Civildienst; wie zum Beispiel mein Onkel, der Geheimrath in Berlin, und dessen Söhne, die Jura studiren; oder ich, der ich merkwürdiger Weise auch studiren will. Im Allgemeinen aber sind wir Soldaten, wie der Onkel und wie auch mein Vater, bevor er heirathete, und so ein Paar Schock Onkel und Vettern durch die ganze Armee. Uebrigens muß mit dem Vogtriz’schen Blut irgend einmal eine gründliche Mischung stattgefundcn haben, die durch die Jahrhunderte vorgehalten hat: die Einen sind schwarz und schön, wie mein Onkel, den Du ja kennst, und mein Bruder, oder, blond und dann häßlich, wie mein Vater und meine Wenigkeit. Das heißt: meine Kousine, Onkel Egbert’s Tochter hier, muß ich ausnehmen, bei Gott! Es wäre Verrath, die häßlich zu nennen; aber sie ist allerdings auch nicht in der gewöhnlichen Vogtriz’schen impertinenten Weise blond, sondern in einer ganz besonderen, die eigentlich braunroth oder goldig braun ist – tizianisch, glaube ich – nennen sie’s – und dazu hat sie sammetbraune Augen, mit denen sie Einen ansehen kann, daß man ganz wirr im Kopfe davon wird. Ich wundere mich nur, daß Du sie noch nicht gesehen hast, aber freilich – na, Du wirst sie ja kennen lernen, wenn Du in den Hundstagsferien mit mir nach Nonnendorf kommst.“
Dieser mein Besuch auf seinem väterlichen Gute war für Schlagododro eine abgemachte Sache, ebenso wie ich entschlossen, war, nicht hinzugehen, trotzdem ich höflicher Weise zugesagt hatte. Die Möglichkeit, dort seinem Bruder Astolf zu begegnen, hatte für mich gerade nichts Verlockendes, und wie lieb ich auch bereits Schlagododro gewonnen und mit jedem Tage mehr schätzen und lieben lernte, so viel war mir doch bereits klar, daß in unseren Ansichten, in unseren Empfindungen Differenzen herrschten, zwischen denen kein Ausgleich möglich schien. Ich wußte nicht, daß diese Differenzen zwischen Menschen unausbleiblich sind, von denen die einen aus alten Famlilien stammen, welche eine wirkliche Geschichte haben, deren von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbte Tradition ein jeder von ihnen als theures Vermächtniß und für ihn verbindliches Testament seiner Ahnen mit ins Leben nimmt; und die andern dies Leben, so zu sagen, auf eigene Faust, und ohne Verbindlichkeit nach rückwärts, beginnen können und müssen, weil sie schon nicht einmal mehr wissen, wer ihr Großvater gewesen ist. Und ich wußte nicht einmal so recht, wer mein Vater gewesen war. Hielt ich mich aber, wie ich es doch that, zu dem Manne, der mir den besten der Väter ersetzt hatte durch tausendfältige Liebe, und den ich deßhalb von allen Menschen weitaus zumeist liebte, und wollte mir die Geschichte seiner Familie aneignen, nun, so gerieth ich auf jenen Aeltervater, den sein Fürst auf einen Hirsch geschmiedet. Seit jener Nacht war ich ein Fürstenhasser und Republikaner, wie der Vater seiner Zeit gewesen war: ich hatte mit ihm auf der Barrikade gestanden, und sie hatten mir den Finger abgeschossen, und irgend ein Vogtriz hatte Feuer kommandirt. Und hatte mit ihm im Zuchthaus gesessen, zu dem mich ein Ausnahmegericht verurtheilt, dem irgend ein Vogtriz präsidirt; und war mit ihm „oben auf dem Walde“ von Häschern gehetzt worden, wie sein Ahn von den fürstlichen Hunden und sicher hatte irgend ein Vogtriz die Häscher geführt. Wie konnte ich da für die „Gefolgschaft“ mich erwärmen, in welche, wie Schlagododro sagte, die Vogtriz ihren Stolz setzten! wie für den Mann, der Schlagododro’s specielle Schwärmerei war: den Ersten und Stärksten aller Mannen, den glänzenden Paladin, den getreuen Eckhart, den Schirmvogt des Königthums von Gottes Gnaden! Schlimm genug für ihn in meinen Augen, wenn er eine Institution auf einem rocher de bronze befestigen half, welche die freien Griechen und Römer nie ertragen und selbst Barbarenvölker abgeschüttelt hatten, sobald sie sich mündig fühlten!
Auf Schlagododro’s Stirn schwoll die Ader, und seine mächtige Fanst ballte sich, wenn ich in meiner republikanischen Ueberspannung solche Blasphemien vorbrachte. „Du willst Dich nicht vor Bismarck beugen? dem Riesen? Du Wicht, Du Pygmäe, Du Nichts!“ schnob er wüthend. Aber sah ich dann ihm, der mich mit einem Schlage zu Boden strecken konnte, furchtlos in die rollenden Augen, entwölkte sich sofort sein Gesicht, und er legte mir die Hand auf die Schulter. „Kind, Du verstehst von diesen Dingen nichts; ich eigentlich auch nicht, und der Unterschied zwischen uns ist nur der, daß ich sie einmal verstehen werde, und für Dich, wenn Du so fortfährst, die Zeit niemals kommen wird. Denke an das, was ich Dir jetzt sage, und bessere Dich, ehe es zu spät ist!“
Nein, zwischen Schlagododro und mir war eine tiefe Kluft befestigt, die keine Freundschaft überbrücken konnte. Dennoch liebte ich ihn von Herzen, und er liebte mich trotz meiner Ketzereien. „Denn siehst Du, Kind,“ sagte er, „darauf gebe ich nichts. So hast Du Dich auch in die Sache mit dem Pastor nur hinein geredet und wirst Dich ebenso wieder hinausreden; Du bist zu klug, um Dein lebelang ein wunderlicher Heiliger werden zu wollen, wie Dein Stiefvater, der übrigens ein prächtiger alter Herr ist. Du mußt nur erst unter Menschen kommen: zu uns nach Nonnendorf und überhaupt aus diesem kuriosen Winkel heraus. Hier wäre ich vermuthlich auch nicht anders geworden. Nur das Eine weiß ich sicher: mit Emil Israel hätte ich keine Freundschaft geschlossen.“
„Natürlich,“ sagte ich höhnisch, „wie käme denn auch der Ritter zu dem Juden!“
„Außer, wenn er Geld braucht,“ erwiderte Schlagododro ruhig. „Das dürfte bei den Vogtriz öfter der Fall gewesen sein, und ich fürchte, es steht sogar bereits jetzt wieder auf Nonnendorf mehr Israel’sches Geld, als meinem Vater und uns lieb ist. Aber das ist es nicht. Ich könnte keines Juden Freund sein.“
„Hast Du denn schon den Versuch gemacht?“
Schlagododro sah mich statt der Antwort mit wüthenden Blicken an.
„Siehst Du!“ fuhr ich fort. „Und das ist denn Eure gerühmte Ritterlichkeit: man kennt die Menschen gar nicht, giebt sich auch nicht die geringste Mühe, sie kennen zu lernen, sondern haßt und verachtet munter darauf los. Bequem ist das allerdings sehr.“
Er stierte vor sich hin.
„Hast Recht,“ sagte er. „Das ist kein ehrliches Spiel – Wegelagerei. Ueberfall aus dem Hinterhalt. Man muß seinen Feinden die Stirn bieten, denn meine, will sagen unsere Feinde werden die Juden bleiben; aber ich will ihnen wenigstens eine Chance geben. Du sollst mich bei den Israel’s einführen.“
Ich lachte hell auf. Schlagododro in dem dunkeln muffigen Israel’schen Familienzimmer! Das war, wie wenn man einen grimmen Kater in die Gesellschaft von knuspernden Kornmäusen bringt!
„Da ist gar nichts zu lachen,“ sagte Schlagododro. „Ich meine es ganz ehrlich und werde mich durchaus anständig benehmen. Frau Israel gnädige Frau nennen und Herrn I. I. nicht den Kassaschrank ausrauben, trotzdem es gerade augenblicklich um meine Kasse verteufelt schlecht bestellt ist.“
Ich war plötzlich ernsthaft geworden. Die dunkeln Drohungen, welche Herr Israel an jenem Abend vor seinem eisernen Geldschrank gegen Schlagododro’s Vater ausgestoßen, fielen mir wieder ein, und wie gelegen dem Manne Emil’s Kränkung durch Astolf Vogtriz zur Ausführung seiner unfreundlichen Absichten, welche dieselben auch waren, gekommen schien. Nun mochte der zweite Bruder wieder gut machen, was der erste gesündigt.
Indessen, wie wir auch die Sache hin und her überlegten, ein schicklicher Vorwand zur Einführung Ulrich’s in das Giebelhaus wollte sich nicht finden lassen, und bald sollten Ereignisse eintreten, welche nicht nur meinem eigenen alten Verhältniß zu der Nachbarfamilie einen schwersten Stoß versetzten, sondern auch die neue Freundschaft mit Schlagododro stark ins Wanken brachten.
Professor Willy gab unsern vor acht Tagen eingelieferten deutschen Aufsatz: „Lessing’s Humanismus und Nathan der Weise“ kritisirend zurück. Der Ausfall der Arbeiten hatte ihn wenig befriedigt. Ich glaubte es gern, wenn er mit den anderen so unzufrieden war, wie ich in diesem kritischen Augenblick mit der meinigen. Noch gestern hatte ich Schlagododro, dessen Antipathie gegen das Judenthum zu bekämpfen mir als theure Pflicht erschien, ganze Stellen meines Aufsatzes aus dem Gedächtniß recitirt; hatte ihn mit dem Tempelherrn verglichen, dem Manne mit der bitteren Schale und dem süßen Herzenskern; Jettchen mit Recha und konsequenter Weise Isaak Israel mit Nathan, mich bescheidentlich mit dem großdenkenden, vorurtheilsfreien Saladin. Ich hatte freilich in meinem Aufsatz, den ich mit flammender Stirn und pochendem Herzen geschrieben, mein Allerbestes zu geben geglaubt; aber unser Allerbestes erscheint uns in schwachen Stunden als ein Allerschlechtestes. Dies aber war für mich eine jener schwachen Stunden – ich machte mich auf eine fürchterliche Blamage gefaßt.
Und der fatale Ausgang schien gewiß, als jetzt der Professor, nachdem alle übrigen Arbeiten zurückgegeben waren, als das letzte ein blaues Heft in die Hand nahm, das ich nur zu wohl kannte.
Eine kleine fürchterliche Pause, in welcher er seiner Gewohnheit gemäß mit gesenkten Augen dastand, die er jetzt langsam auf mich richtete, während ich die meinen schloß und nur den einen Wunsch hatte, daß ich ebenso auch die Ohren möchte schließen können.
Und nun hob seine Stimme wieder an, seltsam weich und zitternd von einer Erregung, welche die ersten Worte fast unverständlich machte:
„Ich habe hier noch einen Aussatz, den ich mir bis zuletzt aufgespart. Aber es steht geschrieben, die Letzten sollen die Ersten werden. Und dieser letzte ist der erste, ist der beste, ist der einzige, der mich befriedigt, der mich so befriedigt hat, daß ich darüber das traurige Resultat im Uebrigen freilich nicht verschmerzen kann, aber doch weniger schmerzlich empfinde. Denn wenn auch mir in eines Jünglings Seele von so vielen ein Funken des heiligen Feuers glimmt, welches Lessing’s große Seele ganz durchglühte und das er ganz ausgeathmet hat in das Hohe Lied reinster Humanität, als welcher sein ,Nathan‘ durch alle Zeiten klingen wird – nun, so ist dieses Feuer trotz alledem – trotz der banausisch-materialistischen Gesinnung, welche in unseren Tagen die Gemüther der Jugend selbst mit ihrem herzerkältenden Hauche streift – noch nicht erloschen; so braucht man nicht zu verzweifeln, ob auch, wie der Dichter sagt, ,in trübster Nacht der Hoffnung
letzte Sterne schwinden‘; so darf man, so muß man hoffen, daß, was in dem Einen lebt, zum Leben wieder erwachen wird auch in den Andern; ja, daß der Eine berufen und auserwählt sein mag zum Erwecker dieses Lebens in den Andern. Wie denn geschrieben steht, man soll das Licht nicht unter, sondern auf den Scheffel stellen, damit es leuchte vor den Leuten, auf daß sie sich die Augen reiben und erkennen lernen, wieviel schöner das Licht doch ist, denn die Finsterniß. Ihm aber, der das Licht hat - ihm, der es, mit einem anderen neueren Dichter zu sprechen, ,als ein Leuchter durch die Welt tragen‘ soll – ihm rufe ich zu: o, halte es! halte es fest und halte es heilig! Und nie komme in Deine Seele der Gedanke, daß, indem Du es thuest, Du etwas Anderes thuest, als Deine heilige Pflicht und Deine einfache Schuldigkeit! Denn mit dem ersten Gedanken der Art, mit der ersten Regung der Selbstgefälligkeit würde das Licht dunkler brennen und würde erlöschen, so Du dieser Regung Dich hingäbest. Und weil dem so ist, und das Ehrenkreuz eine Ehrenlast, eben deßhalb, lieber Lothar, darf ich es Ihnen hier öffentlich geben, und nicht, wie ich zuerst thun zu sollen glaubte, unter vier Augen. Ihnen, den Anderen, aber sage ich: ich habe diesem hier nichts gegeben, was ich nicht jedem von Ihnen, wäre er an seiner Stelle gewesen, mit ebenso willigem, freudig erregtem Herzen gegeben hätte oder geben würde, böte er mir dazu die Veranlassung. Und daß Sie, meine Lieben insgesammt, aus Ihren Reihen mir eine solche Veranlassung recht bald und recht häufig bieten mögen - das ist der innige Wunsch, mit welchem ich für heute von Ihnen scheide.“
Die Stimme, die sich in der Mitte der Ansprache zu einem vollen, schönen Klang erhoben, war bei den letzten Worten wieder weich geworden und wie von zurückgehaltenen Thränen verschleiert. Ich aber hatte während der ganzen Zeit dagesessen, zitternd in einer Erregung, die mir einen Schauer nach dem andern durch die Glieder jagte. Ich wollte mehr als einmal dem Professor ins Wort fallen, ihn bitten, mich zu schonen, mich nicht dem Gespött meiner Mitschüler preiszugeben; ich fand die Kraft dazu nicht.
Er hatte das Zimmer verlassen; ich meinte, nun müsse die Fluth des Spottes, die er entfesselt, über mich hereinbrechen; ich hatte mich geirrt. Man nahm schweigend seine Bücher zusammen oder sprach von gleichgültigen Dingen - keine leiseste Anspielung auf das, was eben geschehen war; es sollte eben nicht geschehen sein; man wollte es ignoriren. Selbst auf Schlagododro’s ehrlichem Gesicht lag eine leise Verlegenheit, als er jetzt an mich herantrat und, mir die Hand auf die Schulter legend, sagte:
„Na, Kind, laß es Dir nicht zu Herzen gehen. Es war ein bischen stark; aber Du kannst am Ende nichts dafür. Wir sprechen heute Abend noch darüber; ich werde Dich abholen.“
Auch er war davon gegangen; außer mir war Niemand mehr in der Klasse, als Adalbert von Werin. Wir hatten seit jenem ersten Tage den Heimweg nicht wieder gemeinsam angetreten. Er hatte die Gewohnheit, seine Sachen bereits während der letzten Minuten des Unterrichts zu ordnen und dann sofort die Klasse zu verlassen, in welcher er mit Niemand verkehrte, kaum jemals mit Diesem oder Jenem ein gleichgültiges Wort wechselte. Mich hatte er sogar sichtlich gemieden, und ich war es zufrieden gewesen: meine Freundschaft für Schlagododro füllte mich ganz aus, während ich mich gegen den schweigsamen, sarkastischen Gesellen eines Gefühls nicht erwehren konnte, das aus Achtung vor seinem Fleiße, seinen Kenntnissen und aus einer Art von Scheu, die ich mir nicht weiter zu definiren suchte, seltsam gemischt war. Und dann hatte ich ein schlechtes Gewissen gegen ihn: ich war der Einzige, dem er in seiner Weise entgegen gekommen war, und ich hatte das Entgegenkommen nicht erwidert, war nicht einmal seiner Aufforderung, ihn zu besuchen, gefolgt. So machte mich denn das tête-à-tête mit ihm, in das ich so unerwartet gerathen war, verlegen und befangen, um so mehr, als ich zu bemerken glaubte, daß er dasselbe durch sein ungewöhnliches Zögern absichtlich herbeigeführt habe.
Dennoch hatten wir bereits draußen auf der Straße eine Strecke schweigend neben einander zurückgelegt, bevor er, ohne mich anzublicken, in seiner gelassenen Weise begann:
„Ich weiß nicht, ob Du etwas auf mein Urtheil giebst?“
„Doch!“ sagte ich schnell, innerlich froh, daß das Eis endlich gebrochen war.
„Ich sollte eigentlich das Gegentheil vermuthen,“ fuhr er ruhig fort. „Indessen da Du es sagst - und, offen gestanden, ich glaube nicht, daß es bloße Höflichkeitsphrase Deinerseits ist. Welche Veranlassung hättest Du dazu, mir den Hof zu machen? Du hast Freunde oder kannst so viel haben, wie Du willst; ich habe keine und will auch keine haben - außer Einem, den ich leider nicht haben kann, wenigstens nicht zur Zeit. Später vielleicht - wenn es dann nicht zu spät ist.“
„Ich verstehe Dich nicht,“ sagte ich.
Glaub’ ich Dir,“ erwiderte er; „ich habe mich auch etwas dunkel ausgedrückt. Ich will versuchen, ob ich etwas klarer reden kann, ohne indiskret zu werden, was mir sehr verhaßt ist. Wenn ich gesagt habe: Du könntest so viel Freunde haben, wie Du willst, so ist das eigentlich nicht ganz richtig. Oder war doch nur richtig bis heute. Von heute an bist Du – Dank der Unvorsichtigkeit des Herrn Professors – ein Gezeichneter, vor dem man sich bekanntlich hüten soll, und sich die Spatzenköpfe sicher hüten werden. Es ist damit im Grunde nichts geschehen, als daß die Kluft zwischen Dir und den Spatzenköpfen, die immer bestanden hat, offenbar geworden ist. Aber das ist von entscheidender Bedeutung. Du wirst von heute ab Deine Freunde diesseit der Kluft suchen müssen, da, wo Du stehst. Du wirst sehen, wie verzweifelt schwer das hält: Diogenes mit der Laterne am hellen Tage.“
„Ich habe nicht die geringste Anlage zu Diogenes,“ entgegnete ich.
„Du verwechselst, glaube ich, Anlage mit Neigung,“ erwiderte er; „Anlage zum Diogenes hat jeder, der eben kein Spatzenkopf ist. Ursprüngliche Neigung dazu haben die Wenigsten, weil das Leben in der Herde das bei weitem Bequemere scheint, bis man hinreichend getreten und gestoßen ist und zur Einsicht kommt, es dürfte sich doch wohl außerhalb der Herde besser leben lassen. Und das möchte eben der Unterschied sein, der zwischen uns besteht: ich bin bereits zur Einsicht gekommen; Du wirst Dich noch einige Zeit mit dem Aberglauben, daß man in der Herde und für die Herde leben müsse, herumschlagen und darüber könnte es dann, wie ich schon vorhin sagte, zu spät werden - ich denke, Du wirst jetzt wissen wozu. Im Uebrigen: nichts für ungut, was ich hier so herausgeplaudert habe. Man fällt manchmal gegen seinen Willen in die alte Gewohnheit zurück. Da sind wir an meiner Ecke. Und was ich noch sagen wollte? - ja: Du hast mich eigentlich meiner Mama und meiner Schwester gegenüber in einige Verlegenheit gesetzt. Ich hatte ihnen Deinen Besuch angekündigt und muß mich jetzt mit allerlei Ausflüchten herumdrücken. Du könntest wohl die Höflichkeit aufwenden, mich wenigstens aus dieser Situation zu erlösen; es soll weitere Konsequenzen für Dich nicht haben.“
„Ich werde mit Vergnügen kommen,“ sagte ich.
„Lassen wir vorläufig das Vergnügen auf sich beruhen,“ erwiderte er; „ich bin schon zufrieden. wenn Du kommst.“
Er lächelte flüchtig, nickte mit dem kleinen feinen Kopfe und schlenderte in seine Straße hinein, welche wieder von spielenden, sich balgenden, schreienden Kindern erfüllt war. Er schritt durch sie hindurch, auch über ein paar kleine, die auf der Erde lagen, hinweg, ohne ihrer mehr zu achten, als wären es Steine gewesen.
Von der Stunde dieses zweiten gemeinsamen Nachhausegehens verfolgte mich das Gedenken des räthselhaften Genossen Tag und Nacht; denn selbst in meinen Träumen erschien mir sein düsteres Bild, hörte ich seine geheimnißvolle Rede. Es wäre das wohl nicht gewesen, hätte ich mich nicht schon vorher, ohne darauf zu achten und ohne mir dessen bewußt zu werden, innerlich vielfach mit ihm beschäftigt, so daß die Fluth, welche jetzt plötzlich über mich zu kommen schien, längst vorher aufgestaut war. Ich würde sonst auch nicht, wie ich es doch gethan, mich über seine Verhältnisse zu unterrichten gesucht haben, aber Schlagododro, der einzige, an den ich mich um Auskunft wenden konnte – sein Onkel und der Vater Adalbert’s waren früher Officiere in demselben Regiment gewesen – wußte wenig. Der Onkel spräche nicht gern von den Werins, in deren Geschichte diverse dunkle Punkte zu sein schienen. Auch habe Frau von Werin, nachdem sie sich vor einem halben Jahre aus dem kleinen benachbarten Hafenorte in unsere Stadt gewandt, alle freundlichsten Avancen des Onkels hartnäckig zurückgewiesen.
„Nun, und wie mich Werin behandelt hat,“ fuhr Schlagododro fort, „das hast Du ja selbst gesehen. Ich bin wirklich unmenschlich höflich zu ihm gewesen, um des Onkels willen, der mich darum gebeten hatte, und weil mir der arme Teufel leid that, der immer allein umherirrte, eine Seele, die Charon am andern Ufer vergessen hat. Nun, ich will ihn in seinem Vergnügen nicht stören. Wenn’s ihm Spaß macht, zwischen uns umherzusteigen wie der Storch im Salat, mich geniert es nicht. Und Dir, Kind, wenn ich Dir rathen darf, bleibe ihm aus dem Wege. Der Storch hat einen langen Schnabel und schluckt den Frosch über, ehe der arme Kerl es merkt.“
Es waren nämlich bereits wieder mehrere Tage vergangen, ohne daß ich den versprochenen Besuch gemacht hätte, aber Schlagododro, obgleich ich mich hütete, ein Wort davon verlauten zu lassen, mochte mit dem eifersüchtigen Gemüth eines liebenden Freundes meine Absicht ahnen. Kam ich mir doch selbst wie ein Verräther vor, als ich endlich am nächsten Sonnabend, dem letzten Tage, welchen ich mir gestellt hatte, gegen Abend, nachdem ich mich von Schlagododro unter irgend einem Vorwande frei gemacht, den Weg nach der nahen Fährstraße einschlug. Es umwitterte mich etwas wie die Ahnung, daß ich im Begriff stand, das Fahrzeug meines Schicksals in eine andere Bahn zu lenken. Als ob wir lenken könnten, wo wir doch nur einfach getrieben werden von einer unwiderstehlichen Gewalt, die wir vergeblich außer uns suchen, da sie doch nirgends wohnt, als in den unerforschbaren Tiefen des eigenen Gemüths!
Jene Kinder, welche Tag und Nacht auf der Fährstraße zu spielen schienen, glotzten mich, als ich an ihnen vorüberging, mit frechen Augen verwundert an und brachen in ein Geheul aus, indem ich nun nach dem Häuschen abbog, das mir von Adalbert bezeichnet worden war. Offenbar hatten sie mich auf eben dies Haus taxirt und gaben nun ihrer Befriedigung über die Richtigkeit ihrer Konjektur diesen lärmenden Ausdruck. Mit denselben Zeichen der Theilnahme (denn sie waren mir auf dem Fuße gefolgt und standen jetzt, zu einem Rudel geballt, hinter mir in allerdings respektvoller Entfernung) begleiteten sie mein Schellen an der Thür, das leider mehrmals vergeblich war, bis endlich geöffnet wurde, und ich meinen Plagegeistern entrinnen konnte.
Die mir geöffnet hatte, war ein junges Mädchen, etwa in meinem Alter und unverkennbar Adalbert’s Schwester: dieselbe überschlanke Gestalt, derselbe feine schmale Kopf, dasselbe nur ins Weibliche übersetzte Gesicht mit den reinen, strengen Zügen, den wie mit einem scharfen Pinsel gezogenen Brauen über den grauen klaren Augen und den feingeränderten Lippen des kleinen, fest geschlossenen Munden. Sie war offenbar auf mein Erscheinen vorbereitet, hatte mich auch wohl über die Straße kommen sehen, denn sie begrüßte mich sofort mit meinem Namen, sagte mir, daß Adalbert ausgegangen sei, aber sehr bald heimkehren werde, und bat mich, inzwischen in das Wohnzimmer zu treten, wo ich auch die Mutter finden würde, die sich freue, mich kennen zu lernen.
Sie hatte das alles sehr ruhig mit einer Stimme gesagt, die eigentlich sanft war und mir doch unfreundlich vorkam, vielleicht nur deßhalb, weil, während sie sprach, auch nicht der leiseste Schimmer eines Lächelns das ernste Gesichtchen erhellt hatte. Inzwischen hatte sie mich bereits in das Zimmer geführt, und ich stand einer hochgewachsenen Dame gegenüber, welche sich eben von einem mit Büchern und Papieren bedeckten und von voluminösen Aktenbündeln umgebenen Schreibtisch in der Tiefe des Zimmers erhoben zu haben schien; wenigstens hielt sie noch die Feder in der Hand. Ich bat um Entschuldigung, wenn ich gestört habe.
„Mich stört man immer oder niemals, wie Sie wollen,“ antwortete die Matrone; „denn ich arbeite beständig, so kann man mich eben nur in der Arbeit unterbrechen. Und diesmal war mir die Unterbrechung willkommen. Ich war in meinem Exposé an einen Punkt gelangt, welcher eine besonders scharfe Distinktion der einschlägigen politischen Verhältnisse erfordert. Der betreffende Herr, an welchen mein Schreiben adressirt ist - es ist nicht nöthig, seinen Namen zu nennen – gilt allerdings für einen scharfsinnigen Kopf, und ich habe meine letzte Hoffnung auf ihn gesetzt, indessen in Dingen der hohen Politik –“
„Aber, Mama –“ sagte die junge Dame.
„Du hast Recht," unterbrach sich Frau von Werin; „es ist unfreundlich und unschicklich. Ich werde mich dafür in Strafe nehmen, indem ich Euch jetzt verlasse und draußen für ein kleines Abendbrot sorge, an welchem unser junger Gast hoffentlich theilnehmen wird, und das fertig sein muß, bis Adalbert zurück ist. Du weißt, Maria, er liebt es nicht, wenn in seiner Gegenwart häusliche Vorrichtungen getroffen werden.“
Sie hatte bei den letzten Worten gelächelt, zwar nur flüchtig, aber ich war ihr doch sehr dankbar dafür gewesen: der ernste Ton, in welchem hier alles abgehandelt zu werden schien, hatte bereits angefangen, auf mein helleres Gemüth zu drücken.
Maria schien es bemerkt zu haben, denn sie sagte, als die Mutter das Zimmer verlassen und wir uns an eines der niedrigen, mit allerlei Blumen dicht bestellten Fenster gesetzt hatten:
„Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, daß Sie nun endlich doch gekommen sind. Um Adalbert’s willen freilich ist es mir sehr lieb: er ist so viel allein, das thut ihm nicht gut, und gerade auf Sie hält er große Stücke; er hat mir über Sie ein Wort gesagt, das in seinem Munde die höchste Ehre ist. Aber man darf nicht bloß an sich denken, und ich fürchte, Ihnen wird es bei uns nicht gefallen.“
„O, ganz gewiß!“ sagte ich sehr eifrig.
Sie sah mich mit den klaren grauen Augen prüfend an und ihre Oberlippe zuckte kaum merklich, als ob sie lächeln wollte; aber sie that es nicht, sondern fuhr fort:
„Es wäre ja so begreiflich, wenn es Ihnen bei uns nicht gefiele. Wir sind eine freudlose Familie. Sie haben von dem schweren Unglück gehört, das uns betroffen hat?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich dachte es mir,“ sagte sie, „und deßhalb möchte ich Sie davon unterrichten – aus einem sehr egoistischen Grunde. Ich meine nämlich, wenn ich Ihnen ehrlich und offen auf einmal die Wahrheit sage, so wird das einen besseren Eindruck auf Sie machen, als wenn Sie selbst nach und nach dahinterkommem. Nicht wahr, das heißt, mit der Thür ins Haus fallen?“
Wieder zuckte es kaum merklich in ihrer Oberlippe. In diesem Gesicht war etwas, das anders war, als bei den übrigen Menschen. Was aber konnte das sein?
Die klaren grauen Augen mußten in meiner Seele Tiefe lesen. Sie sagte:
„Damit Sie sich nicht zum dritten Male wundern und um mit dem Geringsten anzufangen: ich kann nicht lachen.“
„Sie können –“
„Nicht lachen und nicht einmal lächeln,“ wiederholte sie, – und jetzt hörte ich deutlich einen schmerzlichen Ton in ihrer sonst so gleichmäßig ruhigen Stimme anklingen, – „seit dem Tode Papas. Es hat mich da in dem großen Schrecken eine Art Schlaganfall getroffen. Die Aerzte sagen, das sei etwas sehr Merkwürdiges bei meinen jungen Jahren, und auch, daß nichts weiter davon zurückgeblieben ist, als eine beiderseitige Lähmung des nervus facialis. Mir ist es besser ergangen, als der Mama. Was brauche ich lachen zu können? Ich habe so wenig Veranlassung dazu! Mama kann noch lachen, wenigstens äußerlich. Aber in ihrem Herzen ist kein Lachen; in ihrem Herzen –“
Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und mir war, als ob sie einen Blick nach der Thür des anderen Zimmers werfe, in welchem ich die Mutter kramen hörte. Dann ruhten die klaren Augen wieder fest auf mir.
„Ja so,“ sagte sie, „das können Sie ja gar nicht verstehen. und verzeihen Sie, wenn ich es mit den wenigsten Worten sage: der Vater war Officier, mußte den Abschied nehmen, wurde im Steuerfach beschäftigt, von dem er nichts verstand, gerieth in große Ungelegenheiten, wurde disciplinarisch seines Amtes enthoben und hat sich vor zwei iahren aus Gram erschossen.“
„O mein Gott!“ rief ich.
„Nicht wahr,“ sagte sie, „das ist furchtbar; aber auch Mama hat, wie ich, nach Papas Tode eine schwere Krankheit durchzumachen gehabt – ein Gehirnfieber, und seitdem ist sie - wissen Sie, was eine fixe Idee, eine Monomanie ist?“
Ich starrte sie erschrocken an.
„Ich wußte es nicht,“ fuhr sie ruhig fort. „Ich hörte es zufällig von einem der Aerzte; ich sollte es nicht hören. Dann habe ich mir Bücher verschafft und darüber nachgelesen. Es stimmt alles ganz genau. Mama ist immer bewundert worden wegen ihres scharfen Verstandes, und den hat sie auch noch, wie Sie sich selbst überzeugen werden. Und vielleicht hat sie auch in dem Anderen Recht, und es liegt nicht an ihr, sondern an den Anderen, die das nicht einsehen können – oder wollen. Aber Mama glaubt, sie kann sie dazu zwingen, daß Papas Proceß revidirt werden müsse und dabei an den Tag kommen werde, daß er zu Unrecht verurtheilt ist und also gar nicht hätte zu sterben brauchen.“
Ich hatte wohl, als sie so sprach, unwillkürlich nach dem Arbeitstisch geblickt mit den hohen Stößen von Büchern, Papieren und Akten.
„Das ist nur ein kleiner Theil,“ sagte sie; „oben auf dem Boden sind noch ganze Körbe voll. Die arme Mama! Es wird ihr ja doch nichts helfen; sie macht sich damit nur immer unglücklicher, und wir sind schon glücklos genug.“
Sie strich sich wieder mit der Hand über die Stirn und fuhr, als ich schweigend voll inniger Theilnahme in ihr feines blasses Gesicht sah, das nicht lachen konnte, nun wieder in ihrem ruhigen Tone fort:
„Sehen Sie, das wollte ich Ihnen vorher sagen, obgleich Adalbert es nicht wollte. Adalbert ist sehr klug, aber immer hat er doch nicht Recht.“
„So vermuthlich auch nicht in dem, was er Ihnen von mir gesagt hat,“ warf ich ein.
„Lachen Sie immer, wenn es Ihnen so zu Muth ist,“ erwiderte sie, während es wieder in ihrer Oberlippe zuckte. „Ich höre so gern lachen und lachte manchmal gern selbst, zum Beispiel in diesem Falle, weil Sie trotz Ihrer Neugier so ehrbar thun. Und nun sollen Sie es hören, damit Sie auch nach der Seite Ruhe haben und nicht etwa wunder denken, was Adalbert von Ihnen gesagt hat. Er hat nichts gesagt, als: er ist ein Israelit, in dem kein Falsch ist.“
„Ich bin aber kein Israelit,“ rief ich eifrig.
„Ach, wenn ich doch jetzt lachen könnte!“ sagte sie.
Ich fühlte, daß ich über die Dummheit, die ich eben vorgebracht hatte und die mir alsbald klar geworden war, bis in die Stirn roth wurde; aber mir blieb keine Zeit, mich zu rechtfertigen. Auf dem Flur erschallte ein schneller Schritt; im nächsten Augenblicke kam Adalbert in das Zimmer.
„Nun, da finde ich Euch ja schon beisammen,“ sagte Adalbert, indem er mir zunickte und seiner Schwester über das dunkle wellige Haar strich: „habt Ihr Euch gut vertragen?“
„Vortrefflich!“ rief ich.
„Ich wußte es voraus, ‚denn: wo das Strenge mit dem Zarten –‘ das Zarte ist natürlich meine sanfte Maria, bei Leibe nicht Du.“
Er war an den Arbeitstisch getreten und hatte einen Blick auf die Schreibereien geworfen.
„Das ist nun schon der fünfte Bogen,“ murmelte er, „und doch wollte ich, sie brächte es auf fünfzig oder fünfhundert. – Wo ist die Mama ?“
Frau von Werin trat bei diesen Worten wieder herein, und Maria ging an ihrer Stelle hinaus; sie kam zu uns an das Fenster, einen Stuhl, den ich ihr bot, ablehnend.
„Ich habe den ganzen Tag gesessen,“ sagte sie; „ich stehe gern ein wenig. Ich fange so an, korpulent zu werden.“
Es war nicht der Fall, wie ich mich, sie jetzt zum ersten Mal aufmerksam betrachtend, überzeugte: eine hagere, magere Gestalt, wenig über Mittelgröße, mit einem kleinen Kopfe, der von sehr krausem und bereits stark ergrautem Haar bedeckt war, wie mit einer künstlichen Lockenfrisur. Das gab ihr ein fast noch jugendliches Aussehen, wie sie sich denn auch mit großer Lebhaftigkeit und Entschiedenheit bewegte und ebenso sprach. Ihr Gesicht konnte ich bei der hereinbrechenden Dunkelheit im Einzelnen nicht mehr erkennen; doch ähnelten ihr wohl ihre Kinder, so daß sie mir, alles in allem, nicht sowohl als die Mutter, sondern mehr als ein älteres Geschwister derselben erschien.
Auch sie mochte mich wohl zum ersten Male genauer ins Auge gefaßt haben.
„Sie sind jünger als mein Sohn,“ sagte sie.
„Zwei Jahre, Mama,“ erwiderte Adalbert statt meiner.
„Es ist nicht seine Schuld,“ fuhr sie zu mir gewendet fort. „Wir alle sind von einem und demselben Streiche zu Boden geschlagen worden und haben Zeit gebraucht, bis wir uns darauf besinnen konnten, daß es doch noch eine Gerechtigkeit auf Erden geben müsse.“
„Ich glaube, wir können zu Tisch gehen, Mama,“ sagte Adalbert, indem er zugleich aufzustehen versuchte, was aber nicht gelang, da seine Mutter ihre Hand nur noch fester auf seine Schulter drückte und in demselben Tone fortfuhr:
„Freilich ist die Gerechtigkeit auf Erden übel dran: sie findet so wenig würdige Vertreter. Aus einem einfachen Grunde: sie ist eben weitaus die
schwierigste aller Pflichten, die wir zu üben haben, wie sie denn auch die heiligste ist. Denn das Gebot der Nächstenliebe, welches uns als das heiligste gepriesen wird, ist entweder ein Nonsens, oder ein Mißverständniß und irrthümlicher Ausdruck, der, richtig gestellt, lautet: Du sollst gerecht sein gegen Deinen Nächsten, wie gegen Dich selbst. Mehr kann kein Mensch und kein Gott von uns verlangen, denn eben dies geht fast schon über die menschliche Kraft. Gerecht sein, Gerechtigkeit üben – wißt Ihr, was das heißt? Das heißt, weise sein, denn Ihr findet sonst nicht heraus, wo das Recht liegt; das heißt, stark sein, oder Ihr seid dem Gegner nicht gewachsen; das heißt, bedächtig sein, oder Ihr fallt in seine Schlingen; das heißt, rasch sein, oder man kommt Euch zuvor; das heißt, milde sein, denn Ihr wollt ja Niemandem schaden; das heißt, streng sein denn Ihr wollt ja dem Recht zum Siege verhelfen. Vor allem aber heißt es, tapfer sein, wie eine Löwin, der man die Jungen geraubt; oder alle jene Tugenden, wenn Ihr sie hättet, und Ihr müßt sie haben, soll die Gerechtigkeit der Leitstern Eures Lebens sein, sind nichts als tönend Erz und klingende Schellen.“
Ein heller Lichtschein aus dem Nebenzimmer, dessen Thür eben von Maria geöffnet war, glitt über das Gesicht der Sprecherin und ließ mir ihre Augen in einem seltsam feierlichen Glanz erscheinen. Ich war ungehalten über die Unterbrechung: ich hätte der wunderbaren Frau nur immer so fort zuhören mögen. War mir doch, was sie da eben gesagt, wie eine Offenbarung gewesen, die mir die schwersten Zweifel zu lösen versprach, an denen sich meine Seele seit jener Nacht meines Geburtstages abarbeitete. Ich hatte damals den Himmel angefleht, mich alle Menschen lieben zu lehren, wie es der gute Vater that: mein Flehen war unerhört geblieben. Es hatte einer falschen Gottheit gegolten: dem Trugbild der Liebe, das ich auf den Thron gesetzt hatte, welcher der Gerechtigkeit gebührte. Gerecht sein – das war es! und alles Andere nur tönend Erz und klingende Schelle. Und diese Frau sollte an einer fixen Idee leiden? Und ihre eigene Tochter, die mir doch so klug und gut erschienen war, hatte es gesagt? Wie sollte ich das verstehen?
Maria war gekommen, uns zum Abendbrot zu holen. Die beiden Frauen gingen voraus; Adalbert hielt mich, während wir ihnen folgten, ein wenig zurück und flüsterte mir zu:
„Kein Wort weiter von diesem Thema! Nur harmlose Sachen – ich bitte Dich!“
Das Speisezimmer war noch kleiner und wo möglich noch dürftiger ausgestattet als das Wohnzimmer, aber alles in ihm, wie dort, von jener peinlichen Ordnung und Sauberkeit, welche Adalbert’s Anzug stets auszeichneten, und die ich nun auch in denen der Damen wiederfand. Beide trugen bis an den Hals geschlossene einfache Kleider von einem dunklen Stoff ohne den geringsten Schmuck an Busen, Ohren oder Händen. Die Mahlzeit bestand aus Kartoffeln in der Schale, frischer Butter und einem gebratenen Fisch, der seines harten Fleisches und der entsprechenden Billigkeit wegen nur von den ärmeren Leuten gegessen wurde. Eine Magd schien nicht im Hause zu sein: wenn es etwas zu holen oder wegzuräumen gab, erhob sich Maria leise, daß man es kaum merkte, und kam ebenso wieder. Bei mir zu Hause, wenn ich, wie ja nun schon seit langen Jahren, mit dem Vater allein war, ging es nicht einfacher zu.
Getreu der Mahnung Adalbert’s, die mir übrigens recht unnöthig schien, gab ich mir Mühe, in den Ton einzustimmen, den er in der Unterhaltung anschlug und bei dem es auf eine harmlose Neckerei zwischen ihm und seiner Schwester hinauslief, nicht ohne daß für mich einige Spöttereien abfielen. Da ich die schwere Waffe des leichten Scherzes nicht annähernd so gut führte, wie die Geschwister, so zog ich in dieser Plänkelei sehr den Kürzeren, trotzdem Maria, wenn sie mich bedrängt sah, mir immer bereitwillig zu Hilfe kam, bis Adalbert, wiederum im Spott, fragte, was denn um alles in dem famosen Nathan-Aufsatze gestanden habe, von dem Professor Willy so viel Schönes gesagt, nur beileibe kein Wort von dem Inhalt? Auch seine Schwester sei unendlich neugierig.
„Ich bin es in der That,“ sagte Maria.
Ich blickte ihr schnell in das Gesicht: die Oberlippe zuckte im mindesten nicht; sie hatte es also ernsthaft gesagt.
„Wenn das der Fall ist, Fräulein Maria,“ sagte ich, „Ihnen will ich die Arbeit gern geben, unter der Bedingung, daß Sie sie nicht ihrem Bruder zeigen, der doch nur seinen Spott damit treiben würde.“
„Das würde mir erstens die Höflichkeit verbieten,“ erwiderte Adalbert, „und zweitens die Bescheidenheit, welche mir, der ich die schlechteste Nummer erhalten, dem gegenüber geziemt, der so Mustergültiges geleistet.“
„Du wirst es auch wieder einmal darauf angelegt haben,“ sagte Maria.
„Durchaus nicht,“ erwiderte Adalbert; „ich habe weiter nichts behauptet und zu beweisen gesucht, als daß Lessing mit seinem Nathan ein großes Unheil angerichtet hat.“
„Und ist das nicht schlimm genug?“ fragte Maria.
„Daß er es gethan hat? oder daß ich es behauptet habe? Warum sollte ich das Letztere nicht thun, wenn das Erstere der Fall ist?“
„Und das willst Du bewiesen haben?“
„Der Beweis war gar nicht so schwierig. Man brauchte nur die Unzahl der Juden herauszurechnen, die sich, seitdem Lessing die Unvorsichtigkeit hatte, den Nathan zu schreiben, für einen Nathan gehalten haben, ohne etwas Anderes zu sein, als ganz Stockjuden, um mich eines Nathan’schen Ausdruckes zu bedienen.“
„Das ist doch natürlich wiederum nur Scherz?“ rief ich.
„Mir nicht, lieber Freund. Mir ist es bitterer Ernst. Es ist kein Spaß, so auf Schritt und Tritt einem Pseudo-Nathan zu begegnen: einem, wie er glaubt, noch besonders Auserwählten seines ohnehin schon auserwählten Volkes, und hinter dem, was noch weniger spaßhaft ist, Hunderte nicht bloß von seinen, sondern auch von den Christenleuten herlaufen, die es auch glauben.“
„Aber ist denn das der Fall?“ sagte Maria.
„Wenn Du mich nur recht verstehen willst, ja. Die Gestalt des Nathan ist nichts weiter als der Träger der Lessing’schen Humanität, richtiger: des von jeder geoffenbarten Religion, ja eigentlich auch jeder Nationalität losgelösten Weltbürgerthums der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, das heißt: des direkten Gegensatzes gegen die dogmatische und nationale Beschränktheit des Judenthums. Und wenn Lessing, trotzdem er deßhalb mindestens eben so gut einen Christen, Mohammedaner, Hindu, Feueranbeter, Wilden à la Seume, oder der Himmel weiß, welchen weißen, schwarzen oder rothen Menschenbruder zum obersten Repräsentanten seines Weltbürgerthumes hätte nehmen können, einen Juden nahm, so war das eine ganz specielle Malice gegen die Götze und Kompagnie – ein Lessing’scher Extrawitz, so zu sagen, der nur, wie andere seiner Witze, das Unglück hatte, nicht von den Zeitgenossen und den Folgenden verstanden zu werden, weder von den Juden, noch von den Christen. Man verwechselte die Schale mit dem Kerne, bekümmerte sich gar nicht um diesen, sondern nahm jene und putzte und emancipirte munter drauf los, bis sie so blitzblank war, daß sich die schönste Humanität darin spiegeln konnte. Und in der blitzblanken Schale steckte und steckt bis auf den heutigen Tag der uralte, vertrocknete, wurmstichige Kern des bornirten, vaterlandslosen, nur auf Gewinn spekulirenden, durch und durch materialistischen ganz gemeinen Juden, um für das mildere Nathan’sche Wort den derberen Al-Hafi’schen Ausdruck zu gebrauchen.“
„Aber das heißt doch wahrlich das Kind mit dem Bade ausschütten,“ sagte Maria.
„Und das hast Du in Deinem Aufsatze geschrieben?“ rief ich.
„Buchstäblich so, lieber Freund, und es hat mich zwei Nächte gekostet, bis ich die Tirade fix und fertig hatte,“ erwiderte er.
„Du maßt mir erlauben, davon Gebrauch zu machen,“ sagte Frau von Werin.
Die Dame hatte so scheinbar gar keinen Antheil an dem letzten Theile unseres Gespräches genommen, daß ich sie ietzt einigermaßen verwundert anblickte, um auch sofort über ihr verändertes Aussehen zu erschrecken. Das feine vornehme Gesicht, das so huldvoll zu lächeln wußte, war wie in feierlichem Ernste versteinert, mit starren Augen, aus denen ein unheimlich stechender Glanz leuchtete. Den Geschwistern war die Wandlung ebenso wenig entgangen, nur daß sie offenbar die Erklärung des unheimlichen Räthsels hatten. In Maria’s Augen lag ein stummer Vorwurf gegen Adalbert, als wollte sie sagen: Du hättest es wissen müssen, und Adalbert schien zu überrascht, um trotz seiner geistreichen Sicherstelligkeit sofort den Uebergang zu einem andern Thema zu finden und so den drohenden Sturm zu beschwören.
„Die Sache kommt mir für meine letzte Instruktion gerade noch gelegen,“ fuhr Frau von Werin immer mit derselben Starrheit der Miene und der Augen fort; „ich bin ganz damit einverstanden, vielmehr, er folgt ja nur meinem Rath und Auftrage, wenn er sich trotz Arnim’s Drängen in der katholischen Frage zurückhält. Die Gefahr, daß die Kirche gegen den furchtbaren Schlag der politischen Konsolidirung Deutschlands, so weit sie bis jetzt im norddeutschen Bunde möglich geworden ist, einen Gegenschlag führen wird, liegt auf der Hand; aber sie ist in keiner Weise zu vermeiden. Wir können uns in dem Augenblicke, wo wir mit Frankreich abrechnen müssen, nicht einen zweiten Feind auf den Hals laden, und noch dazu einen so mächtigen wie die katholische Kirche. Sie möchte uns, wenn es zum Kampfe kommt – und ich habe dem Grafen geschrieben, daß er die nächste Gelegenheit benutzen muß, und sollte er sie vom Zaune brechen – sehr häßliche Diversionen in Italien, Oesterreich und sehr wahrscheinlich selbst in Süddeutschland machen. Das muß vermieden werden, und er sieht das ja auch hoffentlich ein. Aber das Ungück des Mannes und zugleich meine schwere Last – da ich doch nun einmal die Aufgabe habe übernehmen müssen, ihm seine Aufgabe klar zu machen – ist, daß er nur reale Kräfte gelten lassen will und ideale nicht eher in Aktion bringt, als bis ich ihn dazu zwinge. ,Begreifen Sie denn nicht, Herr Graf,‘ habe ich ihm in meiner letzten Instruktion geschrieben, ‚daß man einen Krieg gegen Frankreich nicht mit Kanonen und Bajonetten allein führen kann? Daß auch das patriarchalische Gottesgnadenkönigthum und eine Wiederholung der Legende von 1813 heut zu Tage nicht mehr ausreichen? Daß es mit einem Worte die höchste Zeit ist, an den Idealismus des Volkes zu appelliren, dem Sie so ungeheure Opfer zumuthen wollen? und die sonst Niemand zu Gute kommen werden, als dem Moloch des Materialismus, der in dieser Aera des Erfolges so schon breit genug unter uns sitzt und mit jedem Tage frecher sein gräßliches Haupt erhebt? Ich weiß, Herr Graf, wie Sie sich werden ausreden wollen: Sie brauchen flüssiges Kapital, und woher das nehmen, wenn Sie es vom Markte verscheuchen? Ich warne Sie, Herr Graf, ich warne Sie! Es wird ein Pyrrhus-Sieg, den Sie da mit Geld, Geld und abermals Geld erkämpfen werden und für den Sie dem Sieger, der doch Niemand ist, als das opferfrohe Volk, mit Geld, Geld und abermals Geld ablohnen wollen. Ein Pyrrhus-Sieg für das Königthum von Gottes Gnaden, dessen Erhalter und Mehrer Sie ja doch sein möchten und von Ihrem Standpunkte sein müssen. Glauben Sie mir, Herr Graf, noch einen solchen Sieg, und es ist verloren. Gegen den Drachen, den Sie haben wachsen lassen, schützen es nicht Roß und Reisige; er wird es verschlingen und Sie, uns Alle!‘“
Schon vor den letzten Worten, die sie mit wie beschwörend ausgestrecktem Arm und erhobener Stimme gesprochen hatte, war sie vom Tische aufgestanden, und jetzt schritt sie, feierlich mit dem Kopfe nickend und mit der Hand winkend, zum Zimmer hinaus, uns junge Leute in seltsamer Verfassung zurücklassend: die Geschwister traurig und beschämt, mich voll von einem Entsetzen, das ich doch in keiner Weise äußern durfte, um die Gefühle der Aermsten nicht noch tiefer zu verletzen. Freilich, im Grunde empfand ich nur für Maria, die ihrem Bruder nicht mit einem Worte, nicht mit einem Blicke das Unglück, das er doch heraufbeschworen, zum Vorwurfe machte. Wieder zuckte es in ihrer Oberlippe; aber diesmal wahrlich nicht, weil sie nicht lachen konnte, sondern weil sie nicht in Weinen ausbrechen wollte. Oder konnte sie auch nicht weinen?
Wir hatten uns vom Tische erhoben, schweigend und mit verlegenen Mienen. Ich sah es Adalbert an: es war ihm lieber, wenn ich blieb und that, als wäre nichts vorgefallen. Aber ich hatte nur die Empfindung, daß ich Maria’s Wunsch erfüllen müsse, und sie hatte mich sofort verstanden.
„Wir dürfen jetzt die Mama nicht stören,“ sagte sie leise mit einem Blicke auf das Wohnzimmer.
„Ich brauche meine Mütze nicht,“ flüsterte ich.
„Adalbert wird Ihnen eine leihen. Bitte, Adalbert!“
Er ging sofort hinaus; wir waren so stehen geblieben, ein paar Schritte von einander entfernt, sie mit niedergeschlagenen Augen, die sie jetzt langsam zu mir aufhob mit einem Ausdrucke, der mir durchs Herz schnitt.
„Sie werden nun nicht wieder kommen,“ sagte sie.
„Fräulein Maria –“
Mehr brachte ich nicht heraus; Thränen, die ich doch nicht weinen wollte, erstickten meine Stimme, aber sie hatte mich auch so verstanden.
„Ich danke Ihnen!“ sagte sie.
Wie viel hätte ich darum gegeben, ihr sagen zu können, was ich empfand; aber da kam Adalbert schon wieder zurück. Und dann war ich draußen auf der Gasse, in der es jetzt wirklich still war, und wo ich endlich weinen durfte um das holde Mädchen, das nicht lachen konnte.
Das holde Mädchen!
Ich möchte den Ausdruck nicht zurücknehmen und fühle doch, daß er nicht ganz der richtige ist. Jedenfalls war sie nicht hold in dem gewöhnlichen Sinne. Kann es ein Mädchen sein, aus dessen Kehle nie silbernes Lachen schallt? dessen bestes Lachen nur ein flüchtiges Zucken der Oberlippe ist? ja, das, weil ihm die äußeren Organe zum Lachen fehlen, auch innerlich zu lachen nicht recht gelernt oder wieder verlernt hat, ähnlich wie taub gewordene Menschen nach und nach das Sprechen verlernen? Nein, hold im gewöhnlichen Sinne war Maria nicht. Ich sagte es mir damals schon, wenn ich ihr in dem kleinen Wohnzimmer, das von dem breiten Gezweig einer alten Linde vor der Hausthür zu jeder Tages- und Jahreszeit überschattet wurde, gegenüber saß und ihr in die klaren Augen blickte, so oft sie dieselben von der Arbeit hob, oder auf die niedergesenkte reine Stirn, vor der sich das Halbdunkel zu erhellen schien, und fragte mich dann wohl, woher der Zauber komme, dessen Wirkung auf mich ich doch so deutlich spürte? Als ob ich die Antwort auf die Frage ihr nicht schon aus den klaren Augen, von der reinen Stirn gelesen hätte!
Und ich saß ihr jetzt oft so gegenüber, da sich Frau von Werin, die der Straßenlärm störte, mit ihrem Arbeitstisch in das nach hinten und einem kleinen Gärtchen hinaus gelegene Speisezimmer geflüchtet hatte, ihre „Bismarck-Instruktionen“ zu schreiben, welche Adalbert vor ihren Augen kouvertirte, mit dem Familienpetschaft der Werins versiegelte und – natürlich niemals abgehen ließ; und Adalbert selbst, den man, wie er sich ausdrückte, „mit Gewalt aus der Schule herauslobte“, für das Examen, welches im Herbst stattfinden sollte, „anstandshalber“ einiges „nachreiten“ mußte. Der Faden des halblaut geführten Gespräches riß selten ab, und wir hatten uns schon längst so in einander hineingelebt und hineingedacht, daß wir die Pausen, wenn welche eintraten, nicht mehr als solche empfanden. Es war wie auf einem sanft dahingleitenden Strom, der den Nachen weiter trägt, auch wenn die Ruderer sich für eine Zeit lässig auf die Ruder lehnen.
So hatten wir wieder einmal, indem jedes seinen Gedanken nachging, ein paar Minuten still einander gegenübergesessen, als Maria, die klaren Augen von der Arbeit hebend, fragte:
„Haben Sie sich jetzt über Nonnendorf entschieden?“
„Kommen Sie schon wieder auf dies Thema zurück?“ rief ich.
„So oft und so lange, bis Sie Ja gesagt haben,“ erwiderte sie ruhig.
Das Thema war in der That schon oft zwischen uns besprochen worden, besonders in den letzten Tagen, da ich mich in Kurzem entscheiden mußte. Schlagododro hatte seine Einladung von Zeit zu Zeit wiederholt, wie ein böser Gläubiger einen Schuldner mahnt. Nun war zu den Gründen, aus denen ich schon längst mein gegebenes Vesprechen bedauert hatte, nächst meiner offenbaren Entfremdung gegen Schlagododro noch ein besonders wichtiger gekommen: eben meine Freundschaft zu den Geschwistern Werin. Adalbert hätte mich kaum entbehrt – das wußte ich wohl, und Maria schickte mich sogar fort; aber gerade das war es, wenn ich auch klug genug war, es mich nicht merken zu lassen: ich wollte mich nicht fortschicken lassen; ich war außer mir, daß sie mich fortschicken konnte – auf vier Wochen, die mich eine Ewigkeit dünkten, wenn ich inzwischen von ihr getrennt sein, aus ihrem Munde keines jener klugen, feinen Worte hören sollte, die zu vernehmen für mich war, wie freies Athemholen nach langem Aufenthalt in geschlossenem Raume.
„Thun Sie es um unsert-, wenn Sie wollen meinethalben,“ sagte Maria. „Sie wissen, wie gütig der Major von Vogtriz, den Sie ja auch so verehren, stets gegen uns gewesen ist, und wie wenig wir ihm seine Güte gedankt haben, danken konnten: der Mutter wegen. Sie scheut die Gesellschaft, die sie zu schmerzlich erinnert an das, was sie verloren, und wir Kinder dürften nicht wagen, ihr diese Menschenscheu auszureden, selbst wenn wir es könnten. Sie wissen, warum. Wie gut sie sich auch vor Fremden zu beherrschen weiß – Sie waren ihr vom ersten Augenblick kein Fremder – einmal würde der Moment doch kommen, wo sie – etwa durch Widerspruch gereizt, oder außer sich gebracht durch die sklavische Gesinnung, die in den vornehmen Kreisen am meisten grassirt – sich nicht mehr zu beherrschen vermöchte, ihr großes Geheimniß verriethe und eine Scene herbeiführte, vor der ich schon in der bloßen Vorstellung schaudere. So habe auch ich – von Adalbert spreche ich nicht: er würde sich doch durch Niemand und durch nichts in seinen einsamen Wegen stören lassen – die Liebenswürdigkeiten der Vogtriz, Vater und Tochter, für mein Theil ablehnen zu müssen geglaubt – so schwer es mir, offen gestanden, wurde. Ich bin keine geniale Natur wie Adalbert, aber ich möchte mich gern zu den edlen Menschen rechnen dürfen, und Sie wissen aus Ihrem Goethe, daß ein edler Mensch nicht einem engen Kreise seine Bildung danken kann. Und dann – nun aber merken Sie wohl auf! Eleonore, oder, wie sie sich lieber nennen läßt: Ellinor Vogtriz ist ein selten schönes und reizendes, ja geradezu bezauberndes Geschöpf, mit dem zu verkehren eitel Wonne ist, wie eine balsamische Luft zu athmen, oder eine schöne Musik zu hören – für ein klosterhaftes Mädchen wie ich. Was es für einen Jüngling sein mag, der mit tausend Masten in den Ocean hinausstrebt, wie Sie – oder streben sollte – das wage ich schon gar nicht zu denken, geschweige denn zu sagen.“
„Und nun bin ich vollends entschlossen, hier zu bleiben,“ sagte ich mit einem Ton der Leidenschaftlichkeit, der in unserem Verkehr ein ganz fremder war, sodaß Maria ihre klaren Augen mit einem seltsam fragenden, ja erschrockenen Ausdruck auf mich wandte.
Aber bevor sie das passende Wort fand, uns aus der Verwirrung, in die wir nun Beide gerathen waren, zu lösen, wurde an die Thür gepocht, und auf Maria’s halb unbewußtes Herein trat die hohe Gestalt des Major von Vogtriz in das niedrige Zimmer.
Ich hatte ihn seit Monaten, er mich nicht gesehen, seitdem er vor fünf Jahren an jenem Morgen in des Vaters Werkstatt trat. Was Wunder, daß er in dem lang aufgeschossenen Jüngling, auf den beim Hereintreien sein erster, wie mir schien, erstaunter Blick fiel, den kleinen Knaben von damals nicht wiedererkannte, als Maria ihm meinen Namen genannt hatte, der ihm übrigens geläufig war.
„Ich habe ein gutes Namengedächtniß,“ sagte er: „und überdies habe ich Sie in diesen Tagen oft nennen hören, als den jungen Freund, auf dessen Besuch in Nonnendorf sich alle freuen, nachdem mein Neffe so viel Gutes und Schönes von Ihnen berichtet.“
Er hatte mir dabei die Hand gereicht, die er länger festhielt, als ich erwartet hatte, während er mir dabei prüfend in die Augen zu sehen schien, was meine Verlegenheit nur vermehrte. Er mochte es bemerken, wenigstens ließ er mich los und sagte, nun vor sich niederblickend: „Wie geht es Ihrem Vater? Ich erinnere mich seiner sehr wohl, obgleich ich ihm seitdem meines Wissens nie wieder begegnet bin. Hoffentlich gut?“
Ich erwiderte, daß der Vater in letzter Zeit sehr gegen seine Gewohnheit häufig kränkle und die Arbeit ihm manchmal schwer falle, obgleich er es nicht Wort haben wolle. Der Major erwiderte darauf nichts, sondern fragte, nachdem er wieder so vor sich hingeblickt: „Erinnere ich mich recht, daß Herr Lorenz Ihr Stiefvater ist?“
Ich bejahte es.
„Wie ist Ihr eigentlicher Name?“ fragte er weiter.
„Ich nenne mich nach dem Vater,“ sagte ich, „er hat mich adoptirt.“
Ich wußte wohl, daß das nicht die rechte Antwort auf seine Frage sei; aber es hatte mich noch nie jemand nach dem Namen meines Vaters gefragt und ich selbst hätte ihn nicht gewußt, wäre er mir nicht an jenem Abend, als mir der Vater die Geschichte seines Lebens und der Heirath mit meiner Mutter erzählte, genannt worden. Nun war es zu spät, mein Versehen wieder gut zu machen, da jetzt Frau von Werin, die Maria holen gegangen war, mit dieser in das Zimmer kam. Der Major ging ihr lebhaft entgegen und küßte ihr die Hand. Frau von Werin bat ihn, Platz zu nehmen, während sie sich zugleich auf das Sofa setzte. Maria und ich wollten uns entfernen, als der Major sagte:
„Ich bitte, daß die jungen Leute bleiben, wenn Sie, gnädige Frau, nichts dagegen haben: Ich komme nämlich mit einer großen Bitte, in der Sie stark betheiligt sind und hoffentlich auf meiner Seite sein werden. Meines jungen Freundes hier bin ich sogar sicher und ich denke, auch Fräulein Maria wird nicht unerbittlich sein, wenn Sie, gnädige Frau, es nicht sind. Es handelt sich aber um nichts Geringeres, als Ihnen Ihr Fraulein Tochter auf einige Wochen zu entführen. Ich habe für meine Ellinor in Nonnendorf zugesagt, und nun läßt sie mir keine Ruhe, ich müsse es ins Werk setzen, daß sie die Zeit in Gesellschaft von Fräulein Maria dort verbringt. Auf Sie, gnädige Frau, dürfen wir ja leider nicht rechnen. Oder dürften wir? Nun, sehen Sie, es ist, wie wir fürchten, und Sie sind uns eine Entschädigung schuldig. Ich selbst würde die jungen Damen hinbringen und den größten Theil der Zeit, hoffentlich die ganze, dort verleben, da ich etwas angegriffen bin und mir Urlaub erbeten habe. Meine Schwägerin ist ganz glücklich bei dem Gedanken, die jungen Damen bei sich zu haben, und verspricht, ihnen nach Kräften eine gute, sorgsame Mutter zu sein. Sie hat ihr Versprechen mit der betreffenden Einladung in diesem Briefe niedergelegt, welchen ich hier, gnädige Frau, Ihnen zu überreichen die Ehre habe.“
Frau von Werin nahm den Brief entgegen, den sie, trotzdem er mehrere Seiten lang schien, in wenigen Sekunden überflogen hatte.
„Ein sehr gütiger Brief,“ sagte sie. „Ihre Frau Schwägerin beruft sich auf unsere alte Freundschaft, die ich gern gelten lasse: wir waren in der That in der Pension in Sundin die besten Freundinnen. Wir haben uns freilich seitdem nicht wiedergesehen; aber sie meint, daß ich ihr gerade deßhalb Maria schicken muß, damit sie in der Tochter die Mutter weiter lieben kann. Das ist hübsch gesagt und, ich bin überzeugt, ehrlich gemeint. Also, was denkst Du, Maria?“
Wir hatten während dieser Unterredung am Fenster gesessen, ich für mein Theil in großer Erregung, zuerst freudig überrascht von dem großen Glücksfall der Einladung, dann in banger Furcht, Frau von Werin möchte dieselbe rund abschlagen, und nun zuletzt wieder in großer Sorge, wie denn Maria selbst sich zu der Sache stellen werde. Hatte sie mir meine Dummheit von vorhin vergeben? würde sie mich jetzt dafür strafen und mich allein gehen lassen, da wir nun so schön zusammengehen konnten? In diesem Falle war ich entschlossen, meinerseits, nun aus schierem Trotz, der Einladung zu folgen. Wie aber, wenn sie dieselbe annähme, aber unter der Bedingung, daß ich zu Hause bleibe?
Das alles schoß mir durch den Kopf von dem Moment, als Frau von Werin zu reden anhob und ich sofort merkte, daß sie der Sache günstig gestimmt sei, bis zu der Schlußfrage, die ich hatte kommen hören: „Was denkst Du, Maria?“ Das Herz schlug mir bis in die Kehle; ich wagte nicht die Augen aufzuschlagen.
„Da Mama es erlaubt und mich entbehren zu können glaubt, komme ich sehr gern, sehr gern,“ sagte Maria.
„Bravo, gnädiges Fräulein!“ rief der Major aufstehend und Maria, die sich ebenfalls erhoben hatte, mit ritterlicher Artigkeit, die doch auch wieder etwas väterlich Gütiges hatte, die Hand küssend. „Ich danke Ihnen aufrichtig – beiden Damen – aufrichtig und herzlich: Ihnen, gnädige Frau, daß Sie uns – denn ich rede hier auch im Namen meiner Verwandten – das Opfer bringen wollen, Ihr Töchterchen so lange zu missen: Ihnen, gnädiges Fräulein, von der ich weiß, wie ungern Sie die Mama verlassen. Also abgemacht, meine Damen, abgemacht! Ich schreibe heute noch nach Nonnendorf, und Sonnabend, wenn es Ihnen recht ist, um neun Uhr Morgens hält der Wagen meines Bruders drüben an der Fähre. Selbstverständlich holen Ellinor und ich – Ellinor’s Gouvernante nicht zu vergessen – das gnädige Fräulein von hier ab. Die jungen Herren, die erst nach der Schule fort können, werden wohl etwas in die Hitze hineinkommen. Nun, das ist ihre Sache.“
Er plauderte so anmuthig – dazu war der Klang seiner Stimme – wie gut ich mich desselben von jenem Morgen her
[138] erinnerte! – noch derselbe bei aller Milde volle, sonore – ich hätte ihm nur immer so zuhören mögen, als plötzlich die Thür aufging und Adalbert hereintrat. ich erschrak ein wenig, da ich wußte, welchen großen Einfluß er auf Maria hatte, und gar nicht sicher war, daß er das Projekt gut heißen werde. That er es aber nicht, so trat Maria ganz sicher, trotz ihrer eben gegebenen Zusage, unter irgend einem Vorwande nachträglich zurück. Doch wurde ich über diesen Punkt bald beruhigt. Mit großer Zuvorkommenheit, wenngleich mit jener reservirten Haltung, welche er fremden Leuten gegenüber stets beobachtete, versicherte er, daß er Maria von Herzen eine Erholung gönne, deren sie sehr bedürfe, und die auch ihm zugute kommen werde, da er während der Abwesenheit der Schwester und des Freundes, dieser ewigen Störenfriede, doppelt fleißig zu arbeiten gedenke. Ich lachte, der Major lächelte, und selbst Maria’s Oberlippe zuckte, als Frau von Werin, die während dieses Intermezzo nachdenklich und augenscheinlich dessen, was um sie her gesprochen wurde, nicht achtend, dagestanden hatte, plötzlich den Kopf hob und den Major bat, ihr in das Nebenzimmer zu folgen, da sie ihm eine Mittheilung zu machen wünsche, die ihn interessiren werde. Sie ging voran, der Major folgte ihr auf dem Fuße, wir Zurückbleibenden sahen uns bestürzt an. Der Ausdruck ihrer Miene, vor allem ihrer Augen war derselbe gewesen, der mir von jenem ersten Abend in peinlichster Erinnerung geblieben war, und den die Geschwister von mehr als einer Gelegenheit her nur zu gut kannten.
„Ich denke, da intervenire ich,“ sagte der allzeit schnell gefaßte Adalbert, bereits mit einer Bewegung nach der Thür, welche sich hinter den Beiden geschlossen hatte; aber Maria ergriff ihn bei der Hand.
„Bleib’,“ flüsterte sie, „es ist zu spät.“
„Nur, wenn wir noch länger zögern.“
„Es ist zu spät,“ wiederholte Maria, seine Hand loslassend und nach dem Nebenzimmer deutend, aus dem man jetzt die Stimme der Mutter vernahm, leise zwar, so daß wir die Worte nicht verstehen konnten, aber eindringlich und in jenem herzbeklemmend rapiden Tempo, das ihre immer schnelle Rede in diesen verhängnißvollen Momenten annahm.
Maria hatte Recht: es war zu spät.
So standen wir Drei in dem halbdunklen Gemach regungslos, Adalbert düsteren Blickes vor sich hinstarrend, während die feine gerade Falte zwischen seinen scharf geschwungenen Brauen tiefer eingeschnitten war; Maria, auf deren zarten Wangen flammende Röthe und tiefe Blässe jäh wechselten, mit gesenkten Augen, ich verstohlen jetzt sie, jetzt den Bruder beobachtend, das Herz voll innigen Mitgefühls mit der Qual der lieben Beiden.
„Es ist ein Trost,“ flüsterte Maria, „er ist ein edler Mann.“
Ich stimmte ihr, lebhaft nickend, zu; um Adalbert’s Lippen zuckte ein spöttisch abweisendes Lächeln.
Er schien mir eine bittere Bemerkung folgen lassen zu wollen, aber bereits wurde die Thür wieder geöffnet, und der Major trat herein ohne Frau von Werin. Die Haltung, in welcher er uns traf, die gespannten Blicke, mit denen wir im ersten Moment unwillkürlich in sein Gesicht spähten, sagten ihm sofort, daß wir Mitwisser der grausamen Thatsache waren, deren Vorhandensein er soeben erst schaudernd erfahren hatte. Aber es hätte dessen für den zartfühlenden Mann sicher nicht bedurft, sein Benehmen gegen uns in diesem kritischen Augenblicke zu regeln. Mit einer Miene, die nicht ernst genug war, um uns zu erschrecken, und nicht so lächelnd, daß wir sie hätten für gezwungen halten können, sagte er, sich dabei an Adalbert wendend: „Ihre Frau Mutter hat mich auf einen Umstand hingewiesen, von dem sie fürchtet, daß er störend in unsere Ferienprojekte eingreifen könne. Ich hoffe, es werde nicht geschehen, obgleich ich den Ueberblick Ihrer Frau Mutter über unsere politische Lage – um die handelt es sich – bewundern muß. Also nur Muth, meine jungen Herrschaften, und auf Wiedersehen am Sonnabend!“
Er hatte uns bei diesen letzten Worten, einem nach dem anderen, die Hand gereicht, zuletzt Maria.
„Meine Ellinor wird überglücklich sein; sie darf Sie doch noch vorher besuchen? Ihr jungen Damen werdet noch so manches zu besprechen haben. Und nicht wahr, gnädiges Fräulein, keine Toilettenkünste, deren Sie nicht bedürfen, und durch die Sie mich beschämen würden, der ich mit Ihrer Erlaubniß in einem Räubercivil zu erscheinen gedenke.“
Er verbeugte sich in der Thür noch einmal gegen uns alle. Ich hatte das Gefühl, daß, wie bei seinem Eintreten sein erster, so jetzt, als er ging, sein letzter Blick auf mir ruhte mit einem Ausdruck, den ich mir nicht zu erklären vermochte.
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So schien denn diese Wetterwolke, ohne größeren Schaden angerichtet zu haben, vorübergezogen zu sein, und auch sonst schickte sich alles nach Wunsch. Schlagododro hatte kaum erfahren, daß „der Schein, auf den er bestand“, von mir eingelöst werden würde (woran er in letzter Zeit doch manchmal gezweifelt haben mochte), als er seine ganze sonnige Gutmüthigkeit und Liebenswürdigkeit gegen mich hervorkehrte, wie wenn unsre Freundschaft nie ein Hauch getrübt hätte. Ellinor von Vogtriz hatte den versprochenen Besuch bei Maria sogleich am folgenden Tage gemacht und alles mit ihr verabredet. Ich hatte die junge Dame auch diesmal nicht gesehen, wie ich sie denn auch vorher wissentlich nie gesehen hatte – begreiflicherweise, da wir uns in so völlig verschiedenen Kreisen bewegten, falls dieser Ausdruck überhaupt auf mich angewendet werden konnte. Maria, die sonst so gelassene, war wieder so voll des Lobes der Schönheit und Liebenswürdigkeit ihrer „Freundin“ – ein Ausdruck, welchen sie geflissentlich mehrmals gebrauchte – daß ich jetzt definitiv beschloß, dieselbe weder schön, noch liebenswürdig zu finden. Ueberhaupt trug ich für die ganze Angelegenheit eine Gleichgültigkeit zur Schau, die ich innerlich keineswegs empfand. Begreiflich genug. War es doch das erste Mal, daß ich mich auf längere Zeit aus den gewohnten Verhältnissen entfernen, in völlig andere treten, mich unter fremden Leuten bewegen sollte in einem vornehmen, reichen Hause, ich, der ich nie den Fuß in ein solches gesetzt hatte und mir von demselben Vorstellungen machte, die zu meiner wachsenden Unruhe mit jedem Tage ungeheuerlichere Dimensionen annahmen. Und diese Unruhe wurde gewiß durch den Gedanken nicht beschwichtigt, daß die Menschen, deren Gastfreundschaft ich jetzt in Anspruch nehmen wollte, Aristokraten waren, mit denen ich, der Republikaner, nichts zu schaffen hatte und also ehrlicherweise keine Gemeinschaft pflegen durfte. Nicht, weil sie ein Von vor dem Namen führten! das thaten die Werin's auch, aber sie alle dachten so großartig frei; ich war bei ihnen nie auf ein Vorurtheil gestoßen, das mich hätte verletzen, auf eine Anschauung, die ich nicht hätte theilen können. Im Gegentheil! ich war in dem Verkehr mit diesen hochbegabten Menschen im Schwunge über meinen früheren beschränkten Horizont weit hinausgetragen worden; hatte nun erst recht das Niedrige und Gemeine verachten lernen, mich von glühender Begeisterung für die höchsten Ideale, für Recht und Freiheit, erfüllen lassen. Und von Schlagododro, der doch so viel gemäßigter dachte, als ich, wußte ich, daß er wegen seiner Freisinnigkeit in seiner ganzen Familie verschrieen war, gerade so, wie bei den Junkerlein in unserer Klasse, deren wir eine [150] ganze Reihe zählten, und die sich naserümpfend von ihm zurückgezogen oder ihm offen den Umgang gekündigt hatten, als er es wagte, mit dem „Tischlerjungen“ einen Freundschaftsbund zu schließen.
Aber das waren Bedenken, die für mich hätten abgethan sein sollen, und die doch stärker als je auf mich eindrangen, als ich am letzten Abend vor der Reise in meinem Zimmer vor dem sorgsam gepackten Köfferchen stand, im Geiste schon abgeschieden von der trauten Umgebung, bei mir überlegend, ob ich der Mutter Lebewohl sagen oder mich mit der schriftlichen Notiz begnügen sollte, in welcher ich ihr meine Absicht mitgetheilt und die ich ihr durch die Magd (nicht mehr die lachlustige von früher, eine ältere, häßliche, mürrische Person) hatte zustellen lassen.
Ich hatte eben beschlossen, daß der schriftliche Abschied genüge, als ich ihre Thür gehen und den mir nur zu wohlbekannten leisen gemessenen Schritt des Kaplans über den Flur kommen hörte. Er mußte, um zur Treppe zu gelangen, an meinem Zimmer vorbei. Ich wußte aus leidiger Erfahrung, wieviel schritte es bis dahin, und wieviel er dann noch die Treppe hinab und zum Hause hinaus hatte. Ich hatte sie zu oft gezählt und bei dem letzten und dem Klappen der Hausthür jedesmal erleichtert aufgeathmet mit einer durch die Zähne gemurmelten Verwünschung, die ich dem Verhaßten nachsandte. Zu meinem Erstaunen blieb der Schritt heute vor meiner Thür stehen, an die alsbald – auch wieder leise und gemessen – geklopft wurde. Was konnte der Mann bei mir wollen? Unwillkürlich begann mir das Herz heftig zu schlagen, dennoch sagte ich mit leidlich fester Stimme Herein. Im nächsten Moment stand er vor mir und streckte mir die magere wohlgepflegte Hand entgegen, die ich nur eben an den Fingerspitzen berührte, um dann einen Stuhl herbeizurücken, ihn durch eine Geberde auffordernd, Platz zu nehmen.
„Wollen Sie sich nicht ebenfalls setzen?" sagte er.
Ich mußte zu diesem Zweck, da ich nur zwei Stühle hatte, das Köfferchen auf den Fußboden stellen. Sein Blick blieb auf dem Köfferchen haften, dessen Deckel ich schloß: der Mann sollte eben so wenig in meinen Koffer sehen, wie in meine Seele.
„Sie haben einen Ferienausflug vor,“ sagte er; „ich weiß es von Ihrer Frau Mutter. Sie ist sehr glücklich darüber. Je strenger sie selbst – viel strenger, als ich es billigen kann – der Welt entsagt hat, desto aufrichtiger freut sie sich, daß Sie in die Welt kommen, daß Sie Muth und Lust haben, dieselbe aufzusuchen. Und dazu sind die jungen Jahre gewiß die besten, ja, wohl die einzig geeigneten. Wer dann später resignirt, der weiß doch wenigstens, warum. Ich hoffe von Herzen, daß Sie nie zu dieser Resignation kommen, die eine traurige bleibt, auch wenn sie nothwendig sein sollte.“
War der Mann gekommen, mir das zu sagen? oder worauf wollte er hinaus? Ich saß, ohne mich zu regen, erwartungsvoll da, während mir jetzt zu meinem Aerger – das Herz noch immer unruhig schlug.
„Ich habe mich zunächst eines kleinen Auftrages zu entledigen,“ fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Sie wissen, daß ich nicht nur der geistliche, sondern auch der weltliche Beirath Ihrer Frau Mutter bin, und in dieser letzteren Eigenschaft habe ich Ihnen dieses kleine Päckchen zuzustellen, welches enthält, was der praktische Engländer richtig das ‚Needful‘ nennt, – diesmal für die Bedürfnisse und etwaigen Eventualitäten Ihres vorhabenden Ausfluges.“
Er wollte dabei ein Kouvert, das er aus der Tasche gezogen hatte, auf meinen Arbeitstisch legen; ich wies es lebhaft zurück.
„Es bedarf dessen durchaus nicht,“ sagte ich; „mein Taschengeld ist ein so reichliches, und ich wußte seit Monaten, daß ich diese Reise machen würde; ich bin völlig versehen.“
„Sehr vorsichtig, sehr klug für einen so jungen Mann,“ sagte er, ohne die mindeste Empfindlichkeit zu verrathen. „Aber wie Sie wollen. Ihre Frau Mutter hat keinen anderen Wunsch, als Ihnen die Freiheit des Empfindens und Handelns in jeder Weise zu sichern.“
„Ich bin meiner Mutter sehr verbunden,“ sagte ich.
„Sie haben wirklich alle Ursache dazu,“ erwiderte er, das Kouvert zwischen den Fingern bewegend; „Ihre liebe Mutter hat sich den Weg, von dem sie überzeugt ist, daß er zum Heile leitet, durch eigne Seelenkraft in Gebet und Andacht zu schwer erringen müssen, um nicht zu wissen, daß Gott nicht nur seine Heiligen, sondern auch uns sündige Menschenkinder wunderbar führt, und daß es wenig nutzt und oft recht üble Frucht bringt, so man sich vermißt, in seinen unerforschlichen Rathschluß mit kurzsichtigem Menschenwitz eingreifen zu wollen. Gesellt sich nun zu dieser höheren Einsicht, welche allemal die Demuth zur treuen Gefährtin hat, jene krankhaft nervöse Disposition, die Folge schwerster seelischer und physischer Leiden, so schaudert nun gar das zaghafte Herz, auch wenn es das Herz einer Mutter ist, vor der Verantwortung zurück, die wir mit der Leitung und Lenkung einer jungen Menschenseele auf uns laden. Ich hätte vielleicht früher schon Gelegenheit genommen, Ihnen dies zu sagen und damit wohl einen tieferen Einblick in das immerhin nicht leicht zu deutende Wesen Ihrer verehrungswürdigen Mutter zu eröffnen, – wie mich denn Ihre Mutter wiederholt dazu ermahnt und gedrängt hat, – aber ich habe gemeint, damit warten zu sollen, bis ich nicht mehr mit einem Knaben über so hochwichtige und schwierige Herzens- und Seelenangelegenheiten sprechen konnte, sondern mit einem Jüngling, der bereits selbst seine Herzenserfahrungen und seine Seelenkämpfe gehabt und erduldet hat, und bei dem man mit Sicherheit auf ein Verständniß rechnen darf, welches dem Knaben eben so sicher fehlt. Nicht wahr, ich habe mich darin nicht geirrt?“
Ich erwiderte nichts und was hätte ich auch erwidern sollen? Daß ich ihm nicht traute, so glatt die Rede auch von seinen Lippen floß? so schmeichelnd auch sein achtungsvoll höfliches Benehmen gegen den jungen Menschen war, den er in jeder Beziehung so weit übersah? Ich würde wohl endlich etwas sagen müssen, das fühlte ich wohl; aber nicht, bevor ich wußte, worauf dies alles hinaus sollte. Umschlich der Finkler den Vogel, um ihn zu umgarnen: nun, der Vogel war kein Gimpel und war auf seiner Hut.
„Ich darf mir gewiß Ihr Schweigen günstig auslegen,“ fuhr er fort, „und das giebt mir den Muth, der Sache, um die es sich handelt, näher zu treten. Ich bin überzeugt, daß Sie mich freundlich und ruhig anhören werden, wie Sie überzeugt sein dürfen, daß ich aus keinen anderen Motiven spreche, als aus denen der tiefsten Verehrung für Ihre Frau Mutter, der lebhaftesten Sympathie für Sie selbst und endlich aus der Nothwendigkeit der Situation heraus, die eine Entscheidung wünschenswerth macht, wie Ihre Frau Mutter meint, oder gebieterisch fordert, wie es meine Ansicht ist.“
Er hatte jetzt das Kouvert wieder eingesteckt und die weißen Hände über dem Stockknopf und dem niedrigen breitkrempigen Hut gefaltet. Seine dunklen Augen waren gesenkt; das aristokratische Gesicht hatte den Ausdruck tiefsten Ernstes angenommen, wie die Stimme, in der er jetzt weiter sprach, einen eigenthümlich eindringlichen Klang, trotzdem sie leiser war, als vorhin.
„Es giebt Irrungen des Herzens, die, wie beklagenswerth sie sind und wie schlimme Folgen sie auch für den Irrenden haben, ihm dennoch kaum angerechnet werden können. Als eine derartige Irrung muß ich die zweite Ehe Ihrer Mutter bezeichnen. Sie wurde von ihr eingegangen in einer Zeit tiefster seelischer und physischer Verstörung und Zerrüttung, welche die Annahme, daß Ihre Mutter mit dem vollen Bewußtsein der Wichtigkeit und Verantwortlichkeit des Schrittes gehandelt hat, fast ausschließen. Wie sie menschlich geirrt hat, so ist es menschlich recht und billig, ihr die Last, welche sie, ohne zu wissen, was sie that, jedenfalls in völliger Verkennung und Ueberschätzung ihrer Kraft auf sich geladen, möglichst zu erleichtern. Die Ehe zwischen einer gläubigen Katholikin, zu der Ihre Mutter geworden war, und einem Protestanten, der sich bereits damals von jedem Glauben losgesagt hatte, ist schon an und für sich im kanonischen Sinne keine; aber sie würde mir auch in dieser ihrer Entstellung heilig sein, wenn sie es in sich wäre oder je gewesen wäre. Nie hat zwischen den beiden Unglücklichen – denn auch der Mann kann nicht anders als tief unglücklich sein – ich will nicht sagen: eine Seelenharmonie, sondern nur ein leidliches Verständniß im gewöhnlichen menschlichen Sinne obgewaltet, wie das bei der völligen Verschiedenheit ihrer Naturen auch gar nicht anders sein konnte. Aber Ihre Mutter ist die bei weitem unglücklichere als die höhere, zarter besaitete Natur, die, um Fehle abzubüßen, welche großherzige Frauen am ehesten auf sich laden, um Versuchungen zu entgehen, denen Jugend und Schönheit am meisten ausgesetzt sind, von den Höhen eines gesellschaftlich reich bewegten, durch Kunst und Bildung verschönten Lebens zu den Niederungen socialer Dunkelheit und geistiger Armuth niederstieg, auf diesem Wege sich selbst verlierend und, was ihr viel schmerzlicher ist, das Einzige, was ihr aus [151] jenem früheren erhöhten Dasein übrig geblieben war und sie über die Misère des jetzigen hätte trösten können: ihr Kind.“
„Durch wessen Schuld?“ rief ich, ihm fest in die Augen sehend, die er bei seinen letzten Worten zu mir erhoben hatte. Auch senkte er den Blick nicht wieder, als er jetzt, leise und ohne eine Spur von Empfindlichkeit, fortfuhr:
„Sie irren sich völlig, wenn Sie glauben, daß ich Ihr Feind bin, der zwischen Ihnen und Ihrer Mutter steht. Das genaue Gegentheil ist der Fall. Ich weiß, daß ich Ihnen, dem jungen Freigeist und Freiheitsschwärmer, als Katholik und Priester verdächtig bin. Gerade wie hier Ihr Verdacht auf falscher Fährte ist, gerade wie die Armen und Elenden keinen treueren Freund haben als den katholischen Priester; wie sie nur durch uns, ich meine mit dem Beistand der heiligen Kirche, jemals ihre Fesseln werden brechen und zur Gotteskindschaft und zu einem menschenwürdigen Dasein zugleich gelangen können – und Sie also, der Sie dasselbe wollen wie ich, mein Freund sein müssen – ebenso stehe ich zu Ihnen in dieser Ihrer Herzenssache, und der Umstand allein, daß ich hier bin aus freien Stücken – denn wer hätte mich dazu zwingen können? – sollte Ihnen ein Beweis sein, daß ich die Wahrheit spreche.“
„Aber was verlangen Sie von mir?“ rief ich, der ich meine Erregung nicht mehr beherrschen konnte.
„Ich verlange nichts,“ erwiderte er; „ich komme als ein Bittender und bitte nichts weiter, als daß Sie mich geduldig anhören. Ich habe Ihnen jetzt die Situation, in der Sie beide, Ihre Mutter und Sie, jeder für sich und einander gegenüber sind, geschildert, und Sie werden mir Recht geben, wenn ich vorhin sagte, diese Situation dränge nach Entscheidung. Hier ist eine Mutter, die sich immerdar nach ihrem Sohn gesehnt hat und dieser Sehnsucht keinen Ausdruck geben konnte, da sie fürchten mußte, nicht verstanden zu werden; hier ist ein Sohn, der nun weiß, daß der Schatz der Liebe seiner Mutter ihm nicht, wie er wähnte, vorenthalten, sondern nur aufgespart ist, um ihm desto reichlichere Zinsen zu tragen – was in der Welt könnte die Beiden hindern, einander in die längst geöffneten Arme zu fliegen, in Zukunft einander so nahe zu stehen, wie sie sich bisher fern zu stehen schienen?“
Er schwieg, wohl, um mir Zeit zu lassen, mich zu sammeln. Ich bedurfte dessen wahrlich. Hatte ich denn recht gehört? Was ich als Knabe mit tausend heißen Thränen von Gott vergebens erfleht, das sollte mir nun plötzlich wie durch ein Wunder doch zu Theil werden? Ja, durch ein Wunder! Dies ging nicht mit rechten Dingen zu. Und dann –
Ich war aufgesprungen und an das offene Fenster getreten, um durch die dürren Zweige des Kornelkirschbaumes über den kleinen Hof nach dem Licht zu blicken, das düster aus der Werkstatt heraufdämmerte –
Und dann: wo blieb, wenn dieser Bund, den der Priester mir anbot, zwischen der Mutter und mir geschlossen wurde – wo blieb der Vater? was wurde aus ihm? Sollte er mit aufgenommen werden in den Bund? dann freilich durfte ich ja keinen Augenblick zögern zuzugreifen. Und es konnte ja nicht anders sein; sie mußten ja wissen, mit welcher Liebe ich an dem Vater hing!
Ich wandte mich wieder in das Zimmer. Herr von Ruver, der meine halb unwillkürliche Bewegung nach dem Fenster richtig gedeutet hatte, kam mir zuvor.
„Es wird freilich ohne alles Opfer für Sie nicht abgehen, aber wann wird je auf der Welt ein Großes ohne Opfer erreicht? Und sollte Ihnen die Wahl zwischen der Mutter, die Sie mit Schmerzen geboren hat, und dem Manne, der Ihnen – ich gebe es zu – immer ein treuer Hüter war, aber an den Sie doch weder Bande des Blutes, noch, ich bin dessen gewiß, ein tieferes geistiges Interesse fesselt – sollte Ihnen die Wahl schwer werden?“
„Was verstehen Sie unter dieser Wahl?“ fragte ich mit einer Ruhe, über die ich mich selbst wundern mußte, denn in meinem Herzen war es bei jedem der letzten Worte des Kaplans heiß und heißer aufgewallt.
„Viel und wenig,“ erwiderte er. „Wenig in so fern, als Ihnen in Ihrer Gesinnung gegen Ihren Adoptivvater keinerlei Wandlung zugemuthet wird; viel unter Umständen, wenn die Umstände eine Trennung wünschenswerth oder nothwendig machen sollten.“
„Eine Trennung?“ murmelte ich.
„Sie wissen,“ fuhr er fort, „für uns Katholiken ist die Ehe ein Sakrament in voller Konsequenz des heiligen Wortes, daß, was Gott zusammengefügt hat, der Mensch nicht scheiden soll. Von einer Scheidung kann also keine Rede sein, nur von einer Trennung, die ja überdies immer bestanden hat und möglicherweise nur eine räumliche Erweiterung erfahren würde – etwas völlig Irrelevantes also für die eigentlich Betheiligten, das für Sie selbst nur in so fern relevant wird, als Sie sich eventuell entschließen müßten, um mit Ihrer Mutter vereinigt zu bleiben, sich ebenfalls von Ihrem Stiefvater zu trennen.“
„Würde dieser Fall bald eintreten?“
„Wer könnte in die Zukunft blicken?“ erwiderte er nach einigem Zögern. „Ich kann nur so viel sagen, daß, wenn gewisse Eventualitäten eintreten, dieselben für Ihre Mutter und dann selbstverständlich auch für Sie eine namhafte, vielleicht glänzende Veränderung der Glücksgüter und der Lebensstellung zur Folge haben würden. Auch Ihr Stiefvater würde dabei nicht leer ausgehen; man würde sich angelegen sein lassen, ihm einen sorgenfreien Lebensabend zu sichern. Aber bevor ich mich Ihnen weiter öffne über Angelegenheiten, die für jeden Anderen Geheimniß bleiben müssen, außer für den Sohn, der mit seiner Mutter einig und eines ist – Ihre Mutter erwartet Sie. Wollen Sie mir zu Ihr folgen?“
Er hatte sich erhoben, jetzt ein Lächeln – ein Lächeln des Sieges, den er über den Jüngling errungen zu haben glaubte – auf den schmalen Lippen. Ich weiß nicht, ob ich auch so noch länger hätte an mich halten können – dies Lächeln brachte mich außer mir. Wie flüchtig es auch gewesen war, es erschien mir wie ein giftiger Hohn über mich und über den Vater, dessen Hammerpochen von unten heraufklang, dumpf und traurig, als schlüge er die Nägel in den eigenen Sarg.
„Nein,“ rief ich, „ich will Ihnen nicht folgen. Zu meiner Mutter, sagten Sie? Hat sie mich gepflegt, wenn ich krank, hat sie mich getröstet, wenn ich trostlos war – trostlos darüber, daß ich keine Mutter hatte wie andere Kinder? Wer hat alles Das an mir gethan, was meine Mutter hätte thun sollen? und dabei nie ein böses Wort gehabt gegen sie, die ihn und mich von sich gestoßen und getrieben, als wären wir unreine Thiere? Und ihn soll ich jetzt verlassen zum Dank für alle seine Liebe? Nun und nimmermehr! Behalten Sie Ihre Geheimnisse und die Glücksgüter, mit denen Sie mich fangen wollen, oder theilen Sie sie mit meiner Mutter! Mir soll es gleich sein; ich will nichts davon. Hören Sie: nichts! nichts!“
„Ich höre,“ erwiderte er – und dabei zuckte abermals ein Lächeln um seinen Mund – diesmal ein Lächeln des Spottes, vielleicht der Verachtung – „Sie sprechen ja laut genug – lauter, als es sich vielleicht dem Jüngling ziemt einem Manne gegenüber, der sein Vater sein könnte. Auch höre ich nichts, als was zu hören ich leider erwarten mußte und erwartet habe. Dennoch sei es fern von mir, Ihnen zu zürnen, wie ich wohl dürfte; ich verzeihe Ihrer Jugend die Hitze, zu der Sie sich montirt, Ihrer Unerfahrenheit die Wahl, die Sie getroffen haben. Auch soll sie deßhalb nicht unwiderruflich sein, diese Wahl. Ich lasse Ihnen Zeit, zur Ruhe, zur Besinnung zu kommen. Ebenso werde ich Ihrer Mutter den vorläufigen Ausgang dieser Unterredung in einer Weise mittheilen, die für sie die wenigst kränkende ist und Ihnen den Weg zur Umkehr offen läßt. Leben Sie inzwischen wohl, und Gott behüte Sie!“
Er nickte mit dem Kopfe, winkte mit der weißen Hand das Zeichen des Kreuzes und hatte das Zimmer verlassen. Ich hörte ihn nach dem der Mutter gehen und brach in ein höhnisches Gelächter aus: da stecken sie nun wieder die Köpfe zusammen über den bösen Buben! –
Glücklicher Weise für mich dauerte die Unterredung nicht lange. Der leise gemessene Schritt kam wieder über den Flur, an meiner Thür vorbei, knarrte die Treppe hinab und entfernte sich aus dem Hause. Ich athmete auf wie Jemand, der aus einem häßlichen Traume erwacht. Oder war wirklich Alles nur ein Traum gewesen? Aber da – wie ein Zeichen, das der Böse zurückgelassen – lag auf der Diele ein schwarzer glänzender Handschuh des Mannes. Ich stieß ihn mit dem Fuß auf die Seite, als ich nun selbst das Zimmer verließ, um zu dem Vater zu eilen, den ich hatte verrathen sollen.
Als ich in die Werkstatt trat, legte der Vater eben die blaugrüne Schürze ab. Er sei gerade mit seiner Arbeit für heute fertig, und nun wollten wir behaglich mit einander plaudern.
Es war eine Stunde erquicklichen Beisammenseins, in der ich jeden Augenblick dem Himmel dankte, daß ich den Versucher so kräftig von mir gewiesen. Zwar, wenn ich dem Guten in die treuen Augen sah, erschien mir, was ich gethan, so selbstverständlich, wie das Gegentheil schändlichster Verrath gewesen wäre. Dennoch war ich zufrieden mit mir und würde meinen Triumph voll genossen haben, nur, daß der Leidenszug in dem Gesichte des Vaters heute Abend ausgeprägter war, als selbst die Tage vorher, wo er hatte zugeben müssen, daß er sich schlecht befunden habe, während er heute behauptete, es gehe ihm wieder völlig gut. Und plötzlich fiel mir das Wort des Kaplans von dem sorgenfreien Abend, der, wenn ich mich folgsam erwies, dem Vater bereitet werden sollte, schwer auf die Seele. War das nicht schon ein Gewinn, um dessentwillen ich den Handel hätte eingehen müssen? Ich hatte freilich immer angenommen, daß, für den Vater zu sorgen, meine Aufgabe sein werde, und gelobte mir jetzt wieder im Stillen, meine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen; aber ich hatte nicht bedacht, daß die Nothwendigkeit der Hilfe so früh an mich herantreten könne. Und doch mußte ich mir wieder sagen, daß meine Selbstvorwürfe ganz thöricht seien. Ich wußte, der Vater hatte vom ersten Augenblicke an sich in ökonomischen Dingen der Mutter gegenüber die volle Selbständigkeit bewahrt; würde er jetzt zu der Kränkung, vollends von ihr verlassen zu werden, noch die Schmach einer Pension hinzunehmen? Niemals! so wenig wie ihn irgend eine Summe dafür entschädigen konnte, daß ich ihn verließ. Ach, er war heute Abend so gut und lieb, kam wieder auf seine Jugend zu sprechen und das herrliche Leben „oben auf dem Walde“, wo zu Häupten die Riesentannen feierlich rauschten und durch die Stämme hier und da ferne blaue Berge still herüber grüßten. Das, müsse er sagen, möchte er wohl noch einmal sehen mit mir zur Seite, mir des Waldes Heimlichkeiten zu offenbaren; denn wenn er es auch sonst auf Erden zu nichts gebracht und Zeit seines Lebens ein unpraktischer Phantast gewesen sei und jetzt anfange ein stumpfer alter Kerl zu werden – dem Walde habe er ins Herz gesehen, wie wohl so leicht Keiner, und wenn er einmal sterbe, ein Stück von der Seele des Waldes sterbe mit ihm – das glaube er sicherlich.
So ging seine Rede, und ich hätte immer nur so zuhören mögen; denn es war die reinste, heiligste Poesie, was da in den schlichtesten Worten, die ihm unbewußt kamen, aus seinem Munde floß – dem Bergquell gleich, der, sein unschuldig Lied singend, unerschöpflich zu Thal rinnt – aber es wurde spät, und er hatte mir gesagt, daß er morgen sehr früh wieder an die Arbeit müsse. So gab ich denn vor, ich selbst sei müde und müsse mich stärken für den folgenden Tag.
Eine Wolke zog über seine Stirn, aber gleich lächelte er mich wieder freundlich an.
„Wir werden uns nun lange Zeit nicht sehen,“ sagte er, „und ich leugne nicht, ich werde Dich wohl ein wenig vermissen. Der Tod ist Trennung, aber die Trennung, so lange wir leben, ist auch so eine Art Tod.“
Ich erschrak. Trennung! ich hatte das Wort eben gehört aus dem verhaßten Munde des Pfaffen, mußte ich es nun auch aus dem Munde des geliebten Vaters hören?
„Wenn Du so sprichst, Vater,“ rief ich, „so bleibe ich sicher hier.“
„Wenn ich wie spreche?“ erwiderte er; „vom Tode? warum soll man von dem nicht sprechen, wie von dem morgenden Tage? Beide kommen gewiß, nur daß der morgende Tag vielleicht für uns nicht kommt, der Tod aber irgend einmal sicher. Ich verstehe freilich, warum die Jugend vom Tode nichts hören und wissen will; sie hat ja auch naturgemäß nichts mit ihm zu schaffen, außer wenn sie uns Alte zu Grabe geleitet, wobei Ihr denn meistens ein Gesicht macht, wie die Kinder, denen das Kartenhaus einfällt. Die Alten, die herum saßen, wußten ja, daß es einfallen würde, und warteten nur auf den Augenblick. Ich warte nicht auf den Augenblick, aber ich habe auch durchaus nichts gegen den Tod, außer daß wir nicht verlöschen können wie ein Licht, oder zerrinnen wie der Tropfen im Wasser, oder schmerzlos still zu Erde werden wie der umgesunkene Baum im Walde. Nun so bequem ward es uns Menschen nicht; aber das Ende vom Liede ist es doch, und ich sage, es ist ein schönes Lied, das der Wind durch den rauschenden Wald und die Welle am hallenden Ufer singt, und in dem wir mitsingen werden, ein Stimmchen im großen Chore, durch alle Ewigkeit. Glaubst Du nicht, Kind, daß es dieselbe Musik ist, die der Malle Heinrich hört des Morgens, wenn die Sonne auf- und wenn sie am Abend zur Rüste geht? Gehört hat – der arme Kerl! Er war heut hier in der Dämmerstunde und suchte Dich, ob Du nicht wüßtest, wo die schöne Musik geblieben sei? er höre sie nicht mehr; ob sie wohl gestorben sein könne? dann solle ich ihr doch einen Sarg machen, einen recht schönen Sarg! Seltsam, ihm ist die Musik gestorben, mir sind es meine Bilder: ich sehe keine mehr, und meine Särge gehen leer zu Grabe. Aber Du bist wirklich müde, Kind; Deine Augen sind trüb. Laß uns zu Bett!“
Wohl mochten meine Augen trüb sein, aber nicht vor Müdigkeit. Auch konnte ich die Thränen nicht länger zurückhalten, als er mir jetzt zur Gutenacht die Hand bot. Er sah mich erstaunt an.
„Kind, was weinst Du?“ sagte er. „Und mir ist so recht heiter und fröhlich zu Sinn! Geht Ihr jungen Leute heutzutage so auf die Reise? Wart’, ich will Dir etwas mitgeben, das Dir Freude machen wird. Ich wollt’ es Dir eigentlich erst bei der großen Trennung geben. Nun mag’s auch bei der kleinen sein.“
Er verschwand in der Kammer„ wo ich ihn an seinem Pulte kramen hörte. Ein Schrecken überfiel mich. Sollte es das sein?
Er kam zurück, setzte die Lampe wieder auf den Tisch; es war, wie ich geahnt hatte: in der anderen Hand hatte er das Etui, welches das Bild meiner Mutter enthielt.
„Nimm es, Kind!“ sagte er; „ich sehe keine Bilder mehr und brauche keine mehr.“
Ich wollte erwidern: und dies Bild brauche ich nicht und ich will es nicht. Aber hatte ich mich darum in dieser Stunde so brav gehalten und die Empörung, welche noch in meiner Seele von der Scene mit dem Pfaffen zitterte, mit keinem Worte anklingen lassen, um nun zuletzt mich dennoch zu verrathen und das Herz des besten Mannes, dem „so recht heiter zu Sinn war“, aufs Tiefste zu betrüben? Das durfte ich nicht und stammelte meinen Dank, indem ich das Etui, ohne es zu öffnen, in die Tasche gleiten ließ. Er ahnte nicht, weßhalb ich mich so stürmisch jetzt in seine Arme warf und ihn küßte. „Ich hab’ es Dir ja gern gegeben,“ sagte er. „Und nun zum letzten Male: gute Nacht, Kind!“
Ich war wieder auf meinem Zimmer, rathlos, wo ich mit dem Etui bleiben sollte, wie man nicht weiß, wohin mit einer glühenden Kohle, ohne sicheren Schaden anzurichten. Und wenn ich es schließlich doch in meinen Koffer legte, so war es nicht, weil ich der Sicherheit meines Schreibtischschlosses nicht traute, sondern weil ich – nun ja! – weil ich mich nicht von ihm trennen wollte; weil mich sein Besitz mit einer schaudernden, aus Liebe und Haß seltsam gemischten Bewegung erfüllte. Ich aber redete mir ein, ich wolle es nur Maria zeigen, die wiederholt den lebhaften Wunsch ausgesprochen hatte, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch im Abbild meine Mutter zu sehen; und die, wenn sie dies Bild sähe, bestätigen würde, was sie mir unlängst gesagt: hasse die Pfaffen, die sie Dir geraubt; Deine Mutter darfst Du nicht hassen!
Und so beweglich ist der Jugend Sinn: während noch, was ich eben Empörendes und Rührendes erlebt, in meiner erregten Seele nachzitterte, dachte ich bereits auch an das Morgen: an Maria und Schlagododro und die Abenteuer, die mir unzweifelhaft bevorstanden auf der geheimnißvollen Insel, welche ich mir als mein Königreich ausdrücklich vorbehielt, wenn ich von der Bodenluke des Nachbargiebelhauses beim Seifeblasen die Welt zwischen mir und Emil Israel theilte, und die, trotzdem sie nur durch eine schmale Wasserstraße von uns getrennt war, mein Fuß noch nie betreten hatte.
Ein leichter Holsteiner Wagen mit zwei kräftigen Braunen, auf dem Vorderplatz ein junger Kutscher (für gewöhnlich Knecht, und nur „ad hoc“ durch einen Livréerock zum Kutscher gemacht.); auf dem Rücksitze zwei junge Bursche, welche die Schule hinter sich und die endlosen Ferien vor sich haben und von denen ich der eine bin und Schlagododro der andere ist; ein glatter Sommerweg, auf dem das Wägelchen zwischen unabsehbaren Kornbreiten so rasch dahinrollt, daß wir die brütende Hitze kaum verspüren würden, auch wenn wir vor allem eifrigen Reden Zeit darauf zu achten hätten – das war die Situation, in welcher uns der Spätnachmittag des folgenden Tages fand. Eine Situation, die Schlagododro durchaus vertraut war, eine völlig neue für mich. Er wollte es noch immer nicht glauben, was ich ihm schon wiederholt versichert, daß ich seine Heimathinsel noch nie zuvor mit einem Fuße betreten habe.
„Sie hat Dir doch, so lange Du lebst, vor der Nase gelegen,“ rief er.
„Vielleicht gerade deßhalb,“ erwiderte ich. „Als ich ein kleiner Junge war und ich sie immer vor Augen hatte, und mein heißester Wunsch, einmal hinüber zu kommen, fand ich Niemand, der sich meiner erbarmt und mir mein Verlangen gestillt hätte, das ich vielleicht auch nicht einmal ausgesprochen habe. Später, als ich auf eigenen Füßen stand und ich jeden Tag hätte hinüber segeln und rudern, oder schlittschuhlaufen, allenfalls schwimmen können, wollte ich es nicht mehr. Die Insel war nur ein Traum geworden, den ich mir nicht zerstören wollte, mein Separat-Königreich, in welchem ich mir tausend Schlösser baute – eines schöner und stolzer als das andere. Siehst Du nun ein einziges von meinen tausend Schlössern?“
„Nein, wahrhaftig nicht!“ rief Schlagododro, die großen blauen Augen rollend.
„Ich auch nicht! Und das ist es ja eben. Ich wußte, daß sie sich in blaue Luft auflösen würden, sobald ich herüberkam. Und daran bist Du schuld.“
„Meinetwegen!“ rief Schlagododro lachend. „Du konntest doch nicht ewig träumen, obgleich Du wirklich eine erstaunliche Anlage dazu hast. Tausend Schlösser! potztausend! Wir haben auf der ganzen Insel, so weit ich sie kenne – und ich glaube, ich kenne sie so ziemlich von einem Ende bis zum andern – überhaupt nur fünf Schlösser, was man so nennen kann. Das sind, außer den zwei vom Fürsten, Grenwitz, Prohnitz und unser Nonnendorf, das freilich erst nachträglich aus einem Kloster zu einem Schloß umgebaut ist. Die andern sind eben Herrenhäuser, besten Falls und meistens. ganz gewöhnliche Pächterwohnungen, manchmal noch mit Strohdächern bis auf den heutigen Tag, wie zum Beispiel gleich da links Voigtehagen, auf dem ein Herr von Kalden wohnt, oder da rechts an dem Wald – Du siehst nur eben noch den Giebel und das Viehhaus – Bernewitz – es ist dreihundert Jahre im Besitz der Bernewitz gewesen – jetzt hat’s ein Herr – wie heißt der Kerl doch –“
„Krause,“ sagte der jugendliche Kutscher, ohne sich umzuwenden.
„Richtig: Krause! Und da noch weiter rechts –“
Schlagododro wußte wirklich in meinem Königreich Bescheid wie „in seiner Tasche“, und wenn ihm ja einmal der Name von einem Gut oder Gutsherrn nicht gleich kommen wollte, so half Jochen vom Bocke sofort ein, ich machte ihm über seine Allwissenheit ein ironisches Kompliment, das doch nicht ohne einen Beigeschmack von Neid war. Ja, wahrhaftig: ihm und seinesgleichen gehörte die Erde; wir Andern waren nichts als hauslose Wanderer, die der Besitzer achtlos oder mißtrauisch an sich vorüberziehen sieht oder, wenn er besonders gutmüthig oder gut aufgelegt ist, hereinkommen heißt, damit sie eine Stunde rasten.
Schlagododro gab dieser meiner Empfindung in seiner Weise Ausdruck, indem er lachend sagte: „Du bist und bleibst eben ein Phantast. Ich bin keiner, und das wäre auch schlimm für mich, der ich als Junge Oekonom werden wollte, und heute nachdem ich eingesehen habe, daß es mir dazu am Besten fehlt – woran es den Vogtriz, wie Du weißt, mit seltenen Ausnahmen immer gefehlt hat – wenigstens Nationalökonom werden will. – Jochen, waren die Herrschaften schon angekommen, als Du wegfuhrst?“
„Ja, jung’ Herr: der Herr Major und das gnädige Fräulein von dem Herrn Major und noch ein anderes Fräulein aus der Stadt und die Verzieherin von dem gnädigen Fräulein.“
„Von der habe ich ja noch gar nichts gehört,“ sagte ich; „wer ist denn die?“
„O,“ sagte Schlagodobro, „die ist famos. An der wirst Du Deine helle Freude haben. Sie heißt Fräulein Drechsler und macht ihrem Namen Ehre. Weiter sage ich aber nichts.“
Und nun – wären wir sonst junge Leute gewesen? – da die Rede einmal auf „die Damen“ gekommen war, blieben wir vorläufig bei diesem Lieblingsthema, das aber der großen rothen Ohren willen, die Jochen unter seiner Livréemütze wie zwei Flamingoflügel seitwärts starrten, in halblautem Tone und oft flüsternd geführt wurde. Ich erfuhr von Schlagododro zum andern Male, daß seine Kousine Ellinor das schönste Mädchen der Welt sei, und daß er sie „bis zum Wahnsinn“ liebe. Wenn ich ihm das nicht aufs Wort glauben wolle, so würde mir sicher der Beweis genügen, daß er wiederholt versucht habe, ein Gedicht an sie zu machen. Immer dasselbe. Dennoch sei er nicht über den ersten Vers hinausgekommen, und auch der stehe noch nicht fest. Er heiße entweder: „Geliebte Ellinor, von ganzem Herzen,“ oder: „Von ganzem Herz’, geliebte Ellinor“ – aber im ersten Falle fände er auf Herzen als Reim nur Schmerzen, und das sei doch zu verbraucht; im zweiten fände er gar keinen. Es sei zum Verzweifeln. Wie ich mich aus der Affaire ziehen würde?
„Ich würde beide Anfänge aufgeben und dafür einen dritten neuen nehmen,“ sagte ich.
„Ja, Du!“ rief Schlagododro wüthend; „Du hast gut reden, Du schüttelst dergleichen nur so aus den Aermeln. Ich möchte den Packen Gedichte sehen, den Du schon auf Fräulein Maria gemacht hast.“
„Noch nicht ein einziges, auf Ehre!“ versicherte ich.
Er sah mich mit verwundert rollenden Augen an. „Wie ist das möglich? Liebst Du sie denn nicht?“
„Wenigstens nicht ‚bis zum Wahnsinn‘,“ erwiderte ich ausweichend.
„Dann liebst Du sie nicht,“ docirte Schlagododro; „man liebt entweder bis zum Wahnsinn, oder man liebt gar nicht. Aber nun verstehe ich wieder nicht –“
Schlagododro brach jäh ab. Ich wußte, was er hatte sagen wollen: warum ich dann so viel bei Werins verkehre? Er hatte es mir gegenüber nie ausgesprochen und verschwieg es auch jetzt: er hielt es für unmöglich, daß ich ihn um Adalbert’s willen aufgegeben habe, eines Menschen willen, der ihm im tiefsten Grund der Seele zuwider war; von dem er gegen Andere erklärt hatte, daß er ihn überhaupt gar nicht für einen richtigen Menschen halte, sondern für einen aus Hochmuth, Herzlosigkeit und Fanatismus zusammengebrauten Homunculus, von dem er sich gar nicht wundern würde, wenn er sich eines schönen Tages in seine Bestandtheile auflöste und spurlos verschwände; Notabene nicht, bevor er in der Welt ein gründliches Unheil angerichtet.
So waren wir denn, bei diesem dunklen Punkt unserer Freundschaft angelangt, in Schweigen versunken, während wir weiter durch die immer lieblicher werdende Landschaft rollten, über welcher sich die Sonne bereits zum Untergange neigte. Vor uns und unter uns, die wir von einer sanften Anhöhe herabkamen, blinkte im röthlichen Licht eine tiefeinschneidende Bucht des Meeres auf, das wir während unserer ganzen Fahrt nicht wieder gesehen hatten. Links am Ufer ragten aus prächtigen Busch- und Baummassen Giebel und Dächer.
„Das ist Nonnendorf,“ sagte Schlagododro. „Gefällt es Dir?“
„Was ich bis jetzt davon sehe –“
„Ist nicht viel,“ unterbrach er mich lachend; „freilich; aber, ich denke, es wird Dir schon gefallen.“
Ich nickte; aber nicht mit innerlicher Zustimmung. Im Gegentheil: das Herz war mir seltsam beklommen, als ob da hinter die dunklen Baummassen das Geheimniß sich zurückgezogen habe, welches mir früher die ganze Insel war, und nun da verschleiert sitze. Und daß es klüger von mir gewesen wäre, hätte ich mich nie in die Lage verlocken lassen, an den Schleier rühren zu dürfen. Aber auch diese Reue kam zu spät. Schlagododro würde doch sehr verwundert die Augen gerollt haben, wenn ich da plötzlich aus dem Wagen gesprungen und in die Felder gelaufen wäre. Und nun waren es auch schon nicht mehr Felder, sondern glatte mit dunklem Buschwerk betupfte Wiesen, oder waren es Parkanlagen? und dann eine Allee mächtiger Linden, die in vollster Blüthe prangten, und da hielten wir vor dem Schloß.
[165] Zwei Herren, an denen wir auf dem Hof vorübergefahren sein mußten, ohne sie zu sehen, kamen jetzt eilends heran: die beiden Brüder Vogtriz: Schlagododro’s Vater und der Major. Ich würde sie freilich nie für Brüder gehalten haben, so völlig unähnlich waren sie einander: Herr von Vogtriz, Schlagododros echter Vater von hohem, schier riesenhaftem Wuchs, quadratischen Schultern und mächtigen Gliedern, die er wie der Sohn schlenkerte, von diesem auf den ersten Blick nur unterschieden durch einen gewaltigen blondröthlichen Bart, der sich unten zu einem breiten Keil abstumpfte, und gegen den Schlagododro nur einen gelblich-weißlichen Flaum ins Feld fuhren konnte, welcher seine Oberlippe seit einiger Zeit zierte, und den er euphemististh seinen Schnurrbart nannte, wofür ihm dann glücklicher Weise gänzlich die Krähenfüße fehlten, die die Augen seines Vaters an den äußeren Ecken reichlich umgaben. Dagegen der Major, wie ich ihn zu schildern versucht habe, nur um ein Weniges minder hoch als sein riesenhafter Bruder, aber mit seiner schlanken Gestalt viel kleiner erscheinend, von schönster Haltung und anmuthigster Bewegung, dunkel von Haar und Bart und Augen, und mir jetzt im Civil (das durchaus nicht „räubermäßig“ war) fast noch sympathischer, als in der exklusiven Uniform.
Die Begrüßung zwischen Vater und Sohn war sehr herzlich, was mich denn sofort günstig für den Vater stimmte, ein erfreulicher Eindruck, der noch verstärkt wurde, als er mich, bevor Schlagododro Zeit hatte, mich vorzustellen, bei der Hand ergriff und dieselbe in einer Weise schüttelte, auf welche ich zu meinem Glück durch Schlagododro’s identische Begrüßungen vorbereitet war. Dabei hieß er mich mit ein paar herzlichen Worten (die er à la Schlagododro hervorsprudelte) willkommen: er habe schon viel Gutes über mich von Ulrich gehört. – „Auch von mir,“ sagte der Major lächelnd und mir ebenfalls die Hand reichend, wobei er mir wieder mit demselben wohlwollenden, aber seltsam prüfenden Blick auf Stirn und Augen sah, wie neulich Abends bei Werins.
„Und nun macht, Ihr jungen Herren, daß Ihr hinein kommt!“ rief Herr von Vogtriz, „und laßt Euch ein Butterbrot und ein Glas Wein geben, daß Ihr mir nicht bis zum Abendessen verhungert. Und hernach kommt in den Garten, wo, glaube ich, die ganze Gesellschaft ist.“
„Habt Ihr denn Gesellschaft, Papa?“ fragte Schlagododro.
„Außer uns, zu denen ich natürlich auch die jungen Damen rechne, nur noch ein paar Herren: den Oberförster und Axel Blewitz und den Kammerherrn.“
„Herrn von Trechow?“
„Nun natürlich. Glaubte, die Mama habe es Dir geschrieben. Bleibt ein paar Wochen hier. Freut sich sehr auf Dich – der arme Kerl! Aber nun, marsch!“
Er trieb uns in den Flur, wo ein Diener bereits mit unseren Sachen auf uns wartete, um uns eine breite vornehme Treppe hinauf über einen oberen stattlichen, mit großen dunklen Bildern ausgeschmückten Flur durch einen schmalen Korridor in einen Seitenflügel, wie mir schien, zu führen, wo er uns ein schönes, luftiges Gemach öffnete, vor dessen offenen Fenstern hohe Bäume ragten und an das ein zweites kleineres stieß, in welchem unsere Betten standen.
„Ob der junge Herr sonst noch etwas befehle?“
„Ich denke, wir sind hier zwei,“ sagte Schlagododro streng.
„Die jungen Herren,“ verbesserte sich der Diener.
„Sie können in Zukunft auch die ,jungen‘ weglassen,“ sagte Schlagododro. „Merken Sie sich das.“
Der Mann verbeugte sich und verließ das Zimmer, da die „Herren“, wie sich herausstellte, sonst nichts zu befehlen hatten.
„Es ist ein neuer,“ sagte Schlagododro, sich den Rock ausziehend; „man braucht es mit den alten nicht so genau zu nehmen; aber die neuen Kerls maß man gleich von vornherein Mores lehren; hernach ist es zu spät.“
Ich lachte, aber innerlich war mir gar nicht zum Lachen. Durfte man so mit jemand umgehen, der ein Mensch war wie wir? Und war dies mein Freund Schlagododro, der Republikaner, den die Seinen wegen seiner Freidenkerei „auf dem Strich“ hatten: wie mochten dann die Andern sein? wie mochten dann die Andern denken?
Schlagododro hatte glücklicherweise keine Ahnung von meinen geheimen Skrupeln. Während wir uns wuschen und unsere verstaubten Kleider wechselten, pfiff er behaglich oder sang: „Freiheit, die ich meine“ – in möglichst falschen Tönen, um sich plötzlich mit seinem ärgerlich hervorgestoßenen Lieblingswort: den Kerl schlage ich aber doch noch einmal todt! zu unterbrechen. Ich glaubte, die Drohung gelte dem „Neuen“, erfuhr aber, daß Axel von Blewitz gemeint sei, den Schlagododro, der eben am Fenster stand, durch den Garten hatte gehen sehen. Der Kerl, der übrigens eine Art Vetter von ihm sei, sein Gut ganz in der Nachbarschaft habe, auch oft in die Stadt komme, mache neuerdings Ellinor auf eine schauderhafte Weise den Hof und sei dabei ein solcher Esel und kompleter Narr, daß er, wenn je ein Mensch, todtgeschlagen zu werden verdiene. Dagegen glaube er mich auf den Kammerherrn aufmerksam machen zu müssen, früher ebenfalls in der Nachbarschaft begütert, bis er den letzten Heller verspielt und sonst verthan, um dann an einem kleinen mitteldeutschen Hofe Theaterintendant und Kammerherr zu werden, bis er später eine unerwartete Erbschaft machte, von der er jetzt behaglich in Berlin lebe und von Zeit zu Zeit – wie eben jetzt – seine alten Freunde und Nachbarn auf der Insel besuche. Ein famoser alter Bursche, ebenso amüsant, wie der Kerl von Blewitz langweilig, nur ein bischen schlecht auf den Füßen, so daß er ohne seinen Kammerdiener – Weißfisch – übrigens auch ein Original – nicht wohl von der Stelle könne. Es sei nun aber die höchste Zeit, daß auch wir von der Stelle kämen!
Ich war bereit, was den äußeren Menschen betrifft. Innerlich war ich es keineswegs. Es kam mir wie eine grenzenlose Thorheit vor, daß ich diese Einladung angenommen hatte, und selbst der Trost, daß ich Maria nun wieder sehen sollte, wollte nicht recht verfangen. Was hatten wir beide hier zu thun?
„Nun?“ sagte Schlagododro, bereits in der Thür.
„Ich komme,“ erwiderte ich.
Bei mir aber sagte ich: Und morgen gehe ich wieder.
Von einem Diener (nicht dem „Neuen“, sondern einem älteren Manne, der uns mit einer Tablette voll allerhand Dessertgeschirr entgegen kam und von Schlagododro „Braun“ und „Du“ genannt wurde) hatten wir erfahren, daß die Herrschaften auf dem „Freiblick“ seien. Der Freiblick, belehrte mich Schlagododro, war ein Platz im Park, so geheißen, weil man von demselben, da er hart am Ufer liege, vielmehr einen etwas erhöhten Vorsprung des Ufers bilde, einen freien Blick die Bucht hinab und auf die gegenüberliegende Küste habe. Schade, daß die Sonne schon unter sei und wir nur noch einen Rest von dem Abendlicht auf dem Wasser bekommen würden!
Ein Rest von dem Abendlicht dämmerte aber auch noch röthlich in den hohen Parkbäumen, unter denen wir jetzt rasch dahinschritten, immer in der Nähe des Schlosses, das mir schier endlos in seiner Ausdehnung vorkam, ebenso wie der Park sich endlos nach der anderen Seite und vor uns zu strecken schien.
„Es ist nicht so schlimm,“ sagte Schlagododro, „und bis zum ,Freiblick‘ sind es von der Seitenthür, aus der wir gekommen sind, nur genau dreihundert Schritt. Aber wir können hier ein Ende abschneiden.“
Er klinkte ein Pförtchen in einem Drahtgatter auf zu einem Gemüse- und Obstgarten an der langen fensterlosen Rückwand eines Gebäudes, welches allerdings noch mit dem Schlosse zusammenhing, aber bereits zu Wirthschaftszwecken diente. Während mir der Freund das demonstririe, bemerkte ich, dessen verwunderte Blicke umherwanderten, durch das dichte Blätterwerk an Stangen aufwärts rankender Himbeerstauden helle Frauenkleider, auf die ich Schlagododro aufmerksam machte.
Es war nicht eben laut gewesen, aber die Mädchen mußten es doch gehört haben, denn das eine der hellen Kleider flatterte tiefer in die Büsche, hinter denen es verschwand, während das andere, welches das erste vergeblich zu halten versucht zu haben schien, deutlicher durch die Blätter schimmerte und jetzt heraustrat. Es war Maria, und ich athmete erleichtert bei ihrem Anblick auf, wie ein verzagender Schwimmer, wenn er plötzlich Boden unter den Füßen fühlt. Ich ging ihr lebhaft entgegen und murmelte, ihr die Hand pressend, nur ein dumpfes: Gott sei Dank! so leidenschaftlich, daß sie mich verwundert fragte: „Was haben Sie?“
Ich konnte ihr glücklichrweise die Antwort schuldig bleiben, Schlagododro war nun auch herangekommen; ich mußte die Beiden, die sich einander nie gesehen hatten, vorstellen. Der Himmel weiß, wie ungeschickt ich das angefangen haben mochte, denn Schlagododro verbiß sich nur mühsam das Lachen, und selbst in Maria’s Oberlippe zuckte es. So stand ich ärgerlich und beschämt dabei, während sie mit einer Gewandtheit, um die ich sie beneidete, allerhand höfliche Redensarten austauschten, die mir sehr banal und gerade dieser Beiden unwürdig vorkamen. Hatte ich mir doch die Begegnung so ganz anders gedacht; so viel gehaltener auf Maria’s, so viel enthusiastischer auf Schlagododro’s Seite! Denn daß er von Maria einen sehr bedeutenden Eindruck auf der Stelle erhalten und denselben kundgeben müsse, stand bei mir fest als Aequivalent der Verzückung, in die ich nach seiner Voraussetzung gerathen würde, sobald ich Ellinor erblickte. Ich schwor es mir jetzt in meiner gekränkten Seele zu, ich würde nicht in Verzückung gerathen, und wenn sie, die sich da noch immer zwischen den Büschen versteckt hielt, tausendmal schöner als schön sei.
„Ellinor!“ rief Maria,
„Sie wird fort sein,“ sagte Schlagododro.
„Bewahre,“ sagte Maria, – „Ellinor!“
„Hier bin ich!“ rief eine Stimme nach einer kleinen Pause zurück.
Etwas Sonderbares geschah in meiner Seele, das mir noch heute wie ein schauerlich schönes Wunder erscheint.
Es war um uns, die wir nach Maria’s zweitem Rufen lauschend dastanden, eine völlige Stille gewesen – kein leisester Vogellaut in den Bäumen, kein heimlichstes Lispeln in den regungslosen Büschen, – und als nun die Antwort kam, da – ich kann es nicht anders ausdrücken – war es mir, als hätte die Stille selbst – das athemlose Schweigen ringsumher – gesprochen. So voll und weich und geheimnißvoll war der Klang: hier bin ich! – ich, das Geheimniß, das für Dich über diesem Orte, über dieser Stunde ruht!
Und während ich, von solchen Schauern durchbebt, mit weitgeöffneten Augen auf die Büsche starrte, thaten sie sich auseinander, und ein Mädchen trat heraus und kam leichten Schrittes auf uns zu. Wenn sie, statt zu schreiten, auf dem Hauch, der plötzlich über meine brennenden Wangen strich, herangeschwebt wäre – ich würde es zweifellos nur in der Ordnung gefunden haben. Ja, das war sie, die mir Schlagododro geschildert hatte: mit dem Haar, welches röthlich, wie der Abendschein, in herrlichen Locken nach allen Seiten den reizenden Kopf umgab und doch wieder wegstrebte, als zausten an jedem einzelnen unsichtbare Elfenhändchen; mit den braunen, von den langen dunklen Wimpern überschleierten Sammetaugen und dem süßreizenden Lächeln um die köstlich geschwungenen Purpurlippen. Und doch war sie es wieder nicht – etwas, das nicht hatte geschildert werden können und sich auch nicht schildern und nicht fassen ließ.
Da war es denn ein Glück für den Fassungslosen, daß, als eben Schlagododro meinen Namen genannt und ich irgend einen kläglichen Unsinn zur Erwiderung auf die anmuthige Neigung von Ellinor’s schönem Haupt gestammelt hatte, etwas geschah, das die Aufmerksamkeit völlig von mir ablenkte. Ein überschlanker junger Mann mit einem runden Hütchen auf dem blonden Kopf, einem dunkleren Jaquet und sehr hellen Inexpressiblen war, ich weiß nicht woher, plötzlich jenseit des Drahtgatters aufgetaucht, welches den Platz umfriedigte, und über das er sich jetzt zu schwingen versuchte, indem er sich mit der linken Hand auf einen der Holzpfähle des Gatters stützte. Er machte zwei vergebliche Ansätze; beim dritten kam er wohl herüber, aber nicht so elegant, wie es wohl seine Absicht war. Sein linker Fuß war gegen den obersten Draht geschlagen, oder er war, schon diesseits, beim Aufsprung auf ein Hinderniß gestoßen – er taumelte vornüber, versuchte sich, krampfhaft mit den Armen in die Lüfte fuchtelnd, zu halten, verlor immer mehr das Gleichgewicht und fiel der Länge lang in den Weg, auf dem wir standen, unmittelbar vor den jungen Damen, die erschrocken zurückprallten, während Schlagododro und ich hinzusprangen, ihm aufzuhelfen. Doch bedurfte er dessen nicht. Schon stand er wieder auf seinen Beinen – die, wie ich jetzt bemerkte, von beträchtlicher Länge waren – und begann, sich mit einem seidenen Taschentuche, das er aus der Brusttasche seines Jaquets gerissen, abzustäuben, indem er dabei wüthende Blicke auf uns warf, als ob wir an dem kleinen Malheur schuld wären.
„Ich kann wirklich nichts dafür,“ sagte Schlagododro, der sich ein für allemal eine Impertinenz nicht gefallen ließ, am wenigsten von jemand, den er noch vor zehn Minuten todtschlagen zu wollen erklärt hatte. „Ein andermal kommen Sie hübsch durch die Pforte, sie war nur zwanzig Schritte davon.“
„Danke Ihnen verbindlichst,“ sagte der junge Mann in ärgerlich schnarrendem Ton; „kam übrigens nur, um den Damen mitzutheilen, daß sie vermißt werden.“
Er hatte sich zu den Mädchen gewandt, die jetzt Arm in Arm standen und nach irgend etwas in den höchsten Wipfeln der Parkbäume zu sehen schienen, das sie sehr interessiren und sehr komisch sein mußte, denn Ellinor drückte sich das Taschentuch vor den Mund, und Maria’s Oberlippe zuckte, als sie, ohne die Augen von dem betreffenden Etwas abzuwenden, mit feierlichem Ernst sagte:
„Wir waren im Begriff zurückzukehren.“
„Inzwischen erlauben Sie mir, lieber Blewitz, Ihnen meinen lieben Freund Lothar Lorenz vorzustellen,“ sagte Schlagododro.
„Sehr erfreut!“ schnarrte der junge Mann, ohne die Augen von seinem kleinen runden Hut zu erheben, an dem er noch immer stäubte. Ich war der Meinung, daß Schlagododro’s Drohung völlig gerechtfertigt sei und daß, wenn es zur Ausführung einer Hilfe bedürfe (was übrigens entschieden nicht der Fall war), ich ihm dieselbe mit ganz besonderer Freude gewähren würde.
„Und nun können wir ja wohl gehen,“ sagte Schlagododro.
Wir gingen, die beiden Mädchen voran, Arm in Arm, eifrig leise sprechend, wir drei hinterher, ohne ein Wort zu wechseln. Das Schweigen drückte mich nicht. Ich dachte nicht mehr an das komische Intermezzo von vorhin, ich sah meine Begleiter zur Rechten und Linken nicht deutlicher, als ob sie Schemen gewesen wären – ich war in den Anblick des jungen Mädchens, das da wenige Schritte vor mir ging, völlig versunken, als wäre es ein magischer Stern, dem ich nur immer so zu folgen hätte, nur immer folgen möchte, es sei auch wohin es sei.
Für diesmal war es nach dem „Freiblick“, zu dem wir plötzlich gelangten, ohne daß ich zu sagen gewußt hätte, wie wir dahin gekommen: ein mäßig großer, altanartiger, von hohen Bäumen überschatteter Platz, dessen Seite nach dem Meere zu von einer Steinbalustrade geschützt war. Die Gesellschaft hatte eben aufbrechen wollen, blieb nun aber unserthalben. Schlagododro begrüßte der Reihe nach seine Mutter und die Gäste, und ich begriff jetzt, wie er, der sich von frühster Jugend auf in einem so großen Kreise bewegt hatte, zu seiner Sicherheit und Unbefangenheit gekommen war. Während er sich mit den Herren unterhielt, hatte mich seine Mama in Beschlag genommen, eine mäßig korpulente Dame, deren noch immer schönes weißes, runzelloses Gesicht einen wohlwollenden, aber etwas indolenten Ausdruck zeigte und von der Schlagododro seine Redseligkeit zu haben schien, nur daß seine Rede stets wie ein Bach vom Gebirge daher gerauscht kam, und die der Mama so glatt und ebenmäßig war wie ihr Gesicht oder die Spiegelfläche des Wassers, welches sich vor uns nach dem im letzten Abendgold verklärten Westen breitete. Ich hatte ein langes Examen zu bestehen, welches für mich, da es sich wesentlich um meine Familienverhältnisse, um meine Bildung im Allgemeinen und die religiöse im Speciellen handelte, ziemlich peinlich gewesen wäre, nur daß die Dame eine Antwort auf eine Frage selten abzuwarten pflegte, sondern, als hätte sie eine solche erhalten, in immer demselben ebenmäßigen Tone weiter sprach. Indessen schien der Ausfall der Prüfung kein mir ungünstiger gewesen zu sein, wenigstens hörte ich, als Schlagododro zu meiner Befreiung kam, wie die Dame zu einer andern langen, dürren, blonden, die fortwährend höflich lächelnd, aber ohne ein Wort hineinzusprechen, dabei gestanden hatte (Fräulein Drechsler, Ellinor’s Gouvernante, vermuthete ich), sagte: „Ein angenehmer junger Mann, aber die Aehnlichkeit finde ich nicht so sehr erstaunlich.“ Schlagododro hatte mich aber geholt, um mich mit den anderen Gästen bekannt zu machen: dem Oberförster von Candlin, einem ernst, fast melancholisch blickenden Herrn mit einem langen grauen Schnurrbart, in grünem, bis oben zugeknöpften Uniformrocke, und nun einem andern, der in einem dicht an die Balustrade herangeschobenen Krankenwägelchen saß, und von dem ich bis jetzt nur den langen, schmalen, gekrümmten Rücken und den breiten Schlapphut gesehen hatte. Jetzt, als Schlagododro mit mir zu ihm trat, hob er den Kopf, und ich blickte in ein bartloses, verwüstetes, in tausend Falten und Fältchen zerknittertes Gesicht, welches mir im ersten Moment uralt erschien, bis ich ihm in die Augen sehen konnte, die gar nicht alt waren, sondern einen sehr lebhaften, aber kalten stechenden Blick hatten, der jetzt in einer für mich unbehaglich prüfenden Weise starr auf mich gerichtet war. Er mochte merken, wie mich das genirte, denn er strich sich mit einer langfingerigen, durchsichtig weißen Hand über das zerknitterte Gesicht, das darauf plötzlich um zwanzig Jahre jünger erschien, gerade als ob er eine Maske abgenommen hätte.
„Nun,“ sagte er lächelnd, „da hätten wir also den klugen Pylades zu unserm Tollkopf von Orest. Mit Euch Beiden wollte ich schon Ehre einlegen, und Fräulein von Werin ist die geborene Iphigenie. Den Thoas übernehme ich: Thoas im Rollwagen, das ist eine feine Nüance, die durchschlagen muß. Was meinen Sie, Weißfisch?“
Die letzten Worte waren an einen Mann gerichtet, der, ich weiß nicht woher – vielleicht hinter dem dicken Stamm der nächsten Platane hervor – an den Wagen zu seinem Herrn getreten war. Ich schloß aber auf das dienerliche Verhältniß des Mannes aus dem Ton, in welchem ihn der Kammerherr angesprochen, nicht aus seiner Haltung, Miene oder Kleidung, wonach ich ihn wohl für ein Mitglied der Gesellschaft hätte halten müssen. Auch er war bartlos, wie sein Herr, und seine Augen, obgleich sie sehr hell und die jenes sehr dunkel waren, hatten denselben stechenden Blick, der eben jetzt, gerade wie vorhin der des Kammerherrn, prüfend auf mich gerichtet blieb, auch, als er auf die Frage jenes mit respektvollem Ernst sagte:
„Gewiß, Herr Kammerherr, das würde von einer zweifellos großen Wirkung sein. Man würde auch dann besser begreifen, weßhalb Arkas vergeblich für den König plaidirt.“
„Werden Sie nicht impertinent, Weißfisch!“ sagte der Kammerherr, mit dem langen Zeigefinger drohend.
„Ich spreche nur von der Bühnenwirkung,“ erwiderte der Mann, sich höflich verbeugend; „im Leben kann sich die Sache ja ganz anders verhalten.“
„Na,“ sagte der Kammerherr, „dann schieben Sie mich nur wieder ins Haus, damit ich mich nicht hier zum letzten Male im Leben erkälte! Die Andern sind schon voraus; vielleicht leisten mir die jungen Herren Gesellschaft.“
Weißfisch hatte sich hinter das Wägelchen gestellt, das er nun mit dem lahmen Herrn vor sich herschob, während wir diesem, wie er gewünscht, zur Seite blieben. Doch wurde die Unterhaltung wesentlich oder völlig von dem Herrn und Diener geführt, wobei es sich denn ausschließlich um theatralische Dinge handelte, speciell um eine Aufführung der „Iphigenie“ an jener kleinen Hofbühne zur Zeit der Intendanz des Kammerherrn. Es war viel von einer Schauspielerin die Rede, die, eigentlich Sängerin, auf den Wunsch des Fürsten einmal die Titelrolle des Stückes übernommen und nach der Aussage des Kammerherrn ganz wunderbar gespielt hatte, während Weißfisch nicht dieser Ansicht war. Die Dame habe nicht die Iphigenie, sondern sich selbst gespielt, was keine große Kunst und überhaupt keine Kunst sei, zumal bei der Schönheit der Dame und der großen Gunst, in welcher sie bei Hofe und beim Publikum gestanden. Wie könne man Goethe’sche Verse sprechen, wenn man „englisch lisple“? Damit könne man eine leidliche Sängerin sein, wie die Dame es ja in der That gewesen, aber leidliche Sängerin und unleidliche Schauspielerin – das sei doch, wie der Kammerherr wisse, eine landläufige Erfahrung.
„Das Ende vom Liede ist, daß Sie Miß Howard mit Ihrem Hasse beehrten und, wie ich merke, noch beehren, wozu Sie ja auch Ihre gegründete Ursache haben,“ sagte der Kammerherr.
„Der Herr Kammerherr sind sicher, daß dabei keine Personenverwechselung stattfindet?“ gab Weißfisch zurück.
„Sie werden schon wieder impertinent,“ sagte der Kammerherr.
Ich mußte darin dem Kammerherrn Recht geben, wenn er mir auch in dem Streite selbst den Kürzeren gezogen zu haben schien. Ich hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört und mich im Stillen über das sonderbare Verhältniß zwischen Herrn und Diener höchlichst verwundert. Schon daß ein Diener über dergleichen Dinge so reden konnte, war mir erstaunlich, auch dann noch, als Schlagododro einen Augenblick wahrgenommen hatte, um mir zuzuflüstern, daß der Mann viele Jahre Theaterfriseur und zuletzt die rechte Hand des Intendanten gewesen sei. Wie kam der Friseur zu dem, was mir wenigstens als das feinste Kunstverständniß erschien? Wie aber kam er vor Allem dazu, in diesem Tone mit seinem Herrn sprechen zu dürfen, nachdem ich vorhin gehört, mit weicher Strenge der gutmüthige Schlagododro einen Mangel an Respekt, oder was er dafür zu halten beliebte, an seinem Diener zurückgewiesen? Und des Kammerherrn Gutmüthigkeit traute ich nicht allzu weit. Hatten Herr und Diener zu viel zusammen durchgemacht, was den Standesunterschied zwischen Beiden verwischt hatte? Machte es dem Kammerherrn einfach Spaß, seinen Witz an dem Manne zu üben, auf die Gefahr hin, daß die Sache, wie eben, die umgekehrte Wendung nahm, so daß Herr Weißfisch außer seiner Kammerdienerrolle auch noch die des Haus- und Hofnarren bei dem gnädigen Herrn spielte?
Dieser Erklärung gab ich zuletzt den Vorzug, und noch derselbe Abend sollte mir den Beweis liefern, daß der Mann zum Haus- und Hofnarren im Sinne der guten alten Zeiten, von denen der Narr im „Lear“ ein Wörtchen zu sagen weiß, mindestens ein ausgiebiges Talent besaß, um welches ihn meiner Meinung nach der größte Bühnenkünstler beneiden mußte.
Das Talent nämlich, jeden beliebigen bedeutenden Schauspieler – und er schien sie alle gesehen zu haben – in Haltung, Miene, Stimme, Vortragsweise nachzuahmen bis zur positiven Täuschung, wie der Herr Kammerherr und Herr von Vogtriz, der häufig nach Berlin kam und ebenfalls ein großer Theaterfreund war, versicherten.
Er hatte aber seine Künste nach der Abendtafel zu produciren, während die Gesellschaft, wie bei einem wirklichen Schauspiel, auf rangirten Stühlen das Parkett bildete. Trotzdem die Vorstellung über eine halbe Stunde währte, schien das Programm des Mannes auch nicht annähernd erschöpft zu sein; und dabei sei er, wie der Kammerherr, nachdem er endlich wieder abgetreten, behauptete, auf der Bühne völlig unbrauchbar, wie durch wiederholte Versuche auf dem fürstlichen Theater, für die sich Se. Hoheit selbst aufs Lebhafteste interessirt, unumstößlich festgestellt sei. Auch nicht die kleinste, unbedeutendste Rolle sei er auf der Bühne durchzuführen im Stande, nicht einmal im Fach der Intrigue, in welchem er doch im wirklichen Leben excellire.
Die Leistung des Herrn Weißfisch war die letzte Nummer im Programm dieses Abends gewesen. Gleich darauf löste sich die Gesellschaft auf; der Oberförster und Herr von Blewitz verabschiedeten sich; die Hausgenossen zogen sich in die Schlafgemächer zurück. Schlagododro war todtmüde und schlief sofort ein; ich lag noch lange wach im Bett. Die fremde Umgebung, das viele Sonderbare, das ich im Laufe des Abends beobachtet hatte, die neuen Gesichter – das Alles wirrte in buntem Durcheinander vor meinem inneren Auge. Zwar wollte ein Gesicht sich immer vor die anderen drängen und wollte eine Stimme aus den übrigen hervorklingen; aber ich duldete es nicht. Ich war um Maria’s willen gekommen, und Maria sollte den ersten Platz in meinem Herzen behalten. Mochten sie Alle, wie sie es ja augenscheinlich thaten, vor der schönen Ellinor anbeten – ich würde mich schämen, nichts Besseres zu sein, als einer jener Romanhelden, deren unentrinnbares Schicksal es ist, Demokraten und Freiheitsschwärmer, wie sie sind, sich in die erste schöne Aristokratentochter, die ihnen über den Weg läuft, zu verlieben. Nimmermehr! Und sollte ich wirklich das Unglück haben, mich in das wunderbare Mädchen zu verlieben – wer kann für Unglück stehen, und gerade diese Sorte pflegte ja bei mir besonders schnell zu schreiten! – nun wohl, so mochte mein gequältes Herz brechen, aber meine stolzen Kniee würden sich niemals beugen – niemals, niemals!
Und mit diesem tugendhaften Vorsatze schlief ich ein.
Am nächsten Morgen in der Frühe – eine schwache Helle dämmerte erst durch die heruntergelassenen Vorhänge – wurde ich aus einem wunderlichem Traum, in welchem ich vergeblich nach Ellinor suchte, die bald hier, bald da aus dichtem Gebüsch: hier bin ich! rief und, wie eifrig ich durch das Gezweig drang, nur immer ein verflatterndes helles Gewand blieb, auf eine schauerliche Weise geweckt. Stöhnende, wimmernde Klagelaute, die ich bereits im Traum vernommen – da war es aber mein eigenes Weinen um die Unerreichbare gewesen – kamen jetzt deutlich an mein waches Ohr, schwiegen dann eine kurze Zeit, um sich von neuem herzzerreißender als zuvor vernehmen zu lassen. Ich weckte Schlagododro.
„Was giebt’s?“ fragte er, sein Löwenhaupt vom Kissen aufrichtend.
„Hör doch! es muß jemand schwer krank sein – ganz in der Nähe!“
Schlagododro horchte mit schlaftrunkenen rollenden Augen.
„Es ist der Kammerherr,“ sagten er gleichmüthig: „er logirt unter uns; er wird gleich anfangen zu singen.“
Das Löwenhaupt sank in die Kissen zurück, und ruhig tiefe Athemzüge sagten mir, daß der liebe Kerl bereits wieder schlief.
Ich aber konnte nicht sobald wieder einschlafen, sondern saß, den Ellbogen aufgestemmt, im Bett, den grausigen Tönen lauschend, die noch immer, jetzt aber seltner und leiser, von unten heraufdrangen, voll Mitleid mit dem Manne, dem die Lebenslust aus den dunklen Augen sprühte, der gestern Abend die ganze Tischgesellschaft mit seiner muntern Laune und seinen drolligen Geschichten in Athem und Lachen erhalten hatte, und nun, ein Raub gewiß gräßlicher Schmerzen, so hilflos dalag. Sollte ich aufstehen und versuchen, zu ihm zu gelangen – was ja doch am Ende nicht schwer halten konnte – und ihm meine Hilfe anbieten? Aber sein Faktotum Weißfisch war ja sicher in seiner Nähe, und es konnte kein außergewöhnlicher Zustand sein, sonst hätte Schlagododro doch nicht so ruhig davon sprechen können. Was mochte er mit dem Singen gemeint haben?
Ich hatte es kaum gedacht, als jetzt wirklich unter mir eine gebrochene Stimme zu singen anhob. Das war aber noch unheimlicher als das Stöhnen und Aechzen. Ich hatte nie Musik getrieben, aber ich hatte, wohl als Erbtheil meiner Mutter, ein leises, feines Ohr, und die Stimme, die da unten sang, meinte ich, mußte einst sehr schön gewesen sein, und, wie sie jetzt auch zitterten und wie sie zweifellos aus einer von Klagelauten erschöpften Brust kamen – die Töne waren immer rein und vornehm, wie die Trümmer eines gebrochenen griechischen Tempels noch immer von Marmor sind. Und wenn das Schauerliche dieses Singens in der Morgenfrühe nach einer Nacht voll Qualen noch vermehrt werden konnte, so war es durch die Lieder selbst: „Treibt der Champagner“ – und: „Ueberm Garten durch die Lüfte“ –
Großer Gott! gestern Abend hatte ich gesehen, wie er den perlenden Wein, von dem ihm Herr von Vogtriz ein Glas aufnöthigen wollte: nur ein Glas, lieber Freund! – standhaft zurückwies, um bei seinem Selterwasser zu bleiben. Und da draußen in dem Park, durch dessen majestätische Wipfel die hellen balsamischen Morgenlüfte strichen, waren jetzt die Vögel wach geworden und begrüßten zwitschernd die aufgehende Sonne, und – „Mir ist, als sollt’ ich weinen!“ – ich konnte es nicht länger ertragen, vergrub meinen Kopf in die Kissen und weinte still und
leidenschaftlich. Weinte um was? Ganz gewiß um den unglücklichen Mann, aber: – „und mir ist, als könnt’s nicht sein!“ Nein: es konnte nimmer sein – nimmer! nimmer würde ich sagen können: „sie ist meine! sie ist mein!“
Ich war in jenem glücklichen Alter, in welchem man sich noch in den Schlaf zu weinen vermag. Das hatte ich denn gethan, wie ich zu meimer Beschämung bemerkte, als ich, nun wieder erwachend, Schlagododro bereits angezogen vor meinem Bette sah.
„Du armer Kerl!“ rief er. „Das war wohl eine schlechte Nacht für Dich! Ich hätte auch wohl früher daran denken können; aber wir prosaische Kerls vergessen ja immer, wie zart besaitet so eine Dichterseele ist. Uebrigens habe ich schon das Nöthige angeordnet: wir quartieren noch heute um. Keinen Widerspruch! Es ist Platz genug in dem alten Kasten. Und nun mache, daß Du in die Kleider kommst!“
Ich hatte Schlagododro bereits gestern Abend gebeten, mich heute Morgen in Haus und Hof herumzuführen; wir hatten jetzt die beste Zeit dazu. Herr von Vogtriz war mit dem Major und Ellinor ausgeritten; Frau von Vogtriz machte mit Maria und Fräulein Drechsler ihre Morgenpromenade; wir konnten unbehelligt durch alle Zimmer und Säle schweifen. Hatte mir gestern die äußere Ausdehnung des Schlosses mächtig imponirt, so wuchs heute mein Erstaunen über die Fülle der Räume, welche die dicken Mauern einschlossen. Wahrlich: es war Platz genug in dem alten Kasten. Hunderte von Menschen hätten in demselben mit größter Bequemlichkeit wohnen können! Auch stand der bei weitem größte Theil unbenutzt, oft nur dürftig mit ausgedienten Möbeln versehen; nicht wenige Gemächer waren völlig leer. Aber auch nur der bewohnte oder doch benutzte und völlig möblirte Theil – welcher Raumluxus und welche Pracht der Ausstattung! Da waren Säle mit breiten Spiegeln bis an die Stuckdecke und niedrigen Divans, die rings um die Wände liefen; da waren Zimmer, deren Plafonds große, farbenprächtige Bilder schmückten, mit nur roth-, andere mit nur blau-, andere mit nur gelbseidenen Möbeln. Wieder andere, in denen jedes Möbel aus dunklem Eichenholz, reich geschnitzt und, wie mir Schlagododro sagte, keines unter dreihundert Jahre alt; wieder andere mit Schränken, Kommoden, Tischen, sämmtlich in hellerem Holz mit kunstvoller Täfelung und großen blinkenden Messingbeschlägen.
Und wie wir so von Raum zu Raum wanderten, deren Zahl geradezu endlos schien, mußte ich an das kleine Häuschen in der Hafengasse denken mit seinen drei oder vier Zimmerchen, der engen knarrenden Treppe, dem dunklen Hof und dem Kämmerchen neben des Vaters Werkstatt, das kein anderes Licht hatte, als welches durch die Fensterluke in der schrägen Decke fiel. Ich würde mir selbst bitter Unrecht thun, wollte ich sagen, daß es Neid gewesen wäre, das peinliche Gefühl, welches mich, wie ich so dieser Vegleichung nachdachte, in immer stärkerem Grade überkam. Dazu war ich des bedürfnißlosen, neidlosen Vaters zu treuer Schüler. Es war gewiß nur, daß sich mir der ungeheure Gegensatz der Verhältnisse und Bedingungen, unter denen die verschiedenen Klassen leben, aufdrängte, und wahrscheinlich ging mein Denken noch nicht einmal so weit. Vielleicht war es nur die krasse Differenz zwischen Schlagododro’s und meinen Glücksumständen, und wie es möglich sein sollte, daß wir, trotz dieser Differenz, auf die Dauer Freundschaft halten sollten.
Hatte meine Miene gezeigt, was in mir vorging, diktirte es Schlagododro das eigne brave Herz, er kam plötzlich auf seine engeren Familienverhältnisse zu sprechen, die keinesweges so glänzend seien, als es wohl den Anschein habe. Einmal kämen Nonnendorf und die beiden anderen Güter Semmlitz und Brandshagen nicht vom Vater, der, wie seine Brüder, von Haus aus nur ein sehr bescheidenes Vermögen habe – vielmehr gehabt habe, denn es sei längst verbraucht – sondern von der Mutter, einer geborenen Gräfin Gransewitz, die dem Vater außer diesen noch zwei Güter mitbrachte, welche man bereits habe aufgeben müssen. Um den allerdings noch sehr stattlichen Rest zu retten oder zu sichern, habe die Familie der Mutter auf Errichtung eines Majorats gedrungen, das dann auch, nach einigem Sträuben von Seiten des Vaters, vor vier Jahren hergestellt worden, und dessen Inhaber derzeitig – nach den getroffenen Familienarrangements – der Vater sei. Nach ihm werde dasselbe auf Astolf, als den älteren Bruder, übergehen, während für ihn – Schlagododro – nichts bleibe, als was der Vater während seiner Majoratsschaft etwa „auf die hohe Kante“ lege.
„Na,“ sagte Schlagododro „und die schöne Kunst versteht der Papa, glaube ich, nicht besser als mein Großonkel hier, der Onkel aus Amerika, weißt Du, der niemals kommen wird, sintemalen er bereits vor fünfunddreißig Jahren oder so die lange Reihe seiner Thorheiten damit schloß, daß er sich, als er eben die Millionärin geheirathet hatte, hinlegte und starb.“
Wir standen in einem großen schönen Salon, der selten benutzt zu werden schien – es war eine abgestandene Luft in dem Raume mit den geschlossenen Fenstern und den herabgelassenen hellen Vorhängen – vor einem der Portraits, deren viele an den Wänden hingen. Mir schien es eine besonders schöne Arbeit, und stellte einen jungen Menschen von etwa zwanzig Jahren dar in der Tracht eines Jägers mit Flinte und Jagdtasche, neben ihm ein weißer Hühnerhund, der, die Mütze seines Herrn im Maul, sitzend, zu diesem aufblinzelte. Der Herr mochte sie ihm eben gegeben haben, um sich die braunen Locken aus der nassen Stirn zu streichen, und blickte nun so mit den großen dunkelblauen Augen erwartungs- oder sehnsuchtsvoll in die Ferne.
„Was sagst Du dazu?“ fragte Schlagododro.
„Wozu?“ erwiderte ich. „Dazu, daß der Herr zu so unpassender Zeit starb?“
„Nein, zu dem Bilde!“ sagte Schlagododro lachend; „zu ihm selbst! Gefällt Dir der Mann?“
„Sehr!“
„Nicht wahr, er ist schön?“
„Sehr schön.“
„Natürlich!“
„Wieso: natürlich?“
„Ich meinte nur so,“ erwiderte Schlagododro trocken; „aber findest Du keine Aehnlichkeit?“
Ich betrachtete das Bild genauer. Es hatte etwas, das mich an meine Mutter erinnerte, nicht, wie sie jetzt war, sondern, wie sie das Medaillonbild darstellte. Aber das meinte Schlagododro gewiß nicht: er hatte meine Mutter nur einmal und auch das nur flüchtig und im Halbdunkel auf der Treppe gesehen. Unzweifelhaft sollte es eine Vogtriz’sche Familienähnlichkeit sein. Und plötzlich kam mir die Erinnerung an Ernst von Vogtriz, den Sohn des Majors, der damals starb, als er in Ober- und ich in Unterquinta saß. Ja freilich, das waren die weichen braunen Locken und die großen glänzenden blauen Augen, die ich wohl im Gedächtniß behalten, wenn ich auch sonst das Gesicht des Knaben vergessen hatte. Ich sagte es Schlagododro.
„Richtig,“ rief er. „und sonst findest Du keine Aehnlichkeit? Besinne Dich doch: natürlich mit einem ebenfalls sehr schönen jungen Herrn.“
„Deinem Bruder?“
„Keine Spur! Mit Dir selber, Du Narr.“
„Mit mir?“ rief ich erstaunt.
Schlagododro, der während dieses Examens seinen Ernst, wie es schien, nur mit Mühe behauptet hatte, brach in ein tolles Gelächter aus.
„Aber diese Ähnlichkeit ist ja seit gestern das Gespräch der ganzen Familie,“ rief er. „Onkel Egbert hat sie entdeckt; will sie schon vor fünf Jahren entdeckt haben, als er Dich zum ersten Mal gesehen hat; das heißt damals solltest Du dem armen kleinen Vetter ähnlich sein, der eben gestorben war, und nun neuerdings dem Großonkel Jägersmann. Thu’ doch nur nicht so erstaunt! als ob Du nicht schon längst wüßtest, daß Du ein bildhübscher Junge bist!“
„Auf Ehre!“ rief ich, während ich fühlte, daß mir eine brennende Röthe im Gesicht aufschlug. „Erstens finde ich keine Spur von Aehnlichkeit mit mir, und zweitens –“
„Bist Du häßlich wie die Nacht!“ rief Schlagododro, mir herzlich den Arm um die Schulter legend. „Frage nur die Mädchen, sie werden es Dir bestätigen! Und nun komm, Du Nachtvogel, und laß uns frühstücken! Ich falle fast um vor Hunger.“
Ein respektvolles Räuspern machte uns Beide umblicken. Hinter uns stand Weißfisch und verbeugte sich; ich hatte das Gefühl, daß er schon länger dagestanden habe.
„Nun?“ sagte Schlagododro, der dasselbe denken mochte, ärgerlich.
„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte Weißfisch; „ich habe die Herren überall gesucht. Der Herr Kammerherr läßt den Herrn Lorenz (hier verbeugte er sich wieder vor mir) um die Ehre seines Besuches bitten.“
„Mich nicht?“ fragte Schlagododro.
Der Herr Kammerherr würde sich gewiß sehr freuen,“ erwiderte Weißfisch mit dem leisesten Ansatz eines Lächelns; „mein diesmaliger Auftrag lautet indessen nur an den Herrn Lorenz.“
„Schön,“ sagte Schlagododro, „Herr Lorenz wird sich nach dem Frühstück die Ehre geben.“
„Ich erlaube mir die Mittheilung,“ sagte Weißfisch, „daß die ausgerittenen Herrschaften noch immer nicht zurück sind und die gnädige Frau das Frühstück um eine halbe Stunde hinauszuschieben befohlen haben. Diese halbe Stunde würde gerade ausreichen. Der Herr Kammerherr frühstücken bekanntermaßen allein und würde nach einer besonders schlechten Nacht für ein kleines Plauderstündchen sehr dankbar sein.“
„Meinetwegen,“ sagte Schlagododro.
Wir verließen zusammen den Salon. Als wir unser Zimmer passirten, begegnete uns der „Neue" mit einem Theil unserer Sachen, welche er nach einem anderen Zimmer trug, das an demselben Korridor, aber der nach unten führenden Treppe näher und nicht mehr über den vom Kammerherrn bewohnten Räumen lag.
„Ich werde gleich hier bleiben und nach dem Rechten sehen,“ sagte Schlagododro. „Möchtest Du mir Deinen Kofferschlüssel geben, damit ich Deine Sachen in die Kommode legen lassen kann?“
Ich that es nicht gern. In dem Koffer – ich hatte gestern Abend meine Sachen nicht mehr ausgepackt – ganz zu unterst, lag das Medaillon mit dem Bilde meiner Mutter. Ich wollte es wenigstens Schlagododro’s besonderer Sorge anempfehlen; aber die Gegenwart des Kammerdieners genirte mich, und ich wußte überdies, daß der Freund viel zu diskret war, die geschlossene Kapsel zu öffnen. So gab ich ihm den Schlüssel und folgte Herrn Weißfisch die Treppe hinab bis vor eine Thür, die er für mich öffnete, um dann hinter mir mit hineinzutreten und mich durch ein Vorzimmer in ein zweites zu führen, wo wir den Kammerherrn fanden, in einem großen Lehnsessel sitzend, mit einem langen Schlafrock von violettem Sammet bekleidet. Sein Aussehen war trotz der schlimmen Nacht eher besser als am gestrigen Abend, wozu denn die freundlich-behagliche Umgebung das ihre beitrug. Das Zimmer hatte eine Glasthür nach dem Park, welche jetzt offen stand, und durch welche der goldene Morgensonnenschein zusammen mit dem Duft der Blumen und dem eifrigen Singen der Vögel hereindrang. Neben seinem Stuhl hatte der Kammerherr einen Tisch mit dem Thee, den er aber bereits beendet zu haben schien. Er reichte mir, als ich grüßend zu ihm trat, die lange weiße Hand und bedeutete mich, auf einem Stuhl, den Weißfisch hingestellt, Platz zu nehmen.
„Das ist hübsch von Ihnen“, sagte er. „Ich hatte das Bedürfniß, Sie wegen der Störung heute Morgen um Entschuldigung zu bitten. Urich hat nichts gehört – natürlich; er gehört zu jenen glücklichen Pachydermen, an denen die Pfeil’ und Schleudern des wüthendsten Geschickes stumpf und matt werden.
Ich habe Sie wohl recht erschreckt? Aber ich bin nicht ganz so schuldig: die Anfälle waren in letzter Zeit weniger häufig und heftig – heute Morgen freilich! Ich habe am Ende gar gesungen, Weißfisch? Was denn?“
„Mozart und Schumann,“ erwiderte Weißfisch.
„Sie hätten es schlechter treffen können,“ fuhr der Kammerherr, sich wieder zu mir wendend, fort. „Oft singe ich nach überstandener Angst und Qual auch ganz abscheuliche Sachen: Gassenhauer und Schlimmeres. Rauchen Sie?“
Er hatte sich eine Cigarre angezündet; Weißfisch bot mir ebenfalls an. Ich dankte.
„Man muß sich dergleichen auch aufsparen, bis es einem so hundeschlecht geht, wie mir,“ sagte der Kammerherr; „sonst hat man nichts gegen die Uebel ins Feld zu führen. Aber wozu ich Sie eigentlich habe bitten lassen – Weißfisch!“
Weißfisch, der schon vorher instruirt sein mußte, legte ein Buch auf das Tischchen, von welchem er jetzt das Theegeschirr abgenommen hatte. Der Kammerherr blätterte in demselben und sagte:
„Sie kennen natürlich Goethe’s „Iphigenie“ genau – ich würde das nicht bei allen jungen Leuten Ihres Alters voraussetzen – bei Ihnen schwöre ich darauf. Wissen Sie vielleicht einiges auswendig?“
„Kleinere Stellen – Sentenzen und so – die Menge,“ sagte ich einigermaßen verwundert; „Zusammenhängendes, fürchte ich, nicht.“
„Das ist schade. Indessen würden Sie mir nicht einen rechten Gefallen thun und mir irgend etwas lesen? – gleichviel was – hier den fünften Auftritt im vierten Akt: Iphigeniens Monolog: ‚Ich muß ihm folgen, denn die Meinigen‘ –“
Er reichte mir den Band und lehnte sich in seinen Stuhl zurück mit halbgeschlossenen Augen. Ich war in großer Verlegenheit. Das Verlangen des Herrn kam mir so sonderbar vor; auch war ich nichts weniger als in der rechten Stimmung, und die Gegenwart des Kammerdieners, der in der offenen Fensterthür lehnte (mit halbgeschlossenen Augen, wie sein Herr), machte mich noch befangener. Indessen fühlte ich, daß ich dem kranken Manne trotz alledem seinen Wunsch erfüllen müsse, und begann zu lesen.
Ich hatte auf der Schale einen gewissen Ruf wegen meines Vortrages poetischer Sachen und war bei den öffentlichen Aktus von jeher unweigerlich zum Deklamator bestimmt worden. Jetzt geschah, was ich vorausgesehen hatte: ich las unaufmerksam und schlecht. Dazu kam, daß ich bei den Versen:
„– das heilige
Mir anvertraute, viel verehrte Bild
Zu rauben und den Mann zu hintergehen,
Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke,“ –
unwillkürlich an das Medaillonbild meiner Mutter denken mußte, das ich oben im Koffer und Schlagododro vielleicht eben jetzt in Händen hatte, während der Vater es mir gewiß in der Voraussetzung anvertraut, daß ich es heilig bewahren würde. So brachte ich denn eben nur die Schlußworte des ersten großen Absatzes heraus:
„Rettet mich
Und rettet euer Bild in meiner Seele!“ –
dann ließ ich das Buch sinken.
„Verzeihen Sie,“ sagte ich: „es geht nicht. Ich wußte es vorher.“
„Aber es ging vortrefflich,“ rief der Kammerherr. „indessen –“
Er machte Weißfisch, der noch immer regungslos mit halbgeschlossenen Augen in der Thür lehnte, einen Wink, worauf jener sich emporrichtete und aus der Thür in den Garten, zu welchem ein paar Stufen hinabführten, verschwand.
„Bitte um Entschuldigung!“ sagte der Kammerherr, „bemerkte zu spät, daß er Ihnen lästig war. Ich bin leider so an ihn gewöhnt, daß ich seine Gegenwart kaum noch merke. Aber nun lesen Sie auch weiter, oder – geben Sie einmal her! ich will Ihnen Muth machen.“
Er nahm mir das Buch aus der Hand und halb las, halb recitirte er die folgenden Verse, die zum Parzenlied hinüberleiten, und dann das wunderbare Lied selbst.
Das war denn etwas Anderes als mein mißlungener Versuch. Die Stimme blieb freilich gebrochen, wie heute Morgen beim Singen; aber, wie heute Morgen, empfand ich das nur in den ersten Momenten, dann stand ich ganz unter dem Zauber einer Vortragskunst, von der ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte.
„Sie wollten mir Muth machen,“ stammelte ich, als er das Buch sinken ließ, „und nun werde ich nie wieder vorzulesen wagen.“
„Das sagt man so,“ erwiderte er lachend. „aber irrt sich sehr; besonders, wenn man wie Sie zum Schauspieler geboren ist.“
„Ich?“ rief ich, erschrocken und ergötzt zu gleicher Zeit.
„Sie!“ erwiderte er ruhig. „Wollen Sie eine Wette mit mir machen, daß Sie Schauspieler sind, bevor ein Jahr ins Land geht? Ich habe dafür einen sicheren Blick, wie sich denn das für einen alten Intendanten so schickt. Es übertrifft mich darin vielleicht nur noch Einer: Laube in Wien; aber auch er ist wiederholt an denselben Talenten achtlos vorüber gegangen, die ich als solche sofort erkannte. Oder hätten Sie etwas gegen den Schauspielerstand?“
„Nein,“ rief ich; „wie käme ich dazu?“
„Nun,“ erwiderte er, „man erzählte gestern, daß Sie einen sehr würdigen Mann, einen Handwerker, wenn ich nicht irre, zum Stiefvater und eine überaus fromme Dame – eine Katholikin, nicht? – zur Mutter haben. Dabei könnte doch leicht ein Vorurtheil gegen das leichtlebige Völkchen der Komödianten für Sie abgefallen sein.“
„Es giebt keinen Menschen, der freier dächte und vorurtheilsloser wäre, als mein Vater,“ sagte ich eifrig.
„Aber Ihre Frau Mutter?“
„Ich habe nie über solche Dinge ein Wort mit ihr gesprochen,“ erwiderte ich ausweichend.
„Nun,“ sagte er, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und feine Wölkchen aus seiner Cigarre blasend; „die frommen Leute haben ja auch so Unrecht nicht, wenn sie sich vor einer Sippe bekreuzigen, die in ihren Augen der Teufel mit Haut und Haaren hat, und selbst dem ruhigen Bürger kann man es nicht verdenken, wenn er um die geschminkte Gesllschaft in einem scheuen Bogen herumgeht. Sie sind einmal nicht wie andere Menschen, können es nicht sein. Das Metier will es so. Der richtige Schauspieler – es giebt nämlich viele unrichtige, und ihre Zahl nimmt in erschreckender Weise zu – ist heutigen Tages noch genau so, wie sie Goethe im Wilhelm Meister geschildert hat. Er kannte den Rummel. Jarno lacht einmal, als der gute Wilhelm sich in seiner pedantischen Weise die Flanken peitscht, um den Schauspieler abzukonterfeien, und dabei nichts herauskommt, als ein Bild des Menschen, in welchem nur so ziemlich sämmtliche Fehler und vielleicht auch ein paar Tugenden gröblich übertrieben sind, also auf deutsch eine Karikatur des Menschen. Aber ist nicht das Kind auch eine Karikatur des Erwachsenen? vorausgesetzt, daß man in dem Erwachsenen nicht eine Karikatur des Kindes sehen will, wogegen ich meinestheils nichts einzuwenden haben würde. Jedenfalls: will man wissen, wie die Menschen sind, muß man Kinder und Schauspieler studiren. Schauspieler sind nur physisch groß gewordene Kinder; psychisch sind sie geblieben, was sie waren: wetterwendisch, rechthaberisch, zanksüchtig, neidisch, eitel, egoistisch, durch und durch sinnlich, verlogen, zu jeder ordentlichen Arbeit untüchtig, keine oder höchstens ihre sogenannte Arbeit ernsthaft nehmend, was nicht viel sagen will und jedenfalls die Parallele zwischen ihnen und den Kindern nicht stört, denn nehmen die nicht auch ihre Kindereien mit einem für die Erwachsenen lächerlichen Ernst? Ich sage, die Sippe muß so sein – jeder, sonst behagt ihm die Puder- und Gasatmosphäre der Bühne nicht, so wenig wie uns Erwachsenen die säuerliche Kinderstubenluft. Und behagt ihm nicht bloß nicht: er kann sie auch nicht vertragen, wird elend, verfällt in die aberwitzigsten Krankheiten, eklipsirt sich schleunigst, wenn er noch so viel Besinnung hat, oder verkommt, wird verrückt oder geht sonst unter, wenn ihm die gesunde Reaktionskraft mangelt. Wie Viele habe ich so verkommen und untergehen sehen! Noch gestern Abend bin ich durch Weißfisch – Sie erinnern sich – an ein recht eklatantes Beispiel erinnert worden: eine junge Sängerin, die auch einmal die Iphigenie tragirte. Sie kam an meine Bühne direkt aus Kalifornien, eine Amerikanerin also, aber von deutschen Eltern geboren, so viel wir wußten. Wir wußten aber verzweifelt wenig von ihr, bekamen auch später kaum mehr zu wissen, da sie sich in ein undurchdringliches Geheimniß hüllte, in das sie vielleicht nur Serenissimus hat blicken lassen, obgleich mir selbst das noch zweifelhaft ist. Wenigstens war er oder schien er nach ihrem Tode so rathlos wie wir. Alle hinsichtlich etwaiger Verwandten, denen man den Tod zu melden hätte oder dergleichen. Freilich hatte er einige Ursache, zu wünschen, daß über die Affaire möglichst wenig gesprochen wurde. So viel ich weiß, ist damals auch nicht ein einziges Wort in die Zeitungen gekommen; die Sache blieb, wie Serenissimus es so schön ausdrückte: entre nous.“
Dem Kammerherrn war die Cigarre ausgegangen; ich wollte ihm das Feuerzeug reichen, das auf dem Tischchen stand; er dankte, bat aber, ihm auch die Cigarrenkiste heranzuschieben, aus der er eine frische Cigarre nahm und anzündete.
„Non bis in idem,“ sagte er lächelnd; „nicht zweimal dieselbe Cigarre. Ist sie einmal erloschen, weg damit!“
„Die Dame starb also?“ fragte ich schüchtern.
„Bravo,“ sagte der Kammerherr lachend, „habe Sie gleich daraufhin taxirt, daß Sie zu den inquisitive travellers dieser Erde gehören. Wie alt sind Sie eigentlich, wenn es nicht indiskret ist, zu fragen?“
Ich sagte es ihm.
„Der Tausend!“ rief er, „ich habe Sie mindestens für zwei Jahre älter gehalten. Freilich, kluge Menschen erscheinen immer älter, als sie sind. Nun, da kann ich Ihnen auch das Ende der Geschichte erzählen, das eigentlich nur für Erwachsene ist, was man allerdings von Eurem Horaz und Ovid und der übrigen liederlichen antiken Kompagnie, mit der Ihr auf Du und Du steht, oder stehen sollt, erst recht sagen kann. Ja, die Dame starb. Sie hielt es mit dem Leben, wie ich mit den Cigarren: ist der erste frische Duft dahin – weg damit! Und ihr Leben – nun, auch stärkere Frauenköpfe möchten sich an dem Duft berauscht haben. Um es kurz zu sagen: sie war die Geliebte des Fürsten geworden – eine von vielen der Reihe nach, zur Zeit die einzige und die noch höher streben durfte und zweifellos strebte. Der Fürst liebte sie in seiner Weise leidenschaftlich. Wir mußten alles Ernstes fürchten, daß er sich von seiner Gemahlin scheiden lassen und die Fremde heirathen würde – natürlich zur linken Hand. Und es gab nicht Wenige, welche diese Eventualität keineswegs fürchteten, vielmehr derselben mit Freude entgegensahen und ihr Möglichstes thaten, sie herbeizuführen. Denn die Dame war ebenso liebenswürdig, wie sie schön war, und ihre Excentricitäten machten sie in den Augen ihrer Anhänger nur noch liebenswürdiger; man versprach sich ein köstlich tolles Leben unter ihrem Regimente. Andere dachten anders, und unglücklicher Weise waren unter diesen sehr, sehr hochgestellte Personen. Der Fürst mußte nachgeben; nach meiner unmaßgeblichen Ansicht war es ihm auch nie voller Ernst: er dilettirte eben in allen Künsten, inklusive der ars amandi. Es erfolgte die von den Klugen vorausgesehene Katastrophe. Daß freilich die Dame die Sache so überaus tragisch nehmen und ihrem und ihres Kindes Leben unverzüglich ein Ende machen würde – in dem Flusse, der hinten am Schloßparke vorüberfließt – das war nicht vorausgesehen worden, mußte aber hingenommen werden und wurde hingenommen wie alle faits accomplis. Grands dieux! ich werde wirklich alt. Da schwatze und schwatze ich und vergesse die Hauptsache, weßhalb ich Sie habe bitten lassen. Sie dürfen nicht Nein sagen und müssen auch Ulrich dazu bringen, Ja zu sagen. Mit Fräulein Maria habe ich schon gestern Abend gesprochen; sie ist ganz mit mir einverstanden. Also: ich will Euch jungem Volke ein paar Akte der ,Iphigenie‘ einüben – sagen wir die beiden letzten: in den ersten stehen zu viel ungesellschaftliche Dinge. Den Thoas lese ich, den Arkas kann Weißfisch zur Noth auch mimen. Eine kleine Bühne ist bald hergestellt, für die Kostüme sorge ich. Nun? nicht wahr, Sie sind ein gutes Kind und machen einem alten Mann die Freude, die einzige, die er noch auf der Welt hat?“
Er streckte mir mit einem gewinnenden Lächeln die Hand entgegen. Was konnte ich Anderes thun, als dieselbe ergreifen und stammeln, daß ich mit Vergnügen, was in meinen schwachen Kräften stehe, thun würde, ihm eine kleine Freude zu bereiten.
„Also abgemacht,“ sagte er, meine Hand loslassend. „Weißfisch, wie steht es mit dem Frühstück der Herrschaften?“
„In fünf Minuten,“ sagte Weißfisch, ein schönes Bouquett auf das Tischchen stellend und hinzufügend: „mit Erlaubniß des Gärtners.“
„Er stiehlt nämlich sonst wie ein Rabe,“ sagte der Kammerherr lachend.
Ich verbeugte mich zur Thür hinaus und eilte die Treppe hinauf auf unser neues Zimmer. Es war, wie ich gedacht: Schlagododro nicht da, und in den beiden Kommoden steckten die Schlüssel! Ich öffnete die eine; es war zufällig gleich die für mich bestimmte, in welche Schlagododro meine Sachen für seine fahrige Weise sehr ordentlich gelegt hatte. In dem obersten Fache neben Kragen und Taschentüchern einige in Papier gewickelte Kleinigkeiten, unter denen aber, wie ich auf den ersten Blick sah, das Medaillon fehlte. Jedenfalls hatte es Schlagododro an sich genommen.
Es polterte draußen auf dem Flur, und der Freund stürzte herein.
„Ich war schon unten beim Kammerherrn,“ rief er, „und hörte, daß Du hinaufgegangen seiest. Komm schnell, Mama liebt es nicht, wenn nicht Alle da sind!“
„Du hast doch mein Medaillon?“ fragte ich, schon im Begriff ihm zu folgen.
„Was für ein Medaillon?“
„Es hat zu unterst im Koffer gelegen – in Papier gewickelt – mit einem Bilde meiner Mutter.“
„Ich habe verschiedene kleine Pakete gefunden, die in Papier gewickelt waren, und oben in den Kasten gelegt. Es muß dabei sein.“
„Es ist es aber nicht.“
„Dann ist es auch nicht im Koffer gewesen; ich habe Alles so sorgfältig behandelt, als ob es rohe Eier wären. Du wirst es zu Hause gelassen haben. Aber nun komm, oder wir kriegen Schelte!“
Ich konnte es nicht zu Hause gelassen haben – es war unmöglich. Ich mußte mich vor der Hand trösten, daß es irgendwo zwischen die Wäsche geglitten sei. Aber es blieb mir keine Zelt, genauer nachzusehen, Schlagododro war zu dringend. Widerwillig folgte ich ihm, nicht ohne vorher den Schlüssel der Kommode zu mir zu nehmen.
Ich hätte den Schlüssel stecken lassen können: das Medaillon war nicht in der Kommode. Darüber blieb kein Zweifel, nachdem wir Alles durchforscht hatten. Schlagododro war sehr betreten. Er gestand, daß er zwar eigenhändig die Sachen in die Kommode gelegt, aber sie sich zu dem Zwecke von dem „Neuen“ aus dem Koffer habe langen lassen. Bei dieser Gelegenheit mußte der Mensch den Diebstahl ausgeführt haben. Schlagododro hatte ihn, als er das Zimmer verließ, mit sich genommen, und derselbe war nachweislich, bis ich die Entdeckung des Verlustes machte, nicht wieder auf das Zimmer gekommen. Daß aber ein Diebstahl vorliege, daran konnte ich nicht zweifeln und zweifelte auch sonst im Hause Keiner: der Mann hatte sich, so kurze Zelt er auch erst im Dienste war, bereits mehrere unbedeutendere Veruntreuungen zu Schulden kommen lassen, zu denen er sich auch bekannte. Zu diesem schweren Falle wollte er sich nicht bekennen, trotzdem ihm völlige Straffreiheit zugesichert wurde. Er blieb hartnäckig beim Leugnen, eine Durchsuchung seiner Sachen erwies sich fruchtlos; Herr von Vogtriz mußte sich damit begnügen, ihn fortzuschicken.
„Siehst Du, wie Recht ich hatte,“ sagte Schlagododro, „ich habe dem Kerl vom ersten Augenblicke an nicht getraut. Ich kann mich auf meine ersten Eindrücke immer verlassen.“
Das war ja so weit ganz gut, brachte mir aber leider den verlorenen Schatz nicht wieder. Es war ein flüchtiger Besitz gewesen. Und nicht einmal angesehen hatte ich das theure Bild. Hatte es sich von mir gewandt, weil ich mein Herz loszumachen versucht hatte von ihr, die es darstellte? Ein Versuch, der mißlungen war. Maria hätte mir nicht einzuschärfen brauchen, ich dürfe die Mutter nicht hassen – ich konnte es nicht und wußte, daß jene Trennung, mit der mir der Pfaffe gedroht, sollte sie wirklich eintreten, ein furchtbarer Schlag für mich sein würde. Aber war es nicht möglich, demselben vorzubeugen? mußte ich es nicht wenigstens versuchen?
Und ich setzte mich hin und schrieb einen langen, langen Brief an die Mutter, in welchem ich ihr mein ganzes Herz ausschüttete: was ich um sie gelitten, und wie ich Alles vergessen und überglücklich sein wolle für ein wenig Liebe von ihr. Aber freilich den Vater könne ich nicht verlassen, und dies Verlangen habe ja ganz gewiß nicht sie an mich gestellt. Das gehe zweifellos von dem Priester aus, der immer zwischen ihr und mir und auch sicher zwischen ihr und dem Vater gestanden habe und der aus unserem Bunde weichen müsse, damit derselbe fortan ein heiliger, unzerreißbarer sei.
Ich Thor! zu wähnen, das würde einen starken Eindruck auf die Mutter machen; das würde selbst dem Pfaffen das Gewissen rühren! und ließ mich auch in diesem guten Glauben nicht erschüttern, trotzdem ein Tag nach dem andern verging und keine Antwort auf meine Bitt- und Klageschrift kam.
Freilich waren es Tage, die nicht langsam tropften, sondern daher- und vorbeirauschten wie ein stürmender Bach; Tage, die in meiner Erinnerung keine Nächte gehabt zu haben, sondern, nach den Worten der Schrift, aus Abend und Morgen geworden zu sein scheinen. Aus Abend- und Morgenröthen. Denn im rosigen glanzvollen Licht, jener thauigen Frische, die nur der Morgen kennt, jenem ahnungsvollen Duft, den nur der Abend hat, stehen sie vor dem rückwärts gewandten Auge, bis ein wehmüthiger Schleier sich darüber senkt und all die Herrlichkeit erlöschen macht: all das Herzpochen und das sehnende Verlangen und das wahnsinnige Entzücken und die flammenden Gebete und die Flüge durch alle Himmel und den Sturz durch alle Höllen. Denn er, auch er gehört ja dazu! Wer wollte sich vor ihm fürchten, ihn nicht in den Kauf nehmen um den Preis, „gelebt und geliebt“ zu haben?
Es war über mich gekommen nicht wie eine Gefahr, die heranschleicht und vor der sich der Kluge hätte hüten mögen, sondern mit dem Sprung des Tigers, vor dem es keine Flucht giebt. An jenem ersten Abend. „Hier bin ich!“ Ja, hier bin ich: ich, nach der der wilde Knabe weinte in leidenschaftlicher Verzweiflung, weil seine zuckenden Lippen noch nie ein Frauenmund geküßt habe; ich, die du gesehen, noch bevor du mich sahst; ich, die du nie wieder vergessen kannst, nachdem du mich gesehen; ich, des mächtigsten Gottes hohe Priesterin, die dem Tappenden, Taumelnden die Binde vom Auge nahm, daß er nun stehe, geblendet, trunken von dem Strahlenglanz! Und ihm nun in diesem Strahlenglanze die ganze Welt erscheint, die er nun auch zum ersten Male zu sehen glaubt. Zu sehen und zu hören, zu fühlen, zu empfinden mit allen Sinnen, durch alle Poren. Hat denn die Sonne je geschienen? der Himmel geblaut? haben die Vögel gesungen? die Blumen geduftet? ist die Welt gestern geschaffen worden, und er wandelt durch Gottes Paradiesesgarten, der erste Mensch?
Er fragt es, wenn er in der heiligen Morgenfrühe sich leise, den schlafenden Gefährten nicht zu wecken, vom Lager gestohlen hat und nun in dem Parke umherschweift durch die kühlen Schatten unter den hohen Bäumen, durch die sonnebestreiften, thauüberglänzten Beete, und in den linden balsamischen Hauch, der sie umfächelt, ihren holden Namen lispelt: Ellinor!
Ach, er hat ja keinen anderen Vertrauten seines Geheimnisses, es müßte denn der Abendwind sein, der um seine heiße Stirn streicht, wenn er sich von der Gesellschaft auf dem „Freiblick“ weggeschlichen hat zu dem Boot, das ein Streckchen davon unter überhängenden Weiden an dem Landungssteg befestigt ist und auf dem er nun hinausrudert auf des Meeres kaum bewegte Fläche so weit, daß Keiner ihn mehr abrufen kann, und daß Keiner es hören könnte und er es nicht mehr zu sagen braucht, da die plätschernde Welle am Kiele nur immer murmelt: Ellinor!
Nein, er hat keinen andern Vertrauten, darf keinen haben. Nicht, weil er weiß, daß er nicht wieder geliebt wird. Das verlangt er nicht, ja, der Gedanke bloß, es könnte jemals sein, macht ihm vor Schrecken schier das Herz erstarren. Er steht noch ganz und mit inniger Ueberzeugung in dem romantischen Glauben; er weiß, daß er von allen Kränzen, die er windet und in die er so viel tausend Gedanken und Grüße hinein gebunden, ihr keinen reichen kann. Er hält dafür, daß es ihr Herrinrecht ist, ihn nicht zu sehen, oder höchstens einmal mit dem flüchtigsten Blick aus ihren Augen zu streifen, wenn er aus schüchterner Ferne zusieht, wie sie sich in den Sattel schwingt, um mit ihren Kavalieren hineinzusprengen durch die Felder in den grünen Wald; oder in der Gesellschaft, die sie mit ihrem Witze und ihrer munteren Laune belebt, seitab steht in einer dunklen Fensternische des kerzenerhellten Salons. Das ist ihr Recht. Und seine Pflicht, es geduldig zu nehmen und von der Geliebten keine Gegenliebe zu erwarten oder gar zu fordern.
Aber ich hatte noch andere schwerwiegende Gründe, die mir das Geheimniß zur heiligen Pflicht machten. Weßhalb war ich hier? Doch nicht um dieser braunäugigen Circe willen; doch nur, weil ich Schlagododro einmal das Versprechen gegeben hatte und es mir schließlich leicht wurde, es einzulösen, nun, da ich während der ganzen Zeit mit Maria zusammen sein durfte. Zwar ich liebte Maria nicht; ich hatte das dem Freunde gegenüber behauptet und mit Recht, wie ich jetzt besser als damals und nur zu gut wußte; aber, die Andere nicht zu lieben, hieß mich die Freundespflicht, und wenn ich sie nun doch gegen meinen Willen lieben mußte, so verlangte die Achtung vor mir selbst, daß ich diese Liebe nicht eingestand. Das hatte ich mir geschworen, und ich war entschlossen, meinen Schwur zu halten.
Auch dann noch, als ich, was schon nach wenigen Tagen geschah, die seltsamste Entdeckung machte.
Der Kammerherr hatte an seinem Einfall, sich ein Amüsement zu bereiten, indem er uns jungen Leuten ein paar Schauspielscenen einübte, mit der doppelten Zähigkeit des alten Theatermannes und des Kranken festgehalten, und ich, dem gegebenen Versprechen gemäß, mein Bestes gethan, Schlagododro zur Uebernahme der Rolle des Orestes zu bewegen. Vergeblich. „Bleib mir mit dem Unsinn vom Leibe,“ rief er, wenn ich in ihn drang, doch dem kranken Mann den Gefallen zu thun. „Gefallen hin, Gefallen her, wenn mir die Sache nicht gefällt, und das thut sie ganz und gar nicht. Ich bin kein Komödiant; ich hasse Komödianten, diese Kerls, die von Einbildungen leben, wie die Schwalbe von Mücken. Ich bin ein ehrbarer Kauz, der lange warten kann, bis ihm mal eine Maus über den Weg läuft, und auf alle Fälle kann ich nur reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Wie käme ich zu all dem Zeugs, das der Kerl, der Orest, da vorbringt? Habe ich meine Mutter todtgeschlagen? bin ich verrückt? Habe ich in meinem Leben auch nur eine Furie gesehen, geschweige denn ein ganzes Rudel? Bin ich der Mann dazu, aus dem Hinterhalte heraus einem ehrlichen bornirten Kerl, wie dem Thoas, der sich nichts Böses versieht, eine Statue – von Marmor oder Sandstein, was weiß ich! – auszuführen, auf die er so großen Werth legt, wie Du auf das Bild Deiner Mutter? Hätte ich mir nicht beinahe die Ohren abgeschnitten, weil ich durch meine Nachlässigkeit schuld war, daß es sich der Spitzbube annektiren konnten und schließlich: ist Fräulein von Werin meine Schwester? Ich kann Dir sagen: ich danke Gott, daß ich nicht ihr Bruder bin!“
Dieses „Schließlich“ Schlagododro’s gab mir viel zu denken. Ich kannte seinen Haß gegen Adalbert zur Genüge, und es war nicht nöthig, daß er demselben bei dieser Gelegenheit einen Ausdruck gab. Ja, dieser schroffe Ausdruck vertrug sich im Grunde gar nicht mit Schlagododro’s Ritterlichkeit, die es ihm sonst zum Gesetz gemacht hatte, jede Anspielung auf mein Freundschaftsverhältniß zu seinem Nebenbuhler sorgsam zu vermeiden. Oder verbarg sich etwa in dieser feierlichen Verwahrung vor der Geschwisterschaft mit Maria ein Doppelsinn?
Es mochte immerhin mein Verstand sein, der diese Frage aufwarf, aber die Antwort kam doch von anderer Seite. Man liebt entweder wahnsinnig oder man liebt gar nicht, hatte Schlagododro gesagt. Ich glaubte jetzt, ein Wort in dieser Sache mitsprechen zu konnen; ich glaubte zu wissen, daß allerdings „wahnsinnige Liebe“ ein kindischer Pleonasmus sei; aber vergebens spähte ich bei Schlagododro für seine behauptete Leidenschaft zu Ellinor nach den mir nun so wohlbekannten Symptomen. Er hatte mir freilich in den ersten Tagen fast drohend die Anerkennung der unvergleichlichen Schönheit und Liebenswürdigkeit seiner Kousine abverlangt und war wüthend gewesen, wenn ich ihm dieselbe, wie grausam mich mein Herz Lügen strafte, trotzig hartnäckig
[190] verweigerte. Er war auch viel um Ellinor und lachte unbändig über ihre lustigen Scherze und oft barocken Einfälle; aber er sandte ihr keine gluthstarren Blicke nach, wenn sie ging; sein Auge flammte nicht auf, wenn sie kam. Ebenso wenig rückte das famose Gedicht mit dem ersten (und einzigen) problematischen Vers aus der Stelle. Und dennoch – dennoch war eine Veränderung mit dem Freunde vorgegangen. Der sonst Rastlose, der seine Ueberkraft niemals hinreichend austoben konnte, versank auf Stunden und halbe Tage in ein stilles träumerisches Wesen; und wenn dann die Unbändigkeit in verdoppelter Heftigkeit wieder hervorbrach, war es nicht die alte harmlose – es war, als ob er sich von einer Last befreien wollte, die schwer auf ihm drückte, von einem Stachel, der ihn bis aufs Blut peinigte. Ein für den weggejagten „Neuen“ eingestellter zweiter „Neuer“ bekam nicht die mindesten Schelte, trotzdem er wirklich sehr ungeschickt und bis zur Frechheit naseweis war; in der Nacht hörte ich, dessen eigener Schlaf nur noch ein Traumwachen, den firmsten Schläfer der Welt unruhig auf seinem Lager sich wälzen und selbst im Traum dunkle Worte murmeln, von denen ich, wie ich so, voll ernster Sorge um den Freund, den Ellenbogen aufgestemmt im Bette saß, endlich eines doch verstehen mußte: Maria!
War es möglich?
Ich hätte beinahe laut in die stille Nacht hinein gelacht: das war ja, als ob man Feuer und Wasser mengen, zwei absolute Widersprüche mit einander ausgleichen wollte! es war einfach unmöglich. Und während ich mir diese Unmöglichkeit noch lächelnd zu vergegenwärtigen suchte, überkam mich plötzlich eine seltsame Bangigkeit, die Furcht vor etwas Schrecklichem, das sich da vorbereite. Denn, wenn es doch möglich war – und hundert kleine Umstände, die ich kaum beachtet oder falsch ausgelegt hatte, und die mir plötzlich wieder in Erinnerung kamen und in das rechte Licht traten, machten mir bald die Möglichkeit unzweifelhaft – was sollte daraus werden? Zwar in dem Einen glichen sie sich völlig; in der wandellosen Ehrlichkeit des Herzens und der unentwegten Treue, mit der sie ihren Ueberzeugungen folgten. Aber eben die mir wohlbekannte ungeheuere Differenz der letzteren mußte sie aus einander führen, wie sehr sich auch die starken Herzen nach Einigung sehnten. Wenn der Freund selbst sich darüber verblenden konnte, so gebot mir die Pflicht, ihm die Augen zu öffnen, so lange es noch Zeit war. Nur daß er, wie ich ihn kannte, mir schwerlich Gelegenheit zu dieser Intervention geben würde.
So beschloß ich denn, während ich schlaflos dalag in dem Dämmer der Mondnacht und auf die nun wieder ruhigen Athemzüge des Freundes lauschte, diese Gelegenheit vom Zaun zu brechen, und führte diesen Entschluß am nächsten Morgen aus, trotzdem mir dabei zu Muthe war, wie Jemand sein müßte, der genöthigt wird, einen schlummernden Löwen an der Mähne zu zupfen.
Es kam, wie ich erwartet. Schlagododro packte mich an beiden Schultern und schwur, mich todt zu schlagen, wenn ich noch einmal einen so verruchten Unsinn ausspräche, und dann geschah, was ich, wenigstens für den Augenblick, nicht erwarten konnte: er fiel mir weinend um den Hals und gestand mir schluchzend, daß er Maria liebe. Er sagte diesmal nicht: wahnsinnig; ich glaubte ihm auch ohne das.
Und dann, als wir uns Beide so weit beruhigt hatten, kam die Geschichte seiner Liebe.
[201] Seine Liebe, erzählte Schlagododro, sei nicht das Werk eines Augenblicks – im Gegentheil, Maria habe ihn in den ersten Tagen ganz kalt gelassen, als wäre sie ein Marmorbild, bis er einmal jenes leise Zucken der Oberlippe bemerkte, welches, wie ich ihm gesagt, bei ihr das Lachen bedeute. Das habe ihm durchs Herz geschnitten – ihm, der so gern in ein schallendes Gelächter ausbreche – daß jemand – und noch dazu ein Mädchen – nicht sollte lachen können; und er habe nun genauer nach der Geschichte jenes Unglücks geforscht, welches dem armen Kinde Zeit seines Lebens das Lachen geraubt und vergällt habe. Er habe jetzt von Onkel Egbert alles erfahren. Herr von Werin sei ein ungewöhnlich tüchtiger Officier gewesen und auch nicht einmal händelsüchtig, aber von einem unbeugsamen Rechtlichkeitssinn, den er dann freilich in der schroffsten Form zum Ausdruck brachte, um so schroffer, je höher der Vorgesetzte war, mit dem er in Konflikt gerieth. Als sich mit dem dritten Regimentskommandeur dieselbe Geschichte wiederholte, sei er, der damals bereits Hauptmann war, mit dem Titel Major verabschiedet worden – ein Beweis, daß er abermals in der Sache Recht gehabt und es nur in der Form verfehlt habe. Schon damals – es war im Jahre 1864 gewesen, und der Unglückliche mußte zu Hause bleiben, während seine Kameraden zum ersten Male nach langen Friedensjahren wieder ins Feld zogen – habe er auf dem Punkte gestanden, sich das Leben zu nehmen; nur der Gedanke an seine Familie habe ihn zurückgehalten und in den Civildienst, der unter diesen Umständen in seinen Augen eine Schande war, treten lassen. Hier gerieth er, der von dem Steuerfache notorisch nichts verstand, ganz in die Hände eines Unterbeamten, der ihm als ein kenntnißreicher und zuverlässiger Mann officiell empfohlen war. Das Erstere war der Mann sicher, das Letztere mochte er bis dahin gewesen sein; nun konnte er der Versuchung, sich die Geschäftsunkenntniß des Vorgesetzten zu Nutzen zu machen, nicht widerstehen. Aber der Mann verstand sein neues Gewerbe schlecht. Verhältnißmäßig geringfügige Gratifikationen waren alles, was ihm seine Durchstechereien eingetragen hatten, die erst nach seinem Tode bei einer endlich einmal sorgfältiger angestellten Revision herauskamen. Dennoch war der Fiskus um viele Tausende betrogen. Waren sie alle als nichtbezahlte Steuern in die Tasche der Defraudanten geflossen? Man nahm es nicht an, um so weniger, als Herr von Werin notorisch niemals ein guter Haushalter gewesen war und also wohl zweifellos, seinen zerrütteten Vermögensverhältnissen aufzuhelfen, mit dem Revisor unter einer Decke gesteckt hatte. Eine lange, peinliche, für Herr von Werin tief schmachvolle Untersuchung folgte, an deren endlichem Schluß sich herausstellte – worauf, wie Schlagododro sagte,
sein Onkel hätte schwören mögen – daß auch nicht ein Pfennig des veruntreuten Geldes an seinen Händen klebte. Aber der betrogene Fiskus mußte sein Opfer haben: Herr von Werin wurde disciplinarisch mit Ausfall der Pension seines Amtes entsetzt. Er quittirte über den Spruch des Gerichtes, indem er stehenden Fußes in sein Zimmer ging und sich eine Kugel durch den Kopf jagte.
„Weiß Gott,“ sagte Schlagododro, als er seine Erzählung beendet hatte, und fuhr sich dabei mit der großen braunen Hand über die Augen, „das ist denn wahrlich genug, daß so ein armes Mädchen darüber Zeit seines Lebeus das Lachen verlernt. Auch die Mutter, sagt Onkel Egbert, soll dem Wahnsinn nahe gewesen sein. Ich glaub’s gern. Aber Mitleid ist noch keine Liebe, und darum hätte ich Maria noch lange nicht geliebt. Glaubst Du, daß man überhaupt sagen kann, warum man ein Mädchen liebt? Ich nicht. Ich kann nur sagen, daß ich sie für das edelste, reinste Geschöpf unter Gottes Sonne halte, der ich gemeiner Kerl völlig unwerth bin und der ich es einzig und allein zu verdanken haben werde, wenn jemals aus mir etwas Gescheites wird.“
Das klang nun freilich, als ob er von Maria bereits die Zusage erhalten habe, sie wolle ihm bei diesem schwierigen Proceß helfen, und so wagte ich eine dahin zielende Andeutung, um abermals Schlagododro’s Wuth bis zu seiner Lieblingsdrohung zu reizen, worauf er dann unter tiefem Erröthen stockend und stotternd eingestand, er glaube, daß er Maria nicht ganz gleichgültig sei. Er habe sie nicht gefragt, und sie habe ihm natürlich nichts gesagt, aber er glaube es.
Ich glaubte es nicht und mußte es doch glauben, ja für gewiß halten, nachdem ich, wie vorher den Freund, so nun auch Maria einige weitere Tage beobachtet hatte. Die leise Röthe, die jetzt ihre sonst bleichen Wangen überhauchte, konnte keine Wirkung der Landluft sein, denn sie kam und ging – kam und ging mit Schlagododro; der tiefere Glanz ihrer sonst so klaren Augen nicht gesellschaftliche Erregung, denn er kam und ging mit Schlagododro. Daß der Freund die Geliebte in der Gesellschaft immerdar suchte, war selbstverständlich; aber ich bemerkte jetzt, daß sie sich, so oft es nur eben geschehen mochte, finden ließ: auf den Spaziergängen, auf den Ausflügen, im Salon – überall. Und überall und immer, wenn sie sich gefunden hatten, war es, als ob sie eine widerwillig abgebrochene interessante Unterhaltung nur wieder aufzunehmen brauchten und begierig wieder aufnähmen – so ausgiebig und eifrig war ihr Gespräch, das doch ins Stocken gerieth, sobald ein Dritter hinzutrat, selbst wenn ich, ihr gemeinschaftlicher Freund, dieser Dritte war und nun, da mir nicht, wie dem Freunde, ein ähnliches holdes Glück blühte, und ich sein und der Freundin Glück nur stören konnte, sah ich mich auf die Gesellschaft angewiesen, die mir fremder wurde, je länger ich mit ihr verkehrte, je besser ich sie kennen, ihre Sprache, ihre Ausdrucksweise verstehen, ihre Mienen deuten, ihre Gedanken, ihre Empfindungen begreifen lernte.
Hier fand ich auch den zwingenden Beweis für Maria’s Liebe. Sah sie, hörte sie, die Schülerin ihrer Mutter, die Gesinnungsgenossin ihres Bruders, meine Freundin, das Alles nicht, was mich verletzte und empörte? Es war unmöglich; dazu war ihr Geist zu scharf, ihr Blick zu hell, ihr Ohr zu fein. Es blieb also nur das Andere übrig: sie wollte es nicht hören und sehen, den Abgrund nicht sehen, der sie und ihn, den sie liebte, von einander trennte, sie hätte denn ihre Ueberzeugungen oder er die seinen aufgeben müssen.
Wie ich sie zu kennen glaubte, schien mir das Eine und das Andere ausgeschlossen.
Aber das stand ja für mich fest, und nicht um mich handelte es sich, sondern darum, es ihnen oder doch wenigstens dem Freunde begreiflich zu machen.
Hundertmal setzte ich zu diesem Entschluß an, ohne den Muth zur Ausführung zu finden: ich, der Glücklose, Verschmähte, gegenüber ihm, dem Glücklichen!
Es wäre als hämische Mißgunst und schierer Neid erschienen bei mir, der ich ihnen doch ihr Glück von ganzem Herzen gönnte.
Und nun, da mir hier der Weg verrannt warr, da ich sah, daß ich nicht helfen konnte, gewährte es mir eine schier grausame Lust, mir zu beweisen, daß Hilfe überhaupt unmöglich, die Kluft unüberbrückbar sei, welche zwischen Menschen befestigt ist, von denen die einen zäh am Autoritätsglauben hängen, die anderen sich vor keinem Gesetz beugen wollen, gegen dessen Rechtmäßigkeit ihre Vernunft sich auflehnt und ihr Herz protestiert.
Es war, als seien die nächsten Tage dazu ausersehen, gerade nach dieser Seite hin mein Gemüth noch mehr zu verdüstern, meine Oppositionslust zu schüren und mich nachdrücklich daran zu mahnen, daß ich mich wahr und wahrhaftig im Lager meiner Feinde befinde.
Für den norddeutschen Reichstag war durch den plötzlichen Tod des Vertreters unserer Stadt und des ländlichen Kreises, zu dem auch die Insel gehörte, eine Neuwahl nothwendig geworden, die von der Regierung fast gewaltsam beschleunigt wurde und bereits in allernächster Zeit stattfinden sollte. Sowohl von Seiten der konservativen, als der liberalen Partei – es gab nur diese beiden bei uns in allerdings verschiedenen, aber nur für das Auge des Eingeweihten merklichen Schattirungen – waren in aller Eile die Hebel der Agitation angesetzt worden; jene hatte den Pastor Renner, diese den Professor von Hunnius als ihre respektiven Kandidaten aufgestellt. Als ich die Stadt verließ, war von dem Allen noch keine Rede gewesen; nun überraschte es mich mit doppelter Gewalt. Die Sache, die ich haßte, hatte zum Vorkämpfer den Mann, an den sich für mich die Erinnerung entsetzlichster Stunden knüpfte, die andere, der ich mit ganzer Seele ergeben war, meinen hochverehrten Lehrer, dem ich innigsten Dank schnldete auch dafür, daß er sich mir in eben jenen Stunden als liebevollen Berather und väterlichen Freund erwiesen.
Und nun mußte ich hören, daß meine, daß unsere Sache eine grundschlechte, frivole, unpatriotische, ja gottlose sei; ihr Vertreter ein Oppositionsmann um der Opposition willen, ein Rabulist, ein Hans Dampf in allen Gassen, dem man gehörig auf die allzu geschäftigen Finger klopfen und klar machen wolle, daß er, als ein Schuster, der er sei, bei seinen Leisten zu bleiben habe.
Es ist wahr, dergleichen Reden wurden von dem Major nicht nur nie geführt, sondern offen gemißbilligt; Herr von Vogtriz that das Letztere zwar nicht, aber er stimmte doch nur in einer Weise zu, die mich weniger verletzte und nicht selten mit seinen Anschauungen fast aussöhnte. Er fand diese Verquickung der alten echten Loyalität und des Pfaffenthums bedenklich. Freilich müsse sich das Königthum von Gottes Gnaden, wie er und jeder echte Preuße und Patriot es wolle, auf die Kirche stützen; aber wohlgemerkt: auf die Kirche, und nicht auf die Pfaffen. Einer könne nur Herr im Staate sein; und es sei eine alte Geschichte, daß der Pfaffe noch immer habe Herr sein wollen, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu zu bieten schien. Die Hilfe der Pfaffen sei im besten Falle ein zweischneidiges Schwert, und wenn er Graf Bismarck wäre, so würde er mit diesem Schwerte etwas vorsichtiger umgehen. Ueberhaupt sei es ein Kreuz und ein Elend, daß man bei jedem Schritt auf Bismarck stoße und immer erst fragen müsse, wie Bismarck sich zu der Sache gestellt habe. Das sei in der guten alten Zeit nicht so gewesen. Da habe man einfach gefragt: was will der König? und damit basta! Diese Einrichtung, daß ein verantwortlicher Minister zwischen dem König und seinem Volke stehe, sei auch nur wieder eine Erfindung von 1848, von der er hoffe, sie werde über kurz oder lang, das heiße: heute lieber als morgen zum Teufel gehen, bei dem wir uns für sie bedanken möchten. Und wenn nun gar der betreffende Minister ein Bismarck sei, so könne einem Loyalen von altem Schrot und Korn vollends die ganze konstitutionelle Bescheerung verleidet werden. Denn, man möge sagen, was man wolle, und Bismarck’s Verdienste so hoch stellen, wie man wolle – das Ende vom Liede sei, daß selbst der gemeine Mann mehr von seinem Bismarck als von seinem König spreche; und er für sein Theil halte das für ein großes Unglück, ja fast für ein größeres als den verdammten Liberalitätsschwindel. Mit dem werde man schon fertig: gegen Demokraten hülfen heute wie 48 noch immer Soldaten; wer aber setze den Leuten die Köpfe zurecht, wenn sie sich daran gewöhnt hätten, nicht zuerst und zuletzt auf ihren König zu blicken, sondern die Hälse verdrehten nach einem Andern, er sei auch, wer er sei?
Wenn Herr von Vogtriz so sprach, pflegte er dabei seinen Sohn anzusehen, der, sich schier die Lippen wund beißend, mit rollenden Augen da saß – mir in so fern ein erfreulicher Anblick, als er dem Vater gegenüber doch nicht seine Lieblingsdrohung vorbringen konnte, mit der er mich andonnerte, sobald ich ein Wort gegen seinen Abgott zu äußern wagte. Dafür hatte denn der Vater kaum geendet, als auch er bereits zu reden begann: pro Bismarck, wie jener contra, und da Beide, wenn sie in Zorn gerathen waren, sehr laut und nicht selten zugleich sprachen, mochte die übrige Gesellschaft nur so lange schweigen, vorausgesetzt, daß der Eine zu hören wünschte, was der Andere sagte.
Ich bekam davon doch noch mehr zu hören, als mir lieb war, denn die Gesellschaft, welche außer den Familienmitgliedern die fortwährend aus- und eingehenden Nachbarn bildeten, war groß, vergrößerte sich mit jedem Tage, und, mochte sie nun beisammen sein oder in Gruppen sich sondern – immer und überall wurde von der Wahl, von Pastor Renner, dem würdigen Manne, und seinem unwürdigen Gegenkandidaten gesprochen in jenen Ausdrücken, die es mir oft fast unmöglich machten, mit meiner Gesinnung zurückzuhalten und eine Scene zu vermeiden, nach der ich nicht eine Stunde länger in diesem Hause bleiben durfte.
Aber war es nicht Ehrensache für mich, auch so zu gehen? Ich fragte es mich jeden Abend, und blieb am andern Morgen doch aus Gründen, von denen ich meinte, daß sie ein dritter Unparteiischer würde anerkennen müssen.
Zuerst, ich hatte keinen plausiblen Grund zu gehen. Ich hatte mich für die ganze Zeit der Ferien gebunden; mein grundloses Fortgehen würde eine schwere Kränkung für Schlagododro gewesen sein, und seine Eltern hatten es wahrlich nicht verdient, daß ich ihnen zum Dank für ihre Gastfreundschaft so vagabundenmäßig davon lief. Beide hatten mich, der ich in ihren Augen doch zweifellos der Tischlerssohn blieb und sicher kein anderes Verdienst hatte, als der Protégé ihres Sohnes zu sein, mit stets gleicher freundlich-rücksichsvoller Höflichkeit behandelt. Und wenn Frau von Vogtriz, die ein instinktives Gefühl dafür haben mußte, daß es mit meinem Seelenheil mißlich stehe, mir auch mit endlosen erbaulichen Reden und Vermahnungen fürchterlich zusetzte, so meinte sie es offenbar ehrlich; und hatte ich fraglos das Recht, mich bei diesen Rettungsversuchen zu langweilen, so hatte ich doch keines, mich denselben durch die Flucht zu entziehen.
Fand der junge Mensch aber keinen Grund, zu gehen, so hatte er einen Grund fur tausend, um zu bleiben. Er liebte – liebte zum ersten Male, wie ihm der Leser dieser wahrhaftigen Geschichte zur Noth bestätigen kann; und wenn er auch glücklos liebte, und seine glücklose Liebe ihm tausend heiße Thränen kostete, so konnte ihn das in seiner göttlichen Seligkeit nicht stören, so war diese damit nicht zu theuer bezahlt. Ja, er fand, obgleich er es ja, wie alles, was sein großes Geheimniß betraf, im tiefsten Herzen verschließen mußte, des Freundes glückliche Liebe unsäglich prosaisch in Vergleich zu der seinigen.
Und nun sollte auch noch das Einzige gehoben werden, wovor er sich wahrhaft fürchtete: daß das Uebermaß seiner Empfindungen ihm die verschlossene Brust sprengen würde. Er durfte sagen, was er litt, und durfte es durch den Mund des Dichters, der wohl wußte, warum er wiederum jenes Wort einem anderen Dichter, der auch glücklos liebte, in den Mund legte.
Der Kammerherr hatte seine Idee keineswegs aufgegeben; aber „Iphigenie“ war ihm durch die Weigerung Schlagododro’s, an dem er sich (wahrscheinlich der rollenden Augen und der ewig sich sträubenden Mähne wegen) einen prächtigen Orestes versprochen hatte, völlig verleidet. Jetzt sollte es „Tasso“ sein: der erste Akt bis zum Auftreten Antonio’s in der vierten Scene. Daß ich den Tasso darzustellen habe, war nur selbstverständlich; den Herzog wollte niemand Geringeres übernehmen, als der Kammerherr selbst. Er befand sich seit einigen Tagen ausnahmsweise wohl, hatte wiederholt, auf Weißfisch’s Arm gestützt, kleine Promenaden im Park gemacht und hoffte, das Viertelstündchen zur Noth stehen zu können, besonders, wenn er sich dabei auf eine Herme oder dergleichen lehne. Aber welcher von den beiden jungen Damen sollte er die Prinzessin, welcher die Sanvitale anvertrauen?
Ich hatte mir natürlich Ellinor zur Prinzessin gewünscht, aber der Kammerherr kam endlich zu dem Entschluß, mit dem er, vermuthe ich, nur zurückgehalten hatte, um mit unserer Spannung sein Spiel zu treiben.
„Sehen Sie, junger Freund,“ sagte er, „Goethe, der alte Pfiffikus in Weibersachen, hat die beiden Weiberchen genau so geknetet, wie er sie für seine Zwecke brauchte. Die Prinzessin darf Tasso nicht lieben – par amour, wie der Franzose sagt – denn sonst würde die Sache sofort eine andere Wendung nehmen; und da der Tasso zweifellos ein appetitliches Kerlchen ist, dem jedes ordentliche Mädchen gleich um den Hals fallen müßte, darf sie eben kein ordentliches Mädchen sein – verstehen Sie recht! – sondern ein zu ordentliches, vor dem einen ehrlichen Jungen der Himmel in Gnaden bewahren möge: eine, die nur mit dem Kopfe liebt, jedes Jahr ein paar Wochen in ein Stahlbad reist, faute de mieux den Plato studirt – kurz, eine Dame, die nur noch gerade so viel von der Leiblichkeit hat, daß sie blaue Strümpfe tragen kann, in deren Kleidern aber sonst absolut nichts steckt als die schönste prüde Seele. Nun, und für die Interperetation dieser himmelblauen Abstraktion ist Fräulein von Werin wie geschaffen: mit ihrer überschlanken Gestalt, ihrer beängstigend klaren Stirn und ihren kategorisch imperativen Augen. ,Du siehst mich lächelnd an, Eleonore!‘ Ja, beim Zeus, ich glaube, das Mädchen kann gar nicht lachen; ich habe es wenigstens noch nicht ein einziges Mal gesehen.“
Ich hütete mich selbstverständlich, den grausamen Spötter über diesen zarten Punkt aufzuklären, und er fuhr fort, indem er sich eine frische Cigarre anzündete:
„Dagegen die Sanvitale! Nun, da weiß man freilich, wo und wie. Ich möchte sie Ihnen nicht zur Frau empfehlen, aber zur Geliebten – à la bonne heure! und Sie werden manche gute Stunde mit ihr haben. Nein, die muß Fräulein Ellinor bekommen. Der hat Goethe sie auf den Leib geschrieben, ohne sie zu kennen. Aber freilich, der Glückliche hat mehr als eine Ellinor gekannt!“
Mehr als eine Ellinor!
Ich hätte den alten Cyniker morden mögen, wie er da vor mir saß, in dem Fauteuil zurückgelehnt, eingehüllt in den violett-sammetnen Schlafrock, mit den schwarzen Faunenaugen zwinkernd und den Rauch seiner Cigarre in dünnen grauen Streifen aus den verwelkten Lippen blasend!
Aber wo wären dann die köstlichen Leseproben geblieben, in denen ich unter dem holden Mantel der gemeinschaftlichen künstlerischen Aufgabe mich ihr ungestraft nähern, ihr kecklich gegenüber sitzen, meine Seele an ihrem Anblick, an dem Ton ihrer Stimme weiden, meiner hoffnungslosen Liebe unerschöpfliches Glück in vollen Zügen trinken durfte!
Und in diesen Proben war der blasphemirende Faun die Decenz und höfische Artigkeit selbst. Und wie wußte er uns Neulingen so leicht und doch so sicher die verschlungenen Pfade zum Tempel der Kunst zu deuten! Wie klüglich uns anzuleiten vom einfach richtigen zum ausdrucksvollen Lesen, von diesem zum Sprechen, vom Sprechen zur leidenschaftlich bewegten Rede! Wie uns hier die unvergleichliche Schönheit der Verse zu Gemüth zu führen, dort den tiefen psychologischen Gehalt einer dunklen Stelle zu entschleiern! Dann vergab ich dem Manne alle seine Sünden; ja, es konnte geschehen, daß ich über dem geistvollen Lehrer die angebetete Schülerin vergaß, nur noch an seinen welken Lippen hing und mir mehr als die bloße Ahnung aufging von seligen Gesfilden, bestrahlt von einer Sonne, vor deren stetigem Glanz das wechselnde Gestirn verbleicht, zu dem sie beten in der Liebe Zaubergärten.
Wie im Fluge waren wir von den Leseproben zu den wirklichen Proben gelangt, welche gleich in dem für die Aufführung bestimmten Saale abgehalten wurden, und bei denen der Kammerdiener Weißfisch stets zugegen war. Die jungen Damen hatten sich zuerst sehr gegen die Anwesenheit des Mannes gesträubt, aber „der Herr Intendant“ war unerbittlich gewesen. Wir müßten uns allmählich an die Oeffentlichkeit gewöhnen, und der Mann repräsentire das Publikum. Ich hatte mich wohl gehütet, mit einem Wort zu opponiren, da ich wußte, wie große Stücke der Kammerherr auf das Kunsturtheil des Mannes hielt. Nicht ohne triftigen Grund. Nickte Weißfisch, so war es sicher gut; schüttelte er den Kopf, so war es eben so sicher schlecht; hob er beschwichtigend die Hand, so waren wir zu schnell geworden; taktirte er mit dem Zeigefinger ein lebhafteres Tempo, so waren wir zu langsam gewesen. Der Kammerherr rieb sich vergnügt die welken Hände, und sein ewiges: ,Was meinen Sie, Weißfisch? – Ich denke, wir machen es so, Weißfisch?‘ – war bei uns schon sprichwörtlich. Denn auch die jungen Damen hatten nun doch begriffen, wie viel man bei dem Manne lernen könne, wenn er, mir gegenüber, freilich dabei blieb, daß sie trotzdem nicht viel lernen würden, nicht bei ihm und bei keinem Lehrer.
„Denn, sehen Sie,“ sagte Weißfisch, „das ist und bleibt, wenn’s zum Höchsten kommt, angelernter Dilettantenkram. Das Fräulein von Vogtriz kann rein gar nichts, trotz ihres günstigen Exterieurs und ihrer angenehmen Stimme. Fräulein von Werin ist etwas besser: sie weiß wenigstens immer, was sie sagt, worauf ich bei der anderen jungen Dame nicht schwören möchte.“
„Und ich, Herr Weißfisch?“ fragte ich, eingeschüchtert durch diese herbe Kritik.
„Sie?“ erwiderte der Mann, mich mit den hellen Augen anblinzelnd; „Sie haben Schauspielerblut in den Adern und hätten ein guter Schauspieler werden können; aber, ich glaube, es ist zu spät.“
„Ich bin kaum siebzehn, Herr Weißfisch!“ rief ich, mich jetzt meines jugendlichen Alters rühmend, das ich in dieser Zeit so oft verwünscht hatte.
„Und ist doch zu spät,“ entgegnete er; „Sie haben schon zu viel gedacht. Denken macht Kopfschmerzen; der Schauspieler aber muß stets einen ganz freien, leichten Kopf haben wie ein Seiltänzer. Denkt der Kerl nur einen Moment an etwas Anderes, als wie er das Seil hinauf und wie er wieder hinabkommt, und dabei natürlich immer möglichst graziöse Posen macht, so fällt er in demselben Moment sicher herunter und bricht den Hals.“
Ich war überzeugt, daß der Kammerdiener diese Rede wörtlich schon aus dem Munde seines Herrn gehört hatte, den er ebenso kopirte, wie die großen Bühnenkünstler: wunderbar geschickt und wunderbar treu, nur vielleicht alles ein wenig vergröbert und übertrieben.
Dergleichen Unterredungen fanden aber meistens des Abends auf meinem Zimmer statt, wohin ich mich unter dem Vorwande, studiren zu müssen, zurückzog, in Wahrheit aber, weil ich mich unten in der Gesellschaft unbehaglich und überflüssig fühlte. So brauchte ich mich doch wenigstens nicht darüber zu grämen, daß im Salon die Theaterprinzessin sofort zur wirklichen Prinzessin wurde, für die der wieder zum armen Tischlersohn degradirte Hofpoet nicht existirte. Und brauchte nicht das gräuliche Schauspiel mit anzusehen, wie sie sich von ihren Kavalieren, unter denen Herr Axel von Blewitz den ersten Rang einzunehmen schien, den Hof machen ließ und über junkerliche Scherze lachte, die mir das Blut sieden machten.
Da war ich denn ganz in der Stimmung, Herrn Weißfisch’s Ansichten über die Welt im Allgemeinen und die vornehme im Besonderen gewiß nicht immer beizupflichten, aber doch ein willigeres Ohr zu leihen, als es wohl sonst der Fall gewesen wäre. Am glimpflichsten verfuhr er noch mit dem Fürsten, in dessen Diensten er zuletzt als Hoftheater-Friseur gestanden. Der Mann tauge freilich als Regent nicht eben viel, als Künstler (der er sich zu sein dünke) wenig, als Mensch gar nichts; dennoch ließe sich nicht nur mit ihm auskommen, sondern ganz vergnüglich leben, man müsse ihn nur richtig zu nehmen wissen.
„Und das verstand eben die junge Dame nicht, von der Ihnen der Herr Kammerherr erzählt hat,“ fuhr er fort. „Sie wollte immer mit ihrem hübschen Köpfchen durch die Mauer, und das geht nirgends gut, am wenigsten in Fürstenschlössern, wo die Wände fürchterlich dick sind. Und wo es am allerwenigsten nöthig ist: es sind so viele Thüren da, von denen man wenn man klug ist, die zu den Hintertreppen bevorzugt. Ich habe es ihr genug gesagt; aber sie war eben nicht klug und wollte nicht hören; da hat sie es denn schwer zu fühlen bekommen. Aber Hoheit war eigentlich nicht schuld, die Herrschaften können beim besten Willen nicht immer, wie sie möchten. Und was Ihnen der Herr Kammerherr von Hoheit erzählt hat, das brauchen Sie nicht ohne Weiteres zu glauben: er ist Hoheit, mit dem er sich überworfen hat, spinnefeind – eben jener Dame wegen: war er doch selbst bis über die Ohren in sie verliebt und kann mir bis auf den heutigen Tag nicht vergeben, daß ich in der Geschichte auf der Seite von Hoheit stand. Hoheit liebte die Dame wirklich, und ich bin überzeugt, er würde viel darum geben, wenn er sie heute wieder haben könnte, vorausgesetzt, daß sie sich einen tüchtigen Rest von ihrer Schönheit konservirt hätte.“
„Aber, ich denke, sie ist todt?“ sagte ich.
Herr Weißfisch blickte mich, jedenfalls in Erinnerung versunken, starr an, ohne zu antworten. Plötzlich sagte er:
„Jawohl, sie ist todt; sie und ihr Söhnchen. Er sah seinem Herrn Papa nicht die Spur ähnlich, und das war schade. Hoheit hielten es immer für eine hübsche Aufmerksamkeit, wenn seine Kinder ihm ähnlich waren.“
„Aber ich denke, die Ehe des Fürsten ist kinderlos?“ warf ich ein.
Ueber Herrn Weißfisch’s rasirtes Gesicht flog ein blitzschnelles Zucken, das er ebenfalls von seinem Herrn hatte, nur daß es bei jenem ein satirisches Lächeln, bei ihm ein höhnisches Grinsen war.
„Die Ehe, ja,“ sagte er.
Ich nehme an, daß ich darüber roth geworden bin, denn er fügte schnell hinzu: „Sie müssen das bei den hohen Herren nicht so schwer nehmen. Sie sind doch auch nur Menschen, und ich bleibe dabei, unsre Hoheit gehört nicht zu den schlechtesten.“
„Weil er gar nichts taugt, wie Sie vorhin sagten?“
„I, das sagt man so. Sie würden ganz gut mit ihm zurecht kommen. Er muß Leute um sich haben, die nicht auf den Kopf gefallen sind.“
„Danke für das Kompliment, Herr Weißfisch; aber ich gehöre zu den Leuten, die nicht Fürstendiener sein können,“ rief ich mit Emphase.
„Ist bei dem gar nicht nöthig;“ sagte Herr Weißfisch, „er ist ein schlimmerer Republikaner, als Sie oder Ihr Vater.“
Ich begriff nicht, wie es zuging, aber bei jeder dieser Gelegenheiten kam Herr Weißfisch auf meinen Vater und meine Mutter zu sprechen. Die paar Andeutungen, die ich ihm auf seine wiederholten Fragen zögernd über meine Familienverhältnisse gemacht hatte, berechtigten ihn nicht dazu; ich mußte glauben, daß er ein wirkliches persönliches Interesse an mir nahm. Ich war zu jung und unerfahren, um darin etwas Unbegreifliches zu finden, und ganz gewiß nicht so vornehm, daß mich die Zutraulichkeit des dienenden Mannes hätte beleidigen sollen. Im Gegentheil: ich hielt es für meine republikanische Pflicht, nun gerade gegen den Mann doppelt höflich und freundlich zu sein, im Gegensatz zu Schlagododro, der ihn nicht leiden konnte, eine falsche Katze, einen Fuchsschwanz, einen alten Affen nannte und ihn mit obligater Geringschätzung behandelte. So hatte er denn nach und nach so ziemlich alles, was ich überhaupt nach dieser Seite einem Fremden mittheilen durfte, in Erfahrung gebracht. Er schien sich weniger für meine Mutter zu interessieren (von der ich auch verhältnißmäßig selten gesprochen hatte) als für meinen Vater, und das, wie ich vermuthete und er eifrig bestätigte, aus Parteigründen. Er sei auch ein alter Achtundvierziger und Republikaner, vielmehr Socialdemokrat, wie sich das heut zu Tage für einen früheren Republikaner schicke. Und wenn er einmal in die Stadt müsse, werde er sicher nicht verfehlen, meinen Vater aufzusuchen. Die Gesinnungsgenossen müßten heut zu Tage zusammenhalten.
Ich vermochte freilich beim besten Willen nicht in dem vielgewandten Kammerdiener, der an keinem Menschen ein gutes Haar ließ, einen Gesinnungsgenossen des besten Mannes zu erkennen, aus dessen Munde ich noch nie ein böses Wort selbst über seine Widersacher und Feinde gehört hatte, aber ich konnte ihm doch auch ein kurzes Empfehlungsbriefchen an den Vater nicht abschlagen, um das er mich bat, als er an einem der nächsten Tage in die Stadt fuhr. Unsre Proben waren so weit vorgerückt, daß es nur noch an den Kostümen fehlte, damit wir zur Aufführung schreiten konnten. Weißfisch hatte von seinem Herrn Befehl, das Nöthige in der Stadt zu besorgen.
„Sie sollen sehen, wie sich der Mann aus der Affaire zieht,“ sagte der Kammerherr; „er thut immer mehr, als man glaubt und für möglich hält.“
So fuhr er denn eines Morgens in aller Frühe ab, und als er am späten Abend noch desselben Tages wiederkam, brachte er mir Grüße von dem Vater, den er in der Werkstatt angetroffen
[206] hatte, fleißig, aber älter und stiller und weniger mittheilsam, als er ihn sich vorgestellt. Sodann völlig neue prächtige Kostüme für den Kammerherrn und mich und mannigfachen reichen Stoff für die Damenkleider, der bereits zugeschnitten war und von der Kammerfrau der Frau von Vogtriz unter seiner Aufsicht nur noch zusammengeheftet zu werden brauchte. Es war wirklich viel mehr, als ich geglaubt, wenn es auch, wie mir Herr Weißfisch im Vertrauen mittheilte, dem Kammerherrn ein „schmähliches Geld“ gekostet.
Ich sollte zu spät erfahren, daß der Mann auch in meinen Angelegenheiten und auf meine Kosten viel mehr gethan hatte, als ich geglaubt oder für möglich gehalten.
[217]
Ich mußte Ellinor lieben, trotzdem sie mich mit offenbar geflissentlicher Geringschätzung behandelte, aber das schien mir kein Grund, Fräulein Hersilie Drechsler, ihre Gouvernante, nicht zu hassen, obgleich sie mir nicht minder geflissentlich alle mögliche Höflichkeit erwies. Schlagododro hatte Recht: die Dame machte ihrem Namen Ehre! Alles war an ihr gedrechselt, von ihren blonden Locken, die heute um eines Haares Breite dieselben waren wie gestern, bis zu ihren Redensarten, welche sie mit silbenmäßiger Treue endlos wiederholte. Höchstens, daß in ihren Ausdrücken der Bewunderung eine kaum noch für möglich gehaltene Steigerung stattfand, so oft sie auf die Verdienste und die Herrlichkeit des Adels zu sprechen kam. Und das geschah bei jeder Gelegenheit, wenn man Gelegenheit nennen konnte, was sie frisch vom Zaun brach.
In dem Adel gipfelte sich für sie die Pyramide der Menschheit, die im Uebrigen nur um dieses Gipfels willen vorhanden war. Daran auch nur den mindesten Zweifel zu hegen, galt ihr als ein Beweis tiefster intellektueller Depravation und moralischer Verwilderung. Daß das übrige Volk dem Adel in jeder Beziehung die Initiative zu überlassen und in der Ausführung einfach zu gehorchen habe, sei so selbstverständlich, wie daß der Leib dem Kopf gehorche. Der Adel sei eben der Kopf der Nation und nicht minder das Herz; ein Volk ohne Adel ein todter Leichnam. Hätte man in dem verruchten Jahre 48, wie man demokratischerseits verlangte, den Adel abgeschafft, so hätte sie hinterher nicht geboren werden mögen.
„Unnöthige Sorge,“ sagte Schlagododro zu mir; „sie ist lange vor 48 geboren. Wir schreiben jetzt 70 und ich wette, daß sie mindestens eine hohe Neununddreißigerin ist.“
Nun, und aus diesem mir so verhaßten Munde sollte ich auch die widerwärtige Nachricht erfahren, daß Astolf sein Fähndrichexamen bestanden habe und in nächster Zeit auf Nonnendorf erwartet werde.
Ich wollte sofort abreisen und sagte es Schlagododro. Er beschwor mich, daran nicht zu denken.
„Der Grund könnte nicht verborgen bleiben,“ sagte er, „und das wäre eine schwere Kränkung für meine Mutter, die, wie Du mir zugeben wirst, das nicht um Dich verdient hat. Astolf ist ihr Liebling, sie nimmt an, daß er auch der aller Welt sein muß. Du weißt, meiner ist er nicht; wir stehen sogar brüderlich recht schlecht gegeneinander. Ich wollte auch, er käme nicht, obgleich ich ihn ja jetzt ruhig kommen sehen kann, was noch vor zwei Wochen nicht der Fall gewesen wäre.“
Ich blickte dem Freund fragend in die, wie mir schien, in Verlegenheit rollenden Augen.
„Na,“ sagte er, „ich brauche ja jetzt nicht mehr damit hinter dem Berge zu halten, nachdem ich mich überzeugt habe, daß Du wirklich die schöne Hexe von Ellinor noch immer nicht liebst; und ich – na, Du weißt ja. Ich bin froh, daß ich glücklich von ihr los bin, und ich denke, nun soll auch das Verhältniß zwischen mir und Astolf besser werden. Ich könnte mich so schon für meine Eselei prügeln. Astolf ist der Aeltere, ist ein
wunderhübscher Junge – fast so hübsch wie Du – und wird Majoratsherr. Da hätte ich doch wissen sollen, daß ich von allem Anfang an keine Chance hatte. Was ist Dir?“
„Gar nichts. Ich wundre mich nur. Ich dachte sicher, Herr Axel von Blewitz sei der Auserwählte.“
„Weil er immer um sie herum ist und sie seine Dummheiten lachend anhört? Das beweist gar nichts. Er könnte noch dümmer sein, wenn er ihr nur brav den Hof macht. Das braucht sie so nothwendig wie das liebe Brot. Aber ernsthaft ist die Sache nicht. Ich vermuthe sogar stark, sie will den Axel nur gegen Astolf ausspielen.“
„Was heißt das? Du weißt, ich bin in diesen Sachen erschrecklich dumm.“
„Scheint wirklich so – bitte um Verzeihung. Wollte sagen: Du kannst ja auch nicht wissen, was das heißt. Nämlich dies: Ich bin überzeugt, sie liebt Astolf, und gerade darum behandelt sie ihn schlecht. Glaube, alle Koketten machen das so. Und zu der schlechten Behandlung wird gehören, daß sie sich vor seinen Augen von Blewitz die Kour auf Tod und Leben schneiden läßt. Uebrigens ein gefährliches Spiel, denn Astolf ist stolz und verwöhnt wie ein Prinz von Geblüt und könnte abschnappen, anstatt, wie sie hofft, mit der Sprache herausrücken. Verstehst Du nun?“
„So ziemlich; und darf man fragen, wie Deine Eltern darüber denken?“
„Ich sagte Dir ja: Astolf ist Mamas Liebling. Was Astolf will, will Mama; und was Mama will, will Papa.“
„Und Dein Onkel?“
„Offen gestanden, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat er die Sache immer ruhig mit angesehen.“
„Aber Ellinor ist doch erst fünfzehn Jahre,“ rief ich in einer Verzweiflung, die Schlagododro glücklicherweise nur ein schallendes Gelächter entlockte.
„Nun wird’s gut,“ rief er; „jetzt muß er auch noch für die liebe Unschuld eine Lanze brechen! Beruhige Dich! Bis zum Heirathen hat es noch gute Weile, aber in unsern Familien legt man sich so wichtige Dinge schon von langer Hand zurecht. Uebrigens ist sie fünfzehn ein halb, und Astolf wird noch im Herbst zwanzig. Das paßt ja denn so weit ganz schön. Onkel Egbert hätte ihn gern noch hier gesprochen; er will sich nicht länger halten lassen; ist überhaupt in letzter Zeit recht wunderlich. Findest Du nicht auch? Nun muß ich aber auch fort. Ich soll Papa nach Brandshagen begleiten. Er hat da eine Konferenz mit J. J.“
„Mit wem?“
„Mit Deinem J. J. Der arme Papa läßt den Manichäer nicht gern hierher ins Haus kommen, sondern empfängt ihn immer drüben. Diesmal ist, glaube ich, noch ein besonderer Grund. Du weißt, wir haben auf Brandshagen die große Brennerei, die ich Dir ja schon immer einmal zeigen wollte; aber über Euren verflixten Theaterkram kommt man ja zu nichts. Nun, und ich glaube, Papa will die Brennerei an J. J. verpachten, oder muß sie verpachten, was in der Ursache sehr verschieden, aber im Effekt dasselbe ist. Nationalökonomie – mein Fach, weißt Du. Es ist hübsch von Papa, daß er mich bei Zeiten praktisch in mein Fach einführt. Also, adieu bis heute Abend! Du wirst wohl unterdessen den gewohnten Ausflug nach Belriguardo oder wie das italienische Nest heißt, machen.“
Er schüttelte mir lachend die Hand und schlenkerte aus dem Garten. Ich blickte ihm nach, bis ich sicher war, daß er nicht wieder umkehren würde, und stürzte mich dann in den Park, instinktiv die einsamsten Pfade suchend, während ich nur immer so vor mich hin lief, Wuth und Verzweiflung im Herzen. Ellinor verlobt, so gut wie verlobt, und mit ihm, den ich schon zu hassen geglaubt hatte, bis ich dies wußte, und jetzt – o, es gab kein Wort, welches das ausdrückte! Es gab nur Zähneknirschen und ohnmächtig geballte Fäuste und Thränen, die mir schier die Augen versengten. Jetzt mußte ich fort, jetzt wollte ich fort, mochten sie von mir denken, was ihnen beliebte! Ich haßte sie alle, Einen wie den Anderen, auch Schlagododro, der so kaltblütig eine Ellinor seinem Bruder ausliefern konnte; den Major, der sein einziges Kind nicht besser zu hüten wußte; sie selbst, die herzlose Kokette, die sich von einem Axel Blewitz den Hof machen ließ, um einen Astolf Vogtriz zu erobern. Sie waren eines des Andern werth!
So raste ich in meinem Wahnsinn weiter, als plötzlich ein helles Kleid durch die Büsche schimmerte. Wenn es Ellinor war! Ein Zittern überfiel mich, daß mir die Kniee wankten, und ich wünschte, der Erdboden möchte mich verschlingen: und im nächsten Augenblick das wüthende Verlangen, sie nur einmal an mein Herz, meine Lippen auf ihre Lippen zu pressen, und möchten sie mich dann mit glühenden Zangen zerreißen.
Mein Herz hatte umsonst zum Zerspringen geklopft – eine Wendung des Pfades, und ich stand Maria gegenüber.
Auch sie hatte die Einsamkeit gesucht, freilich mit anderen Empfindungen als ich! Wie blind mußte mich die Leideuschaft gemacht haben, daß mir diese Miene als die einer Glücklichen erschien!
Sie hatte mit klarerem Auge die Verstörtheit meiner Züge sofort erkannt.
„Mein Gott, was ist Ihnen? Sie haben eine Unnannehmlichkeit gehabt!“ rief sie mir entgegen, noch bevor wir einander völlig erreicht hatten.
„Tausend für eine!“ rief ich mit Hohnlachen zurück und fuhr dann, als wir zusammen weiter schritten, mich zu einiger Ruhe zwingend, fort: „Oder wäre denn dieses Leben hier nicht eine einzige fortgesetzte Unnannehmlichkeit – für mich, selbstverständlich; ich sehe ja, daß Andere anders darüber denken.“
„Sie haben gehört, daß man den älteren Bruder erwartet,“ sagte sie schnell.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil ich weiß, wie verhaßt er Ihnen ist, und ich mir so Ihre üble Laune erklären kann.“
„Und ich versichere Sie nochmals, daß es auf eine Unannehmlichkeit mehr oder weniger gar nicht ankommt. Ich habe das Leben hier eben satt, wenn man satt bekommen kann, wogegen man von vorn herein einen instinktiven Widerwillen hatte. Ich denke, Sie können mir das bestätigen; ohne Ihr Zureden wäre ich schwerlich hier. Sie freilich brauchen nicht zu bereuen, daß Sie gekommen sind.“
Es war eine Grausamkeit, ihr das zu sagen; aber ich fühlte es doch nur dumpf; in meinem Herzen tobte es zu sehr; das brennende Roth, das plötzlich in ihren bleichen Wangen aufflammte, um ebem so schnell wieder zu verschwinden, galt mir nur als Zeichen und Beweis, daß sie sich getroffen fühlte. Ich ließ sie nicht zu Worte kommen.
„Freilich, räthselhaft genug ist mir das; vielmehr unbegreiflich. Ich begreife nicht, wie Sie es mit Ihren Ueberzeugungen in Einklang bringen, vom Morgen bis zum Abend Dinge zu hören, die mir das Blut in den Adern sieden machen. Oder könnte es doch nur begreifen, wenn ich annehme, daß Sie Ihre Ueberzeugungen gewechselt haben. Es bleibt mir nichts Anderes übrig.“
„Vielleicht,“ erwiderte sie ruhig, „daß ich mit meinen Ueberzeugungen zurückhalte, wo ich, wie hier, sicher bin, durch das Aussprechen derselben nichts zu bewirken. Aber warum halten denn Sie mit den Ihrigen zurück?“
„Das ist es ja eben,“ rief ich zornig, „was ich mir nicht vergeben kann. Und übrigens ist doch in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen mir und Ihnen. Ich bin ein junger unbedeutender Mensch, das weiß ich wohl. Aber für mich ist, sagen, was ich denke, und mit der Gesellschaft ein für allemal brechen, ein und dasselbe. Sie können reden, was Sie wollen –“
„Und niemand achtet darauf – eine beschämende Rolle, wahrlich, zu der Sie mich da verurtheilen. Und dann, frage ich wieder, wenn Ihnen die Gesellschaft hier so widerwärtig ist und Sie es so leicht haben, mit ihr zu Ende zu kommen, warum thun Sie es denn nicht? um so mehr, als Sie das doch für eine männliche Pflicht zu halten scheinen?“
Ich schlang, vor ihrer sicheren Logik verstummend, meine Wuth still in mich. So gingen wir eine Zeit lang schweigend neben einander, jedes im Innern den Kampf um das Geheimniß, das ihm der Andere entreißen wollte, weiter kämpfend; in bitterer Feindschaft jetzt, wie ich meinte, wir, die wir vorher in so herzlicher Freundschaft verbunden gewesen waren. Sie begann zuerst wieder:
„Ich habe Sie gekränkt. Verzeihen Sie! es war nicht meine Absicht, wie es gewiß auch nicht die Ihrige war, mir wehe zu thun. Wir sind uns eben fremd geworden in diesen Wochen, in denen wir uns doch gerade ein recht gutes Zusammenleben versprochen hatten und auch gehabt hätten, wenn Sie sich nur –“
Sie stockte und fuhr dann entschlossen fort:
„Mit Ellinor besser stellen möchten. Und es wäre das so leicht. Ich habe Sie verwöhnt, weil ich so gar nicht verwöhnt bin. Ellinor ist es. Alle Welt schmeichelt ihr. Sie brauchen ihr nicht zu schmeicheln, aber freundlich könnten Sie doch sein. Sie haben ihr noch nie ein einziges gutes Wort über ihr Komodienspiel gesagt.“
„Weil sie gar nichts kann,“ rief ich zormg.
„Das heißt, genau so viel wie ich,“ sagte Maria ruhig; „und ich wünschte aufrichtig, der Kammerherr ließe noch im letzten Augenblick die Sache fallen, bei der nichts heraus kommt. Aber das ist es ja nicht allein. Sie behandeln das schöne Kind immer und überall mit derselben Gleichgültigkeit, und das kann sie nicht vertragen; das nimmt sie Ihnen übel, und ich glaube, mit Recht.“
„Ich bin Ihnen sehr verbunden, Fräulein Maria,“ erwiderte ich: „leider kommen Ihre guten Lehren in dem Augenblick, wo ich fortgehe, ein wenig zu spät.“
„Sie wollten das wirklich? wirklich fort?“
„Es ist mein fester Entschluß.“
„Thun Sie es nicht.“
„Und warum denn nicht?“
Wir waren unwillkürlich stehen geblieben. Sie war sehr blaß und hob die gesenkten Augen auch nicht, als sie jetzt zögernd und leise sagte:
„Weil Ihr Geheimniß gerade dadurch an den Tag kommen würde.“
Ich brach in ein Gelächter aus, das häßlich genug geklungen haben mag.
„Mein Geheimniß!“ rief ich; „aber das ist köstlich! und ein Geheimniß, das ich vor einer so guten Freundin verberge! Denken Sie doch.“
„Lachen Sie nicht,“ sagte sie traurig, „es thut mir weh. Ich weiß ja, daß Ihnen ganz anders zu Muthe ist.“
„Sie müssen es freilich wissen: anders als Ihnen! Ich glaub’ es gern!“
Ich bereute das Wort, sobald ich es gesprochen. Aber es war zu spät, und warum quälte sie mich so?
„Es geschieht mir recht,“ sagte sie mit einem tiefen Athemzuge. „Wie kann ich von Ihnen fordern, was ich mir selbst ersparen zu dürfen glaubte? Nun denn: Sie kennen mein Geheimniß. Ich hoffte, es vor Ihnen bewahren zu können, weil Sie mein Freund sind. Man theilt mit seinen Freunden ja gern ein Glück; das Geheimniß eines Unglücks erfahren sie immer noch zu früh. Und dies ist ein Unglück; ich sehe es klar, obgleich er es nicht sieht und ich selbst die Augen davor verschließen möchte. Mein Gott, es werden wohl die einzigen glücklichen Stunden in meinem Leben sein. Nun können Sie weinen! Ich wußte es ja. Armer Freund, nicht wahr, das schmerzt? Denn warum es jetzt nicht sagen: was ich vorhin für mich anführte, daß das Unglück schweigen darf, das gilt ja auch für Sie, wenn auch in anderer Weise. Ich bin ein Mädchen, und Sie – ach, das ist so ganz anders. Für Sie wird vielleicht eine Zeit kommen, wo Sie über dies alles lächeln werden. Sie wissen, ich werde es nie können.“
Sie strich sich über die Augen; ich weinte immer leidenschaftlicher, ohne daran zu denken, mein Schluchzen zu unterdrücken. Sie faßte mich bei der Hand:
„Lothar, versprechen Sie mir Eines!“
Ich nickte stumm.
„Gehen Sie von hier! – Warum sollen Sie die Qual länger erdulden, als nöthig ist? Aber nöthig ist, daß Sie einen triftigen Grund anzugeben haben. Sie dürfen nicht, selbst wenn Ihr Geheimniß bewahrt bliebe, den Vorwurf gesellschaftlicher Unbildung und Taktlosigkeit auf sich laden, mit dem diese Herrschaften gegen unseres Gleichen stets bei der Hand sind.“
„Gegen ,Ihres Gleichen‘ wollen Sie sagen,“ murmelte ich.
„Dann hätte ich freilich vergeblich gesprochen,“ sagte sie.
„Nein,“ rief ich, ihre Hand festhaltend; „ich weiß es ja, daß Sie nicht mehr sein wollen, als meines Gleichen, trotzdem Sie so viel tausendmal besser sind, als ich. Ich verspreche es Ihnen: ich gehe nicht, bis ich anständiger Weise kann; ich hätte es ja auch sonst schon längst gethan. Aber das kann ich nicht versprechen, daß nicht doch ein Augenblick kommt, wo ich diese ewige Lüge des Schweigens – für mich ist es ja eine – nicht länger ertrage, es mag danach kommen, was will.“
Maria wollte etwas erwidern, aber plötzlich ließ sich, bereits aus großer Nähe, die Stimme des Fräulein Drechsler vernehmen, die laut nach ihr rief.
„Es ist besser, wenn sie uns nicht hier zusammen sieht,“ sagte Maria hastig. „Adieu! Ueber den letzten Punkt sprechen wir noch.“
Sie hatte mir noch einmal die Hand gedrückt und sich schnell von mir in der Richtung gewandt, aus der die schrille Stimme kam. Ich warf mich in einen Seitenweg, dessen dichtes Buschwerk auch für die Luchsaugen der Gouvernante undurchdringlich war.
Gab es etwas, das den Grimm, der in mir kochte, noch höher sieden machen konnte, so war es das leidvolle Geständniß, dessen mich eben die Freundin gewürdigt hatte. Ich war stolz auf ihr Vertrauen und wußte nun wieder, wie theuer sie mir war. Ihre Sache war auch die meinige, und unsere Sache war die gute. Und die einst triumphiren würde über die jener, die anders und besser zu sein glaubten, als wir, während doch ihr Anders- und ihr Bessersein nur in den Vortheilen bestand, die sie vor uns voraus hatten, und in den Vorurtheilen, mit denen sie sich gegenseitig fütterten, und die ihnen von der sklavischen Menge sanktioniert wurden. Maria hatte Recht, von diesem Standeshochmuth und dieser Standesbornirtheit würde sich auch Ulrich niemals frei machen können, so brav er sonst war und wie sehr er sie lieben mochte und auch darin, daß mein Unglück sich mit dem ihrigen nicht messen ließ. Was war denn schließlich an mir gelegen? Und hatte ich nicht von vorn herein meinen Fall für hoffnungslos gehalten? Ja, in meiner Verzweiflung geschwelgt? Aber sie war ein Mädchen, die der Zukunft ganz anders gegenüber stand als ich und an Möglichkeiten denken durfte, welche für mich freilich noch in Siriusferne lagen: während wiederum Ulrich, als der Aeltere von uns beiden und als der Sohn reicher und vornehmer Eltern, viel eher die kecke Hand danach ausstrecken mochte. Aber er war ja ein Vogtriz! Das heißt: ein Gefolgsmann, das heißt: ein Mensch, der sich des höchsten Gutes des Menschen, der Freiheit seines Denkens und Handelns begeben hat, um der Vasall seines Lehnsherrn zu sein, das heißt: der Schatten eines Schattens!
in mein zorniges Grübeln verloren, hatte ich des Weges nicht geachtet und befand mich, während ich noch in der Tiefe des Parkes zu sein glaubte, plötzlich vor der kleinen Kapelle, die, unter mächtigen Platanen und von Buschwerk dicht umringt, bereits in der Nähe des Schlosses lag. Ich hatte den versteckten Ort kaum je betreten und nie die Kapelle selbst. Seit meiner Sache mit Pastor Renner betrachtete ich mich als ausgeschlossen von der kirchlichen Gemeinschaft und sprach mir die Berechtigung ab, meinen Fuß in eines ihrer Gotteshäuser zu setzen. So blieb ich denn auch jetzt, trotzdem mich, den Erhitzten und Ermüdeten, die Aussicht auf Ruhe und Kühle in dem Innerern des Gebäudes lockte, draußen stehen und starrte düsteren Blickes durch die weit offene Thür in den schattigen Raum. Es dauerte einige Zeit, bis ich, der ich aus dem blendenden Sonnenschein kam, die Einzelheiten in dem Halbdunkel unterscheiden konnte: den Altar mit dem Krucifix und einem großen Gemälde, wie es schien, im Hintergrunde, die kleine, reich geschnitzte Kanzel, eine mit Glasfenstern versehene Empore – natürlich für die Herrschaften – und die schmalen hölzernen Bänke für das Dienstvolk.
Auf einer der letzteren saß, wie ich jetzt erst bemerkte, eine männliche Gestalt, vornüber gebeugt, das Gesicht in den Händen, schlafend oder im Gebet. Wohl im Gebet, denn die Gestalt hob den Kopf, um nach oben zu blicken, und ließ ihn dann wieder auf die Hände sinken. Es war der Major. Ich wollte mich ungestört entfernen; aber knirschte ein Sandkorn unter meinem Fuß? hatte er sein Gebet beendet? – er richtete sich empor und kam, sich wendend, langsamen Schrittes auf mich zu, der ich nun gezwungen war zu bleiben.
Ich hatte den Major während dieser Wochen nicht so gefunden, wie ich es nach den wenigen Begegnungen mit ihm und Schlagododro’s enthusiastischen Schilderungen erwarten mußte. Er war immer freundlich und gütig gewesen, aber wenig mittheilsam bis zur völligen Schweigsamkeit, und selbst wenn er lächelte, war der Ernst nicht aus seinen schönen Augen gewichen. Daß sein Blick manchmal länger auf mir ruhte, befremdete mich jetzt nicht mehr, seitdem ich die Ursache kannte; fühlte mich aber durch diese Bevorzugung auch nicht gerade geschmeichelt, da er sich sehr selten und dann immer nur über ganz gleichgültige Dinge mit mir unterhalten hatte, und ich also annehmen konnte, daß sein Interesse an mir nur eben ein rein äußerliches sei. So war ich denn erstaunt, als er jetzt vor mir, der ich grüßend auf die Seite getreten war, stehen blieb und, mir die Hand reichend, sagte:
„Ich habe mich eben auch mit Ihnen beschäftigt. Es ist mir lieb, daß ich Sie noch einmal vor meiner Abreise ungestört sprechen kann.“
„Sie wollen abreisen, Herr Major?“ fragte ich, vergessend, daß Schlagododro es mir eben mitgetheilt hatte.
„Der Wagen wird, glaube ich, schon angespannt sein.“
„Und Sie werden nicht wiederkommen?“
„Eure Vorstellung zu sehen? Ich fürchte, ich werde darauf verzichten müssen. Vielleicht, daß ich noch einmal auf eine Stunde herüber kommen kann, aber ich glaube es kaum.“
Ich war, seiner Aufforderung folgend, ihm zur Seite geblieben. Er ging langsam, und ich bemerkte, daß er nicht den nächsten Weg zu dem Schlosse einschlug.
„Sie wissen nicht, warum ich abreise?“ hob er wieder an.
„Nein, Herr Major.“
„Ihr jungen Leute habt auch mehr in den Kopf zu nehmen, als die hohe Politik. Kümmern sich doch auch die, die es näher angeht, nur um ihre Kirchthurminteressen! Und wer weiß, ob ich die Angelegenheiten mit solcher Aufmerksamkeit verfolgt hätte, wenn mir nicht – Sie erinnern sich des Abends im Werin’schen Hause, als ich die Damen hierher einzuladen kam? – Nun, an jenem Abend wurde mir vorausgesagt, was kommen würde, bereits schon zum Theil gekommen ist und, wie ich jetzt überzeugt bin, ganz kommen wird. Wir werden in Kurzem, vielleicht schon in wenigen Tagen im Kriege mit Frankreich sein.“
Im Kriege mit Frankreich! Ich schreibe es schamerröthend: das furchtbare Wort ließ mich ganz kalt. Ich hatte wohl die Herren von einer Kriegsmöglichkeit reden hören, von Kriegsbereitschaft hüben wie drüben, von Oberst Stoffel, Benedetti, französischen Kammersitzungen, spanischer Thronfolge, Kandidatur des Prinzen Hohenzollern – alles mit halbem Ohr und kaum das. Was ging es mich an?
„Es scheint, sie wollen einander mal wieder die Hälse abschneiden; nun, Glück auf!“ hatte der Kammerherr gelegentlich in seiner cynischen Weise gesagt. Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen und für mich auch. Und damals hätte ich noch verhältnißmäßig die Ruhe zum Nachdenken gehabt, während jetzt meine Seele voll von ihren eigenen Angelegenheiten war und mein Herz in egoistischen Schmerzen zuckte.
Der Major erklärte sich sicher mein Schweigen aus dem Staunen und Schrecken, die mich ergrifsen hatten, denn er sagte nach einer kleinen Pause:
„Wir werden siegen – in hartem Kampf, aber wir werden siegen. Daran hätte ich freilich nun nicht gezweifelt, auch wenn die Prophetin es nicht ebenfalls verkündigt hätte.“
Ich sah den Major fragend an, indem ich den Namen der Frau von Werin murmelte.
„Ich muß sie wohl so nennen,“ sagte der Major, „unendlich viel lieber, als wie sie Andere nennen möchten, und auch ich in jenem Augenblick geneigt war. Unsere Altvordern freilich wußten das Ahnungsvermögen und die Prophetengabe ihrer weisen Frauen besser zu schätzen.“
Er lächelte ein melancholisches Lächeln:
„Ja ja,“ fuhr er fort, „die wunderbare Frau hat Alles voraus gesagt, was damals für den Verstand der Verständigsten in undurchdringliches Dunkel gehüllt war: daß sich aus der kleinen Wolke, welche bereits wieder zu zerflattern schien, der Sturm entwickeln und unserer Idylle hier ein jähes Ende bereiten würde. Die neuesten Nachrichten machen es mir unzweifelhaft. Ich gehe, mein Haus zu bestellen, noch bevor ich die Ordre habe, sicher, daß sie kommen muß, vielleicht mir schon unterwegs begegnet.“
Er schwieg, ich ging schweigend an seiner Seite, während meine Phantasie den Stoff, der ihr geboten war, zu bearbeiten anfing in ihrer schmachvoll egoistischen Weise: der Major war gefallen; Ellinor in der weiten Welt nun völlig verwaist, allein, hilflos, verzweifelt nach dem Retter ausschauend – eine Andromeda, als deren Perseus ich herbeieilte. Ein Perseus, ich, der ich mich in diesem Augenblick viel eher mit dem giftgeschwollenen Drachen hätte vergleichen sollen – dem Drachen schnöder, nachtgeborener Selbstsucht, die im Kampfe liegt mit dem Kosmos, der Welt der Ordnung und des Lichts!
Wohl mir, daß der Herrliche nichts ahnte von dem, was da Abscheuliches in meiner Seele vorging, und so in dem herzlichen Tone seiner sanften Summe weiter sprechen konnte:
„Es ist leider bald bestellt, mein Haus; ja es gäbe nichts zu bestellen, wäre es nicht um meine Tochter. Und einer Tochter Zukunft ist ja etwas, das sich jeglicher Berechnung entzieht. So berechne und rechne ich denn auch nicht, was auch sonst nicht meine Sache ist, sondern stelle es Gott anheim, der besser weiß als ich, was ihrem beweglichen Herzen frommen wird. Vielleicht, daß er sie zum Heil auf einem rauheren Pfade leiten will, als ihr beschieden schien, so lange ich lebte; vielleicht – nun, des Herrn Wille geschehe! Er weiß ja auch, weßhalb er uns Deutsche auf diesen blutigen Kriegspfad führen muß, damit wir ein einiges Volk werden, das der Welt fortan den Frieden diktiren kann, nach dem sich das Herz unseres königlichen Herrn sehnt. Großer Gott, was er leiden muß in diesen Stunden, wo er über Tod und Leben von Tausenden und aber Tausenden zu entscheiden hat und doch nichts Anderes entscheiden kann, als was ihm seine Königspflicht befiehlt, und ob sein warmes Menschenherz schier darüber breche! Brich nicht, Du armes reiches Herz! Deine Sache ist unsere! Wir stehen alle zu ihr, alle! Und wenn ich zehn Söhne hätte, Du solltest sie haben mit Gott für Dich und Vaterland!"
Glaubte er noch in der Kapelle zu sein, während er mit einem schwärmerischen Blick aufschaute zu dem hohen Dache der Rieseneichen, das sich über den langsam Dahinschreitenden wölbte? Für ihn war Gott gegenwärtig, wo er ging und stand, und sein Herz zu voll, als daß es nicht zu dem Allgegenwärtigen hätte schreien sollen in dieser schweren Stunde, in welcher er sich im Geiste vom Leben loslöste zum Siege durch den Tod. Und mich durchschauerte die Ahnung der Heiligkeit in dem Geiste und Herzen dieses Mannes; aber die Zeiten waren längst dahin, wo der Knabe gläubig zu ihm aufgeschaut hatte als zu seinem hochherrlichen Ideal. Zu tief schon hatte der Zweifel an meinem Herzen genagt und gefressen und fraß und nagte weiter und flüsterte mir höhnend zu: Jawohl, für das Vaterland, weil es einen König hat! Wär’ es Dir noch eines, Gefolgsmann Du, wenn es eine Republik wäre mit einem Plebejer an der Spitze, dem Du dann zu folgen hättest, Herr Egbert von Vogtriz?
Wieder schritten wir schweigend neben einander hin, und abermals begann er:
„Ich habe keinen Sohn mehr, und doch ist mir manchmal, wenn ich Sie ansehe, als lebte er noch, oder wäre wieder auf die Welt gekommen in Ihrer Gestalt. Ich kann mir meinen Ernst nicht anders vorstellen, stünde er, wie es ja nun der Fall wäre, in Ihrem Alter. Und so müßte er aus den Augen schauen, und so müßte der Ton seiner Stimme sein, und so könnte es ja auch in seinem Kopf und Herzen aussehen.“
Ich fühlte, wie mir die Flammen aus den Wangen schlugen. Nein, dies durfte nicht sein. War er auch mein Widersacher, er war ein edler Mann, und auch vor einem unedleren hätte ich mich der Lüge geschämt.
„Herr Major,“ rief ich, „Sie wissen nicht –“
„Mehr als Sie glauben,“ unterbrach er mich lächelnd. „Ich habe Sie viel beobachtet und denke, ich weiß so ziemlich, wie es um Sie bestellt ist. Und gerade das ist es, weßhalb ich mit Ihnen zu sprechen wünschte, da wir uns in diesem Leben vielleicht zum letzten Male sehen. Ich wollte, ich hätte Ihnen mehr zu hinterlassen, als ein paar Lehren, die, hoffe ich, gut und ganz gewiß gut gemeint sind. Sie haben ein weiches, liebevolles und liebebedürftiges Herz, Sie haben eine bewegliche Phantasie, einen raschen, schnellfassenden Verstand, einen Geist, der sich nicht mit der Oberfläche der Dinge begnügt, sondern in die Tiefe zu dringen sucht: herrliche Gaben, wie sie in dieser Vereinigimg nicht Vielen zu theil werden, welche aber auch eben darum die Wenigen, die sie besitzen, mit einer ungeheuren Verantwortung belasten. Denn der Hochbegabte geht nie allein seinen Zielen entgegen; immer und überall hat er eine große Gefolgschaft hinter sich, für die er einstehen muß. Schweift er in die Irre, irren Alle; strauchelt er, kommen jene ins Taumeln; geht er unter, verderben auch die Anderen. Und nun lassen Sie sich das Wort eines Mannes gefallen, der, da er nun einmal nicht Ihr Vater ist, gern Ihr väterlicher Freund sein möchte. Sie sind, trotz Ihres guten Willens und edlen Strebens, auf einem falschen Wege. Da, wo Sie Ihr höchstes Ideal, die Freiheit, suchen, liegt es nicht, weder für Sie persönlich, noch für die Nation. Wir Deutsche verstehen Alles; uns selbst zu discipliniren, verstehen wir nicht. Wir können Alles, wenn wir die rechten Führer haben, denen wir folgen dürfen; wir sind die Beute von Nationen, die nicht so viel werth und nicht so stark sind wie wir, sobald uns diese Führer fehlen. Unsere Geschichte beweist es von Anbeginn bis auf den heutigen Tag. Unser Fehler war von jeher und ist es noch, daß wir die Tugenden in der Abstraktion eines Menschheitsideals wollen, ohne zu bedenken, daß jede, sobald sie geübt wird, eine nationale Färbung annehmen muß. Darum war das Weltbürgerthum des vorigen Jahrhunderts freilich nothwendig, weil wir eben Deutsche sind, aber eine – so wunderlich das klingt – ungeheure Einseitigkeit, die zu korrigiren die mühselige Arbeit unseres Jahrhanderts ist. Man muß ein Volk nehmen, wie es eben ist; Dinge von ihm verlangen, die es nicht leisten kann, ihm Institutionen zumuthen, die nun und nimmer aus seinem Wesen hervorgehen, heißt, einen Birnbaum haben, von dem man Aepfel pflücken will. Die Republik ist eine schöne Sache für Andere, nur nicht für uns Deutsche. Darum, wer an unser Königthum rührt, das Gottes Gnade uns gewährt hat, versündigt sich an dem Geist und Leib der deutschen Nation. Das hätte ich meinem Sohn gesagt, bevor ich in den Krieg ging, wo ich vielleicht den Tod finde, als ein Mahnwort für sein Leben. Nun sage ich es Ihnen, seinem Ebenbilde. Und daß ich es gesagt habe aus herzlicher Theilnahme, werden Sie mir glauben; sonst hätte ich es nicht gesagt.“
Er reichte mir die Hand, die ich heftig ergriff.
„Ja,“ rief ich, „und ich glaube es; und kein Mensch sollte mich an Königstreue übertreffen, wenn Sie mein König wären!“
Er mußte, wie ernst ihm zu Sinnen war, über meine Leidenschaft lächeln:
„Professor Willy hat Recht: Sie sind ein Poet. Als Sie ein Kind waren, sagten Sie mir: ich will Soldat werden. Nun, das liegt nicht so weit auseinander. Einem Strategen, der keine Phantasie hätte, würden die großen Erfolge ausbleiben, und ich meine, in jedem großen Dichtwerk steckt ein gutes Stück Strategie. und nun, mein junger Poet, leben Sie wohl, und, wenn Gott will, auf Wiedersehn!“
Er reichte mir noch einmal die Hand, die ich an meine Lippen preßte, während mir die Thränen aus den Augen stürzten.
„Nicht doch! nicht doch!“ sagte er abwehrend; „leben Sie wohl!“
Er schritt aus dem epheuumrankten Parkgartenthor, in welchem wir zuletzt gestanden hatten, dem nahen Portale des Schlosses zu. Ein offener angespannter Wagen hielt davor. Man schien bereits auf die Rückkehr des Majors gewartet zu haben. Sämmtliche Damen standen in dem Portale; Ellinor, als sie den Vater erblickte, lief ihm entgegen und schien, sich an ihn schmiegend, während er seinen linken Arm um ihre Schulter legte, ihm etwas von Wichtigkeit mitzutheilen. Er beschleunigte, sie loslassend, seinen Schritt. Sie folgte ihm langsamer, während ihr Blick, wie ich deutlich bemerken konnte, auf das Portal geheftet war, aus dem jetzt rasch eine jugendliche männliche Gestalt hervor und, sich bückend, hinter die Damen trat, wie Jemand, der nicht gleich erkannt sein will. Nun, als der Fuß des Majors die erste Stufe betrat, richtete er sich auf und sprang die Stufen hinab, dem Nahenden entgegen Es war Astolf. Der Major schüttelte ihm, wie es schien, freudig überrascht, die Hand, während die Damen ihn selbst umringten und, lebhaft auf ihn einsprechend – die einzelnen Worte konnte ich nicht verstehen, nur die schrille Stimme der Gouvernante von den anderen unterscheiden – ihn um längeres Bleiben anzugehen schienen. Ellinor besonders eifrig. Sie gestikulirte dabei lebhaft mit der Hand, die jetzt ihr Vetter erhaschte und wiederholt stürmisch küßte.
Die Morgensonne schien hell genug, aber mir war, als hätte eine blutrothe Abendwolke mir plötzlich die ganze Sonne überdeckt.
Als sie verzogen war, fand ich mich wieder allein in der Einsamkeit des Parkes.
Ich hatte die Nacht fast schlaflos verbracht, die Begebnisse des vergangenen Tages in verzweifelnder Seele wälzend.
Der Major war wirklich, nachdem er noch eine Stunde zugegeben, abgereist, ohne sich, wie es schien, über das eigentliche Motiv seines Entschlusses gegen irgend wen sonst ausgesprochen zu haben. Es würde sonst nicht über diesen Entschluß, den man für eine wunderliche Laune nahm, soviel hin und her geredet worden sein; vor Allem wäre Ellinor’s Betragen unbegreiflich gewesen. Man sieht doch nicht, auch wenn man noch so leichtlebig und leichtfertig ist, einen theuren Vater mit trockenen Augen in den Krieg ziehen, um sofort eben diese Augen strahlenden Blickes auf den Geliebten zu heften! Ja, ich hatte ihn beobachtet, diesen strahlenden Blick, mehr als einmal, mitten in dem koketten Spiel mit Herrn von Blewitz, das Schlagododro prophezeit hatte, und das sofort begann, als dieser junge Herr am Nachmittage herbei geeilt war, seinen lieben Freund Astolf zu begrüßen. Doch war Ulrich’s Voraussage insofern nicht eingetroffen, als Astolf durch diese Nebenbuhlerschaft keineswegs gereizt oder beleidigt, im Gegentheil nur amüsirt schien. Er mußte also seiner Sache ganz sicher sein; und es war empörend, daß Ellinor sein Amüsement noch zu steigern suchte, indem sie plötzlich mich mit Aufmerksamkeiten überschüttete und genau so that, als hätten wir bis dahin in treulichster Harmonie und Freundschaft gelebt. Ich bekam zu hören, daß ich der liebenswürdigste Gesellschafter, der galanteste Kavalier sei, den sich Jeder, und Astolf im Besonderen, zum Muster nehmen könne, wenn er auch nicht hoffen dürfe, es ihm gleich zu thun. Am wenigsten im Komödienspiel! das sei meine große Force! Astolf würde sein Wunder haben!
Ich hatte es meinem empörten Herzen abgerungen, auf diese häßlichen Scherze einzugehen. Ich wollte Astolf nicht den Triumph gönnen, in seiner Gegenwart zu zeigen, wie grausam die Ironie, und wie tief ich gekränkt war. Mochten sie dann hinter meinem Rücken lachen, soviel sie wollten. vor meinen Augen sollten sie es nicht. Und sicher durfte ich gegen Astolf nicht zurückstehen, der zu mir von ausgesuchter, nicht mißzuverstehender Höflichkeit war: ich hasse, und verachte dich nach wie vor, nur bin ich ein zu wohlerzogener Herr, darüber zu vergessen, daß du der Gast meiner Eltern bist. Nun, ich vergaß es ebensowenig und hörte mit unerschütterlicher Geduld dem endlosen Loblied zu, das die entzückte Mutter über ihren Liebling sang, dem sie als ein Heldenstück ersten Ranges anrechnete, daß er sein Fähnrichsexamen acht Tage früher, als die Familie erwartet, bestanden und binnen einem halben Jahre spätestens Officier sein werde, falls es wirklich zum Kriege komme, wie man ja hier und da meine. Aber das werde der gütige Gott nicht zulassen. Er werde einem armen Mutterherzen, das sich ihres Erstgeborenen nach so langer Trennung endlich wieder zu ersättigen sehne, nicht eine so grausame Prüfung auferlegen!
„Amen! gnädige Frau, Amen! Amen!“ rief Fräulein Hersilie Drechsler.
Es war ein fürchterlicher Tag, der nicht besser wurde, als gegen Abend Herr von Vogtriz zurückkam in tiefer Verstimmung – wie er zu verstehen gab, weil der Bruder nun doch gegangen sei, ohne seine Rückkehr abzuwarten.
„Es ist nicht das," raunte mir Schlagododro zu. „Papa hat eine schlechte Partie mit Deinem verdammten J. J. gemacht, der alle Trümpfe in der Hand hatte. Daß ihm dafür die Höllenpein in sein klappriges Gebein fahre! Und denke Dir, der Kerl hatte die Frechheit, auf die alte Geschichte in der Klasse zurückzukommen! Warum er gegen Papa größere Rücksicht üben solle, als Astolf gegen seinen Emil zu üben für gut befunden? Kannst Du Dir eine solche Niedertracht vorstellen? Nun, Papa hat ihm schön darauf gedient; das kannst Du glauben; aber wüthend ist er darum doch auf Astolf, der übrigens auch auf der „Presse“ ein schauderhaftes Geld verbummelt hat, das der Alte in diesem Augenblicke sehr nöthig brauchte. Ich fürchte, die Beiden gerathen noch heute Abend an einander.“
Das sollte sich denn auch bewahrheiten beim Souper, dem heute zum ersten Male der Major, und wieder, wie schon seit mehreren Tagen, der kranke Kammerherr fehlte, welcher sonst das Wort führte und etwa auftauchenden heftigeren Differenzen durch seine geistreichen Scherze die Spitze abzubrechen wußte. Es war dafür freilich eine größere Anzahl anderer Gäste zugegen, meistens jüngere Herren, Freunde von Astolf, welche dieser von seinem Kommen benachrichtigt haben mochte, sämmtlich Reserve-Officiere, wie ich zu verstehen glaubte, Gutsbesitzer und Gutsbesitzersöhne, die dem Champagner reichlich zusprachen und auf gute Kameradschaft mit ihm anstießen. Der Krieg sei ja leider noch nicht gewiß; Majestät scheine noch zu schwanken; aber Bismarck werde jetzt, wie 66, die Sache schon durchdrücken. Herr von Vogtriz hatte schweigsam und nur manchmal ungeduldig an den breiten Bart greifend zugehört. Nun brach es los: Jawohl Bismarck! er habe die Suppe eingebrockt, möchte er sie doch allein auszuessen haben! Jawohl Krieg! Das sage sich so leicht und möge ja auch ein prächtiges Ding sein, für junge Herren besonders – er meine natürlich keinen Anwesenden! – mit einem tüchtigen Pack Schulden auf dem Rücken, die dann hübsch zu Hause bei dem Herrn Papa blieben, der sie bezahlen möge, wenn er könne! Jawohl bezahlen! Bezahlen, wenn so schon an Grund- und Gebäudesteuern ein unerschwingliches zu leisten sei. Erst solle einmal der Herr Kanzler der schreienden Noth der Landwirthe steuern durch vernünftige Kornzölle und dadurch, daß er den Staatssäckel für die Kommunen öffne, die, ebenso wie die Privaten, sich nicht mehr zu rathen und zu helfen wüßten, außer durch Schuldenmachen bei den Juden, was denn freilich eine famose Sorte von Hilfe sei! Jawohl Schlachten schlagen, Festungen erobern, wenn kein Geld im Lande, außer in den jüdischen Geldschränken! Das seien die wahren feindlichen Festungen, die erst gebrochen werden müßten, bevor man an Krieg denken dürfe mit den Franzosen, die hundertmal reicher seien, als wir, und reich bleiben würden nach hundert verlorenen Schlachten, aus denen wir als Sieger hervorgingen genau so arm, vielmehr ärmer als vorher!
So donnerte Herr von Vogtriz in der verstummten Gesellschaft, von der Einer den Andern verwundert ansah, während Astolf abwechselnd bleich und roth wurde; Schlagododro, anstatt aufzufahren und für seinen Helden ins Feld zu rücken, sich begnügte, an den Lippen zu nagen, wozu er fürchterlich mit den Augen rollte, und ich, als ich all die bleichen Gespenster um die Tafelrunde musterte, an das Mahl auf Belsazar’s Königsburg denken mußte und an die Geisterhand auf der Wand mit ihrem Mene Tekel Upharsin.
Ja, es war ein schlimmer Tag gewesen, dem ein schlimmerer folgen würde. Für mich. Ich war entschlossen, daß mich der Abend nicht mehr auf Schloß Nonnendorf finden sollte. Aber wie den triftigen Grund finden, ohne den nicht fortzugehen ich Maria versprochen hatte? Hätte ich’s doch nicht versprochen! War es denn nicht Grund genug, daß ich es nicht mehr ertragen konnte? Verbringt man, wenn man siebzehn Jahre alt ist, ohne Grund schlaflos die Nacht und starrt mit brennenden Augen nach dem Mondenstreifen, der langsam, langsam weiter rückt an der Wand, als schriebe er auch mir ein Mene Tekel! Nur daß ich es entziffern kann und es einfach lautet: Trolle Dich von hinnen! Du hast mit diesen Menschen nichts zu schaffen!
Ach, wohin war die Rührung, wohin die Beschämung, mit der ich den Worten des Majors gelauscht? Ich schämte mich, daß ich gerührt gewesen war! schämte mich des Kusses, den ich auf seine Hand gedrückt! Wenn er die Astolf Vogtriz und die Axel Blewitz und alle die andern Itz und Witz von gestern Abend hinter sich hatte mit ihren verrotteten Ideen und ihren frechen adligen Hochmuthsgesichtern – dann Kampf mit ihm und ihnen auf Leben und Tod!
Kind, wie siehst Du denn aus?“ rief Schlagododro, als er endlich den Rausch, den er sich gestern Abend in seinem Unmuth getrunken, ausgeschlafen hatte, und ich ihn zum zweiten Frühstück abzuholen kam.
„Ich fühle mich nicht ganz wohl,“ erwiderte ich, mein Gesicht abwendend.
„Kind,“ rief er, „thu mir die einzige Liebe und fühle Dich wohl! Es ist so schon um des Teufels zu werden, seitdem der Kammerherr nicht mehr auf den Beinen und nun auch Onkel Egbert fort ist. Ihr seid doch noch die Einzigen, mit denen man ein vernünftiges Wort sprechen kann. Und nun jetzt mit Astolf und seinem Gefolge. War gestern eine nette Gesellschaft. Uebrigens alle Achtung, wie famos Du Dich Astolf gegenüber benommen hast! Ich habe es ja immer gesagt: Du bist ein Kavalier so gut –“
„Wie unsereiner. Bitte, sprich es nur ruhig aus! Der Tischlersjunge weiß, was ihm zukommt.“
Schlagododro blieb jäh auf der Treppe stehen und blickte mich starr an.
„Kind,“ sagte er, „Du bist wirklich krank, oder mit einem verzweifelt linken Fuß aus dem Bett gestiegen.“
Ich versuchte mit einem Scherz zu erwidern, der nicht recht gelingen wollte. So betraten wir beide verstimmt das Frühstückszimmer.
Aber auch sonst schien eine Wolke über der Gesellschaft zu hangen, dichter als die gewöhnliche Sonntagswolke, wie Schlagododro die feierliche Langeweile nannte, welche Frau von Vogtriz an einem solchen Tage für obligatorisch hielt und durch allerlei erbauliche Reden, bei denen ihr Fräulein Hersilie Drechsler pflichtschuldig assistirte, herbeizuführen und zu befördern suchte. Heute war ihr weißes faltenloses Gesicht noch besonders priesterlich anzusehen, und floß der Strom ihrer Rede noch besonders salbungsvoll. Ich sollte bald die Ursache erfahren.
Man war schon längst in Pastor Renner gedrungen, sich in dem ländlichen Kreise, in welchem er kandidirte, auch einmal als Prediger vorzuführen und so die etwa noch schwankenden Herzen im Sturm zu erobern. Die Zeit drängte; in der nächsten Woche fand die Wahl, welche wiederholt hinausgeschoben war, definitiv statt. So hatte sich denn Pastor Renner entschlossen, mit dem Prediger der Kirche, zu der auch Nonnendorf eingepfarrt und welche weitaus die bedeutendste des Kirchspiels war, für einmal zu alterniren, und gerade heute war der zu diesem Behufe ersehene Tag.
Dies Alles war gewiß längst den Mitgliedern der Familie bekannt gewesen, Schlagododro nicht ausgenommen, der wohl absichtlich zu mir von der Sache geschwiegen hatte, welche mir völlig neu war. Und völlig gleichgültig. Was ging es mich an, ob Pastor Renner heute in Granskow predigte? und ob er den Erfolg haben würde, den man sich davon verspreche? und ob die Kirche geräumig genug sein werde, die zweifellos von allen Seiten herbeiströmende Menge zu fassen?
„Auf jeden Fall haben wir unsere Plätze,“ sagte Herr von Vogtriz, etwas ungeduldig die Betrachtungen seiner Gemahlin unterbrechend. „Ich bitte nur gehorsamst, mir die Zahl derer, die mitwollen, genau anzugeben, damit ich danach das Anspannen bestellen kann.“
„Die mitwollen?“ erwiderte Frau von Vogtriz mit einem Erstaunen, das fast eine Falte in ihre Stirn gebracht hätte; „aber, lieber Udo, hier kann doch von Mitwollen nicht die Rede sein bei einer Gelegenheit, wo es sich darum handelt, seinen Eifer für die gute Sache – die Sache unserer Kirche und unsers Königs – an den Tag zu legen. Ich bin sogar der Meinung, daß unsere sämmtlichen Leute, so weit sie irgend zu entbehren sind, hinüber zu gehen haben, auch wenn sie voraussichtlich draußen bleiben müssen – es sieht immer imponirend aus – und ich habe, Deine Erlaubniß voraussetzend, schon gestern die betreffenden Ordres gegeben.“
„Meinetwegen,“ sagte Herr von Vogtriz, „da ich sie wenigstens nicht fahren zu lassen brauche. Also wie viel sind wir?“
„Acht, wie Du siehst,“ sagte Frau von Vogtriz, „da unser lieber Kammerherr ja leider nicht mit kann. Dafür hat Herr von Blewitz um die Erlaubniß gebeten, sich uns anschließen zu dürfen. Ich erwarte ihn jeden Augenblick. Also neun, lieber Udo.“
„Unbequeme Zahl,“ murmelte Herr von Vogtriz.
„Ich setze mich auf den Bock,“ rief Schlagododro.
„Es wird nicht nöthig sein, Ulrich,“ sagte ich, und mich dann zu Frau von Vogtriz wendend: „ich bitte auf mich nicht zu rechnen, gnädige Frau.“
„Nicht zu rechnen?“ wiederholte Frau von Vogtriz, die offenbar ihren Ohren nicht traute, meine letzten Worte.
„Ja, gnädige Frau; ich fühle mich nicht ganz wohl.“
„Ja, Mama,“ sagte Schlagododro, mir zu Hilfe kommend; „er hat es mir schon vorhin gesagt. Er sieht ja auch verteufelt schlecht aus.“
„Daß Du doch immer so häßliche Worte wählst – noch dazu an einem Sonntage!“ sagte Frau von Vogtriz. „Es ist positiv sündhaft. Uebrigens bin ich überzeugt, daß Dein Freund uns nur das Opfer bringen und zu Hause bleiben will, um mehr Platz zu schaffen.“
„Du solltest nicht so in Herrn Lorenz dringen, Mama,“ sagte Astolf, indem er zugleich Ellinor, die neben ihm saß, ein paar Kirschen auf den Teller legte; „ich glaube, Du thust Herrn Lorenz – Ellinor, wirst Du artig sein und Deine Kirschen essen? – keinen Gefallen damit nach seinem Rencontre mit Pastor Renner.“
„Das gehört nicht hierher!“ brauste Schlagododro auf mit einem wüthenden Blick auf seinen Bruder.
„Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte Astolf ruhig; „ich glaubte, Deinem Freunde einen Gefallen zu thun, wenn ich ihm die Unannehmlichkeit, gerade Pastor Renner hören zu müssen, ersparen half.“
Es hatte sich jetzt wirklich beinahe eine Falte auf Frau von Vogtriz’ Stirn gebildet. Sie ließ ihre erstaunten Blicke von Einem zum Andern wandern und sagte:
„Aber ich verstehe Euch nicht: Unannehnlichkeit? Rencontre mit Pastor Renner? Wie kann Herr Lorenz ein Recontre mit Pastor Renner gehabt haben? Ich bitte, mir das zu erklären.“
Es war eine Todesstille um den Tisch. Ich sab Maria an: sie sollte mir bestätigen, daß ich nicht leichtsinnig mein Versprechen brach, daß ich nicht anders konnte. Aber sie saß da, völlig blaß, mit niedergeschlagenen Augen. So mochte es denn sein.
„Gnädige Frau,“ sagte ich –
„Ich bitte Dich, schweig!“ unterbrach mich Schlagododro heftig. Und, sich dann zu seiner Mutter wendend: „Ich meine, Mama, man solle einem Gaste seinen Willen lassen, ohne viel nach dem Warum? zu fragen; und ich glaube, daß mir der Papa darin zustimmen wird.“
„Jedenfalls danke ich Dir für Deine freundliche Belehrung,“ sagte Frau von Vogtriz gereizt.
„Gnädige Frau,“ begann ich von Neuem, entschlossen, das Wort nicht wieder abzugeben, bevor ich es gesagt „es thut mir unendlich leid, wenn es Sie, wie ich fürchten muß, kränkt und mich in Ihren Augen herabsetzt. Aber ich glaube Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl die Wahrheit schuldig zu sein. Daß ich mich zu unwohl fühle, um die Herrschaften zur Kirche zu begleiten, war in der That nur ein Vorwand. Die Wahrheit ist: ich kann nicht zu Pastor Renner in die Kirche gehen, da er das Recht hätte, mich hinauszuweisen, nachdem ich ihm meinen Unglauben offen bekannt habe; in Folge dessen seiner Zeit von ihm nicht eingesegnet bin und – muß ich wohl hinzufügen – auch nicht eingesegnet sein will, so wenig vom Herrn Pastor Renner, wie von einem Anderen.“
„Ich denke, wir heben nun die Tafel auf,“ sagte Herr von Vogtriz, sich erhebend und seinen Stuhl etwas gewaltsam zurückschiebend; „es ist die höchste Zeit, daß wir fort kommen.“
Die Anderen hätten seinem Beispiel nicht schneller folgen können, wenn der Tisch gebrannt hätte. Man machte einander stumm und verlegen die vorschriftsmäßigen Verbeugungen. Das Eintreten Axel’s von Blewitz schien Allen eine Errettung zu sein, so eifrig wurde er sofort umringt und mit Fragen und Vorwürfen wegen seines späten Kommens überschüttet. Ich benutzte die Gelegenheit, mich hinauszudrücken und auf unser Zimmer zu gehen, wohin mir Schlagododro beinahe auf dem Fuße folgte.
Schlagododro war wüthend, für den Augenblick ausschließlich auf mich.
„Weßhalb hast Du nicht den Mund gehalten?“ rief er, vor dem Spiegel wie toll auf seine struppige Mähne losbürstend. „Weßhalb bist Du mir ins Wort gefallen? Ich hätte die Geschichte schon in Ordnung gebracht. Aber Du bist und bleibst der richtige Don Quixote! Immer munter in die Windmühlen hinein! immer mitten mang! Natürlich! Und nun haben wir die Bescheerung. Meine Mama ist wirklich so gutmüthig, daß es ein Kind erbarmen könnte. Aber wenn man Einem auf sein bestes Hühnerauge tritt, und noch dazu absichtlich, da hört denn doch die größte Gemüthlichkeit auf.“
„Es thut mir sehr leid, diese Scene veranlaßt zu haben,“ sagte ich. „Du siehst nun, daß ich Recht hatte, wenn ich immer sagte: ich gehöre nicht hierher.“
„Unsinn!“ rief Schlagododro, in seinen schwarzen Rock fahrend, „nicht hierher gehören. Du gehörst überall hin, wenn Du willst. Aber Du willst nicht, das ist die Sache.“
„Nun denn: so will ich nicht,“ sagte ich, entschlossen, ein Ende zu machen, selbst um den Preis von Schlagododro’s Freundschaft.
Er sah mich mit rollenden Augen an.
„So!“ sagte er gedehnt. „Du willst nicht? Das ist etwas Anderes. Dann sehe ich freilich nicht, wie das werden soll.“
„Ich auch nicht.“
„Nur mit dem Unterschiede, daß Dir das weiter keine Schmerzen zu machen scheint.“
„Seine Schmerzen muß doch Jeder für sich behalten.“
Ich hatte, Schlagododro den Rücken kehrend, mich in das Fenster gestellt. Plötzlich fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter:
„Lothar!“
„Was beliebt?“
„Lothar, Kind, sei vernünftig! Komm mit mir zur Mama! Oder erlaube, daß ich zu ihr gehe und ihr sage, Du habest das nicht so gemeint, oder dergleichen, und ich gebe Dir mein Wort, die Sache ist abgethan.“
„Ich habe es aber so gemeint.“
„Du willst wirklich nicht?“
„Nein.“
„Dann hol’s der Teufel!“
Er stürmte zum Zimmer hinaus und warf die Thür krachend hinter sich zu.
Ich war am Fenster stehen geblieben und starrte in den Garten. Da drüben war der Platz, wo ich sie zum ersten Mal gesehen hatte: „Hier bin ich!“
Die Augen wurden mir naß. Ich wollte die Thränen zurückhalten. Aber heißer und heißer quoll es in mir auf, und mich auf einen Stuhl am Fenster werfend, das Gesicht in die Hände drückend, weinte ich meinen Jammer aus. Mir schien es keine Schmerzen zu machen! O nein! mir nicht!
Endlich richtete ich mich wieder in die Höhe und blickte um mich. Es war mir, als ob da in meiner Brust etwas fehle, was vorher da gewesen, und als ob draußen die Sonne, die doch vorher so hell geschienen, seltsam matt geworden, und die Gegenstände im Zimmer ganz anders aussähen, so daß ich sie verwundert betrachtete.
Ein leises Pochen an der Thür machte mich erschrocken zusammenfahren. Wer konnte das sein? Schlagododro? aber der würde nicht so gepocht haben und war ja auch längst fort. Maria? Sie war nicht mit den Anderen! Sie hatte mich nicht verlassen. Sie hielt treu zu mir in dieser Stunde meiner bitteren Noth!
Ich stürzte nach der Thür, die ich aufriß: es war Weißfisch.
„Sie?“
Ich hätte beinahe laut aufgelacht, wie er ietzt da vor mir auf der Schwelle stand.
Ich habe später viel daran denken müssen: er, da ich doch Maria zu sehen erwartete. Er in dem Augenblick, da die schöne Welt einer ersten Liebe mit all ihren kindisch-erhabenen Träumen und Aspirationen hinter mir in Trümmer sank, auf der Schwelle einer neuen entgötterten Welt!
Gab mir ein Blick in die stechenden Augen des Mannes eine Ahnung von dem ungeheuren Riß, der da durch mein Leben ging? Das Lachen erstarb mir in der Kehle.
„Was führt Sie zu mir?“ stammelte ich.
Er war hart an mir vorüber in das Zimmer geschlüpft, so daß auch ich nun von der Thür zurücktreten mußte. Die Thür zu dem Schlafgemach nebenan stand weit offen.
„Ich dachte, ich könnte Ihnen etwas helfen,“ sagte er mit einem Blick nach dem Schlafgemach.
„Helfen? worin?“
„Worin? Worin Sie wollen, worin Sie befehlen. Ein junger Herr braucht ja allerlei Dienste. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, und es würde mir eine besondere Freude sein.“
Ich starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Er lächelte flüchtig.
„Würde mir diese Freiheit nicht nehmen, wenn der junge Herr nicht immer so besonders gütig gegen den armen Kammerdiener gewesen wären, und wenn mir der alte Braun nicht erzählt hätte, was da unten vorgefallen ist. Es soll ja ganz schrecklich gewesen sein. Kann’s mir denken. An den Kram darf man bei den Herrschaften nicht rühren – dann ist’s aus. Wissen zu gut, daß ihr Kram damit zusammenpurzelt. Der Herr Kammerherr hat sehr gelacht, als ich es ihm erzählte. ,Teufelskerl,‘ hat er gesagt, ,dazu hätte, glaube ich, nicht einmal ich den Muth gehabt.‘ Ich soll Sie auch schönstens grüßen, da er leider nicht in der Verfassung ist, Sie empfangen und Ihnen Adieu sagen zu können.“
„Woher weiß der Herr Kammerherr, daß ich fort will?“ rief ich.
Der Mann lächelte, diesmal ganz offen.
„Der Herr Kammerherr meinte nur. Bitte um Entschuldigung für ihn, wenn er sich geirrt haben sollte.“
Und er machte eine Bewegung nach der Thür.
Ich stand verstört da. Es war ja meine Absicht und mein Entschluß gewesen, zu gehen; aber ich hatte mir doch nicht völlig klar gemacht, daß ich gehen müsse, daß man es erwarte, nicht bloß die beleidigte Familie, sondern, wie ich nun hören mußte, auch der ganz unbetheiligte Kammerherr, der mich von Anfang an so protegirt hatte, und dem ich überdies durch mein Fortgehen seinen geliebten Komödienplan gänzlich aus den Fugen brachte.
Das schoß mir bei der Bewegung des Mannes durch den Kopf.
„Der Herr Kummerherr hat sich nicht geirrt,“ rief ich. „Ich will natürlich fort – auf der Stelle.“
Weißfisch hatte sich wieder zu mir gewandt. Seine hellen Augen glitzerten, das Lächeln, das um seinen breiten Mund zuckte, war schier lustig.
„Auf nach Franken!“ rief er im Tone und mit der Geste irgend eines Karl Moor. „So ist’s recht! Was wollen Sie auch länger bei diesen kleinen Herrschaften, die gern die Großen spielen möchten, bloß daß sie das Zeug dazu nicht haben? Das ist ja auch für einen anständigen Menschen zum Ekel.“
Er machte ein paar große Schritte durch den Raum, blieb dann wieder vor mir stehen und rief:
„Ich hab’s auch satt; möchte auch mal wieder – ei was: heraus damit! Wie wär’s, wenn Sie es einmal mit meiner Hoheit versuchten?“
Ich blickte den Mann erschrocken an: in seinem glattrasirten Gesicht zuckte es so wunderlich, die wasserblauen Augen blinkerten so gräulich – war er nicht recht bei Sinnen?
„Ja, ja!“ rief er, „es ist mein voller Ernst. Das wäre der rechte Mann für Sie; der hat Ideen im Kopf, verstehen Sie: nicht wie die Junkerchens hier! Große Ideen! Der würde Ihnen gefallen!“
„Und was sollte ich dort?“ fragte ich verwundert.
„Gar nichts, rein gar nichts; nur ihm auch gefallen, und dann lassen Sie für das Uebrige den Weißfisch sorgen – ich meine, wenn wir erst da sind. Und jetzt auch. Ich schaffe Alles, was Sie brauchen – Geld – Alles. Bringe Sie so sicher hin wie ein Kind in Abraham’s Schoß.“
Der Mann war so dringend, sprach so eifrig, ich sollte dies wirklich ernsthaft nehmen. Dann war wohl er möglicherweise bei Sinnen, hielt aber mich für verrückt.
„Wissen Sie, Herr Weißfisch,“ rief ich, „daß Sie mir einmal gesagt haben, das Leben an einem solchen Hofe sei eine einzige große Komödie; und ein anderes Mal, ich sei, trotz meiner Jugend, zu alt zum Komödienspiel? Da haben Sie meine Antwort, wenn dies Alles nicht ein wunderlicher Scherz ist, den Sie mit mir treiben.“
„Sie möchten Recht haben,“ murmelte er; „nur nicht, wie Sie es meinen. Sie sind zu alt, ein guter Komödiant zu werden. Wenn ich das gesagt habe – das nehme ich zurück. Aber zu dem anderen Komödienspiel – ja, dazu sind Sie freilich noch zu jung. Soll ich Ihnen dann nicht wenigstens Ihre Koffer packen? Ich verstehe das aus dem Grunde; und ehrlich bin ich, wenn der Herr Kammerherr auch zu sagen belieben, ich stehle wie ein Rabe.“
„Ich nehme es dankbar an,“ sagte ich, froh, daß der Mann seinen tollen Einfall fahren gelassen hatte. „Ich will mich unterdessen nach einem Wagen umsehen – im Dorf, natürlich, bei den Bauern.“
„Auch das würde ich gern besorgen,“ sagte er; „aber ich weiß zum Voraus, es ist unmöglich. Die Leute sind alle zu dem Pfaffen gelaufen; überdies brauchen die Bauern – es sind ja nur ihrer drei – ihre paar Pferde zu nöthig jetzt während der Ernte.“
„So gehe ich zu Fuß,“ rief ich entschlossen. „Lieber Alles, als mich hier wieder finden lassen, wenn sie zurückkommen.“
„Wird kaum etwas Anderes übrig bleiben,“ meinte Weißfisch. „Ich würde Sie gern ein Streckchen begleiten; aber ich kann nicht wohl abkommen.“
Mir war es lieb, daß er mich nicht begleiten konnte. Ich sehnte mich danach, allein zu sein; ich verlangte nur, fortzukommen; der Boden brannte mir unter den Füßen. Ich gab Weißfisch meinen Kommoden-, meinen Kofferschlüssel; er versprach, Alles pünktlich zu besorgen; auch den Brief, welchen ich an Ulrich in aller Eile schrieb, sofort abzugeben. Der Brief enthielt nur ein paar Zeilen: er möge mich bei seinen Eltern entschuldigen, denen ich meine Dankbarkeit für alle ihre große Freundlichkeit und Güte nicht besser beweisen zu können glaube, als indem ich sie in dem Augenblicke verlasse, wo sie sich überzeugt hätten, daß ich dieser Freundlichkeit und Güte niemals werth gewesen sei.
Wenige Minuten später trat ich aus dem Portal des Schlosses und durchschritt eilig den Hof. In dem Hofthore wandte ich mich, zu sehen, daß Weißfisch mir nicht folgte.
Und dann haftete mein starrer Blick unwillkürlich an der Stätte, die ich nun für immer verließ: das stolze Schloß, umfluthet vom Mittagssonnenschein, den schwere blaue Schatten, die hie und da hinter den vorspringenden Erkern kühlig lagen, nur noch heller und glänzender machten; der weite Hof, auf dem die mächtigen Linden stille Wacht hielten; zur Seite der Park, dessen gewaltige Baummassen im Glast verzitterten – wohl mochten sie sich glücklich schätzen, die Menschen, die hier wohnten, dies ihr Eigen nannten und jetzt hingegangen waren, Gott dafür zu danken und ihn anzuflehen, daß er ihnen ihr Glück erhalten möge. Ihr Glück von Edenhall! Wenn es brach, mich würde es nicht treffen, den Bettelarmen, der Nichts sein Eigen nannte, als den Wanderstab da in seiner Hand, an dem er durch die glühenden Felder sollte zurückkehren zu dem wurmstichigen Hause in der dumpfigen Hafengasse. Gott sei Dank! Ja, zurück zu dem lieben alten Hause! Zurück zu dem lieben alten Vater, zu ihm, in seinem treuen Arme, an seinem Herzen mich auszuweinen von all dem Leid und all der Noth in dieser stolzen liebeleeren Welt!
Und, die Mütze fest in die Stirn drückend und den Stab fester fassend, kehrte ich dem Schloß den Rücken und wanderte fürbaß.
Meine Wanderschaft sollte länger dauern, als ich gedacht hatte, und anders enden, ach, so anders!
Ich war bereits zwei Stunden unterwegs und hatte, nach meiner Berechnung, etwa ein Drittel der Entfernung zurückgelegt, die mich von der Stadt trennte. Nur ein paar Mal war ich über den Weg im Ungewissen gewesen, und einmal war ich sogar von demselben abgekommen, hatte mich aber nach kurzer Zeit wieder zurecht gefunden. Einen Menschen, den ich hätte finden können, fand ich nicht. Die Landschaft war wie ausgestorben; endlos breiteten sich die Kornfelder, in denen sich kaum ein längerer Halm an der Wegseite rührte und die Grillen rastlos schwirrten; in einer gelegentlichen Koppel ein paar Füllen oder Kälber, die sich in dem schmalen Schatten der kurzstämmigen verkrüppelten Weiden zusammengedrängt hatten; auf dem Dresch, in scheuer Entfernung vom Wege, ein Paar blauglänzende Kolkraben; über dem Rande des nahen Waldes ein Habicht, der in der blauen Luft seine Kreise zog – sonst kein lebendes Geschöpf in der weiten Runde.
Der Schweiß rann mir von der glühenden Stirn, die Zunge klebte mir am Gaumen – ich achtete es nicht. Mir war, als ob eine unwiderstehliche Kraft mich vorwärts zöge; an das, was hinter mir lag, dachte ich nicht mehr.
Und jetzt mußte ich doch hinter mich blicken.
Es war in dem Walde, den ich jetzt erreicht hatte, und durch welchen der Weg führte, dessen ich mich von der Hinfahrt deutlich erinnerte. Er hatte uns damals kühlenden Schatten gewährt, als wir auf schnellem Gefährt desselben kaum bedurften. Nun war mir die Labung doppelt willkommen, und ich wanderte ein wenig langsamer durch das Gras und den Lattich der Wegseite, als ich das Geräusch eines Wagens vernahm, der hinter mir herkam. In großer Eile, wie ich aus der schnell zunehmenden Deutlichkeit des Geräusches schließen mußte. Sollte es ein Wagen von Nonnendorf sein? Die Familie war inzwischen längst wieder zu Hause, Ulrich hatte meiaen Brief gelesen – es war ja äußerst unwahrscheinlich – dennoch, wenn sie hinter mir herkamen, mich zurückzuholen –
Ich hatte den Gedanken kaum gedacht, als ich bereits über den Graben gesprungen war und das Unterholz über mir zusammenschlug. Eben noch zur rechten Zeit. In der nächsten Minute war der Wagen, welchen mir eine scharfe Biegung des Weges verborgen hatte, auf derselben Stelle: derselbe offene Wagen, der mich und Ulrich nach Nonnendorf gefahren hatte; und Ulrich saß auf dem Rücksitz, vorn übergebeugt, eifrig nach vorwärts blickend, dem Kutscher, wie ich zu vernehmen glaubte, zurufend: er solle schneller fahren, während die Pferde doch schon in vollem Galopp ausgriffen, den leichten Wagen hinter sich durch die Löcher des schlecht gehauenen Weges schleudernd, daß es aussah, als ob derselbe im nächsten Augenblick umstürzen und zerschellen müsse.
„Ulrich!“
Ich hatte es laut gerufen; der Lärm der Räder, das Stampfen der Rosse hatte es übertönt. Schon war der Wagen hinter einer anderen Biegung des Weges verschwunden. Es war gut so. Ihm wäre ich gern um den Hals gefallen; und wenn er mich zornig mit seiner starken Faust da auf den moosigen Grund gestreckt hätte – von ihm hätte ich es gern erduldet. Aber die Anderen! Das Nasenrümpfen, das Hohnlächeln oder, schlimmer noch, die eisigglatte Höflichkeit, für die Nichts vorgefallen war. Nein, es war gut so. und er, wenn er auf dem Wege wieder umkehrte, da er mich noch immer nicht eingeholt, der ich doch einen so bedeutenden Vorsprung gar nicht hatte – er sollte mich auch dann nicht finden.
Und wie ein gejagtes Wild drängte ich mich weiter durch das dichte Gehölz und eilte dann auf glatterer Bahn zwischen den ragenden Stämmen tiefer in den Hochwald.
Es war natürlich meine Absicht gewesen, nach einem größeren Bogen durch den Wald am Rande desselben auf die Landstraße zurückzukehren; aber der Wald, der doch in meiner Erinnerung gar nicht so groß war, wollte kein Ende nehmen, und die Landstraße sich nicht wieder finden lassen. Dafür eine Menge Pfade, welche die Kreuz und die Quer zu laufen und mich, indem ich unsicher den einen oder den anderen verfolgte, immer tiefer in die Irre zu locken schienen, denn es waren so bereits wieder zwei Stunden vergangen, ohne daß ich einen Ausweg gefunden hätte. Ich wußte nicht mehr, wohin ich mich wenden, ja, was ich in dieser sonderbaren Lage beginnen sollte.
Verzweifelt warf ich mich in das Moos, ein wenig zu verschnaufen. Aber schlimmer als die Müdigkeit plagte mich der Durst, und schlimmer als der Durst eine seltsame Bangigkeit, die ich mir, der ich sonst nicht furchtsam war und mich auch jetzt durchaus nicht fürchtete, gar nicht zu erklären vermochte, und die mich doch von Minute zu Minute heftiger ergriff, einer Schlange gleich, welche sich fester und fester um ihr Opfer schnürt. Ich hatte gelesen, daß so Menschen zu Muthe sei, die sich, ohne es zu wissen, in der unmittelbaren Nähe einer Leiche befinden. War hier ein Mord geschehen? Lag da in dem Gebüsch, aus dessen spärlichen Oeffnungen bereits schwarze Schatten blickten, der blutige, verstümmelte Körper?
Entsetzt sprang ich wieder auf und stürzte, nun wieder in der entgegengesetzten Richtung, davon und mußte lächeln, als ich nach wenigen hundert Schritten den Rand des Waldes erreichte, an welchem eine Landstraße hinlief, ob die, welche ich suchte, oder eine andere, wußte ich freilich nicht.
Aber ich mußte es wissen; und da, in einiger Entfernung am Wegrande im Schatten eines einzelnen Baumes, saß Jemand, den ich fragen konnte. Ein Landbriefträger, wie ich, näher kommend, sah, ein alter Mann in kurzen, bestaubten Stulpenstiefeln, der seine Tasche neben sich liegen hatte und sich mit einem rothen baumwollenen Tuch den Schweiß von der kahlen Stirn wischte. Er hatte meine Fragen gutmüthig bereitwillig beantwortet: ich war auf der Straße nach Neuenfähr – nicht der, welche ich verlassen, einer anderen, aber auf der ich nicht fehl gehen könne; habe bis Neuenfähr noch gute drei Meilen.
So hatte ich mich während der letzten zwei Stunden, anstatt mich meinem Ziel zu nähern, eine Meile von demselben entfernt.
Ich mochte wohl ein recht verdutztes Gesicht machen; der alte Mann sagte:
„Ja, es ist ein tüchtiges Ende, und Sie sehen auch nicht mehr zum frischesten aus. wo kommen Sie denn eigentlich her?“
Ich sagte es; er schüttelte den Kopf.
„Wie ist das möglich? Nonnendorf liegt ja auf einem ganz anderen Flach. Ja so, da muß ich wieder an den verdammten Brief denken, den ich nun schon seit drei Tagen mit mir durch die ganze Insel schleppe und nicht loswerden kann. Wo ist der Racker denn?“
Er kramte in seiner Tasche und brummte dabei weiter:
„Nonnendorf! Dummes Zeug! Giebt es nicht. Und wenn es auch zur Noth Bonnendorf heißen konnte, auf Nonnendorf wohnt Herr von Vogtriz und nicht ein Herr L. Lorenz, das muß ich doch wohl wissen. Da ist er. Herrn L. Lorenz auf Nonnendorf! Sehen Sie!“
Er hatte den zerknitterten Brief aus der Tasche genommen, nach welchem ich hastig griff mit dem Bedeuten, daß ich Lorenz heiße und in Nonnendorf zu Besuch gewesen sei.
Der Alte schien von dieser plötzlichen Lösung seines Räthsels nicht sehr erbaut. Er kraute sich den grauen Kopf und murmelte etwas von Briefgeheimniß und Amtseid. Ich aber hatte schon den Brief aufgerissen, der von einer schwerfälligen Hand, die ich zu kennen glaubte, fast unleserlich geschrieben war.
„Lieber Lothar!
Es thut mir und meiner lieben Frau und auch meiner
Christine sehr leid, aber wir können es nicht ändern und meine
liebe Frau und auch meine Christine sagen, ich soll es Ihnen
schreiben, wenn auch Ihr lieber Vater es nicht will. Lieber
Lothar! Ihre liebe Mutter ist gestern ganz auf einmal und
ohne einem Menschen etwas zu sagen, fortgereist und es sieht so
aus, als ob sie nicht wiederkommen will, sagt meine Frau und
auch meine Christine. Ihr lieber Vater sagt gar nichts, aber ich
glaube, es hat ihn höllisch angegriffen und er ist sehr herunter,
und meine liebe Frau und auch Christine sagen, ich soll es Ihnen
schreiben, denn, sagen sie, es wird wohl nicht mehr lange währen,
dann geht es zu Ende, womit ich bin Ihr Nachbar und guter Freund
Nachschrift! Erschrecken Sie man nicht!“
„Herr Gott, Herr Gott, wie werden Sie denn auf einmal aussehen!“ rief der alte Mann, als ich den Brief aus meinen zitternden Händen fallen ließ und in halber Ohnmacht an den Stamm des Baumes zurücksank. Er hatte mir seine Flasche an den Mund gesetzt, aus der ich instinktiv gierig trank. Dann sprang ich auf die Füße.
„Gott lohne es Ihnen! Nach dieser Seite, sagten Sie?“
Er rief etwas hinter mir her, ich weiß nicht was. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich den Weg nach Neuenfähr zuruckgelegt habe. Es ist mir nur eine dunkele Erinnerung geblieben von zischelnden Kornfeldern, die endlos sind und über denen eine blendende Sonne mit seltsamer Schnelligkeit gen Westen sinkt, und von rothglühenden Wiesen; und einer Frau, die mit einem Kinde auf dem Arme vor mir steht und immerfort: armer Mensch! und dann wieder: willst du still sein! sagt, während ich aus einem irdenen Kruge trinke und vor Erschöpfung weine und das Kind jämmerlich schreit; und wieder von zischelnden Kornfeldern, über denen aber keine Sonne mehr glüht, und von Wiesen, über denen grauer Abenddunst in Streifen zieht, und von einem großen Fährboot, das mit Menschen und Pferden überfüllt ist und nicht aus der Stelle zu rücken und den Thürmen nicht näher zu kommen scheint, die vor uns gespenstisch in den schwarzgrauen Himmel ragen, über welchen ungeheure Wolken von Krähen ziehen, während hier und da ein Stern zu flimmern beginnt.
Dann stößt das Boot an die Landungsbrücke, daß es einen Krach giebt, und Weiberkreischen und Pferdestampfen und fluchende Männerstimmen – aber Alles schon hinter mir. Das dunkle Hafenthor, die Hafengasse mit den Matrosenkneipen, in denen bereits die Lichter brennen in den tiefen niederen Zimmern, aus deren offene Fenstern wüster Lärm schallt – Schuster Pahnk’s Haus, Zimmermann Schröder’s – Hopp’s – endlich des Vaters – gelobt sei Gott!
Ich will die vier Hausthürstufen mit einem Satze hinauf, und plötzlich ist meine Kraft zu Ende; ich ziehe mich mühsam an dem eisernen Geländer von Stufe zu Stufe. Die Schelle klappert, als ich die Thür aufdrücke; die alte Christel muß es nicht gehört haben; ich tappe durch den dunklen Flur nach der Thür zum Hofe. Auf dem Hofe ist es wieder etwas heller; in der Werkstatt brennt Licht, aber der Vater arbeitet nicht – wie kann er arbeiten, wenn er krank ist!
Ich stehe vor der Thür zur Werkstatt und habe den Drücker in der Hand. Aber ich drücke nicht auf. Dasselbe Grauen, das ich im Walde empfunden, will mich wieder überkommen – mit einem letzten Aufgebot meiner Kraft schüttele ich es ab und öffne die Thür.
Auf der Drehscheibe mitten in der Werkstatt steht ein fertiger Sarg; ich sehe auf den ersten Blick, daß er nicht von des Vaters Hand ist, mit dem zweiten, daß ein Todter im Sarge liegt.
Ich bin zu spät gekommen!
Ich sage es ganz laut, und es ist auch das Einzige, was ich empfinde. Keine Spur mehr von dem Grauen, das mich eben noch geschüttelt. Ich bin ja bei ihm, dem Besten, Gütigsten, der keine Todesfurcht kannte. Wie dürfte ich mich in seiner Gegenwart fürchten, obschon er nun todt ist!
Vor dem Todten, der so mild ist, so friedlich lächelt, wie ein schlafendes Kind.
So sehe ich ihn im sanften Schein der Lampe, der von oben auf seine lieben Züge fällt.
Ich küsse die lieben Züge, und dann küsse ich die Hand, die sie ihm auf die Brust gelegt haben, die liebe linke Hand, die nur vier Finger hat.
Und dann ruht meine Linke auf dieser Hand und über dem besten Herzen, und ich hebe die Rechte empor und spreche, abermals ganz laut, als ob ich zu ihm spräche:
„Nie wieder will ich Dein vergessen, Du Armer, Verlassener! Und will der Sache der Armen und Verlassenen treu bleiben, bis mein Herz still steht, wie Deines!“
Ich will am Sarge niederknieen und komme auch auf die Kniee. Dann aber saust es mir vor den Ohren; vor meinen Augen wird es Nacht; ohnmächtig sinke ich zusammen am Sarge des Vaters.
Da hat mich denn der gute Nachbar Hopp gefunden, als er eine Stunde später kam, zu sehen, ob das Oel auch wohl noch reiche für die Todtenlampe nebenan bei Nachbar Lorenz.
Der furchtbare, der glorreiche Winter war zu Ende, und Deutschland durfte sich des Höchsterrungenen freuen. Ich nahm meinen Theil an dieser Freude, die freilich eine ganz reine nicht sein konnte für mich, dem es nicht hatte vergönnt sein sollen, das Höchste mit erringen zu helfen. Dafür hatte mir dann aber der Frühling das Ende meiner Lehrzeit gebracht, nach welchem ich zuletzt doch mit Sehnsucht ausgeschaut. Nicht als ob ich mich für fertig gehalten, von dem Erfolge meines demnächstigen Auftretens sicher überzeugt gewesen wäre! Ich dachte sehr bescheiden von meinen Fortschritten, sehr klein von meinen gelegentlichen Leistungen auf der Liliput-Bühne des süddeutschen Städtchens, in welchem mein Lehrer nach manchem Umherirren den geeignetsten Ort für unsre Studien gefunden haben wollte. Aber ich meinte, wenn ich denn wirklich, wie er standhaft behauptete, bereits schwimmen könne, so wäre die Probe doch nur in tiefem Wasser anzustellen, nicht in diesem hier, das Einem höchstens bis an die Kniee reiche. Er mußte das zugeben, aber er habe sich nach seiner Instruktion zu richten. Hoheit habe befohlen, daß ich nicht früher in seiner Residenz erscheine, als bis er selbst zurück sei, da er mich, bevor ich aufträte, zu sehen und zu prüfen wünsche. Nun, und Hoheit war nicht zurück; Hoheit war bis zuletzt in Versailles geblieben, um das Ende der Kommune-Tragödie abzuwarten; dann zur Erholung von den Strapazen des Feldzuges nach Gastein ins Bad, zur Nachkur an die oberitalienischen Seen gegangen – er, Weißfisch, könne doch nichts dafür, daß darüber der April, der Mai ins Land kam, und freilich auch die Saison auf dem Residenztheater, das der Schauplatz meiner Heldenleistungen sein sollte, zu Ende ging. Hoheit habe das einmal so angeordnet, ich müsse eben Geduld haben; nur mit der Zeit pflücke man Rosen. –
Aber ich merke, daß ich da in Räthseln spreche: meine Lehrzeit – mein Lehrer – Komödienspielen – eine Hoheit, der ich vorgestellt werden soll – was heißt das? wie kommt das? wie bin ich in diese Lage gerathen?
Ja, wie ich in sie gerathen bin! Es ist ein sehr langes und sehr trauriges Kapitel, das ich um des Lesers und um meiner selbst willen so kurz wie möglich berichten will.
Durch den Tod des Vaters und die Flucht der Mutter war ich in eine jammervolle, völlig verzweifelte Situation gerathen. Keine leiseste Andeutung, wohin sie sich gewandt! Dafür von Herrn von Ruver, ihrem Beichtiger, die trockene Anzeige, daß sie ihr bei Herrn Israel angelegtes Kapital flüssig gemacht und mit sich genommen; das Haus, in welchem wir so lange gewohnt und das ihr gehörte, an Herrn Israel verkauft habe, und daß ich jetzt frei dem Zuge meines Herzens folgen und mich auf die eigenen Füße stellen dürfe, ohne fürchten zu müssen, durch Einwände der Mutter (die sich nicht von mir, sondern von der ich mich losgesagt) weiter behelligt zu werden.
So war ich denn auf die Straße geworfen, hätten sich meiner nicht mitleidige Menschen angenommen, anzunehmen versucht: die braven Hopps, die guten Israel’schen Frauen, der wackere Professor von Hunnius. Aber für mich wäre das ein Leben unter dem Henkersbeil gewesen – unmöglich, unerträglich.
Und ich hoffte, diesem unerträglichen Leben entrinnen und zugleich einen Wunsch erfüllen zu können, ein glühendes Verlangen, das aus dem Mahnworte des Majors von Vogtriz im Parke von Nonnendorf in meiner Seele emporgewachsen war, sie ganz erfüllend, all mein Sehnen wie in einen Strudel in sich reißend, all mein Denken tyrannisch unterjochend: das glühende Verlangen, in den Krieg, der nun entbrannt war, ziehen, mein Blut für das Vaterland vergießen, mein Leben, das keinen Werth mehr für mich hatte, für das Vaterland dahingeben zu dürfen.
Es sollte nicht sein.
Wie das kam, das dem Leser in Kürze zu erzählen, wird sich demnächst Gelegenheit bieten. Hier nur so viel, daß die Veranlassung, der Hinderungsgrund so schmerzlich war, wie das Krankenlager, auf das ich in Folge dessen geworfen wurde und von welchem ich als ein Halbinvalide erstand, der den freien Gebrauch seines rechten Armes im Leben nicht wieder gewinnen sollte.
Und da trat zu dem gänzlich Verzweifelten der Versucher in der Gestalt des Kammerdieners Weißfisch. Er hatte den scheuen Vogel nur zum Schein entfliehen lassen; in Wahrheit hielt er ihn an dem Faden fest, den er in Nonnendorf geknüpft und der sich jetzt als stark genug und als unzerreißbar bewies. Was da von lahmem Arm! Damit – und wenn’s so bliebe – es würde aber sicher nicht so bleiben – könne ich noch jeden Augenblick sämmtliche Erste-Liebhaber-Rollen der Welt spielen! Und wie spielen! ein junger Kerl wie ich, hübsch und schlank, und mit einer Stimme – ah! wenn er die Stimme gehabt hätte –
So lockte der schlaue Finkler, und ich war ein Verzweifelter und – achtzehn Jahre! Zu welchen Tollheiten läßt man sich da nicht leicht überreden, ja, hält die Tollheiten wohl noch gar für höchst verständige Handlungen, für heroische Thaten!
Ich darf zu meiner Ehre sagen, daß mir meine Flucht (denn eine Flucht war’s und wurde bei Nacht und Nebel ausgeführt) auch nicht einen Moment in diesem Lichte erschienen ist. Aber noch einmal: ich sah keinen anderen Ausweg, und ich war achtzehn Jahre.
Und so ade, du alte Stadt, in der ich meine Jugend verlebt und die doch nicht meine Heimath war! Ade, du graue Schule, die du wohl dein gewichtiges Haupt schütteln mochtest, als der Schüler, den du immer als einen der fleißigsten und besten geschätzt und gerühmt, dir entfloh wie ein echter, rechter Thunichtgut! Ade, ihr Freunde, die ihr es so gut mit mir meintet und die ihr mir doch alle ausnahmslos als Schergen und Kerkermeister meiner gefesselten, freiheitsdurstigen Seele erschient! Ade – und vorbei! vorbei! –
Die Rosenzeit war wirklich gekommen und meine Geduld völlig erschöpft, als eines Morgens Weißfisch mit der Nachricht ins Zimmer trat: „Er ist zurück und will Sie sofort sehen. Morgen Abend um neun Uhr!“
„Und das sagen Sie mir mit dem düstern Ton des schwedischen Hauptmanns aus dem ,Wallenstein‘?“ rief ich lachend.
„Es ist immerhin ein entscheidender Augenblick,“ sagte Weißfisch.
„Natürlich ist es das, und Gott sei Dank!“ erwiderte ich heiter. „Uebrigens sehe ich den entscheidenden Augenblick gar nicht in der Audienz, die mir der Herzog gewähren will –“
„Zu der mich Hoheit befohlen hat,“ verbesserte Weißfisch.
„Meinetwegen! – sondern in meinem Debüt auf der Bühne. Hoheit wird – oder heißt es ,werden‘?“
„Wenn Sie mit Hoheit sprächen, würde es ,werden‘ heißen müssen; in diesem Falle, da Sie von Hoheit sprechen ist ,wird‘ zulässig.“
„Also! Hoheit wird mich doch deßhalb nicht fortschicken, weil ihm etwa meine Nase nicht gefällt?“
Der Mann sah so prüfend auf das genannte Organ, als ob er das Für und Wider der Frage in ernstliche Erwägung ziehe, und sagte dann fast heftig: „Es wäre zu arg!“
„Was?“
„Daß Sie ihm nicht gefielen.“
„Sehr schmeichelhaft; aber, wenn er der kluge Mann ist, für den Sie ihn ausgeben, so wird er doch, falls das Gegentheil einträte – was ich ja selbst nicht zu fürchten keck genug bin – das endgültige Urtheil über mich dem Publikum und der Kritik überlassen. Ich will doch nicht in seinen persönlichen Dienst, sondern auf seine Bühne gehen. Das wissen Sie ein- für allemal: zum Höfling bin ich nicht geschaffen.“
Trotz dieser kecken Reden schlug mir nun doch das Herz, als am Frühabende des folgenden Tages bei einer Biegung der Bahn in dem hügeligen Terrain auf einer grünen Thalmulde, in welche sie eingebettet war, die kleine Residenz mit ihren grauen Häusern und Kirchthürmen und einem massigen Schloß, das, auf einem Hügel gelegen, die Stadt herrisch überragte, vor meinen Blicken auftauchte. Nur für ein paar Minuten, um dann abermals hinter einem höheren Berge zu verschwinden, den die Bahn in mächtiger Kurve umkreisen zu wollen schien, bis der Zug, als sei er die Sache müde, sich nach gellem zornigen Pfeifen in die Nacht eines Tunnels stürzte. Nun kamen wir wieder ans Licht, auch alsbald in ein mit hübschen Villen besetztes Gartengelände, in Mitte dessen der Bahnhof lag. Weißfisch begann das Handgepäck zu ordnen, brauchte aber ganz gegen seine Gewohnheit sehr viel Zeit zu dem einfachen Geschäft und erregte dadurch meine Ungeduld, um so mehr, als er mir gesagt hatte, daß das Hôtel, in welchem wir absteigen wollten, am anderen Ende der Stadt unmittelbar neben dem Schlosse liege, und ich sah, daß die wenigen auf dem Bahnhofe haltenden Einspänner einer nach dem andern mit den angekommenen Passagieren davon fuhren. Endlich war er fertig, und wir betraten den bereits wieder leer gewordenen Perron. Ein Beamter, wohl der Bahnhofsinspektor, gesellte sich, mich höflich, aber stumm begrüßend, zu uns und führte uns, nachdem er einige leise Worte mit Weißfisch gewechselt, durch ein paar sehr stattliche Empfangsräume des Gebäudes, die jedoch mit ihren verhängten Möbeln für gewöhnlich nicht benutzt werden mochten, zu einer Hinterthür, vor welcher eine geschlossene Equipage hielt. Ich war einigermaßen erstaunt, als ich hörte, daß dieser Wagen für uns bestimmt sei; aber Weißfisch schob mich hastig durch die Thür, welche ein Diener geöffnet hielt, der dann auf den Bock sprang. Die Pferde zogen an; ich sah nur eben noch den sich höflich verbeugenden Inspektor. An Gärten und Villen flog der Wagen nun vorüber; rasselte durch ein altes Thor in engere und dunklere Gassen; dann über einen kleinen Platz; abermals durch ein Thor und hielt, wie ich beim Aussteigen bemerkte, auf einem weiten, von hohen düsteren Gebäuden umgebenen Hof am Fuße einer Außentreppe zu einer mit mächtigen, aus Stein gehauenen Wappen gekrönten Spitzbogenthür, aus der, als der Wagen über den Sand des Hofes knirschte, ein Diener getreten war und jetzt die Stufen herabkam. Dieser zweite Diener zu dem ersten, der vom Bock herabsprang; zu beiden Weißfisch, der sich um mich mit dienerhafter Geschäftigkeit bemühte; die im letzten Abendlicht doppelt feierliche Runde der den stillen Hof einschließenden Gebäude von verschiedener Höhe und Form mit ihren weitausladenden Erkern und ragenden Thürmen; die Equipage mit den feurigen Rossen, über deren Pracht ich mich schon auf der Fahrt durch die Stadt im Stillen gewundert hatte – „Was bedeutet dies? wo sind wir?“ raunte ich Weißfisch zu, als wir hinter dem zweiten Diener bereits die Steintreppe hinanschritten, worauf Weißfisch, mit bedeutender Gebärde nach dem Diener, den Finger auf den Mund legte. Mir war zu weiteren Fragen nicht die Begierde, wohl aber vor seltsam bangem Erstaunen, das sich immer mehr meiner bemächtigte und mir bald ein regelrechtes Herzklopfen verursachte, Muth und Athem geschwunden.
So ging es, immer den Diener voran, schweigsam die Außentreppe vollends hinauf, durch die Spitzbogenthür; andere, mit Teppichen belegte Steintreppen empor; über enge Korridore, die mir endlos schienen, und die bald durch das Abendlicht, das durch die Fenster hereinfiel, bald durch Lampen erhellt waren, bis wir vor einer Thür Halt machten, welche der voranschreitende Diener zu einem großen Gemach öffnete, in das wir hinter ihm eintraten. Schweigsam entzündete er eine Anzahl von Kerzen auf verschiedenen Tischen und an den Wänden; verschwand dann in einem Nebengemach, in welchem er dasselbe Geschäft zu vollführen schien, kam alsbald wieder herein, flüsterte ein paar Worte mit Weißfisch und verließ das Zimmer. Ich hatte, mitten in dem Raume regungslos stehend, mit den Blicken den Mann verfolgt, während unter seinen Händen ein Theil des Gemaches nach dem andern: ein Spiegel hier, ein Kamin da, ein Sofa dort aus dem Dunkel – denn die Vorhänge waren geschlossen gewesen – hervortrat. Nun, als er die Thür hinter sich zugwdrückt hatte, erwachte ich jäh aus meiner Versteinerung.
„Um Himmelswillen, Weißfisch, was bedeutet dies Alles?“
Auf dem glatten Gesichte wollte das gewöhnliche freche verschmitzte Lächeln nicht recht gelingen: es war ein gut Theil Verlegenheit darin; und so klang auch seine Stimme ein wenig unsicher, als er nach einer kleinen Pause erwiderte:
„Ich gebe Ihnen mein Wort, ich wußte selbst nichts davon, bis mir der Bahnhofsinspektor sagte, daß ein Hofwagen draußen stehe. Ich hatte die Zimwer in dem Gasthof bestellt, Sie können sich morgen danach erkundigen. Es scheint, daß der Befehl in der letzten Minute gekommen ist.“
„Dann sind wir also –“
„Im herzoglichen Schloß – allerdings.“
„Aber wozu? weßhalb? was soll ich hier? was will der Herzog mit mir? So reden Sie doch, Mann!“
Ich hatte ihn in meiner Aufregung an der Brust gepackt und geschüttelt. Die Verlegenheit aus seinem Lächeln wollte noch immer nicht weichen.
„Lassen Sie mir denn Zeit zum Antworten?“ sagte er. „Und was soll ich antworten? Ich weiß nicht mehr, als Sie. Hoheit haben es so befohlen. Uebrigens ist es im Grunde auch ganz egal, ob Sie sich aus einem Gasthofszimmer zur Audienz bei Seiner Hoheit zurecht machen, oder hier im Schlosse – es ist nur so viel bequemer. Sehen Sie, da kommen Ihre Sachen schon.“
Die beiden Diener trugen meine Koffer herein und auf Weißfisch’s Wink sofort in das Nebengemach, worauf sie sich wieder entfernten, nachdem der eine abermals Weißfisch etwas zugeflüstert, wovon ich nur die Worte: „pünktlich neun Uhr“ deutlich verstand.
„Es ist jetzt halb Neun,“ sagte Weißfisch, seine Uhr mit der Standuhr auf dem Kaminsims vergleichend; „wir haben eben noch Zeit.“
Ich brauchte nicht zu fragen, wozu, da weißfisch mir gesagt hatte, daß ich im Gesellschaftsanzuge, der auch deßhalb wohlverpackt zuoberst im Koffer lag, vor dem Herzog zu erscheinen habe. Er hatte mir außerdem noch gar Vieles gesagt, was bei dieser Gelegenheit von meiner Seite in Beziehung auf Haltung, Rede und Antwort und, ich weiß nicht, auf was noch Alles, zu beobachten sei; ja, er hatte mir die Scene spaßeshalber wiederholt vorgeführt, wobei er abwechselnd mit tollem Uebermuth den Herzog und mich selbst gar ergötzlich darstellte. Aber jetzt waren ihm der Spaß und der Uebermuth vergangen, und seine Mahnungen und Vermahnungen kamen so kläglich heraus, daß ich nun meinerseits in ein lautes Gelächter ausbrach.
„Ei was, Weißfisch,“ rief ich; „der Mann ist doch schließlich ein Mensch wie wir auch. Was kann mir denn passiren, als daß er nicht der Narr ist, einen Narren an mir zu fressen, wie gewisse andere Leute.“
„Und wäre das etwa noch nicht schlimm genug?“ fragte Weißfisch.
Der Mann hatte es so ernsthaft gesagt, daß es mich selber ernsthaft und nachdenklich machte. Er hatte ja Recht. Von dem Ausfall dieser Audienz, von dem Eindruck, welchen der Herzog von mir bekam, und dem Urtheil, zu welchem er nach einer Prüfung, die er mit mir anstellen würde, über meine schauspielerische Begabung gelangte, hing doch mein Schicksal ab und, was mir erst jetzt zum ersten Male schwer auf die Seele fiel, das des Mannes, der sein Schicksal an meines geknüpft, der Alles aufgegeben hatte, um mir eine glänzende Zukunft zu verschaffen, und, wie er mit Wallenstein zu sagen pflegte, „in meines Glückes Schiff mit mir gestiegen“ war.
„Lassen Sie gut sein, Weißfisch,“ sagte ich, während er mir die weiße Kravatte knüpfte; „ich werde mich schon aus der Affaire ziehen. Jedenfalls verspreche ich Ihnen, daß ich mich so klug und geschickt benehmen will, als irgend in meinen Kräften steht; und wenn’s zum Vortrag kommt, meinen Max oder Romeo, oder was er sonst befehlen wird – hören Sie, Weißfisch, befehlen! – aber, um Gott, Mann, Sie werden mir doch nicht auch noch das Haar brennen?“
„Nur ein paar Locken auf der Stirn,“ sagte Weißfisch, der schon die Flamme in dem Spirituslämpchen entzündet hatte und jetzt nach der Scheere griff.
„Na, meinetwegen! Sie sollen nicht sagen, daß ich es an irgend etwas habe fehlen lassen.“
Und so stand ich denn, aufs Beste herausgeputzt, vor dem großen Stellspiegel und beschaute nachdenklich mein Bild. Es war mir kein fremdes mehr, wie vor dem Weißfisch’schen Regiment. Ich hatte mich seitdem gar oft in dem Spiegel gesehen, wenn ich nach seiner Anleitung meine theatralischen Posen und Mienen studirte und, da er mich immer wieder versicherte, daß ich ein hübscher Mensch sei, nach Ueberwindung der ersten keuschen Scheu, ein ganz herzhaftes Wohlgefallen an mir gefunden. Ich that das auch in diesem Moment; nur kam ich mir etwas blasser als gewöhnlich vor. Weißfisch sagte: es ist die Beleuchtung.
Es war nicht die Beleuchtung, wie ich an der ängstlichen Spannung in der Herzgegend spürte, als ich etwas später mit Weißfisch hinter dem Diener her, der uns zu holen gekommen war, anfangs durch einen Theil der mir bereits bekannten Korridore, dann durch neue, dann durch Gemächer und Säle, in denen es dunkel gewesen wäre, wenn der Diener nicht eine Laterne bei sich geführt hätte, einen Weg, der mir endlos schien, nach dem Flügel des Schlosses schritt, in welchem der Herzog wohnte. Nun eine Reihe von kleineren behaglicheren Räumen, die mäßig hell beleuchtet waren, und vor denen der Mann mit der Laterne Halt gemacht hatte, um uns einem neuen Diener auszuliefern, der uns eben wieder nur bis zu dem allerletzten Gemach führte, wo uns Jemand in schwarzem Frack und weißer Binde empfing, den ich für einen Herrn vom Hofe hielt, bis mein Blick auf seine unteren Extremitäten fiel, die in Kniehosen, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen staken, so daß ich ihn doch wohl nur für einen Kammerdiener nehmen durfte. Der Mann tauschte ein decentes Lächeln des Wiedersehens und Willkommens mit Weißfisch, nachdem er mich mit einer ernsten Verbeugung beehrt hatte, und wir standen vor einer weißseidenen Portière, die der Mann in den Kniehosen mit der einen Hand zurückschlug, während er zugleich mit der andern an einem Elfenbeinknopf die dahinter befindliche Thür zur Seite schob, eine zweite innere Portière hob und hinter uns – Weißfisch und mir, er selbst war draußen geblieben – fallen ließ.
Ein mäßig großes, mit Gegenständen aller Art überfülltes Gemach, dessen Beleuchtung hauptsächlich von einer mehrarmigen Lampe auszugehen schien auf einem großen, mit Büchern und Papieren und vielen anderen Gegenständen bedeckten Tisch, an welchem, uns den Rücken zuwendend, ein Herr stand und so hinreichend lange stehen blieb – es mögen aber trotzdem nur wenige Sekunden gewesen sein – daß ich jene obigen Beobachtungen anstellen konnte.
Nun machte der Herr eine Bewegung, aber ohne seinen Platz zu wechseln, und sagte, halb über die Schulter gewandt, in einer tiefen, trotz einiger Rauhheit wohllautenden Stimme:
„Ah, Weißfisch! und mein junger Protégé!“
Weißfisch und ich hatten uns gleichzeitig verbeugt; ich war aber mit meiner Verbeugung lange vor meinem Lehrer fertig, der nun im respektvollsten Ton, eben laut genug, um von dem Herrn verstanden zu werden, fragte: „Haben Hoheit sonst noch für mich Befehle?“
„Ich danke Ihnen,“ lautete die kurze Antwort.
Der Herzog – ich wußte also endlich sicher, daß er es war – hatte sich bereits wieder über den Schreibtisch gebeugt. Weißfisch machte abermals seine tiefe Verbeugung und war verschwunden.
In dem Moment richtete sich der Herzog, ein Papier, das er zur Hand genommen, auf den Tisch fallen lassend, zu seiner ganzen stattlichen Höhe empor und kam ein paar rasche Schritte von dem Tisch auf mich zu, blieb abermals stehen und sagte; „Treten Sie näher!“
Ich that es, bis ich mich in schicklicher Entfernung von ihm glaubte, und sah ihm gerade in die Augen, weil dieselben mit einem bis zur Herbheit festen, prüfenden Blick auf mich gerichtet waren. Ich meinte, daß, wenn der hohe Herr, wie doch offenbar, mein armes Ich, so weit das durch den Blick möglich ist, ergründen wollte, ich ihm das nach Kräften erleichtern müsse und nicht etwa durch ein kindisches Niederschlagen der Augen erschweren dürfe.
Auf keinen Fall hatte ich ihn durch meine Kühnheit beleidigt, denn nachdem wir ein paar Momente, die mir allerdings ein wenig lang erschienen, uns so gegenüber gestanden und in die Augen geblickt hatten, glitt etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht, und er reichte mir die Hand, indem er gleichzeiug sagte:
„Ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Aber setzen wir uns dorthin!“
Er wies auf eine Nische in der Wand, die an den Rändern mit einem schmalen Vorhang drapirt und mit einem Sofa ausgestattet war, auf welchem er jetzt Platz nahm, mir winkend, mich auf einem Stuhl in seiner unmittelbaren Nähe zu setzen.
„So!“ sagte er. „Und nun lassen Sie uns ein wenig plaudern. Ich habe genau eine halbe Stunde für Sie.“
Schon wiederholt in meinem kurzen Leben war es mir begegnet, daß ich einem unliebsamen Ereigniß, einer bedenklichen Situation mit ängstlicher Spannung entgegen gesehen hatte, und wenn das Ereigniß, die Situation nun wirklich eintraten, sie mich völlig ruhig fanden. Dasselbe war diesmal der Fall gewesen. Als der Kammerdiener die Portière zur Thür vor dem Zimmer hob, in welchem ich den Herzog vermuthen mußte, hatte mein Herz zum Zerspringen geklopft; als die Portière hinter mir leise zusammenrauschte, war es in meiner Seele gewesen, wie wenn sie Oel in die Brandungswellen gießen: kein Herzklopfen mehr, kein Stürmen der Lebensgeister mehr – völlige Fassung und Gleichmuth, ja, der muthvolle Wunsch, es möchte sich nun auch etwas recht Bedeutendes ereignen; und höchstens die gespannte Erwartung, wie dies Bedeutende sich wohl gestalten würde. Wollte es mich doch sogar bedünken, als ob mein Blut in diesem Augenblick ruhiger durch die Adern rollte, als das des Herzogs, der mit einer gewissen nervösen Hastigkeit ein Licht auf dem kleinen Marmortisch neben ihm und an dem Licht eine Cigarre entzündete, aus der er ein paar mächtige Züge that. Die Cigarre war wohl sehr stark; ich konnte einen leichten Hustenreiz nicht unterdrücken.
„Sie rauchen nicht?“ fragte der Herzog – und es waren das die ersten Worte, nachdem wir Platz genommen.
„Nein, Hoheit.“
„Man muß mit dergleichen Stimulis auch warten, bis das Leben im Großen an Reiz zu verlieren beginnt,“ warf der Herzog hin.
Ich empfand es nun doch als eine Art von Frechheit und Uebermuth, daß mir sofort einfiel, genau bei derselben Veranlassung genau denselben Gedanken, nur in etwas cynischerer Form, von dem Kammerherrn gehört zu haben; und daß ich mich fragte, ob dies ein Zufall, oder auf wen von den beiden Herren der Ausspruch wohl, als auf den Autor, zurückzuführen sei. Inzwischen hatte ich, während jetzt der Schein des Lichtes dem Herzog voll in das Gesicht fiel, die Möglichkeit gehabt und benutzt, ihn genauer zu betrachten. Man durfte ihn wohl, obgleich das Haupthaar bereits ein wenig gelichtet und, ebenso wie der starke Vollbart, stark angegraut war, noch immer einen schönen Mann nennen. Nur die etwas vorgeschobene Unterlippe wollte mir nicht gefallen; es lag da etwas Trotziges oder Wildes, das auch mit dem Ausdruck der blauen Augen harmonirte, die ebenfalls früher sehr schön gewesen sein mußten, aber jetzt etwas Hartes und Lebloses hatten, als wären sie aus Glas. Die Gestalt, welche in ein joppenartiges Kleidungsstück, das ein Haus- oder auch ein Jagdrock sein mochte, geknöpft war, ragte mit hoher Brust und breiten Schultern massig von dem Sitz auf; den großen, aber wohlgebildeten Händen sah man an, daß sie eine Büchse oder ein Schwert wohl zu führen wußten. Ich meinte: am liebsten so ein fast mannshohes, deßgleichen ich auf Abbildungen von Landsknechten und Rittern bewundert; wie es mir denn auch durch den Kopf fuhr, daß sich der Mann in voller Rüstung auf schnaubendem Roß gar prächtig ausnehmen müsse.
Die Cigarre war ihm nach den ersten Zügen ausgegangen; er zündete sie sich von neuem an (was der sybaritische Kammerherr nicht gethan haben würde) und sagte:
„Sie haben also eine entschiedene Neigung zum Schauspieler?“
„Ja, Hoheit.“
„Seit wann?“
„Ich muß wohl annehmen, seit immer, Hoheit. Wenigstens habe ich immer die entschiedene Neigung gehabt, mich in irgend eine fremde Gestalt, die mir durch die Lektüre oder sonst interessant geworden war, hinein zu versetzen und, besonders als ich noch ein Knabe war, in einer solchen Rolle zu reden und zu agiren. Daß darin möglicherweise das Talent zu einem Schauspieler stecke, wußte ich freilich nicht und wäre auch wohl schwerlich darauf verfallen, wenn –“
„Der Kammerherr von Trechow – weiß!“ unterbrach mich der Herzog. „Er hat mir selbst seiner Zeit davon geschrieben. Ich würde indessen kaum ein Gewicht darauf gelegt haben – des armen Trechow Infallibilität in diesen Dingen steht auf keinen festeren Füßen, als er selber – nur daß Weißfisch es bestätigt hat, auf den man sich verlassen kann. Wie sind Sie mit ihm zufrieden?“
„Er hat sich die erdenkliche Mühe mit mir gegeben, Hoheit; und seine Schuld ist es nicht, wenn ich noch nicht weiter bin. Dennoch –“
„Nun?“
„Nicht wahr, ich darf gegen Hoheit ganz frei sprechen?“
„Ich bitte sogar darum.“
„Ich wollte sagen, Hoheit: dennoch glaube ich, es war die höchste Zeit, daß ich aus seinen Händen kam. Er ist gewiß in vieler Hinsicht ein vortrefflicher Lehrer; aber seine schauspielerischen Produktionen sind doch nur immerhin treffliche Kopien, so daß meine eigenen Leistungen im besten Falle die Kopie einer Kopie sein könnten, eine Gefahr, der ich zu entgehen hoffe, wenn ich Gelegenheit habe, mich an wirklichen, an originalen Schauspielern weiter zu bilden.“
„Und Sie glauben, daß es heute noch originale Schauspieler giebt? Ich meine, auf der Bühne?“ rief der Herzog, die Asche von seiner Cigarre tupfend.
Ich mochte auf diese Frage wohl ein verdutztes Gesicht gemacht haben; der Herzog wartete auch nicht auf die Antwort, sondern fuhr alsbald fort:
„Im Leben, o ja! das macht uns mehr oder weniger alle zu Komödianten, unter denen man freilich die guten, die originalen, wie Sie sagen, ebenfalls mit der Laterne suchen muß. Wir, die wir das Unglück haben, Fürsten zu sein, wissen ein Wort davon zu sprechen. Welche erbärmlichen Komödien müssen wir uns vorspielen lassen! und was schlimmer ist, in welchen erbärmlichen Komödien sind wir gezwungen, mitzuspielen! Grands dieux! Und dabei ernsthaft bleiben zu müssen, eine feierliche Miene machen zu müssen, während – pah!“
Er schnellte, diesmal mit einer heftigen Handbewegung, die Asche in den Becher und fuhr in ruhigerem Tone fort:
„Aber, um auf die wirklichen Komödianten zurückzukommen, man darf mit den armen Schelmen nicht so streng ins Gericht gehen. Ich habe genug vom Künstler in mir, um zu wissen, daß man in keiner Kunst ohne Modelle, ohne Vorbilder was Rechtes zu Stande bringt. Und da soll nun so ein Herrlein einen Fürsten darstellen und hat nie einen Fürsten aus der Nähe gesehen, geschweige denn einen längere Zeit in seinem Thun und Gebahren beobachten und studiren können. Oder ein Anderer einen reichen Banquier und hat nie fünfzig Thaler in seinem Vermögen gehabt; oder einen Roué und Gourmé wie unsern lieben Trechow, und lebt ehrbar von Kartoffeln und Rindfleisch in einer Hofwohnung drei Treppen hoch. Und steht es mit unseren Schriftstellern denn besser? Ich lese gern Romane, aber durch welche Schiefheiten, Albernheiten, Absurditäten muß man sich da durcharbeiten, die alle daraus entstanden sind, daß die Herren das Leben, das sie schildern wollen, kaum vom Hörensagen, geschweige denn durch Autopsie kennen. Da“ – er deutete auf den Schreibtisch – „liegt ein ganz neuer von – nun, ich will den Namen nicht nennen. Die Geschichte spielt zum Theil an einem Fürstenhofe. Aber welche Fratzen macht der Mann aus dem Fürsten, der Fürstin! welche Karikaturen aus den Herren und Damen vom Hofe! Es ist nicht zu glauben. Um so weniger, als der Mann doch wirklich einen und den andern Blick in diese Kreise geworfen, mehr als das: Tage, vielleicht Wochen in dieser Sphäre zugebracht hat. Da, auf dem Platze, wo Sie sitzen, hat er gesessen, mehr als einmal; ich habe ihm meine Ansichten über eine lange Reihe der wichtigsten Dinge mitgetheilt, und doch! als ob er nie aus seinem Studirzimmer, aus seiner gelehrten und litterarischen Gesellschaft heraus gekommen wäre!“
Die widerspenstige Cigarre wollte durchaus nicht brennen; der Herzog stieß sie, wie zur Strafe, kräftig mit der verkohlten Spitze in den Becher und zündete sich eine neue an. Ich dachte nach über das, was er gesagt. Es schien mir Alles sehr treffend; nur hielt ich es nicht für unmöglich, daß, wenn jener Schriftsteller die hohen Herrschaften falsch geschildert habe, trotzdem er sie kennen gelernt, der absolute Werth der Autopsie doch wohl fraglich sei, und es noch auf etwas Anderes ankommen müsse, das auch ohne Autopsie seine Geltung habe. Aber der Gedanke war mir im Momente nicht so klar, daß ich ihn auszusprechen gewagt hätte; überdies hatte der hohe Herr seine Rede wieder aufgenommen:
„Das ist denn freilich so recht deutsch,“ sagte er, „der rechte deutsche Ur- und Grundfehler. Sie glauben Alles aus der Theorie heraus schaffen, Alles aus der Tiefe des Gemüthes, wie Hegel sagt – (Heine, verbesserte ich im Stillen) – konstruiren zu können: Dramen, Romane, Verfassungen, Revolutionen – Alles! Und das ist der Grund, warum sie in Allem hinter den praktischen Nationen zurückstehen; warum die Franzosen ihre Bühne beherrschen, die englischen Blaustrümpfe ihren Büchermarkt; warum die Verfassungen, die sie aushecken, regelmäßig Stückwerk sind, und ihre Revolutionen ebenso regelmäßig mißglücken. Nehmen wir die Bauernkriege! Unser deutscher Bauer des Anfangs des sechzehnten Jahrhunderts war schon ein konfuser Theoretiker und glaubte wunder wie revolutionär zu sein, während er im Grunde nichts als die bare Reaktion trieb. Lassalle – übrigens auch sonst ein profunder Kopf, dessen leider sehr zerstreute Schriften ich Ihrem Studium dringend empfehle – hat es aufs Schlagendste nachgewiesen. Ich selbst hatte übrigens dieselben Ideen lange vor ihm gehabt und sie wiederholt meinen politischen Freunden mitgetheilt; es ist mehr als möglich, daß Lassalle sie von einem derselben gelegentlich gehört und eben nur verarbeitet hat. Ich bin ihm deßhalb nicht bös gewesen – im Gegentheil. Ich muß den Leuten sogar dankbar sein, die meine Ideen auf diese Weise popularisiren – ich kann mich zu Allem nicht auch noch auf den politischen Autor hinausspielen wollen. Findet man doch ohnedies schon, daß ich zu vielgeschäftig bin. Jawohl! Bei den Deutschen ist man immer zu vielgeschäftig, wenn man nicht, wie die Menge, die Hände in den Schoß legt und den lieben Gott einen guten Mann sein läßt. Nur daß der liebe Gott dann, so zu sagen, auch die Hände in den Schoß legt und den Menschen die Verantwortung für ihr Thun und Lassen zurückschiebt; den Deutschen also für ihr Lassen – für ihr laissez aller! und das faire dann in die Hände von Leuten kommt, die es derartig besorgen, daß man sich über das Alles nicht wundern - sich nur wundern kann, daß es nicht noch schlechter, noch miserabler geht. Ich will keine Namen nennen; aber wenn ich denke, daß ein gewisser Jemand berufen sein soll, was die Nation seit Jahrhunderten erstrebte, für sich allein durchzuführen, die Früchte tausendköpfiger Arbeit für sich allein einzuheimsen, bloß, weil die Nation nicht aus ihrem Schlendrian zu bringen war und achtundvierzig die rechte Zeit versäumte, wie sie sie noch immer versäumt hat - ah!“
Die neue Cigarre war längst ausgegangen und wurde abgestraft wie die erste. Dabei waren dem Leidenschaftlichen die Adern auf der breiten Stirn angeschwollen, die starke Unterlippe war wie in zorniger Verachtung weit vorgeschoben, die mächtigen Hände, die sich jetzt mit einer dritten Cigarre beschäftigten, bebten, und ich dachte schaudernd gewisser Sonette, die in den letzten Tagen meines Schullebens eine so verhängnißvolle Rolle spielten. Indessen hatte ich die beruhigende Empfindung, daß der hohe Herr (was ich auch sehr begreiflich fand) nicht sowohl für mich spreche, sondern, um zu sprechen, um sich Luft zu machen, und meine Zuhörerschaft eigentlich rein zufällig sei. Darüber aber sollte ich sofort eines Anderen belehrt werden.
„Sie denken natürlich über den gewissen Jemand, den ich nicht nennen will, sehr verschieden von mir,“ sagte er plötzlich, die harten blauen Augen zum ersten Male seit längerer Zeit wieder fest auf mich richtend.
Mir fing das Herz an zu schlagen. Sollte dies der Anfang eines Examens über meine politischen Ueberzeugungen sein? und wie würde ich in demselben vor dem hohen Herrn bestehen, der vielleicht dafür hielt, daß, was sich für einen Herzog wohl schicke, für einen Gelbschnabel, wie ich, höchst unschicklich sei? Nun, wie es werden mochte: ich war entschlossen, die Wahrheit zu sagen, und so räumte ich denn vor der Hand ehrlich ein, daß ich eine allerdings nur kurze Zeit lang für den gewissen Jemand geschwärmt habe, und daß, obgleich meine politischen Ueberzeugungen, wenn ich von denselben sprechen dürfe, nach einer ganz anderen Richtung gingen, ich doch die Genialität des Mannes und seine ungeheuren Verdienste um unser Volk willig anerkenne.
„Sie sagen mir da nichts Neues,“ erwiderte der Herzog. „Man hört das jetzt ja aller Orten, zumal von Euch jungen Leuten. Nun, wenn ich das Glück hätte, noch jung zu sein - man kann nicht jedes Glück zugleich haben: das der Jugend und der Einsicht, welche eben nur die Jahre und die Erfahrung bringen, wenn die Einsicht anders ein Glück ist und nicht vielmehr Schiller Recht hat, der das Wissen den Tod nennt. Ach, wie oft habe ich den Tod im Herzen gehabt in jenem Jahre des Sublime au Ridicule, des Heils und Unheils, der Weisheit und des Blödsinns - dem Jahre achtzehnhundertachtundvierzig! Und noch jetzt raubt mir das Gedenken daran den Schlaf der Nacht und tritt zu mir, trauervoll und vorwurfsvoll, mitten in den Geschäften des Tages. Gedenken zu müssen, daß des Volkes sehnlichstes Verlangen hätte gestillt werden können - schon damals, und in unendlich reicherem Maße als heut zu Tage! Daß die deutsche Macht und Herrlichkeit, des Vaterlandes Größe und Glück, wie es an der Wand der Paulskirche zu lesen war, reif stand wie ein wogendes Aehrenfeld, welches nur des Schnitters harrt, des starken Mannes, der auch die Garben gebunden und in der sicheren Scheuer geborgen hätte, dort die goldenen Körner zu gewinnen zur sättigenden Speise für die Gegenwart und fröhlichen Aussaat für die kommenden Zeiten! Und dieser Mann vorhanden war, man seine Hand nur zu ergreifen brauchte, die er den Suchenden weit entgegenstreckte! Und sie ihn doch nicht fanden, an ihm vorbeigingen, das Scepter drücken wollten in die schlaffe Hand Eines, der keines verstand von den Zeichen seiner Zeit, des romantischen Träumers! - Und nun selbst so weiter geträumt haben, bis Einer kam, der - nun ja: der allerdings kein Träumer ist! Das will ich ihm zugeben, aber auch weiter nichts; am wenigsten Genialität, die ihm alle Welt beimißt, auch Sie zu meiner Verwunderung, der Sie doch ein Künstler sind. Vielleicht sollte man von Genialität nur bei Künstlern sprechen; jedenfalls nicht bei Einem, der so wenig universell ist, daß er von Kunst auch nicht die leiseste Ahnung hat. Damit allein wäre er in meinen Augen schon gerichtet, auch wenn ich nicht tausend andere Gründe hätte. Der Regenerator des Volkes der Denker und der Dichter – ein Perikles müßte das sein; nun und nimmermehr ein amusischer Mensch. Genialität! So nenne man mir doch nur eine einzige Idee, von der man sagen könnte, sie sei aus dieses Menschen Kopf entsprungen! Wer hat denn die deutsche Einheit nicht gewollt? Stand auf dem Programm der Kleindeutschen nicht der Ausschluß Oesterreichs aus Deutschland? Auf dem des Nationalvereines die Hegemonie Preußens? Hat er nicht seine Ideen eine nach der anderen zusammengetragen von Justus Möser bis auf Lassalle? Von dem nicht zum wenigsten, beim Himmel! Die ganze Theorie von Blut und Eisen, die ganze Lehre von den sogenannten Rechtsfragen, die im Grunde Machtfragen sind - Alles, Alles können Sie bei Lassalle lesen in schönster, klarster, überzeugendster Auseinandersetzung. Ueberhaupt starb ihm der Mann sehr gelegen, der hätte ihm noch böse Nüsse zu knacken gegeben. Der genirte sich auch nicht und nahm die Mittel zu seinen Zwecken, woher er sie kriegen konnte. Und seine Zwecke waren die größten, die sich denken lassen, und die Jeder gelten lassen muß, er sei denn von dem Geiste seiner – unserer Zeit gänzlich verlassen: die Emancipation, die Vermenschlichung des vierten Standes, die Uebersetzung der papierenen Menschenrechte von 1789 in die Wirklichkeit des neunzehnten Jahrhunderts - mit einem Worte: die Zwecke und Ziele der Socialdemokratie, die ein Popanz ist, Kinder damit zu schrecken, wenn man sie nicht versteht, und die Heilslehre für alle Schäden dieser kranken Zeit, wenn man sie versteht. Aber es ist halb zehn, und ich muß Sie wegschicken.“
Ich erschrak; die Wendung war so plötzlich, hatte mich so jäh aus der wogenden Fluth der Gedanken gerissen, die des Mannes Rede in mir entfesselt. Denn wahrlich, ich hatte völlig vergessen, daß es ein Fürst war, der da in überquellender Empfindung, in Worten, die mir mit Lavagluth getränkt schienen, nur daß sie dahinstürtzten wie ein brausender Wildbach, so gesprochen. Ob für sich oder mich, was lag mir daran? Und nun sollte ich wieder den Fürsten in ihm sehen, der für mich doch eben nur ein Mann war. Vom Wirbel bis zur Sohle, jeder Zoll ein Mann, wie er da vor mir, der ich mich mit ihm erhoben, stand in herrlicher Kraft, hoch aufgerichtet das Haupt, in welchem so jugendfrische Gedanken flammten, während über den dünneren Scheitel schon der Rauhreif des Alters gezogen war!
Es ist nie schwer gewesen, mir meine Empfindungen vom Gesicht abzulesen; es mag in dieser Minute besonders leicht gewesen sein. Ich wollte etwas sagen, aber es kam kein Wort über die zuckenden Lippe. Ich wollte mich dankend auf seine Hand neigen, die er mir gereicht hatte, vermochte es aber nicht und blieb so in hilfloser Verlegenheit, die ihren Gipfel erreichte, als ich nun doch meine Hand zurückziehen wollte und sie von der seinen festgehalten fühlte – ein paar Sekunden lang, während sein Blick mit einem Ausdruck, der mich, ich wußte nicht warum, bis in das Mark durchschauerte, auf mir ruhte.
Dann fühlte ich meine Hand losgelassen, und wir waren aus der Nische in das Zimmer getreten. Ich hatte mich nun wenigstens so weit gefaßt, daß ich mich verbeugen und etwas von „den weiteren Befehlen Seiner Hoheit“ stammeln konnte, wie ich es vorhin von Weißfisch gehört.
Er schien einen Moment nachzusinnen, dann sagte er rasch und in einem ganz anderen Tone, als in welchem er vorhin gesprochen:
„Sie werden morgen das Nähere hören; für heute gute Nacht!“
Ich verbeugte mich abermals und ging nach der Thür.
„Noch Eines!“
Ich wandte mich; er stand bereits wieder am Schreibtisch und sagte das Folgende halb über die Schulter:
„Weißfisch hört von morgen an auf, Ihr Lehrer zu sein, wie Sie es vorhin wünschten. Den weiteren Gang Ihrer Studien werde ich selbst anordnen. Hoffentlich werden Sie Vertrauen zu mir, und ich denke, ich werde Freude an Ihnen haben. Jedenfalls will ich Sie in meiner Nähe wissen. Alles Weitere, wie gesagt, bis auf morgen. Gute Nacht!“
Ich stand in dem Vorsaal, mir das Haar aus der glühenden Stirn streichend, verwundert auf den Mann in Kniehosen blickend, der sich wiederholt vor mir verbeugte, und auf Weißfisch, der mich ganz verklärt anlächelte, ich wußte nicht warum. Dann begriff ich, daß der Mann in Kniehosen mir das Geleit bis zur nächsten Thür geben wollte, und stürzte nun davon so schnell, daß Weißfisch Mühe hatte, mir zu folgen.
Ich erinnere mich auch nicht, wie ich durch die Gemächer, Säle und Korridore in mein Zimmer zurückgekommen bin, wo ein Tischchen für mich gedeckt stand zu einem Nachtimbiß, bei welchem mir der eine Diener aufwartete. Ich hatte bis jetzt meine Mahlzeiten noch immer mit Weißfisch gemeinsam eingenommen und mich gewundert, daß nur für mich allein gedeckt war; Weißfisch aber, als ich darüber eine Bemerkang machen wollte, bat mich, einen bedeutsamen Blick nach dem Diener werfend, mit ein paar leisen Worten, es so geschehen zu lassen; worauf er mir mit zur Schau getragener Höflichkeit eine gute Nacht wünschte und sich entfernte. Ich wußte nicht, was ich von dem Allen denken sollte, und hätte gern Jemand gehabt, gegen den ich mein volles Herz ausschütten konnte. Dann war es mir doch wieder recht, daß ich allein war und bei einer Flasche herrlichen Weines weiter brüten und schwärmen durfte. Zuletzt stand ich noch lange am offenen Fenster, schaute auf die Stadt hinab, in deren Häusern ein Licht nach dem andern erlosch, wunderliche Träume träumend, lange bevor ich in dem Nebengemach das seidne Bett unter dem hohen Baldachin aufsuchte.
Ich war ja nur ein armer Bursch, der kein Heim hatte, keine verwandte Seele in der weiten Welt sein nennen durfte. Aber wenn ich mir an diesem Abend wie ein Prinz vorkam, der in sein väterlich Schloß zurückgekehrt ist nach langer kümmerlicher Wanderschaft in der Fremde, wer hätte es mir verargen können?
Ich hatte mich in meine prinzliche Herrlichkeit so hineingeträumt, daß ich, am nächsten Morgen erwachend, vor dem Lichtschein, welcher durch die heruntergelassenen Fenstervorhänge in das Zimmer fiel, die Augen unwillig schloß, um mich in dem seidenen Bette so behaglich weiter zu dehnen, als sei dies selbstverständliche Wirklichkeit, und ein gewisses schmales Lager auf einer harten verlegenen Seegrasmatratze in einem gewissen kleinen Hofstübchen, in das die Sonne im Hochsommer einmal ein paar letzte verlorene rothe Strahlen schickte – durch ein viereckiges, gardinenloses Fenster, vor dem ein halbkahler Kornelkirschbaum stand –, das sei ein halb verschollener Traum, den ich mit Fug nun ganz vergessen könne.
Ein leises Räuspern in meiner Nähe ließ mich die Augen wieder aufschlagen. Vor meinem Bett stand ein rundlicher kleiner Herr in weißer Kravatte mit einem Zettelchen in der Hand. Der Herr räusperte sich noch einmal, vermuthlich, um sich zu überzeugen, daß ich wirklich wache, verbeugte sich und theilte mir, flüchtig auf das Zettelchea blickend, in geschäftsmäßigem Tone mit, daß ich zu neun Uhr zum Frühstück bei Hoheit befohlen sei, Hoheit mich aber vorher ein paar Minuten in seinem Kabinet sprechen wolle. Anzug: Promenadenanzug. Für den übrigen Theil des Tages lägen keine Befehle vor, da Hoheit um zehn Uhr zu einem Jagdausfluge nach X. aufbrächen, von wo sie erst morgen Abend zurückkommen würden.
Hierauf abermalige Verbeugung, und der räthselhafte rundliche Herr war verschwunden.
Es sei der Oberhoffurier gewesen, belehrte mich mein Diener (so mußte ich ihn ja jetzt wohl nennen), der dann plötzlich an Stelle jenes im Zimmer war und die Vorhänge an den Fenstern zurückschlug; und was der Herr Hoffurier mir mitgetheilt, sei das „Programm des Tages" – für mich; es werde jedem der Herren Kavaliere, so weit ihre Obliegenheiten nicht schon anderweitig bestimmt seien, und den Gästen Seiner Hoheit jeden Morgen vor dem Frühstück ein solches Programm mitgetheilt. Es müsse bei Hofe eben Alles nach dem Schnürchen gehen, fügte der Mann mit respektvollem Lächeln hinzu, als wolle er um Verzeihung bitten, daß er sich die Freiheit dieser Aeußerung gestatte.
Der Mann entsprach seinem Namen: – „Holzbock, zu Befehl!“ hatte er auf mein Befragen geantwortet – ganz und gar nicht. Ich hatte nach zehn Minuten, während deren er mir trotz meines gelinden Sträubens beim Ankleiden half und die Sachen aus dem Koffer in die Kommoden packte und in die Schränke hing, das Gefühl, als ob er schon ebenso viele Jahre um mich gewesen sei: so ruhig zweckmäßig war sein Hantieren, so kaum bemerklich sein Kommen und Gehen, so verständig-ausgiebig bei aller gemessenen Knappheit sein Antworten auf mein mancherlei Fragen, unter anderem nach der Ursache eines überstarken Parfums in den Zimmern, welches ich bereits gestern Abend bemerkt und nur in meiner Erregung weniger beachtet hatte, das aber heute Morgen meine erfrischten Sinne empfindlich belästigte.
„Es haben schon mehrere Herrschaften darüber geklagt,“ erwiederte Holzbock; „es muß einmal einer von den Herren ein Patschuli-Flakon zerbrochen haben. Wir können es nicht herausbringen. Uebrigens haben sich alle Herrschaften bald daran gewöhnt,“ schloß er, wie zu meiner Ermuthigung oder Belehrung, mit seinem respektvollen Lächeln.
Die Zeit, wo ich mich zum Herzog zu begeben hatte, war schneller, als ich dachte, herangekommen, glücklicherweise führte mich Holzbock diesmal nicht den langen Weg von gestern Abend durch das Schloß, sondern einen viel kürzern über den Schloßhof und eine Hintertreppe hinauf unmittelbar in das Vorzimmer zu demselben Gemach, in welchem mich der Herzog gestern Abend empfangen hatte und in das ich jetzt ohne Weiteres – der Mann in den Kniehosen war heute nicht zugegen – einzutreten von Holzbock bedeutet wurde. Wenn Hoheit noch nicht drinnen sein sollte, so werde er doch alsbald kommen.
Der Herzog war noch nicht drinnen, und so durfte ich mich denn mit einiger Muße in dem Gemach umschauen. Es war doch bedeutend geräumiger, als es mir gestern Abend in dem Lampen- und Kerzenlicht erschienen war: dunkle Tapeten, ein schwärzliches Eichenholzpannel welches bis fast zur Hälfte der Wandhöhe reichte, mehrere braune Schränke, zwischen und über denen angebräunte Bilder in mächtigen Goldrahmen hingen und hier und da eine Marmorbüste, auch wohl eine ganze Figur in halber Größe auf Konsolen und Postamenten placirt waren. Die hohe Stuckdecke hatte in den vier Ecken Medaillons mit Jagdemblemen; auf dem großen Oval in der Mitte trieb eine speerschwingende, von ebenfalls speerschwingenden Nymphen begleitete Diana einen Hirsch vor sich her, an welchem die Hunde emporsprangen. Auf den Tischen und Börten standen so viel Kunst- und andere Gegenstände, dergleichen mein Auge, auch in den Prunkgemächern von Nonnendorf, nie beisammen gesehen, wie denn auch sonst die kostbarste Ausstattung dort mit dieser hier den Vergleich nicht aushielt. Ich hätte glauben können, in einem mir völlig fremden Raume zu sein, nur daß mich die Nische mit dem Sopha und dem Marmortischchen davor, auf welchem wieder das Ebenholzkästchen mit den widerspenstigen Cigarren, der große silberne Aschbecher und der silberne Leuchter mit der rothen Kerze standen, an gestern Abend erinnerte und den seltsamen Mann, welcher der Besitzer all dieser Herrlichkeiten und ein Herzog war und für Socialdemokratie schwärmte.
Ich hörte ein Geräusch hinter mir. Als ich mich umwandte, trat er eben durch eine schmale Tapetenthür, welche ich vorher nicht bemerkt hatte, im Jagdkostüm: geschmeidigen Stiefeln aus braunem Leder, die ihm bis zur Mitte der kräftigen Schenkel reichten, und brauner Joppe – ritterlicher noch als gestern, aber um mehrere Jahre älter, wie mir schien, und mit etwas wie einer Wolke auf der breiten Stirn und über den Augen, deren gläserne Härte ebenfalls stumpfer war als gestern im Lampenlicht. Dennoch lächelte er, als er mir die Hand reichte und mich fragte, wie ich geschlafen habe?
„Im Volksmunde, Hoheit, sagt man: wie ein Prinz,“ erwiderte ich.
Ich weiß nicht, ob die Antwort nicht förmlich genug war; es ging wie ein Zucken über sein Gesicht, und aus den gläsernen Augen schoß es wie ein Blitz. Im nächsten Moment lächelte er bereits wieder und sagte:
„Nun, zu einem Prinzen kann ich Sie freilich nicht machen; aber doch zu etwas Rechtem, und das vielleicht besser ist. Ich wollte heute Morgen ausführlich mit Ihnen sprechen - ich hatte zu viel Anderes zu erledigen. Nur so viel: bis ich mich entschieden habe, bleibt das Theater in suspenso, und ich bitte Sie, über Ihre schauspielerischen Aspiratronen mit Niemand zu sprechen; hören Sie wohl: mit Niemand, außer mit Frau von Trümmnau, einer Dame, die, wenigstens vorübergehend, zu meinem Hofe gehört und der Sie noch im Laufe des Tages werden vorgestellt werden. Ich habe mit der Dame, die mein volles Vertrauen genießt, über Sie kommunicirt. Sie dürfen annehmen, daß, was sie Ihnen sagen wird, von mir selbst gesagt ist. Außerdem werde ich Sie jetzt beim Frühstück mit Baron von Renten bekannt machen, einem meiner Kavaliere, der hernach mit Ihnen einige Visiten, unter anderen bei Frau von Trümmnau, machen, Sie überhaupt ein wenig auf dem Ihnen fremden Terrain orientiren soll. Sie werden einen charmanten Mann an ihm finden; und ich wünsche, daß Sie ihm Ihr Vertrauen in dem vollen Maße schenken, in welchem er es verdient. Kommen Sie!“
Er schritt mir voran durch eine Thür auf der anderen Seite in den Raum nebenan, in welchem ein runder Tisch mit drei Kouverts gedeckt war. Ein Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren, dessen kleiner runder Kopf mit einer üppigen Fülle kurz geschorner blonder Löckchen, wie mit einer Perrücke, bedeckt war, und aus dessen rundem rosigen Gesicht ein paar runde blaue, etwas hervorstehende Augen gar freundlich blickten, trat, sich tief verbeugend, an den Herzog heran, der ihm die Hand reichte und mit halber Wendung zu mir sagte: „Herr Baron von Renten! – Dies, lieber Renten, ist mein junger Protégé, über den ich mit Ihnen gesprochen habe und den Sie ein wenig unter die Flügel nehmen werden: Herr Lothar Franc.“
„Es wird mir eine Freude und eine Ehre sein,“ sagte Herr von Renten, mir die Hand reichend.
Ich verbeugte mich stumm und verlegen, denn ich fühlte, daß mir die helle Gluth in das Gesicht geschlagen war, als der Herzog mich nicht mit dem Namen des Vaters, sondern meiner Mutter vorstellte. Hatte ihm Weißfisch nur diesen Namen angegeben, oder die beiden Namen? und war es im letzten Falle von seiner Seite eine Verwechselung, oder war es Absicht? Durfte ich den mir lieben Namen des Vaters, mit dem ich bis jetzt noch von Jedermann genannt worden war, reklamiren? Mußte ich den andern, der so bittere Gefühle in mir wach rief, nachdem er einmal von den Lippen des Herzogs gekommen, als etwas Unvermeidliches hinnehmen?
Natürlich entschied ich mich für das Letztere, aber über den bangen Zweifeln war mir mein bischen Sicherheit und Unbefangenheit völlig verloren gegangen, zumal mir auch heute der Herzog viel mehr Herzog schien, als gestern: nicht mehr der warmherzige, geistreich-gesprächige Mann, sondern der souveräne Herr, der sich, trotz aller Höflichkeit und seinem: bitte unterthänigst, lieber Renten, die Sache verhält sich so und so – der unermeßlichen Kluft zwischen ihm und seiner Umgebung in jedem Momente bewußt blieb und es ganz gewiß auf der Stelle streng geahndet hätte, wäre es Jemand beigekommen, seinerseits die Kluft zu übersehen. Ja, wenn ich jetzt beobachten mußte, mit welcher Vorsicht Herr von Renten sich im Gespräch bewegte, wie klüglich er seine Worte setzte, wie sehr er sich jeden Augenblick bereit zeigte, eine Behauptung zu modificiren oder ganz zurückzuziehen, sobald er merkte, daß sein Gebieter anderer Ansicht war, und der Keckheit dachte, mit der ich gestern Abend dem hohen Herrn gegenüber getreten war und mit ihm gesprochen hatte, durfte mir wohl der bekannte Reiter über den Bodensee in warnende Erinnerung kommen.
So saß ich stumm da, während die Diener in schier lautloser Geschäftigkeit die Speisen servirten und der Kavalier dem Herzog, der sich zuerst über verschiedene Jagd-Themata erging, bescheiden und geschickt sekundirte. Dann war, ich weiß nicht wie, das Gespräch auf den Krieg gerathen, in welchen Herr von Renten den Herzog begleitet hatte, und plötzlich wurde in irgend einem Zusammenhang der Major von Vogtritz genannt. – „Ein tüchtiger Officier und guter Generalstäbler,“ sagte der Herzog, „bei dem es nur schade um die romantischen Velleitäten ist, mit denen er sich und anderen Leuten das Leben sauer macht. Mir ist das ein Gräuel. Diese Deutschthümelei, in welcher der gute Vogtritz schwelgt, ist doch nur ein Chauvinismus ad usum Germanorum. Sie hat sich nach den Freiheitskriegen breit gemacht und wird sich jetzt wieder breit machen. Damals brachte sie das ungeschorene Teutschthum mit den umgeklappten Hemdkragen auf die Bahn, die dann selbstverständlich in die öde Reaktion der zwanziger und dreißiger Jahre ausmünden mußte. Welche Formen sie heute annehmen wird – nun, man braucht gerade kein Prophet zu sein, um das vorauszusehen. Jedenfalls werden sie alle mit dem Kachet eines gewissen Jemand gezeichnet sein. Nationalitätsprincip! Nun ja, das ist eine schöne Sache, eben so wie, daß jeder Mensch seine eigene Nase im Gesicht hat; aber wenn kein Mensch über seine eigene wohllöbliche Nasenspitze hinauszublicken vermag, so ist das ein schlimmes Ding, denn die nothwendige Folge ist, daß sie fortwährend an einander rennen und sich blutige Köpfe holen. – ,Bohrt Ihr mir einen Esel? – Ich bohre einen Esel!‘ – und der Skandal ist fertig, mag Verona darüber zu Grunde gehen. Nun vielleicht, daß Europa diesen Nationalitätsschwindel durchmachen muß, den Louis Napoleon, mein sehr würdiger Freund, wenn nicht erfunden, doch in die Mode gebracht hat. Er war ja immer der Hecht im Karpfenteich und der stets verneinende Geist, der doch am Ende das Gute schaffen, zum wenigsten schaffen helfen mußte. Es ist damit wie mit den Kinderkrankheiten. Sie sind an sich nicht gut, aber wer sie gründlich absolvirte, hat die Anwartschaft auf ein gesundes Mannesalter. Das Nationalitätsprincip ist und bleibt in meinen Augen Schaukelpferdreiterei, das nicht aus der Stelle bringt. Vielleicht lernt aber der dumme kleine Kerl dabei auf einem wirklichen Pferde sitzen, das denn freilich etwas schwerer zu regieren ist: Lassalle’sche Arbeiterbataillone lassen sich nicht so leicht drillen wie pommersche Rekruten. Aber, Ihr Herren, ich rede mich hier fest, und der Zug wartet schon auf mich. Gesegnete Mahlzeit! Amüsiren sich die Herren besser, als ich es jedenfalls thun werde!“
Er hatte Jedem von uns die Hand gereicht und, mächtig in seinen hohen Jagdstiefeln ausschreitend, das Gemach verlassen.
„Ist er nicht bewunderungswürdig?“ sagte Herr von Renten mit einem starren Blicke der blauen Puppenaugen auf die Thür, durch welche der Herzog verschwunden war. „Und Alles aus dem Handgelenk! Be-wun-derungswürdig!“
Ich blieb stumm, nicht sowohl der Diener wegen, in deren Gegenwart mir dieses Rühmen des Gebieters nicht ganz schicklich schien, sondern weil mir im Geiste nachging, was er von dem Major von Vogtritz gesagt hatte. Romantische Velleitäten! Deutschthümelei! – Reaktion! War’s das? der Schatten, der mir von Anfang an auf dem theuren Bilde gelegen hatte; der in der Zeit meiner Kriegsbegeisterung wohl verbleicht und doch nicht ganz geschwunden und seitdem wieder stärker und dunkler hervorgetreten war? Ich hatte es einen Verrath gescholten, den ich an meinem Ideale beging. Wie aber, wenn die Liebe zu diesem Ideale der wahre Verrath, der Verrath an meinem wirklichen Ideale war? Ich konnte es nicht herausbringen.
[290] Und brachte es auch nicht heraus in den Stunden, die ich nun mit meinem neuen Mentor verlebte, und der freilich, wie ich bald merkte, der letzte Mensch war, mit dem ich dieses oder irgend ein anderes Problem nur hätte berühren können – von einer Verhandlung mit Aussicht auf eine glückliche Lösung unter seinen Auspicien gar nicht zu reden. Denn er selbst redete nur „Chiffons“ – ein Ausdruck, den ich damals freilich nicht kannte, während ich die Sache selbst durch ihn an diesem Tage kennen lernte.
Baron von Renten, das in Gegenwart seines Gebieters so klug schweigsame Herrchen, war mir gegenüber von einer unerschöpflichen Redseligkeit und jeden Augenblick bereit, über irgend etwas, das in seinem Bereiche lag, einen längeren Vortrag zu halten, der leider nur nie zu Ende kam. Denn da er von den vielen kleinen Dingen, mit denen er hantirte wie ein spielendes Kind, keines länger als eine Minute festhalten konnte, um sofort nach einem andern zu greifen, gerieth er immer von dem Hundertsten in das Tausendste: fing mit der Beschreibung einer von ihm verbesserten Brennscheere an und endigte bei der Schlacht von Sedan. Nicht mit einer Schilderung der Schlacht, die in weiter Ferne vergrollen mochte, während er im Vordergrunde an der Seite seines gnädigen Herrn zu Pferde auf einem Hügel hielt und seufzend seinen linken Stulpstiefel betrachtete, mit dem er, ich weiß nicht wie, in einen Morast gerathen und der in Folge dessen bis an den Rand mit einer grauen Schlammkruste bedeckt war, während der rechte „blitzblank“ geblieben – „wie ein Kanonenrohr – auf mein Wort! wie ein blitzblankes Kanonenrohr! Und dabei konnten jeden Augenblick die anderen höchsten und allerhöchsten Herrschaften kommen! Es war ridicule! Moltke, der mit seinem Stabe vorbeikam und ein paar Minuten bei uns hielt, hat so gelacht!“
Herr von Renten mußte bei dieser tragikomischen Erinnerung selbst wieder lachen, wobei er unter dem blonden, an den Ecken in die Höhe gezogenen Schnurrbärtchen zwei Reihen blendend weißer Zähne nicht ungern zeigte. Alle Rentens hatten blendend weiße Zähne, ein Spiel der Natur, das in so fern sehr scherzhaft war, als die „von Renten“ von ihren Renten eben nicht leben könnten, und Einer und der Andere für seine Zähne sozusagen nichts zu beißen habe. Aber dann hatte er, Fredo von Renten, ein Zahnpulver erfunden, ein aromatisches, alle Damen und Herren vom Hofe bedienten sich desselben, auch der Herzog! „Haben Sie seine prachtvollen Zähne nicht bewundert? Ich erinnere mich bei einer Hirschjagd im letzten Herbst – à propos! Wissen Sie, weßhalb Hoheit heute Morgen in so ungnädiger Laune war? Denn, entre nous, er war es und in einem hohen Grade. Haben Sie gesehen, wie er in den Trüffelpastetchen stocherte? Das ist immer ein schlimmes Zeichen. Gerade diese Pastetchen! Ich habe das Recept davon an die Gräfin Gernsrode geben müssen. Sie behauptet, sie würde wieder jung bei den Pastetchen! Notabene, sie kann es brauchen – entre nous! Aber Sie sagten mir noch immer nicht, ob Sie Jäger sind? Nein? schade! aber das lernt sich – bei uns! Ich gestehe, ich bin selbst kein guter Schütze. Aber Sie reiten doch? Nein? nun, Sie sind noch nicht zu alt dazu, es zu lernen. Allerdings: reiten und Billard! Man ist entweder dazu geboren, oder man ist es nicht. Aber Sie sind’s! auf mein Wort! wollen Sie pariren?“
Himmel! in welche Hände war ich gerathen? Was hatte sich der Herzog dabei gedacht, als er in dem Labyrinth mir völlig fremder Verhältnisse, in welchem ich mich orientiren sollte, mir diesen zum Führer gab, unter dessen Händen mit den perlgrauen Handschuhen der leitende Faden in jedem Augenblick zerriß? War es da ein Wunder, daß ich bei den vier oder fünf Besuchen, die ich mit ihm machen mußte, niemals recht wußte, bei wem wir uns denn nun eigentlich befanden: ob bei Excellenz von Wallenfels, dem Oberhofmarschall; oder bei Excellenz von Brixen, dem Oberhofjägermeister; oder bei dem Herrn Geheimen Kabinetsrath Iffelberger; oder bei dem Herrn Geheimen so und so von Kniffling? Ich wußte so wenig, warum er mich zu dem einen, als warum er mich zu dem andern brachte. Aber der eine dieser Herren war so höflich und zuvorkommend gegen mich wie der andere, und auf dem Wege von einem zum andern kamen wir durch so interessante Straßen mit so altersgrauen Häusern; durch so hübsche Gärten mit schönen Blumen, ein paarmal auch durch den Park mit seinen weiten Wiesenflächen und den prachtvollen Bäumen; dazu schien die Vormittagssonne so hell vom blauen Sommerhimmel, an dem hier und da schneeweiße Wolken unbeweglich standen; schließlich war die ganze Lage, in die ich mich so plötzlich versetzt sah, so völlig anders, als ich sie mir gedacht hatte, so – Alles in Allem – wundersam, das Gemüth mit seltsamen Eindrücken und noch seltsameren Ahnungen füllend – ich hätte wahrlich weniger jung sein müssen und meine Vergangenheit weniger dunkel, wenn ich mich der Gegenwart nicht hätte freuen und der Zukunft mit einer keineswegs unerfreulichen Spannung hätte entgegensehen sollen.
Wieder einmal waren wir in ein Stück des Parkes gelangt und schritten auf eine Villa zu, die ich schon längere Zeit durch die Bäume hatte schimmern sehen und von der uns nur noch ein breiterer Vorgarten trennte.
„Zu wem diesmal?“ fragte ich heiter.
„Aber zu Frau von Trümmnau!“ erwiderte mein Mentor, die Klingel an der Pforte ziehend und erstaunt die blauen Puppenaugen auf mich heftend.
„Ja so, Frau von Trümmnau!“ sagte ich. „Wenn ich nicht irre, hat der Herzog mir von ihr gesprochen.“
„Wenn Sie nicht irren!“ rief mein Mentor ganz erschrocken, „Aber, Bester, wie kann man in solchen Dingen irren! Natürlich hat Hoheit zu Ihnen von Frau von Trümmnau gesprochen.“
„Und wer ist Frau von Trümmnau?“
Herr von Renten antwortete nicht sogleich, sondern betrachtete den etwas bestaubten Lackstiefel, auf dessen Spitze er mit dem Elfenbeinstöckchen leise klopfte, höchst nachdenklich, als wäre es der famose Kanonenstiefel aus der Sedaner Schlacht. Plötzlich hob er den Kopf und blickte mich so forschend ausdrucksvoll an, wie blaue Puppenaugen nur immer blicken können.
„Sie wissen es also nicht?“
„Was?“
„Weißfisch hat nichts gesagt?“
„Wenn Sie nur die Güte haben wollten, anzudeuten, was er gesagt haben soll!“
„Hier ist andeuten so viel wie Alles sagen. Ich habe es nicht in meiner Instruktion – ich muß es auf meine eigene Verantwortung nehmen – indessen, da Sie es von Jedermann erfahren können, zweifellos an einem der nächsten Tage erfahren würden – es ist vielleicht besser, Sie erfahren es von mir. Aber bitte, Ihr Wort, daß Sie es nicht von mir erfahren haben!“
„Ich versichere Sie –“
„Gut. Also Frau von Trümmnau ist die Gemahlin unseres früheren Gesandten in Petersburg; er ist jetzt im Süden – seine Gesundheit ist sehr angegriffen; sie wird den Sommer über bei uns bleiben.“
„Das ist doch nichts so Merkwürdiges,“ erwiderte ich. „Viel interessanter ist mir, was mir jetzt einfällt, daß der Herzog mir befohlen hat, ich solle, was mir die Dame, die sein volles Vertrauen habe, sagen würde, als von ihm selbst gesagt betrachten.“
„Haben Hoheit das befohlen?“ rief mein Mentor, dessen Augen jetzt wirklich kreisrund waren. „Nun, dann darf ich es wohl wagen.“
Er ließ die Blicke nach allen Seiten schweifen, obgleich kein Mensch in unserer Nähe war, neigte seinen blonden Schnurrbart dicht an mein Ohr und sagte flüsternd:
„Frau von Trümmnau ist seine Tochter.“
Ich gestehe, daß mir bei dieser Mittheilung das Lächeln, mit welchem ich der geheimnißvollen Offenbarung entgegen gesehen hatte, auf den Lippen erstarb. Glücklicher Weise blieb zu einer Erwiderung meinerseits keine Zeit, denn in diesem Momente erschien auf der Veranda der Villa eine Dame in weißem Kleide, die sich mit beiden Armen auf die Brüstung lehnte und mit heller lustiger Stimme herüberrief:
„Aber Renten, sind Sie denn da festgewachsen? Ich beobachte Sie nun schon seit einer Viertelstunde. Wollen Sie wohl machen, daß Sie hereinkommen!“
Wir schritten durch den Vorgarten; Renten, welchen der Ruf der Dame zur Eile angetrieben, etwas schneller als ich, der ich im Gegentheil nach der seltsamen Mittheilung am liebsten umgekehrt wäre, ohne daß ich zu sagen gewußt hätte, warum. Die Dame war, uns erwartend, jetzt auf die oberste Stufe des Treppchens getreten, welches an der Schmalseite zur Veranda führte, und das Renten bereits hinaufgehüpft war, als ich am Fuße anlangte. Er küßte ihr lebhaft die Hand, was sie geschehen ließ, ohne sich zu ihm zu wenden, oder auf seine Bitte um Entschuldigung, daß er die gnädige Frau nicht sofort bemerkt habe, etwas zu erwidern. Der Blick ihrer dunklen Augen war fest auf mich gerichtet, der ich langsam die Stufen hinaufstieg, mich bereits dicht vor ihr befand und nun, da sie weder Miene noch Haltung veränderte, ein paar Stufen unter ihr stehen blieb, verlegen und verwundert über diesen Empfang, dessen ich nach dem lustig und freundlich klingenden Anrufe von vorhin nicht gewärtig war. So blickten wir uns ein paar Momente einander an, ich so regungslos wie die Dame, mit jedem Momente verlegener und verwunderter. Auf einmal war der Ausdruck des Gesichtes da vor mir verwandelt, wie wenn die Sonne über einen Garten scheint, der eben noch in ernstem Schauen lag, und die Blumen auf den Beeten erglänzen, den Rasen schimmern, die Vögel in den Bosketts singen macht. So lieblich erhellten sich die braunen Augen; so reizend spielte ein Lächeln über die rosigen Wangen, in denen zwei Grübchen sich vertieften, um die schwellenden Lippen, zwischen denen die Perlenzähne schimmerten; so freundlich klang die helle Stimme, mit der sie mich „schönstens willkommen“ hieß, indem sie mir zugleich eine kleine, weiße, reich beringte Hand reichte.
Der Uebergang war so plötzlich gewesen, daß ich meinen Gleichmuth noch keineswegs wieder erlangt hatte. Als wir bereits in dem Salon, aus dem sich die breite Fensterthür nach der Veranda öffnete, auf niedrigen Fauteuils behaglich plaudernd saßen. Renten gab in seiner Weise eine Relation unserer morgendlichen Erlebnisse, welche dadurch noch konfuser wurde, daß Frau von Trümmnau ihn alle Augenblicke lachend unterbrach. Mir blieb so glücklicher Weise die Zeit, mich in die Situation zu finden und vor Allem die reizende junge Dame – sie mochte wenig über zwanzig sein – immer wieder und mit erhöhter Lust zu betrachten. Ja, es war eine Lust; schon um der Lustigkeit willen, die ihr ganzes Wesen zu durchdringen schien, wie die Sonne einen Thautropfen, und in bunten, schimmernden, immer wechselnden und immer gleich reizenden Farben von ihr ausstrahlte. Man brauchte nicht zu wissen, worüber sie ihr kurzes silberhelles Lachen aufschlug – man mußte mit fröhlich werden. Und wenn sie nun selbst das Wort nahm und zu plaudern begann, so klang das wieder so silberhell und fröhlich, wie das Plätschern des Baches, der den Wiesenrain hinabhüpft. Zu dem freudigen Leben, das in ihr pulsirte und an dem man unwillkürlich seinen bescheiden frohen Antheil nehmen mußte, stimmte ihre Erscheinung, als sei auch sie nur ein Akkord in der fröhlichen Melodie: der Kopf nicht klein, aber von herrlich reinster Form, Hals, Hüfte, Arme bei aller augenscheinlich gesunden Kraft und Fülle von herrlichstem Ebenmaß; die ganze kaum mittelgroße Figur wohlgefügt und in allen Gliedern beisammen, daß keine Bewegung vereinzelt, sondern immer das ganze entzückende Geschöpf sich mit zu regen und zu bewegen schien, wie ein durch das Wasser gleitender Fisch.
Ich merke, daß ich, um meine Empfindung zu erläutern, aus einem Gebiete der Natur in das andere gerathe. Aesthetisch ist das wohl nicht berechtigt, aber verzeihlich für Jemand, der zu schildern versucht, was ihm in dem Augenblick als eine Offenbarung der schönen Natur, ja als die Quintessenz aller schönen Natur erschien und so in seiner dankbaren Seele geblieben ist.
Und während das in jenem Augenblick immer klarer in meiner Seele aufging und ich mich ohne Widerstand (der auch schwerlich genutzt haben würde) einem Eindrucke, wie ich ihn nie empfunden, hingab, vergaß ich darüber völlig die inhaltschwere Mittheilung, welche mir Herr von Renten beim Betreten des Gartens gemacht hatte; oder, wenn ich daran dachte, war es nur ein Ferment mehr in dem Sonderbaren, das da in meinem Herzen vorging und von mir, ohne daß ich ihm einen Namen geben konnte oder auch nur wollte, als etwas ganz einzig Köstliches empfunden wurde. Wenn sie einen Herzog zum Vater hatte, was lag daran? vor Allem, was lag mir daran, der ich gestern in dem Herzog nur den geistvollen Menschen verehrt, und heute Morgen, als sich in dem Menschen der Herzog aufreckte, nur eine Abminderung der Verehrung verspürt hatte! Und daß des Herzogs Tochter, wie ganz augenscheinlich, in der Fülle des Glückes und des Reichthums lebte, auf Höhen der Gesellschaft, in denen ich immer nur ein verflatterter Vogel sein würde – ich gönnte der Schönen, Lieben von Herzen die Sternenpracht, die ich nie begehrt hatte, und die je zu begehren mein guter Genius mich in Gnaden behüten mochte!
In solche Betrachtungen und Empfindungen war ich so versunken, daß ich verwundert aufblickte, als Renten sich plötzlich erhob. Vermuthlich hatte ich den letzten, in der That leiser geführten Theil ihrer Unterhaltung gar nicht mehr gehört, denn die schöne Frau sagte:
„Also, es bleibt dabei! Sie machen jetzt Ihre anderen Besuche, bei denen Sie unseren jungen Freund nicht brauchen, und er bleibt, wenn es ihm recht ist, so lange bei mir, bis Sie ihn wieder abzuholen kommen. Ich bitte mir aber aus, daß das nicht vor einer Stunde geschieht – wenn ich bis dahin mit den verschiedenen Anliegen, die ich an ihn habe, fertig werde.“
Mein blonder Mentor war davongetänzelt, nachdem er seiner „gnädigen Gönnerin“ ehrfurchtsvoll die Hand geküßt und mir von der Verandathür aus einen verbindlichen Gruß mit den Fingerspitzen zugeweht hatte. Ich stand noch vor meinem Stuhle; die schöne Frau, die sitzen geblieben war, spielte, in den Schoß blickend, mit ihren Ringen. Ein lebhafteres Roth, als ich es vorher bemerkt, lag auf ihren sammetnen Wangen, über welche die langen dunklen Lider fielen. Der liebliche Busen hob und senkte sich. Es mußte sie irgend etwas innerlich lebhaft beschäftigen; es war, als hätte sie meine Gegenwart gänzlich vergessen. Die Verlegenheit, welche ich glücklich überwinden zu haben glaubte, wollte sich wieder in mir regen; aber ich erschrak ernstlich, als sie, die Augen langsam aufschlagend, mich mit einem Blick ansah, dessen warme, liebevolle und doch, wie mir schien, von Wehmuth oder Trauer umflorte Herzlichkeit unmöglich mir gelten konnte. Aber wem? da doch Niemand sonst im Zimmer war? Und jetzt sahen die schönen Augen auch schon niederwärts, und sie sagte, während die Gluth auf ihren Wangen erblich, mit bebender Stimme:
„Der Herzog hat mir so viel Gutes von Ihnen gesagt, mir so viel Interessantes und Rührendes aus Ihrem Leben erzählt. Ich freue mich wirklich recht sehr, daß Sie bei uns sind.“
Ich stammelte etwas von allzu großer Güte, und daß mein Leben bis jetzt so arm und einsam gewesen sei – ich könnte nicht begreifen, wie der Herzog, wie sie selbst daran ein Interesse nehmen könnte.
Sie athmete tief auf und erhob sich plötzlich.
„Kommen Sie,“ sagte sie; „wir wollen ein wenig in den Garten gehen. Es ist da um diese Stunde so schön und es plaudert sich da so gut. Ich möchte gern mit Ihnen so recht von Herzen plaudern.“
Sie schritt mir voran durch einen zweiten Salon, der sich nach dem hinter dem Hause gelegenen Garten öffnete, welcher bedeutend größer war, als der vordere: zuerst ein offenes Rondel mit vielen schönen Blumenrabatten und einem von großen Blattpflanzen umgebenen Springbrunnen in der Mitte; dann Bosketts, durch die verschlungene Pfade zu einem Wäldchen leiteten, dessen dichtbelaubte breitkronige Bäume selbst in dieser Mittagsstunde den köstlichsten kühlsten Schatten spendeten.
Hier ließ die holde Frau meinen Arm los und bat mich, auf einem bequemen Gartenstuhle Platz zu nehmen, während sie sich mir gegenüber auf eine Bank setzte, neben der ein Tischchen mit einem Arbeitskörbchen stand, aus welchem sie eine feine Stickerei nahm.
„Es plaudert sich besser so,“ sagte sie.
Und sie begann zu plaudern, ich weiß nicht mehr recht über was, das im Grunde auch nur „Chiffons“ sein mochte, aber mir aus diesem reizenden Munde gar nicht so erschien. Und dann, ich weiß wieder nicht wie, waren wir aus der Plauderei in ein ernsthaftes Gespräch gerathen; oder vielmehr, ich war es, der eigentlich allein sprach und ihr erzählte von meinem vergangenen Leben, von dem alten Hause in der alten Stadt und dem lieben Vater und von meiner Mutter und meinen Freunden. Und wenn ich einmal aufhören wollte und meinte, das könne sie doch gar nicht interessiren, sah sie mich mit den klaren braunen Augen treuherzig an und sagte eifrig: „Doch, doch! es interessirt mich! Alles! weiter, weiter!“ Und ich erzählte weiter, weiter, so daß nach einer Stunde – es kann aber auch länger gewährt haben, ich weiß es nicht; mir war, als träumte ich das Alles, was ich erzählte – das Buch meines Lebens – ein paar Kapitel ausgenommen – offener vor ihr lag, als es wohl jemals vor mir gelegen hatte. Und auch was jene Kapitel betraf, die ich geflissentlich überschlagen, so fiel mir allmählich auf, daß sie aus denselben – der letzten Zeit: von dem Aufenthalt in Nonnendorf an bis zu meiner Flucht – nicht den intimen Zusammenhang, aber doch Manches wußte, wovon ich nicht begreifen konnte, wie sie es wissen könne, bis ich sie zuletzt geradezu danach fragte. Sie erröthete und lachte und wollte nicht recht mit der Sprache heraus, und endlich: „Nun, es ist besser, wenn ich es Ihnen sage. Sie haben in der ganzen letzten Zeit nicht einen, sondern zwei Spione um sich gehabt: einen Oberspion, den Weißfisch selbstverständlich, der in seinem Solde einen Unterspion hatte, einen Geigenmacher – einen gewissen Streben, wenn ich nicht irre.“
„Ganz recht,“ sagte ich, „Ernst Streben. Er hatte von Herrn Israel, der mich großmüthig in meiner alten Stube gelassen hatte, die Parterreräume des sonst leer stehendem Hauses und die Werkstatt des Vaters abgemietet: ein Mensch, dem ich immer sorgsam aus dem Wege gegangen bin, wie er denn auch sonst in der ganzen Stadt verrufen war, obgleich ich ihn freilich immer mehr für verrückt als für schlecht gehalten habe.“
„Und der doch gar nicht so verrüekt sein kann,“ sagte die schöne Frau lächelnd, „wenigstens hat er seinen Auftraggeber, den Weißfisch, so ziemlich au courant gehalten. Ich will Ihnen nur gestehen, Weißfisch hatte schon von Nonnendorf aus an den Herzog geschrieben, daß er ein ausgezeichnetes Theatertalent entdeckt habe, und vom Herzog den Auftrag bekommen, Alles daran zu wenden, daß uns diese Acquisition nicht entgehe. Sie hatten in Nonnendorf Weißfisch auf seine Insinuationen und Lockungen mit einem so entschiedenen Nein geantwortet, daß er vor der Hand abbrechen zu müssen glaubte, bis er zu gelegener Zeit seine Künste wieder spielen lassen könnte. So ließ er Sie denn durch den Streben, mit dem er in seinem vielbewegten Leben früher zusammengetroffen und immer in Verbindung geblieben war, beobachten. Von Ihrem Kriegsfieber hat er wirklich nichts erfahren, oder er würde schon damals einen verzweifenen Versuch gemacht haben, der jedenfalls an Ihrem festen Entschluß, ins Feld zu ziehen, kläglich gescheitert wäre. Dann kam Ihre Verwundung, und alles schien verloren, bis der Streben schrieb, die Sache sei gar nicht so schlimm, dafür aber Ihre Situation der Art, daß er sicher glaube, Weißfisch könne es jetzt wagen.“
„Aber das ist empörend!“ rief ich in keineswegs gespielter Aufregung.
„Ich finde es eigentlich auch,“ sagte die liebe Frau mit einem Erröthen, für das ich bereitwillig den Antheil, den sie möglicherweise an dieser Intrigue gehabt hatte, im Voraus vergab. „Aber was wollen Sie? Wenn der Herzog sich einmal Etwas in den Kopf gesetzt hat, so muß das ausgeführt werden, mag’s nun biegen oder brechen. Und die Lorbeeren, die man in unserer Nachbarresidenz auf dem Theater pfückt, lassen ihn schon lange nicht schlafen, obgleich er die ganze Kunstwirthschaft dort mit dem grausamsten Spott verfolgt. Mit drei oder vier guten Künstlern, wenn ich sie nur hätte, pflegt er zu sagen, wollte ich den ganzen dortigen Blechkram aufwiegen. Nun kommt Weißfisch, dem er unbedingt vertraut, und sagt: ich habe wenigstens Einen. Das Uebrige können Sie denken. Wenn Sie zu den Zeiten jenes Preußenkönigs – wie hieß er doch nur gleich? – gelebt hätten, würden Sie mit Ihrer langen und schlanken Figur vielleicht für die Potsdamer Garde gepreßt sein. Da ist es denn doch besser, daß Sie zu uns gekommen sind. Gelt?“
Und sie streckte mir, nun wieder mit dem alten herzerquickenden Lachen, die kleine feste Hand entgegen, die ich in meiner erregten Stimmung kräftiger drückte, als es meine Absicht war.
„Was ist denn groß an mir gelegen!“ rief ich. „Ich wußte längst, daß mein Lebenslos außerhalb des Kreises gefallen ist, in welchem die Menschen in hergebrachter Weise ruhig und behaglich wohnen, und auf einen Umweg oder Irrweg mehr kommt es nun schon gar nicht an, zumal ich eben in jenem Augenblick keinen Ausweg aus der Verstrickung und dem Wirrsal meiner Lage sah. Nein, das ist es nicht, was mich jetzt bedrückt und quält. Wohl aber die Möglichkeit und, wie mir in trüben Stunden vorkommen will, Gewißheit, daß Weißfisch sich doch geirrt, mich weit übertaxirt, dem Herzog ein Stuck Glas anstatt eines Edelsteines geboten hat, und bei der ganzen Sache nichts herauskommt, als für den Herzog der Aerger, sich getäuscht und nebenbei das schöne Geld zwecklos verthan zu sehen, für mich eine grenzenlose Beschämung.“
Die schöne Frau saß da, in den Schoß blickend und mit ihren Ringen spielend, was, wie ich schon herausgefunden hatte, ihre Weise war, wenn eine schwierige Frage aufs Tapet kam und ihr Nachdenken herausforderte. Sie sah aber dabei nicht eigentlich nachdenklich aus, sondern eher erschrocken und verlegen, wie ein Kind, dem das Kartenhaus eingefallen ist. Nun hob sie die Augen wieder, mit einem Ausdruck, als wenn sie mir etwas abzubitten habe, und sagte mit schüchterner Stimme:
„Ich sehe, ich muß schon versuchen, Sie zu beruhigen; und ich hoffe, daß es mir gelingen wird, wenn ich Ihnen sage, was ich gestern von dem Herzog gehört habe. Er war, nachdem Sie ihn verlassen hatten, noch über zwei Stunden bei mir und hat die ganze Zeit nur von Ihnen gesprochen. Sehen Sie, Sie kennen den Herzog nicht; und wie sollten Sie auch nach den paar kurzen Begegnungen, und wenn Sie der größte Menschenkenner wären. Und auch dem würde der Herzog zu rathen geben. Es kennt ihn keiner, außer – ach! und ich stehe noch oft vor ihm wie vor einem Räthsel, obgleich er mir mehr vertraut, als irgend einem Anderen. Er ist der beste Mensch und der edelste Mensch, wenn er auch leicht aufbraust und zornig wird, sobald die Anderen seine guten Absichten nicht einsehen wollen oder können, was denn leider nur zu oft vorkommt und ihm das Leben verbittert, daß er zu Zeiten ganz oerzweifelt ist und am liebsten mit der Welt gar nichts zu thun hätte. Aber dann braucht ihm nur wieder ein Mensch zu begegnen, der ihm sympathisch ist, und er ist wieder ganz Vertrauen und Zuversicht und kann sich begeistern und schwärmen, wie ein Jüngling. Und sehen Sie, so ist ihm das nun mit Ihnen ergangen. Daß Weißfisch ihm einen guten Schauspieler versprach, war ihm schon ganz recht; aber unendlich viel mehr werth ist ihm, daß er in Ihnen einen jener Menschen gefunden hat, wie er sie braucht, nach denen er sich sehnt, von denen er sagt, daß sie ihm die Jugend wiederbringen, die er das einzige wahre Gluck des Lebens nennt, und um deren Verlust er immer trauert, wenn er auch kein Wort darüber verliert. Nun können Sie sich wohl, oder doch wohl schon eher denken, daß ihm ein solcher Mensch, der ihm das Herz neu belebt, viel zu kostbar und schade für – nun ja, für einen Schauspieler ist. So große Stücke er auf die Schauspielkunst hält, so wenig hoch denkt er von den Schauspielern. Lieber Himmel, er wird wohl seine Gründe dazu haben! Ein gut Theil Eifersucht mag in Ihrem Falle auch ins Spiel kommen: wer möchte denn nicht gern, was er schätzt, möglichst für sich behalten, anstatt es mit aller Welt zu theilen! Mit einem Worte: der Gedanke, daß Sie Schauspieler werden könnten, werden wollten, ist ihm jetzt entsetzlich. Und warum will er Schauspieler werden, hat er gestern einmal über das andere gesagt, wenn er alles mögliche Andere ebenso gut und zehnmal besser werden kann, und was denn doch auch etwas zehnmal Besseres ist! zum Beispiel –“
Die schöne Frau begann das Spiel mit den Ringen wieder, diesmal aber nur für ein paar Momente; dann fuhr sie entschlossen fort:
„Habe ich so viel gesagt, kann ich das auch noch sagen. Aber unter einer Bedingung: Sie müssen mir zuvor Ihre Bismarck- Gedichte recitiren.“
Ich war starr vor Schreck, und zugleich befiel mich in Erinnerung gewisser Bemerkungen gestern Abend aus dem Munde des Herzogs eine schauerliche Ahnung.
„Hat der Herzog – kennt der Herzog –“ vermochte ich endlich zu stammeln.
„Ja, ja!“ unterbrach sie mich. „Der Herzog kennt die Gedichte. Weißfisch hat heimlich eine Abschrift davon genommen und sie ihm gesandt.“
„Das ist wiederum abscheulich!“ rief ich.
„Ganz gewiß,“ sagte sie; „aber geschehen ist nun einmal geschehen. Und der Herzog, obgleich er, wie Sie wissen, ganz anders über den Mann denkt, dessen Namen er, wenn irgend möglich, nicht nennt, sagt, die Gedichte seien nichts desto weniger sehr schön. Ich weiß nicht, warum er sie mir nicht geben will. Also, bitte, bitte, sagen Sie sie mir. Sie kennen sie doch gewiß auswendig.“
„Das wohl,“ erwiderte ich. „Aber einmal kann ich mich jetzt zu dem Inhalt der Gedichte, welche in der Zeit entstanden sind, als ich, so zu sagen, im Kriegsfieber lag, nicht mehr voll bekennen; ja, ich sehe in denselben etwas wie eine Apostasie meiner republikanischen Ueberzeugungen; und überdies knüpft sich gerade an diese Gedichte eine der schmerzlichsten Erinnerungen aus der traurigsten Zeit meines Lebens.“
„Davon nachher!“ rief die schöne Frau ungeduldig; „aber erst die Gedichte, bitte, bitte!“
Wie hätte ich dem widerstehen können! In meinem eitlen Herzen hielt ich die Gedichte trotz alledem für wirklich gut. Und wann hätte jemals ein junger Dichter Nein gesagt, wenn ihn eine schöne Frau um ein Kleinod aus seinem unermeßlichen Schatze bat!
„Die Gedichte,“ begann ich – „es sind Sonette, drei an der Zahl – betiteln sich ,Goethe und Bismarck‘.“
Sie nickte, als ob sie sagen wollte: so viel weiß ich bereits – weiter!
Und ich drückte die Augen ein, so weit es dem begeisterten Sänger ziemt (wenn er dabei doch noch sein schönes Auditorium im Auge behalten will), und recitirte:
„Der Deutschen höchstes Dichten, tiefstes Denken,
In Goethe fand den Meister es der Meister.
Er herrschte, zeusgleich, in dem Reich der Geister,
Und Wonne war’s, vor ihm die Stirn zu senken.
Nur Alles konnt’ er seinem Volk nicht schenken.
O heilig römisch Reich, verpappt vom Kleister
Der Diplomaten, während dreist und dreister
Fremdmäuse tanzten auf den heim’schen Bänken!
O Goethe’s Volk! o Goldstück, halb gepräget,
Halb nur geachtet auf dem Markt des Lebens,
Zu leicht befunden in der Völker Rath!
Den vollen Kurs schuf er dir unentweget,
Er, Bismarck, er, der Revers deines Strebens,
Des idealen; er, der Mann der That!“
„Herrlich, herrlich!“ rief die schöne Frau. „Weiter!“
Und ich recitirte weiter, mit Mühe das klopfende Herz bändigend:
„Giganten Beid’ im Planen und Vollbringen;
und Beide deutsch bis zu der Seele Grunde,
Des wirren Menschentreibens reichster Kunde
Voll; nie am Scheine haftend; nach den Ringen
Den Baum des Lebens schätzend; stets den Dingen
Schauend ins Herz: mit Adlerblick die Runde
Der weiten Welt durchschweifend; jede Stunde
Bereit, zu lüften die gewalt’gen Schwingen.
O, zweier Kön’ge ungemessnes Erbe!
Glückselig Volk, dem solche Doppelgüter
Zum stolzen Eigen gnädiglich gewährt!
Wohlan! was dir Fortuna gab, erwerbe!
Sei beider Krösusschätze treuer Hüter!
Sei ewig eines wie des andern werth!“
„Köstlich! weiter! weiter!“ murmelte die schöne Frau.
Und ich mit tönender Stimme, während mir die Wangen glühten:
„O Faust! o Deutscher! Daß in deiner Brust
Die beiden Seelen nun und nie sich trennen!
Dann wird man dich das Salz der Erde nennen,
in höherm Sinn, als man es je gewußt.
Schwelgst du nur in des einen Zieles Lust,
Willst gierig nur nach Pluto’s Schätzen rennen,
Nur für Apollo’s Lorbeerkranz entbrennen,
Versinken wirst du in der Völker Wust.
Nie, seit die Erde ziehet ihre Kreise,
Ward einem Volk so schwerer Kampf entboten,
Ward ihm so hehrer Siegespreis gestellt.
So sei denn tapfer! sei denn gut und weise!
Begraben laß die Todten ihre Todten,
Du, alle Zeit ‚ein Sänger und ein Held‘!“
Ich hob verstohlen die Augen, die ich denn doch zuletzt wirklich zugedrückt haben mochte. Aber jetzt hatte sie die ihren gesenkt, und sie war es jetzt, deren Wangen glühten.
„Der Herzog hat wahrlich Recht,“ murmelte sie.
„Worin, gnädige Frau?“
„Hernach. Zuerst die Erinnerung, die sich für Sie an die Sonette knüpft!“
„Ich sagte Ihnen, gnädige Frau, es sei eine sehr schmerzliche.“
„Und eben deßhalb will ich sie wissen. Oder sind Sie Einer von Denen, welche mit den Freunden wohl ihre Freuden theilen mögen, aber nicht ihre Schmerzen?“
„Ich gehöre allerdings, gnädige Frau,“ erwiderte ich, „zu dieser egoistischen Sekte und mache nur Ausnahmen von der Regel, wenn es mir, wie in diesem Falle, befohlen wird. Auch werde ich leider zu diesem Zweck etwas weit ausholen müssen.“
„Es kann für mich nicht zu weit sein,“ entgegnete sie lebhaft. „Ich habe vorhin ganz gut bemerkt, daß Sie die betreffende Episode, über die wir durch unsre Gewährsmänner – nun wohl: Spione, Sie ironischer Mensch! – nur sehr unvollkommen unterrichtet sind, ganz überschlagen haben. Sie brachen da ab, wo Sie erwähnten, daß Sie sich nach dem Wiederbeginn der Schule vergeblich bemüht hätten, zwischen Ihren beiden Freunden ein wenigstens leidliches Verhältniß herzustellen.“
„Es war unmöglich,“ sagte ich. „Schlagododro – ich darf ihn doch weiter so nennen? – war in seinem heißen Löwenherzen zu tief verwundet. Maria, die nach meiner Entfernung nur noch wenige Tage in Nonnendorf geblieben war, hatte ihm geschrieben, daß ihre Liebe zu ihm doch wohl nicht die rechte gewesen sei. Die rechte Liebe wäge nicht, prüfe und wähle nicht. Ihre Liebe habe geprüft und erwogen, daß die schwerste Scheidung die der Gedanken und Ueberzeugungen sei, wie sie eben zwischen ihnen existire, und so bleibe ihr keine Wahl, als die, ihn zu bitten, sie frei zu geben und, wo möglich, zu vergessen. Schlagododro beschuldigte Adalbert, daß er es sei, der in erster Linie zwischen ihm und der Geliebten stehe, was ja auch in gewissem Sinne richtig war; und weiter auch veranlaßt habe, daß Mutter und Tochter mit einer allerdings verdächtigen Eile um eben diese Zeit unsre Stadt verließen, nach Berlin überzusiedeln, wohin ihnen Adalbert nach zurückgelegtem Abiturexamen folgen wollte. Adalbert hüllte sich, auch mir gegenüber, betreff der ganzen Angelegenheit in sein gewohntes kühles Schweigen, das er erst in letzter Stunde brach: auf dem Fest, welches die Abiturienten mit den Zurückbleibenden feierten. Man nennt das einen Kommers, gnädige Frau. Da, als alle die Anderen schon mehr oder weniger bezecht waren, nahm er mich auf die Seite und sagte mir: ja, er habe gethan, was in seinen Kräften gestanden, die Beiden zu trennen. Die Tochter seiner Mutter, die Schwester des Republikaners, solle und werde sich das Bild des Gefolgsmannes, des Fürstendieners aus dem Herzen reißen. Und fügte noch Manches hinzu von der Gefahr der Trennung, die auch für ihn und mich hereindrohe, wenn ich nun wirklich in den Krieg wollte und über der Kriegsleidenschaft und dem patriotischen Pathos der Freiheitsideale vergäße, zu denen ich mich doch bekenne, und die für alle Völker identisch seien und durch einen Krieg, wie dieser, und durch alle Kriege nur geschädigt würden, da dieselben nur Hochwasser für die Mühle der Reaktion, die in letzter Zeit schon bedenklich leer geklappert habe. Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich da Dinge berühre, die scheinbar nicht hierher gehören; in Wahrheit stehen sie mit dem Folgenden in engstem Zusammenhang. Denn Schlagododro, obgleich er natürlich kein Wort von dem Allen gehört hatte, ahnte, wußte doch Alles, was wir da in der Ecke sprachen, und daß der Verhaßte, der ihn von der Geliebten getrennt, die letzte Stunde benutzte, eine Scheidemauer aufzurichten zwischen ihm und dem Freunde. Die doppelte Eifersucht hatte sein Löwenherz mit wüthendem Zorn erfüllt, und als nun gar eben jene Gedichte, die ich Ihnen vorhin recitirt, und die abschriftlich unter den Kommilitonen umgingen, von einem Indiskreten vorgelesen, von den anderen jubelnd begrüßt wurden, Hochs auf den Krieg, auf Graf Bismark erschallten, alle Gläser sich hoben, nur Adalbert’s nicht – gnädige Frau, erlassen Sie mir die Schilderung einer Scene, auf deren Einzelheiten, wie auf die eines wüsten Traumes, ich mich nur selbst mühsam besinne. Das Ende war, daß ich mich zwischen die Todfeinde warf in dem Augenblicke, als Adalbert mit einem Schläger, welchen wir zu dem ,Landesvater‘ benutzt hatten, gegen Schlagododro ausfiel, der ihm mit hochgeschwungenem Sessel den Kopf zerschmettern wollte und zerschmettert hätte, wäre der dem Andern zugedachte Todesstoß nicht durch meinen Arm und meine Brust gegangen, und ich so für todt zwischen den Rasenden zusammengebrochen.“
„O, mein Gott!“ murmelte die schöne Frau.
Ich blickte sie an und die herzliche Theilnahme, die sich auf dem lieblichen Gesicht gar rührend ausprägte, schien mir ein reichlicher Entgelt für all das ausgestandene Leid.
[306] „Nun, gnädige Frau,“ sagte ich heiter; „ich bin ja mit dem Leben davongekommen. Aber, nicht wahr, jetzt kein Wort mehr von so leidigen Dingen, und zur Belohnung für meinen schwatzhaften Gehorsam das, was Sie mir vorhin sagen wollten, wenn ich Ihnen zuvor die Gedichte recitirt hätte. Das, wovon der Herzog meint, ich könne es werden, anstatt eines Schauspielers, und das etwas zehnmal Besseres sei, als Schauspieler.“
Sie sah mir voll mit den lieben, schönen Augen ins Gesicht und erwiderte mit köstlichem Lächeln:
„Es ist dasselbe, was ich Ihnen bereits selbst gesagt habe.“
„Ich bitte um Verzeihung – ich erinnere mich nicht: was war es?“
„Daß Sie ein Dichter werden müssen; vielmehr: daß Sie es schon sind.“
„Und das sagt der Herzog?“ rief ich mit freudigem Schrecken.
„Nicht einmal, zehnmal hat er es gesagt, gestern Abend. ,Laßt den nur erst die Welt kennen,‘ rief er einmal über das andere; ,der wird euch noch ganz andere Dinge zu Stande bringen, als seine Sonette auf‘ – nun, Sie wissen ja, daß er den Namen nicht gern über die Lippen bringt. Und der Herzog versteht sich darauf, glauben Sie mir. Er ist selbst Dichter, und sein großer Kummer ist, daß er sich nicht ganz der Poesie widmen darf. Er meint, Herzog und Dichter könne man nicht in einer Person sein, wenigstens nicht vor der Welt. Er mag ja wohl Recht haben. So dichtet er nur in seinen Mußestunden und läßt keinen Menschen etwas davon sehen, außer daß er dann und wann mir ein paar Verse bringt. Ich habe ihn so oft gebeten, er solle die Blätter, die überall herumfahren, sammeln und, wenn auch nur für den nächsten Kreis, drucken lassen. Und er will es jetzt auch, und Sie sollen ihm dabei helfen.“
„Ja so!“ sagte ich in etwas gedehntem Tone.
„Gar nicht ,ja so!‘“ rief die schöne Frau. „Gar nicht, als ob er Sie deßhalb kommen lassen! sich deßhalb nur für Sie interessire, damit er Jemand habe, der ihm dabei helfen kann! Das ist ihm gestern Abend erst eingefallen, oder vielmehr mir. Sie verkennen ihn vollständig und die guten Absichten, die er mit Ihnen hat: wie er Ihr Talent fördern will und Sie in eine Lage bringen, daß Sie jede gute Stunde ohne alle Sorge Ihrer Poesie widmen können. Und wie er Ihnen viele, viele solcher guten Stunden und Tage bereiten will an seiner Seite, in seiner Nähe, so daß Sie doch völlig Freiheit hätten, zu kommen und zu gehen, die Welt zu sehen auf Reisen mit ihm oder allein – mein Gott, das findet sich ja Alles, das macht sich ja hernach Alles ganz von selbst. Nein, nein! Sie hatten kein Recht zu Ihrem ,Ja so!‘ und ich bin Ihnen deßhalb bös, ernstlich bös. Wenn Sie wüßten –“
Das Spiel mit den Ringen war wieder in vollem Gange, aber diesmal war der Ausdruck des Gesichtes nicht der des erschrocken-verlegenen Kindes – es lag ein wirklicher Schmerz auf den sonst so lachenden Zügen, und aus den gesenkten Wimpern tropften ein paar Thränen auf die funkelnden Ringe. Ich hatte nur eine Regung: der schönen Frau zu Füßen zu stürzen und sie um Verzeihung anzuflehen. Es war mir ja nur herausgefahren, das leidige: Ja so! – das unschickliche, ungeschickte Wort, bei dem ich mir gar nichts Rechtes gedacht hatte, da meine Gedanken bei etwas ganz Anderem waren, das ich ihr hatte sagen wollen und jetzt sagen mußte, sollte ich nun nicht auch in Thränen ausbrechen, die mir bereits die Augen heiß machten. Aber hier galt es, mich – mein eigen Selbst zu schützen; das in mir zu wahren, wofür zu leben mich einzig des Lebens werth dünkte.
Und so sagte ich denn, mit Mühe mein Schluchzen unterdrückend:
„Stoßen Sie mich von sich, und der gütige Herzog! Ich weiß, Sie werden, er wird es thun, wenn ich es sage; aber es ist besser so. Besser, in mein altes Elend zurück, als in Herrlichkeit und Freuden leben um diesen Preis! Ich kann nicht von der Gnade Anderer leben. Ich habe schon die Abhängigkeit von meiner Mutter schmerzlich empfunden; aber es war doch meine Mutter, wenn sie mich auch nicht liebte. Und es war kein Wohlleben und kein Reichthum, was sie mir bot. Als sie mir das bot, durch den Priester bieten ließ, habe ich Nein gesagt, und als sie ihre Hand von mir gezogen und ich im die Abhängigkeit von Fremden fiel, trotzdem es gute Menschen waren und mir es gern gegeben hätten, habe ich es wieder nicht angeommen und bin davongegangen und dem Weißfisch gefolgt, weil er mir einredete, ich werde das Alles wieder bezahlen müssen und auch können, wenn ich erst ein tüchtiger Schauspieler geworden sei. Nun soll ich das nicht werden, sondern, ich weiß nicht was, und von der Gnade des Herzogs leben, ohne daß ich ihm irgend Etwas dafür zu bieten vermöchte. Und was ich ihm etwa bieten könnte – er ist gewiß sehr klug und hat so große, freie Ideen, aber er ist doch immer ein Fürst, was ich gestern Abend gar nicht empfunden habe. Heute Morgen war das schon anders und wird, fürchte ich, noch ganz anders kommen. Und in meinem ,Münzer‘ – ich schreibe nämlich an einem ,Thomas Münzer, Trauerspiel in fünf Akten‘ – da spielen die Fürsten eine böse, eine fürchterliche Rolle – es tritt freilich auch ein guter und milder auf, denn man muß gerecht sein, auch gegen seine Feinde –“
Ein lustiges Lachen ließ mich jäh abbrechen – und als ich aus den Baumwipfeln, in denen meine Blicke geschwärmt hatten, nieder- und seitwärts schaute, sah ich die schöne Lacherin, die sich ihr Spitzentaschentuch vor den Mund drückte. Jetzt war die Reihe, erzürnt zu sein, an mir, und ich war erzürnt. Ich hatte ihr mein Innerstes offenbaren wollen, meine heiligsten Ueberzeugungen, und sie lachte, daß ihr wieder Thränen in die Augen kamen. Schweigend erhob ich mich von meinem Sitze.
Sie stand in demselben Moment auf den Füßen, hatte meine beiden Hände ergriffen und rief: „Sie Tollkopf, Sie Wilder, Sie – wollen Sie wohl bleiben! wollen Sie sich wohl gleich wieder hinsetzen! Wenn die Leute immer fortlaufen wollten, wenn ich lache – Und da soll Einer nicht lachen, wenn Sie so feierlich Ihr Recht vertheidigen, in Ihrem ,Thomas Münzer‘ böse Dinge über die Fürsten sagen zu dürfen, und der Herzog selbst sich mit einem ,Thomas Münzer, Trauerspiel in fünf Akten‘, trägt! Schon seit Jahren. Ich wüßte gar nicht, wer der Mann gewesen ist, wenn er es mir nicht gesagt hätte, und daß der Mann viel hochsinniger und großherziger als Luther gewesen und nur das Unglück gehabt habe, drei oder vier Jahrhunderte zu früh geboren zu sein. Und das Andere, das von der Gnade, für die Sie nichts zu bieten hätten, oder wie Sie sich ausdrückten! Ist denn das nichts, wenn Sie Jemand, der sich so tief unglücklich fühlt, wie er hoch im Leben steht und nicht zum Wenigsten deßhalb, weil er so hoch steht und nicht sein darf wie andere Menschen, und keine wahren Freunde hat, die er lieben darf und die ihn wieder lieben – wenn Sie dem das Leben verschönen, und wäre es nur durch Ihre Gegenwart, nur dadurch, daß Sie um ihn sind, ein Mensch, dem er sein Herz öffnen darf? Und der in ihm nicht immer, wie die Anderen, den Herrn sieht, sondern einen Freund, einen väterlichen Freund natürlich, da er so viel älter ist, wenn sein Herz auch jung geblieben, wie das des jüngsten Mannes?“
Sie hatte sich so in Eifer hineingesprochen, und der Eifer stand ihr so schön, schöner fast als ihre goldige Lustigkeit. Ihre Wangen brannten, die braunen Augen leuchteten und, wie sie jetzt schwieg, bebten die vollen Lippen, wie eine Saite nachvibrirt, nachdem der Ton bereits verklungen. Mir aber, während meine Blicke starr auf sie gerichtet blieben, zitterte das Herz. Ich hätte weinen mögen und hätte jauchzen und lachen mögen und ihr sagen: Was redest Du denn, Du schönes Weib? Weißt Du denn nicht, daß Du von mir fordern könntest, was Du wolltest? Daß ich für Dich durchs Feuer gehen und Deinen Vater, und wenn’s der Teufel wäre, lieben würde um Deinethalben?
Ich weiß nicht, was ich gesagt oder gethan hätte, wäre nicht auf dem Kieswege zwischen den Bosketts ein rascher Schritt erklungen und alsbald auch Herr von Renten sichtbar geworden, der stehen geblieben war, das Köpfchen nach allen Seiten drehend, und nun, uns erblickend, schon von Weitem mit der Hand winkend, eilig auf uns zukam. Ich wollte mich erheben und fühlte die Hand der schönen Frau auf der meinen.
„Was zwischen uns geredet, kein Wort. Sie versprechen es mir. Und wenn Sie über irgend Etwas in Zweifel sind, Sie kommen zuerst zu mir und sagen mir Alles – Alles! Gut, gut! ich weiß, Sie halten Wort. – Ah, Herr von Renten! Schon zurück?“
Der schöne Traum war aus; in Gegenwart der blauen Puppenaugen meines Mentors konnte man nicht träumen. Und doch hätte ich den kleinen Mann umarmen, ich hätte die ganze Welt umarmen mögen.
Meine liebeselige Stimmung verflog nicht mit der schönen Stunde, die sie gezeitigt – sie blieb tage-, wochen-, mondelang, nicht immer in gleicher Höhe, sondern fluthend, ebbend, heute ein Rausch, der mir die Sinne schier umnebelte und mich zu jeder tüchtigen Arbeit unfähig machte, morgen eine kraftvoll arbeitsfrohe Begeisterung; dann wieder ein seliges Träumen zu den Wipfeln der Bäume hinauf, in denen die Vögel sangen, hin über die sonnigen Beete mit den Schmetterlingen, die von Blume zu Blume sich wiegten – aber sie blieb. Es war damit, wie mit dem Patscholiduft in meinen Schloßzimmern, der nicht „heraus wollte", wenn er sich auch einmal mehr bemerklich machte, als das andere Mal. Und auch in einem Zweiten hatte die Stimmung in meinem Herzen mit dem Duft in meinem Zimmer Aehnlichkeit. „Man gewöhnt sich daran," hatte Holzbock gesagt. Es kam die Zeit, wo ich den Duft nicht mehr spürte, trotzdem er da war, wie sonst, und es kam die Zeit – und o, wie wie bald! – wo ich die Seligkeit in mir wohl noch empfand, aber doch nur als Etwas, das sein müsse, und von dem ich kaum begreifen konnte, daß es nicht immer gewesen.
Die Brücke, welche die Gegenwart mit meiner Vergangenheit hätte verbinden sollen, schien abgebrochen, und wenn sie noch stand, ich hatte keine Lust, sie zu betreten. Es war nicht eigentlich mein freier Wille gewesen, was mich in diese neuen Verhältnisse geführt hatte, die mit den alten angewohnten in schroffstem Gegensatz standen; aber sollte ich mir selbst nicht als ein leichter Ball erscheinen, den der Zufall heute hierhin schleudert und morgen dorthin, mußte ich aus der Noth eine Tugend machen, in der ich mir selbst gefiel. Und das gelang mir zu meiner großen Beruhigung überraschend gut und schnell. Du gehörtest einmal nicht, tröstete ich mich, zu dem zahmen Geflügel, das auf dem festen Lande sein sicheres Nest hat; – ein Sturmvogel bist du, der heimlos über das wilde Meer schweift und keine Rast kennt, als wenn er sich einmal auf der züngelnden Welle schaukelt. Dazu hat dich das Schicksal gewollt, das dich zu einer Zeit, in welcher andere Jünglinge unter der Eltern, der Verwandten treuer Hut die ersten tastenden Schritte in das Leben thun, ohne Eltern und Verwandte auf dich selbst stellte. So magst du nun sehen, wie du mit dem Leben fertig wirst.
Und wenn mir dann das Gewissen zuraunen wollte, daß ich, immerhin eltern- und verwandtenlos, doch gute Freunde mein nennen durfte: in erster Linie den wackeren Professor, in zweiter die guten Frauen in dem alten Giebelhause – deren Rath und thatkräftige Hilfe mich wohl auch „mit dem Leben hätten fertig werden“ lassen – so brachte ich die mahnende Stimme bald zum Schweigen. Das Leben, zu dem sie mir verholfen hätten im besten Falle, war das Leben nicht, das ich führen konnte, war eines in Ketten und Banden, die ich doch einmal hätte sprengen müssen. So war es ja nur ein ungeheueres Glück, daß ich es so früh gethan.
Und in der Konsequenz dieses Bruches mit meiner Vergangenheit, welcher mir in meines Geistes Thorheit als eine Heldenjünglingsthat erschien – wenn ich auch in einem langen Brief an Professor Hunnius meine Flucht aus der Heimath einen „Pagenstreich“ nannte und als solchen zu entschuldigen suchte – wurde es mir nicht allzu schwer, der neu errungenen Freiheit auch die Erinnerung an meine Jugendfreunde zum Opfer zu bringen: an Schlagododro, an Adalbert, selbst an Maria. Mit jedem Tage wurden die theueren Gestalten mehr zu blassen Schemen, denen ich auswich, wollten sie mir nahen. Und hatte ich nicht guten Grund dazu? Wie verwundert würde der Löwenherzige die blauen Augen gerollt und die gelbe Mähne geschüttelt haben über mein jetziges Leben! Wie hätte es die schneidende Satire des blassen Spötters herausgefordert! Und hätte ich dem lieben Mädchens das nicht lachen konnte, in ihr ernstes Gesicht sagen können –
Nun ja, es muß gesagt sein, weil es einzig und allein diese Tollheiten erklärt, wenn es auch in sich selbst die Tollheit der Tollheiten – ach! und etwas viel Schlimmeres war, wofür ich aber nicht die Verantwortung zu tragen brauche – Gott sei Dank! – es muß gesagt sein, daß ich Frau von Trümmnau liebte.
Für mich schon längst nicht mehr Frau von Trümmnau – für mich Adele, die ich mit dem herzlichen Du anredete und die mir das Du von Herzen zurückgab. Freilich nicht in der Gesellschaft, nur wenn wir allein waren. Und wir waren es nicht so oft, wie es mein Sehnen verlangte, das immerdar zu ihr ging; aber doch so oft es ihre und meine Zeit erlaubte, und die Rücksicht, welche sie aus die Gesellschaft nehmen zu müssen behauptete, selbst in Anbetracht eines jungen Menschen „sans conséquence“, und dessen „Mutter sie beinahe sein könne“.
Sie mit ihren vierundzwanzig Jahren!
Und mit denen sie mich doch und mit ihrer Frauenwürde und ihrer gesellschaftlichen Stellung in Schranken hielt, die ich nach kurzer Zeit nicht mit einem Wort, einer Gebärde, einem Blick zu überschreiten wagte. Hätte ich mich doch lieber in mir selbst verzehrt, als sie erzürnt! Und was die Furcht nicht that, mich vor jeder Unbedachtsamkeit zu bewahren, durch die ich ihre Gunst verscherzt, die mich wohl gar aus der geliebten Nähe verbannt hätte, das bewirkte jene schwärmerische Anbetung, die dem begehrlichen Manne lächerlich erscheint, und die dem Jüngling, wenn er wahrhaft liebt, so natürlich, so selbstverständlich ist.
Ich durfte ihr die Hand küssen, wenn ich kam und ging – das war Alles, und hatten meine Lippen eine Sekunde länger verweilt, als ihnen erlaubt war, ging auch dies „Alles" verloren, und ich konnte sicher sein, auf Tage nicht einmal die Spitzen ihrer Finger berühren zu dürfen. So war ich denn klug und weise, mich begnügend mit dem, was mir blieb. Und das ja so viel war, daß mich die Engel in himmlischer Höhe darum hätten beneiden müssen: ihr süßer Anblirk, ihr silberhelles Lachen, ihr holdes Geplauder und der beschämende Triumph, in allem Anderen von ihr gehalten und behandelt zu werden wie ein Bruder von einer Schwester, die, wie sie sein volles Vertrauen hat, so ihn ihr Vertrauen rückhaltlos schenkt.
Ich meinte, sie könne nichts mehr vor mir zurückbehalten haben. Daß sie des Herzogs Tochter sei, hatte sie mir freilich nie in direkten Worten gesagt, und ich glaube bestimmt, für diesen einen Punkt versiegelte ihren Mund ein Eid, den sie sich selbst gegeben oder der Herzog ihr abgenommen hatte. Dafür nahm sie aber an, wie mir aus tausend Anspielungen und Wendungen zweifellos hervorging, daß mir das Geheimniß so gut bekannt sei, wie jedem, der am Hofe verkehrte, und vermuthlich auch der ganzen Stadt, womöglich dem ganzen Ländchen.
Und es währte nicht lange, so hatte ich auch von ihr selbst die traurige Geschichte ihrer Ehe erfahren, in der ich sie freilich in meinem Gewissen nicht von aller Schuld freisprechen konnte, und hätte dieselbe auch nur in einem Uebermaß von kindlichem Gehorsam bestanden.
Ihr Gatte war dreißig Jahre älter als sie. Sie hatte ihn, wie sie selbst zugeben mußte, nie geliebt, nie einen Augenblick auch nur die Illusion der Liebe für ihn gehabt. Er war auch, was ich durch mein Allerweltsorakel wußte, einer edleren Liebe so wenig fähig wie werth gewesen: ein völlig blasirter Roué von dem Schlage des Kammerherrn von Trechow, des windigen Genossen seines wüsten Lebens, dessen schale Neige er einem in der herrlichsten Blüthe der Schönheit und Jugend prangenden Mädchen anzubieten wagte. Und das Mädchen hatte den traurigen Freier annehmen können! Wie war das möglich gewesen?
„Mein Gott," sagte Adele in einer jener Stunden, in denen sie mit mir sprach, wie mit sich selbst; „ich gebe zu, es würde mir heute nicht so leicht geworden sein; ich würde vielleicht – gut! wenn Du willst, ich würde bestimmt Nein sagen. Aber damals! lieber Himmel, mit meinen siebzehn Jahren! Was wußte ich von der Welt! was hatte ich vom Leben gesehen in meiner Pension, in die ich noch als halbes Kind gekommen, und die ich nur verließ, um zu heirathen! Ein Glück erwartete ich von der Ehe nicht. Nach den dunklen Andeutungen unserer Stiftsdamen – meine Pension war nämlich ein adeliges Fräuleinstift – so eine Art Kloster – mußte ich die Ehe für ein Martyrium halten, das man lieber nicht auf sich nimmt, oder doch nur auf sich nehmen kann in der Zuversicht, sich schneller der himmlischen Freuden würdig zu machen, nachdem man den Jammer und das Elend des Lebens so recht gründlich ausgekostet. Und schien doch, was ich von Ehen hörte oder wußte, diese trübselige Ansicht zu bestätigen. Die herzogliche Ehe sollte eine glücklose sein; und meine Mutter, die nach wenigen Jahren von ihrem Gatten geschieden und deren einziges Kind ich war, hatte ich nie lachen, aber desto öfter weinen sehen. In unserm Kloster war es nicht gerade amüsant, aber doch ein vergnügliches Dasein im Vergleich mit meinen trübseligen Kinderjahren bei der melancholischen Mutter auf unserem einsamen Landgute. Dann starb die Mutter, der ich mehr als halb entfremdet war; ihren Gatten, der sich längst wieder verheirathet – glücklicherweise weit von hier – hatte ich meines Wissens nie zu Gesicht bekommen. Mit den eigenen Verwandten war meine Mutter zerfallen; Niemand kümmerte sich um mich, Niemand nahm sich meiner an, als der Herzog. Nun, er wünschte mich in seiner Nähe; er wünschte, daß ich Herrn von Trümmnau heirathete, und so habe ich ihn geheirathet.“
Das war eine lange Erklärung, durch die für mich nichts klar wurde, als daß der Herzog das Glück seines Kindes, nachdem er den Frieden des Hauses, welches ihr Elternhaus hätte sein sollen, zerstört, seinem eigenen Interesse rücksichtslos geopfert hatte. Dann freilich hatte er sie nicht ganz „in seiner Nähe“, ganz für sich, die schöne liebenswürdige Tochter, die in der prächtigen Villa, welche er ihr geschenkt, nur für ihn blühte, während ihr alternder Gatte an fremden Höfen die nutzlosen Tage und Jahre verzettelte und jetzt bereits seit Jahr und Tag bald hier bald da im Süden lebte, „die angegriffene Gesundheit womöglich zu kräftigen“.
„Ich weiß nicht, was Du willst,“ sagte Adele, wenn sie mir wieder einmal solche Gedanken, die ich nicht äußern durfte, von der Stirn gelesen; „mehr als glücklich kann man doch nicht sein, und ich bin es ja in einem Maße, daß ich den lieben Gott alle Morgen bitte, er möge ein Auge zudrücken und mich kleinen Nestvogel in seiner Gnade so ruhig weiter singen und flattern lassen. Nun hat er mir noch in meine fröhliche Einsamkeit einen jungen Freund geschenkt, der mir den Bruder ersetzt, nach dem ich mich all mein Leben lang schmerzlich gesehnt habe und der wirklich ein lieber prächtiger Junge und so recht nach meinem Herzen ist, wenn er nur das abscheuliche melancholische Wesen lassen wollte, das ihn immer zur Unzeit und am unrechten Orte befällt, – nämlich in meiner Gegenwart, während er in der Gesellschaft seiner Herren Freunde, höre ich, ein sehr munterer und ausgelassener Kamerad sein soll, der so leicht kein Spiel verdirbt. Da sehe ich doch wahrhaftig nicht ein, weßhalb er mir just mein harmloses verderben muß.“
War ihr Spiel wirklich so harmlos? Die Quelle ihrer Fröhlichkeit und was den kleinen Nestvogel, wie sie sich nannte, so aus voller Lust erquicklich singen und so lustig flattern machte, war es wirklich nur ihr angeborenes lebenskräftiges Temperament? ich hätte nicht in den Jahren stehen müssen, wo Man gewohnt ist, alles Glück und Leid der Welt nach dem Stande seiner eigenen Herzensangelegenheiten zu bemessen, und mein Herz hätte nicht so tief getroffen sein dürfen, wollte sie, daß ich mich dabei beruhigte und nicht vielmehr ruhelos nach der wahren verborgenen Quelle ihres Glücks spähte, die doch keine andere sein konnte als die Liebe; in diesem Falle eben eine der Gegenliebe gewisse Liebe. Aber umsonst zermarterte ich mich in spürender Eifersucht. In ihrer Umgebung war Niemand, den ich mit meinem Verdachte auch nur im Vorübergehen hätte beehren können. Dann wurde mir wohl ein Herr von Pahlen genannt, ein russischer Officier, der in irgend einer diplomatischen Mission vor vier Jahren sich mehrere Wochen an unserem Hofe aufgehalten hatte und von ihr ausgezeichnet sein sollte. Aber selbst die Nachrichten meines allwissenden Mentors über diesen verdächtigen Punkt lauteten sehr unbestimmt, und wenn ich, was ich nicht unterließ, bei einer schicklichen Gelegenheit ihr gegenüber des genannten Herrn (von dessen Liebenswürdigkeit ich Wunderdinge gehört!) erwähnte, nahm sie das so unbefangen auf, wußte von dem famosen Russen noch ein paar harmlose Geschichten so harmlos zu erzählen – nein, der Russe war es sicher nicht. Ich mußte schon die Stunde abwarten, die mir das Räthsel löste.
Als ob das Schicksal nicht beschlossen hätte, daß mir diese Stude nur zu bald kommen sollte! Als ob nicht vorauszusehen gewesen wäre, daß diese Stunde die letzte meines eigenen Glückes sein mußte – alles dessen, was ich für beseligende Wirklichkeit nahm und das doch nichts war – für mich nichts war und nichts sein konnte, als eine geschminkte Lüge und ein eitler Traum!
Aber heißt, so hart aburtheilen über diese Phase meines Lebens, nicht, das Kind mit dem Bade ausschütten? Sind die Irrgänge der Jugend Irrgänge für die Jugend selbst, oder nicht vielmehr für uns, die wir die Jugend hinter uns haben und von dem erhöhten Standpunkte aus den geraden Pfad sehen, den wir hätten gehen müssen? Und auch gehen können? O ja, wenn wir eben nicht jung gewesen wären! Und den wir wahrscheinlich schon um deßhalb nicht gehen durften, weil wir sonst alle die Erfahrungen nicht gesammelt hätten, von deren Höhe wir mit so weisem Kopfschütteln auf jene Irrgänge herabblicken, in welchen die Dornen uns so tiefe Wunden rissen, daß uns die Narben bei bösem Gemüthswetter noch heute schmerzen. Und in denen so viel blaue Wunderblumen blühten, die das dankbare Herz nicht vergißt und nie vergessen kann, weil ihr Duft geblieben ist und uns noch heute in der Erinnerung berauscht!
Nein, gute, herzige Adele, meine Liebe zu Dir war keine geschminkte Lüge! Was Du darin gefehlt hast, Du hast es gut gemeint, und es kann Dir daraus kein Vorwurf gemacht werden, daß Du in der sicheren Reinheit Deiner Liebe die Gefahr nicht sahst, in welcher der Unwissende von Anfang an schwebte und in die er sich so fürchterlich verstricken mußte. Und mein Fehl – vielleicht soll die Moral es mit gewissen Dingen nicht schwerer nehmen, als es die Natur zu thun scheint; ich meine, uns nicht mit der Verantwortung für etwas belasten, das erst zum Verbrechen wird, wenn die Binde fällt, mit der die Natur, als sie uns in das Leben entließ, unsere Augen umhüllte.
Dennoch fehlte es mir an Warnungen nicht, die meine Leidenschaft hätten stutzig machen sollen; aber ich kann der Natur nicht die Ehre geben, daß sie es gewesen wäre, von der die Warnungen ausgingen.
Ich hatte Adele in letzter Zeit wiederholt weniger heiter gefunden, als sonst immer; dann hatten sich diese ernsten Stimmungen vertieft und waren häufiger aufgetreten; zuletzt kamen ganze Tage, in denen ich kaum einmal das alte liebe, herzige Lachen von ihren Lippen hörte. Ich drang geraume Zeit vergeblich in sie, mir zu sagen, was es sei. Aber endlich hatte ich sie einmal in Thränen gefunden und der Anblick mich so außer mir gebracht, daß sie, um mich nur zu beruhigen, halb wider Willen, wie mir schien, meinem Drängen nachgab. Sie wollte sich von ihrem Gatten scheiden lassen. Mit dem Gedanken hatte sie sich schon längst getragen; es waren auch bereits einleitende Schritte geschehen, denen sie aber keine Folge geben konnte, weil sie sich die Freiheit mit der Hingabe ihres ganzen mütterlichen Vermögens erkaufen sollte. Der Mann, dessen Namen sie führte, wollte es billiger nicht thun. Dann aber wäre ihr nur geblieben, was sie der Güte des Herzogs verdankte: die Villa und was er ihr sonst im Laufe der Jahre geschenkt – genug, daß sie damit standesgemäß hätte weiter leben können – in der Möglichkeit der Ungnade des Herzogs. Vielmehr in der Gewißheit dieser Ungnade. Der Herzog hatte sich dem Scheidungsprojekt gegenüber schwankend gezeigt, indem er anfangs nichts davon hören wollte, dann eine halbe Einwilligung gab, die er heute Vormittag, als sie auf endliche Entscheidung gedrungen, ganz zurückgezogen hatte. Das war der Grund ihrer Thränen gewesen, die nun reichlich wieder hervorbrachen, als sie mir am Abend im Wäldchen, wo unsere erste denkwürdige Unterredung stattgefunden und das seitdem mein Lieblingsplatz geblieben war, diese Mittheilungen machte. Wir saßen neben einander auf der Bank. Ihr schönes Haupt war auf meine Schulter gesunken; ich hatte den Arm um ihren Leib gelegt, bebend vor Wonne und doch nicht wagend, sie fester an mein pochendes Herz zu ziehen, in dem bitteren Gefühl, daß es nicht Liebe sei, was mir diese Gunst gewährte, nur der Schmerz, der bei mir, wenn nicht Hilfe, so doch Trost suchte. So bemühte ich mich denn, die Weinende zu trösten: der Herzog werde nicht unerbittlich sein; was sie bitte, sei ja doch nur ihr gutes Recht, das ihr der Herzog um so weniger vorenthalten könne, als gerade er es gewesen, der sie, die Unschuldige, Unerfahrene, von jedem Rath, jeder Fürsorge Anderer Verlassene, durch seine Autorität, durch seinen Machtspruch in diese unerträgliche Lage getrieben habe.
„Das ist es ja eben,“ sagte sie, ihren Kopf von meiner Schulter hebend und sich die Thränen trocknend. „Er sieht nichts Unerträgliches in meiner Lage. Er begreift nicht, weßhalb ich nicht so weiter leben könne, leben wolle, wie bisher. Ich habe ihm erwidert, das Märchen, daß Trümmnau seiner Gesundheit wegen jahraus jahrein in Monaco spielen müsse – denn weiter thut er da unten nichts – könne doch nicht ewig aufrecht erhalten werden. Er müsse doch einmal zurückkommen, und was dann? – ,Dann ist es so wie früher,‘ erwiderte er; ,ihr lebt eben so neben einander.‘ – Nein, sage ich, es ist nicht so wie früher, denn ich bin nicht mehr, wie ich früher war. Wenn ich jenes gräßliche Nebeneinanderhergehen damals ertrug – heute, nachdem ich jahrelang unbehelligt habe leben dürfen, heute, nachdem ich über so Manches anders denke, als ich damals gedacht habe, ertrüge ich nicht mehr, was ich jetzt als Unanständigkeit und eine Schmach empfinde.“
„Hast Du ihm das gesagt?“ rief ich.
„Ja,“ erwiderte sie nach einigem Zögern.
„Und er will Dich dennoch zu dieser Schmach zwingen?“
„Er hat die Achseln gezuckt und gesagt, die Sache sei nicht so schlimm, wie ich sie mache, und wenn da wirklich ein Opfer von meiner Seite zu bringen wäre, so glaube er, dies Opfer beanspruchen zu dürfen.“
„Aber das ist ja doch die abscheulichste Tyrannei,“ rief ich empört, „und einen Menschen zu tyrannisiren, dazu hat Keiner das Recht, er sei auch, wer er sei, und stehe zu dem Menschen in einem Verhältnisse, in welchem er wolle. Dann freilich bleibt Dir nichts übrig, als der Gewalt mit Gewalt zu trotzen. Du bist sein Sklave nicht. Wenn er Dir das Recht eines freien Menschen verweigert, so holst Du es Dir an einer anderen Stelle – sein Herzogthum ist Gott sei Dank nicht Deutschland. Und wenn Du dies Alles hier zurücklassen und mittellos in die Fremde gehen müßtest, ich gehe mit Dir, und wäre es bis ans Ende der Welt. Ich will für Dich arbeiten, daß mir das Blut aus den Nägeln spritzt: ich will für Dich betteln, wenn es sein muß.“
„Und stehlen und morden, nicht wahr? Du Wilder, Du – lieber Kerl!“
Sie hatte mir beide Hände auf die Schulter gelegt, mich, durch Thränen lächelnd, anblickend, und so gab sie mir einen herzlichen Kuß. Ich taumelte von meinem Sitze auf. Sie war zu gleicher Zeit aufgestanden und sagte, meinen Arm nehmend:
„Komm! laß uns ein wenig promeniren! Wir haben uns da beide in eine Aufregung hineingesprochen, welche die Sache am Ende wirklich nicht verdient. Denn darin muß ich ja dem Herzog Recht geben: so eilig ist es nicht. Wenigstens amüsirt sich Trümmnau vorläufig noch ganz gut in Monte Carlo und wird sich auch weiter amüsiren, vorausgesetzt, daß der Herzog fortfährt, ihm seine Spielverluste zu decken. Manchmal wünsche ich freilich, Trümmnau’s Ansprüche steigerten sich derart, daß sie der Herzog beim besten Willen nicht mehr befriedigen kann, und es dann, so oder so, zur Entscheidung kommt. Daß sich der Herzog in der letzten Stunde gegen mich entscheiden sollte, kann ich mir nicht denken. Dazu ist er zu gutmüthig und hat mich auch viel zu lieb.“
So sprach sie, schon wieder in dem alten herzigen Plauderton; ich hörte stumm und verdrossen zu. Wenn die Sache so stand, wenn sie sicher war, daß der Herzog, mochte er sich jetzt noch so sehr sträuben, zuletzt nicht Nein sagen werde, weßhalb dann diese Sorge und Angst? weßhalb dann diese Verzweiflung, diese heißen an meiner Brust vergossenen Thränen? Auch sonst hatte der Herzog so Unrecht nicht: sie konnte warten, bis der Herr Gemahl da unten rebellisch wurde. Es hatte ja gar nicht den Anschein – sie gab es ja selbst zu – daß das so bald eintreten würde. Und wenn es eintrat und er zurückkam: seine Zimmer in dem großen Hause standen immer unbenutzt: sie betrat dieselben nie; sie brauchte sie auch hernach nicht zu betreten. Sie mochten so „neben einander hinleben“, wie der Herzog sagte: was ging ihr dabei an ihrer Freiheit verloren? Und was an Freiheit sie bei der Scheidung gewinnen mochte, wem immer es zu Gute kam – ich war es sicher nicht. Wäre ich unsinnig genug gewesen, je daran zu zweifeln, der Kuß vorhin hätte mich eines Anderen belehren müssen. Ich hatte keine Erfahrung in diesen Dingen, bedurfte derselben aber auch nicht. Ich wußte, wie sie mich geküßt hatte, und wie ich sie geküßt haben würde, hätte ich gedurft.
„Und dazu kannst Du mehr, als irgend ein Anderer,“ sagte sie.
„Wozu?“
„Du bist verzweifelt unaufmerksam: den Herzog umzustimmen. Du darfst ihm jetzt schon sagen, was ihm Keiner sonst sagen darf. Und diese Deine Macht über – Dein Einfluß, wenn Dir das besser klingt, auf ihn, muß immer noch wachsen. Ja, ich
[322] hoffe mehr; ich hoffe, und das ist mir ein gar lieber Gedanke, daß die Zeit kommt, wo Du mich für ihn entbehrlich machst, mich bei ihm ersetzest, und mehr als das. Was er braucht, ist ein Freund. Eine Freundin, eine Frau, und wäre sie zehnmal gescheiter und geistreicher, als ich arme unwissende, dumme Person, kann dem Geistreichen nicht folgen, wo er es am meisten braucht, am dringendsten verlangt, um nun seine Einsamkeit und, Verlassenheit erst recht und sich doppelt unglücklich zu fühlen.“
„Weil er sich unglücklich fühlen will,“ rief ich: „weil er aufhören müßte, sich als Herzog zu fühlen in dem Augenblicke, wo er sich nicht mehr einsam und verlassen wüßte, und deßhalb sorgfältig darüber wacht, daß dieser Augenblick doch nur niemals komme! Und ich soll das Kunststück fertig bringen, das Du Dir nicht zutraust? Ich versichere Dich, daß ich nicht um ein Haar breit mehr Einfluß auf ihn habe, als Renten oder irgend Einer von den Anderen; sogar weniger als sie, weil ich nicht so klug bin wie sie, und mit Ja und Nein und Nein und Ja Fangball spielen kann wie sie.“
„Das glaubst Du ja selbst nicht,“ sagte Adele; „aber ich habe Dich mit meinen albernen Geschichten aufgeregt und werde mich ein ander Mal besser vorsehen. Jetzt gehst Du nach Haus und schreibst eine Scene in Deinem ‚Münzer‘, so eine, in der es recht fürchterlich über die armen Fürsten hergeht. Einen Handkuß erlaube ich Dir heute auch nicht mehr. Du bist unartig gewesen? Geh’!“
Und ich ging, Wuth und Verzweiflung im Herzen, mir zuschwörend, daß ich niemals wieder ihre Schwelle überschreiten wolle. Und dem Herzog schreiben wolle, zum Fürstendiener sei ich nun einmal nicht geschaffen, und zu einem Spielzeug halte ich mich für zu gut. Er solle sich ein anderes suchen und –
„Das glaubst Du ja selbst nicht,“ hörte ich in Adelens ruhig klarer Stimme.
Nun gut: dazu hatte ich vielleicht nicht den Muth. Aber eine Scene im „Münzer“ wollte ich schreiben und ihm zu lesen geben, die mir den Absagebrief ersparen sollte!
„Das glaubst Du ja wieder nicht,“ sagte die klare Stimme.
Nein, ich glaubte es wieder nicht. Er würde mich deßhalb so wenig fortjagen, wie er es gethan trotz aller ähnlichen Veranlassungen, die ich ihm bereits gegeben, und bei denen er nie den Herzog herausgekehrt hatte, sondern immer der großherzige geistreiche Mann und freundliche Berather geblieben war.
Oder log ich mir vielmehr das jetzt vor und legte mir die Dinge zurecht, wie sie liegen mußten, und sah die Personen, wie ich sie sehen mußte um Adele’s willen? Und wie sie nicht lagen und nicht aussahen, sobald ich Adele aus der Rechnung ließ, die dann auf keine Weise mehr stimmte?
Aber was war denn ich für sie, die mir Alles war und die Angel, in der sich für mich diese ganze höfische Welt drehte – was war ich für sie? Ein Nichts, ein Pudel, mit dem man spielt und den man ins Wasser schickt, wo es für Einen selbst zu tief wird; ein lieber Junge im besten Fall, bei dem man sich ruhig ausweinen kann, weil er ja doch geduldig still hält, und dem man nachher zur Belohnung einen Kuß giebt. Einen Kuß, mit dem man eben – liebe Jungen küßt, nicht bloß im Abendschatten verschwiegener Bäume, nein! vor aller Welt küssen dürfte, vor den Augen auch des Mannes, den man liebt, und der ja besser weiß, wie ihre Küsse brennen, ihre wahren Küsse!
So in den Alleen, den verschlungenen Gängen des Parkes, über den bereits die Nacht herabsank, irrte ich ohne Rast und Ruhe. Schon ein paarmal war ich am Schlosse gewesen und immer wieder umgekehrt in den Park hinein auf ihre Villa zu, bis ich das Licht aus den Fenstern schimmern sehen würde. Arme unglückliche Motte, ich! Als ob ich mir nicht schon die Flügel so arg verbrannt hätte! Was wollte ich denn noch? Ihre Verzeihung erbetteln? Nun, die würde sie mir wohl gewähren und, wenn ich gar sehr bettelte, noch einen Kuß! den ersten und – letzten! Das wußte ich! So hatte ich sie doch einmal geküßt, einmal an mein Herz gedrückt –
Nein, nein! auf diesem Wege lag Wahnsinn! Zurück, Unglücklicher, wenn Du noch einen Funken von Stolz in dir hast! wenn du dich nicht auf ewig verachten und hassen sollst, wie du dich ihr verächtlich und hassenswerth gemacht hättest!
Und bereits wieder – zum zehnten Male vielleicht – angesichts der Villa, aus deren Salon jetzt wirklich das Licht der Lampe von ihrem Arbeitstische schimmerte – ich kannte die Stelle so genau! – kehrte ich um wie Einer, der ein Verbrechen begehen will und den plötzlich der Muth zur That verläßt. In halber Sinnlosigkeit war ich so schon eine Strecke fortgerannt, bevor ich merkte, daß ich nicht den Weg zum Schloß, sondern zur Stadt eingeschlagen hatte. Die Wege glichen sich freilich sehr und der eine war so einsam wie der andere. Es war ja auch ganz gleich, wohin ich ging. An Arbeiten war doch nicht zu denken. Der Herzog, der morgen in der Frühe auf acht Tage nach Berlin wollte und in sehr ungnädiger Stimmung war (er war es immer, wenn er nach Berlin mußte), hatte für heute Abend jede Gesellschaft abgesagt. Ich hatte eine dunkle Erinnerung an ein Rendezvous, das ich mir mit Renten und dem Lieutenant von Brink in einem Restaurant der Stadt gegeben. Also zur Stadt!
Plötzlich stand ich still. Auf dem immer noch völlig verlassenen Wege kam mir Jemand sehr raschen Schrittes entgegen. Es mochte Renten sein, der mich von Frau von Trümmnau abzuholen kam. Mit meinem schlechten Gewissen wollte ich aber gerade jetzt nicht von daher kommen; lieber mochte er sich dort sagen lassen, daß ich bereits seit einer Stunde fort sei. Dies und was es sonst noch war, ging mir durch die Seele, und in demselben Moment hatte ich mich, der ich so schon hart am Rande des Weges schritt, an den dicken Stamm eines Baumes gedrückt, bereit, im Falle mich Renten doch bemerken sollte, einen Scherz aus der Sache zu machen. Aber der da kam, bemerkte mich nicht, und es war nicht Renten. Als der Mann ein wenig an mir vorbei war, hatte ich in dem Dämmerschein des Mondes, der eben jetzt durch die Wipfel zu scheinen begann, seine Gestalt hinreichend deutlich gesehen. Es mußte ein Fremder sein. Ich kannte ja so ziemlich Jeden in der kleinen Stadt, und auch die Tracht war anders gewesen, wenigstens kein sommerlicher Promenadenanzug, eher ein Reisekostüm. Vor einer Viertelstunde hatte der Eilzug auf der großen Linie von Norden nach Süden die Stadt passirt. Jemand, der so schnell ging, wie der Fremde, konnte sehr wohl die Strecke vom Bahnhof durch die Stadt auf dem kürzeren, ja auch um die Stadt herum auf dem längeren Wege durch den Park zurückgelegt haben. Was aber suchte er hier, wo auf herzoglichem Terrain kein Haus mehr lag, nur noch Adele’s Villa?
Der Fremde war in so geringer Entfernung von mir, daß ich seine Gestalt noch immer deutlich unterscheiden konnte, stehen geblieben, vermuthlich unsicher über den Weg, der gerade an dem Punkte sich kreuzte. Links lief die Fahrstraße nach dem Schlosse, das, in weiterer Entfernung, von der Stelle unsichtbar, hinter den Bäumen lag; rechts führte eine Abzweigung der Fahrstraße eben nur noch bis zur Villa, und die konnte man von da aus sehen, zumal jetzt, wo ihre weiße Fronte der Mond bescheinen mußte und zum Ueberfluß die Lampe in Adele’s Salon brannte. Der Fremde wandte sich nach rechts.
Mein Herz, das, ich wußte selbst nicht warum, heftig geschlagen hatte, stand plötzlich still vor einem Gedanken, der mich durchzuckte wie ein Blitz, der vom nächtlichen Himmel fährt und für einen Moment Tagesklarheit über die dunkle Welt streut. Nur für einen Moment, gerade lange genug, um, was bare Tollheit schien, für mich zu einer schauerliche Möglichkeit, zur grausamen Gewißheit zu machen. Sie war so seltsam aufgeregt gewesen; hatte mich, trotz meiner flehentlichen Bitte, nur noch eine Viertelstunde, nur noch fünf Minuten bleiben zu dürfen, ganz gegen ihre Gewohnheit und so unbarmherzig weggeschickt – vor mir war sie sicher und ebenso vor dem Herzog, der morgen früh verreiste und sie nach der Scene am Vormittage heute Abend gewiß nicht mehr besuchen würde. Da mochte sie in aller Heimlichkeit Den empfangen, um derentwillen sie sich scheiden lassen wollte. Und dem ihre Thränen geflossen waren, die sie dann so schnell wieder getrocknet hatte, weil sie wußte, daß er auf dem Wege zu ihr war; sie ihn trotz alledem binnen einer Stunde in ihren Armen halten würde: den Russen, den Herrn von Pahlen!
Als hätte das Alles nicht in meinem dunklen Herzen, sondern mit Flammenschrift vor mir auf der schwarzen Waldwand gestanden, war es der eifersüchtigen Seele aufgegangen tausendmal schneller, als Worte es auszusprechen vermögen. Aber ob ich das war, der da hinter dem Fremden her unter den breiten Kronen der Bäume am Rande des Weges hinhuschte, ob ein Gespenst meiner selbst – ich hätte es nicht zu sagen gewußt, so ganz waren alle meine Sinne nur bei der schwarzen Gestalt, die da, jetzt im Schatten, daß sie fast verschwand, jetzt deutlich im Licht des Mondes, vor mir auf dem Wege hinglitt – immer vor mir her – nun an der Mauer, die das Villawäldchen von der Fahrstraße schied; nun an dem höheren eisernen Gitter längs der Bosketts; nun an dem niedrigeren des Vorgartens und, an der Gitterthür angelangt, sich nicht weiter bewegte. Jetzt der Ton der Klingel, sehr vorsichtig, sehr leise – einmal, zweimal. Die Thür sprang auf (sie wurde vom Hause aus geöffnet); – die Gestalt glitt durch die Thür; durch den Vorgarten, in welchem sie aber erst wenige Schritte auf die Verandatreppe zu gemacht hatte, als das Licht im Salon plötzlich sich bewegte – in den nach dem Hintergarten gelegenen zweiten Salon; ich hatte ganz deutlich die Verbindungsthür auf- und zugehen sehen. Inzwischen war die Gestalt durch den Vorgarten bis zur Verandatreppe gelangt. Hier verlor ich sie hinter dem Geflecht des wilden Weines, mit dem die Treppe überrankt war; erblickte sie aber sofort wieder, als sie zwischen den Verandasäulen hinglitt und durch die offene Thür in den jetzt dunklen Salon trat. In demselben Momente hatte ich mich über das Gitter in den Garten geschwungen, mich nach rechts schlagend, wo mir die Bosketts Schutz gewährten. Hier hielt ich still, nicht aus Scham – ich empfand keine, auch nicht die leiseste Regung – nur um das hämmernde Herz ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen und zu überlegen, wie ich bis zu den Fenstern des hinteren Salons gelangen könne, in den Adele geflüchtet war, dort in größerer Sicherheit den Liebsten zu empfangen. Die Entfernung war nur gering; aber die Blumenbeete boten keine Deckung, und den Zugang zu der Thür bildete ein fast aufsteigender Rasenplatz, durch welchen ein mit Blattpflanzen in Vasen besetzter Kiespfad bis zur Thürschwelle führte. Die Thür, hier von Holz, war zu, und das war ein Vortheil für den Heranschleichenden, der nun die Wahl hatte zwischen den beiden Fenstern, je einem zu Seiten der Thür, die freilich, da der Rasenplatz nach rechts und links schärfer abfiel, bereits in ziemlicher Höhe über dem Erdboden lagen. Ich würde, den Fuß auf die schmale Mauerplinthe setzend, mich an dem Fenstersims emporziehen müssen.
Aber das letzte Schamlose wurde mir Gott sei Dank erspart. Die Thür in beiden Flugeln wurde von innen aufgestoßen und sie traten auf die Schwelle. Es mochte sie nicht geduldet haben in dem verschlossenen Raume, die Glütklichen; sie mochten die keusche Nacht und die reinen Sterne haben anrufen wollen zu Zeugen ihres Glückes.
Und so standen sie – die beiden Gestalten scharf abgezeichnet auf dem helleren Hintergrunde des Zimmers – in die Nacht hinein, zu den Sternen aufblickend; sie den Kopf an seine Schulter lehnend, wie vorhin auf die meine; er den Arm um ihren Leib schmiegend, wie ich es vorhin gethan. Und nun hob sie das Antlitz, in welchem ich ihre Augen glänzen zu sehen meinte, zu ihm empor; er senkte das seine, sie ganz umschlingend, wie sie ihn.
Die Thür war geschlossen, und nur der Lampe Licht dämmerte durch die Fenster, als der Unglückliche in dem Schatten der Bosketts wieder die brennenden Augen aufzuheben wagte. Und dann schleppte er sich aus dem Garten unter der Doppellast seiner Verrätherschuld, die er jetzt in schauerlichster Klarheit ermessen konnte, und seines Leides, dessen grauenhafte Tiefe ihm unermeßlich schien.
Ich weiß nicht, wie ich in das Schloß und auf mein Zimmer zurückgekommen bin, wo Holzbock ängstlich meiner harrte. Der Herzog hatte bereits zweimal anfragen lassen, ob ich noch immer nicht zu Hause sei; er wünsche mich heute Abend auf eine Stunde zu sprechem
Holzhock war davongeeilt, die Nachricht von meiner Rückkunft hinüber gelangen zu lassen. Ich machte mich in aller Eile ein wenig zurecht. Es war durchaus nichts Seltenes, daß der Herzog mich so auf meinem Zimmer besuchte, besonders des Abends, wenn er drüben fürstliche oder andere besonders vornehme Gesellschaft bei sich gesehen hatte, zu der ich niemals gezogen wurde. Ich hatte manchmal das wunderliche Gefühl gehabt, als wolle er mich dann für eine Entbehrung, die freilich nur in seinen Augen eine sein mochte, in den meinen nur eine Wohlthat war, durch eine besondere Gunst entschädigen. Jedenfalls war er niemals munterer und liebenswürdiger, als in solchen Stunden, in denen es mir wahrlich oft schwer fiel, mich daran zu erinnern, daß der Mann da vor mir auf dem Sofa, der so endlos Cigarren rauchte, die ihm im Eifer der Rede immer wieder ausgingen, und dazu Wasser mit Kognak nippte (nur um sich die Zunge zu erfrischen, denn er war im Essen und Trinken die Mäßigkeit selbst) – daß dieser Mann, der über Gott und die Welt seine Gedanken mit dem höchsten Freimuthe eines Künstlers oder Gelehrten aussprach, ein Herzog und gebietender Herr sei.
So waren mir diese Besuche immer ein kleines Fest gewesen; heute sah ich seinem Kommen schaudernd entgegen. Er pflegte unter zwei Stunden nicht zu gehen, und ich fühlte mich zum Tode erschöpft, wollte ich auch an meinen Seelenzustand gar nicht denken. Es würde eine fürchterliche Qual werden, besonders wenn er, was ich zuletzt am „Thomas Münzer“ unter seiner Einwirkung fast nach seiner Angabe geschrieben, zu hören verlangte. Ich wußte, daß ich nicht die Kraft dazu haben würde. Sollte ich nicht versuchen, mich mit Unwohlsein zu entschuldigen? Es wäre keine Lüge gewesen; aber bei Hofe durfte man ja nicht unwohl sein, sobald der Dienst es anders verlangte. Und da kam auch schon Holzbock athemlos zurück: Hoheit folge ihm auf dem Fuße.
Es währte in der That nur noch wenige Minuten, als ich bereits seinen schweren und etwas unregelmäßigen raschen Schritt hörte. Einen Blick auf mein geisterhaft blasses Gesicht im Spiegel, einen zweiten nach dem Tische vor dem Sofa, wo die Kognak- und Sodawasserkaraffen mit dem Glase auf dem silbernen Präsentirteller und daneben die Cigarrenkiste mit dem Aschbecher zwischen den beiden dreiarmigen Leuchtern regelrecht standen, und er trat herein, während Holzbock, der ihm die Thür geöffnet, und der Kammerdiener, der ihn hierher begleitet, auf dem Korridor blieben: er liebte es, die kleinen Dienste, die etwa im Laufe eines solchen Abends nöthig wurden, sich von mir leisten zu lassen. So mischte ich ihm denn als er in seiner Sofa-Ecke Platz genommen und sich das Kissen unter den Arm geschoben hatte (die Lehne war ihm etwas zu niedrig) sein Glas, bot ihm die Cigarre, deren Spitze bereits abgeschnitten sein mußte, und setzte mich auf seinen Wink ihm gegenüber, im Kampfe mit einer halben Ohnmacht, die mich für den Rest des Abends das Schlimmste befürchten ließ.
O dieser Abend! Wie oft habe ich später seiner denken müssen mit Schaudern des Entsetzens, in Erinnerung der Qualen, die ich während desselben erduldet, und tiefster Wehmuth, eingedenk, daß es der letzte war, welchen ich mit ihm verleben durfte, der, wie er von sich zu sagen pflegte, etwas Besseres verdient hätte, denn als Fürst geboren zu sein, und dessen Andenken mir ewig theuer bleiben wird – trotz alledem!
Ich erinnere mich nicht genau, worüber er im Anfang sprach: ich sollte meinen, es waren Theaterangelegenheiten, die ihm gerade jetzt viel Aerger bereiteten. Einige tüchtigere Kräfte hatte man verloren, weil der Etat mit den immer sich steigernden Gage-Anforderungen nicht Schritt halten konnte; ein paar neue Engagements waren nur als Nothbehelfe zu betrachten; die trostloseste Saison stand in Aussicht, wenn man sich nicht Knall und Fall entschloß, die so schon ein kümmerliches Dasein fristende Oper ganz und gar aufzugeben, was wieder des Publikums wegen sein Bedenkliches hatte. Es war ein Glück für mich, daß diese Dinge seit Wochen das ständige Thema der Kavaliertafel gewesen waren; so mochte ich denn meine zerstreuten Ja und Nein so ziemlich an den richtigen Stellen angebracht haben. Dabei hatte ich doch den Eindruck, daß der Herzog selbst zerstreut war und weniger bündig und zur Sache sprach, als sonst seine Weise, während er mit noch besonderer Hast rauchte, und ich ihm, ebenfalls gegen die Gewohnheit, schon nach den ersten Minuten sein Glas zum zweiten Male hatte füllen müssen.
Machen Sie sich auch eines zurecht,“ sagte er plötzlich; „Sie sehen erbärmlich aus. Ist ihnen nicht wohl?“
„Doch, doch!“ stammelte ich, indem ich, meine Verlegenheit zu verbergen, hastig seinem Befehle nachkam und gierig ein paar Schlucke trank.
„Wo sind Sie heute gewesen?“
Ich setzte zitternd das Glas nieder. Der Ton der Frage war so anders, als in welchem er bisher gesprochen. Hatte er jetzt das Thema berührt, zu dem die Theatermisere nur das Präludium gewesen?
„Nun?“
„Bei Frau von Trümmnau,“ brachte ich noch eben heraus.
„Sie sagen das so zögernd und mit solcher verzweifelten Miene. Was hat’s denn da gegeben?“
Was es da gegeben? War mir der Kognak zu Kopf gestiegen? Was es da gegeben? Es fehlte nur ein Kleines, und ich hätte laut aufgelacht. Wunderliche Dinge hatte es da gegeben, fürwahr! Und die auch ihn sehr interessiren würden, wenn ich sie ihm nur sagen dürfte!
Es schien ihn nicht zu überraschen, daß ich mit der Antwort zögerte, wenigstens mischte sich, wie mir schien, eine gewisse Verlegenheit in den Blick, den er gespannt auf mich gerichtet hielt.
„Ich will es wissen," sagte er dann kurz und scharf.
Und als selbst jetzt meine Antwort nicht kam:
„Mein Gott, wozu diese Heimlichthuerei, wo es nichts zu verheimlichen giebt. Sie hat sich über mich beklagt; sie hat mich einen Barbaren, einen Tyrannen und so weiter gescholten. Und Sie haben ihr darin sekundirt. Als ob ich das Alles nicht wüßte!“
Nun, wenn er das Alles wußte, hatte es freilich keinen Sinn, mit der Wahrheit zurückzuhalten, so weit dieselbe überhaupt mittheilbar war.
„Ja, Hoheit,“ sagte ich, „ungefähr so ist es gewesen, und ich leugne nicht, daß ich Frau von Trümmuau Recht geben mußte.“
„So!“ rief er eifrig, sich emporrichtend und die ausgegangene Cigarre an dem Licht der Kerze von Neuem entzündend – „Recht geben mußte! Das ist denn freilich sehr bequem, wenn man die Medaille nur von der einen Seite sieht. Oder hätte sie Ihnen auch die andere gezeigt? Hätte sie Ihnen wirklich gesagt, welches der eigentliche Grund ist, weßhalb sie geschieden sein will? Heirathen will sie von Neuem – das ist das Lange und Kurze von der Sache."
„Das wußte ich freilich nicht,“ sagte ich mit einem bösen Lächeln, das der Eifrige glücklicher Weise nicht sah.
„Aber so ist es,“ rief er, „und wen? Einen Russen, einen Grafen Pahlen – Sie werden durch Renten von ihm gehört haben. Ich danke unterthänigst! Soll ich sie vielleicht nach Rußland ziehen lassen? Der Mann ist Officier – ein ganz verdienstvoller, gebe ich zu, muß ich zugeben, und ein besonderer Günstling des Kaisers, der nicht daran denkt, ihm den Abschied zu bewilligen, an den er selbst übrigens eben so wenig denken kann, da er arm ist wie eine Kirchenmaus. Nun, und Frau von Trümmnau’s Vermögen geht in der Scheidung bei Heller und Pfennig an Herrn von Trümmnau. Das ist sicher. Und die Herrschaften sitzen da vis-à-vis de rien. Soll ich die Herrschaften etwa noch ausstatten zum Lohn dafür, daß sie wider meinen Willen heirathen?“
„Es wird Hoheit kaum etwas Anderes übrig bleiben,“ sagte ich.
Er blickte mich an, sprachlos über meine Kühnheit. Ich aber war entschlossen, für Adele einzustehen, mochte daraus kommen, was wollte.
„Ich meine nur,“ fuhr ich fort, „daß Hoheit doch gewiß Frau von Trümmnau nicht unglücklich machen wollen. Und wie kann sie anders als unglücklich werden und sein, wenn sie gezwungen ist, Frau von Trümmnau zu bleiben, während sie jenen andern Herrn liebt und dieser sie?“
„Ach was, Liebe!“ rief er. „Das redet man sich ein und redet man sich auch wieder aus. Zu dem Ersteren haben sie genau zwei Wochen Zeit gehabt, zu dem Letzteren schon zwei Jahre.“
„Die denn doch noch nicht eben viel geholfen zu haben scheinen,“ warf ich ein.
„So geben wir noch ein paar Jahre zu. Die werden wohl Hilfe bringen, vorausgesetzt, daß sie sich unterdessen nicht wieder sehen. Ich wüßte nicht, wie sie das anstellen sollten. Frau von Trümmnau wird nicht wagen, etwas gegen meinen ausgesprochenen Willen zu unternehmen, und ich werde schon dafür sorgen, daß der Herr keinen Urlaub und keinen Paß ins Ausland bekommt.“
Ich mußte abermals sehr an mich halten, um gegenüber dieser pompösen Sicherheit, in Erinnerung der zärtlichen Scene, die ich vor einer Stunde mit meinen Augen gesehen, nicht in ein tolles Gelächter auszubrechen. Was da eben in der verschwiegenen Villa vor sich ging – er und ich, wir hatten ja Beide die Kosten zu zahlen. Nur, daß ich sie schon mit brennenden Thränen der Scham, mit wüthender Verzweiflung bezahlt hatte und weiter würde bezahlen müssen, und, es zu thun und zu entsagen und Großmuth zu üben entschlossen war und sie bereits übte, indem ich für die Glücklichen bei dem Tyrannen sprach, der die eigene Tochter in Sklavenketten hielt, wie seine ganze Umgebung – mich eingeschlossen! Oder hätte ich sonst da still gesessen, meinen Zorn in mich hineinwürgend, anstatt ihm ins Gesicht zu sagen, wie ich dachte?
„Was fehlt ihr hier?" fuhr er nach einer Pause fort, in welcher er heftig vor sich hin geraucht hatte; „sie hat Alles, was sie nur wünschen mag und tausendmal mehr Annehmlichkeiten des Lebens, als sie je in Petersburg haben würde, oder gar in irgend einem Raubnest da hinten am Kaukasus, wohin den Herrn jeden Tag der Dienst rufen kann. Aber es ist immer die alte Geschichte. Verständige Leute, welche die Welt kennen, wollen euch jungen Leuten, die ihr die Welt nicht kennt, das Leben schicklich einrichten, und ihr schreit über Tyrannei, steift euch gegen das Joch, und wäre es noch so sanft, noch so sehr zu eurem Heil; werft es womöglich ab und lauft in die Welt hinein, wo ihr das Glück zu finden hofft und nichts als Unheil findet, respektive anrichtet. – Da ist mir noch in diesen Tagen eine seltsame Affaire zu Ohren gekommen, die so recht eine Illustration eines solchen jugendlichen Frevels ist und Sie auch interessiren wird. Sie kennen ja die Familie Vogtriz? Natürlich. Wir sprachen gelegentlich einmal über den Major von Vogtriz; der Weißfisch hat mir so Manches über die Herrschaften berichtet, bei denen Sie ja im vorigen Sommer zum Besuch waren zugleich mit dem Kammerhern, der sich übrigens bitter bei mir beklagt, daß ich ihm den Weißfisch entführt habe, wie er sich auszudrücken beliebt. A propos: sehen Sie den Mann jetzt noch öfter – den weißfisch?"
Weißfisch – die Familie Vogtriz – der Kammerherr – wo kam das Alles auf einmal her? Ich blickte verwundert auf; aber ich konnte seine Mienen nicht deutlich sehen – er hatte sich eben in eine gar zu dichte Tabakswolke gehüllt.
„Nein,“ antwortete ich auf die letzte Frage; „Hoheit schienen es nicht zu wünschen.“
„Ich wünsche es auch in der That nicht,“ erwiderte er. „Auf seinem Theatersekretärposten, den ich ihm auf seinen Wunsch gegeben habe, richtet er nur Dummheiten an, und ich habe gegründete Ursache, anzunehmen, daß er mich bei einer früheren wichtigen Gelegenheit arg düpirt hat. Nein, nein! es ist ganz gut, daß Sie sich den Schelm fern halten, den ich übrigens wegzuschicken entschlossen bin. Aber um auf die Affaire, auf die ich hindeutete, zurückzukommen. Ist ihnen damals in Nonnendorf – so heißt es ja wohl? – von einem Vogtriz gesprochen, einem jüngeren Bruder des Vaters der jetzt lebenden Brüder Vogtriz: des Majors, des Herrn auf Nonnendorf und, ich glaube, ein dritter existirt als Präsident oder deßgleichen in Berlin? Jener Onkel also, ein übrigens noch blutjunger Mann, der hier in Europa nicht gut that, war nach Amerika gegangen, vermuthlich dahin geschickt worden, wie so viele adlige Thunichtguts; hatte aber dort wider alles Erwarten seine Fortüne gemacht durch eine Heirath mit der einzigen Tochter eines der reichsten New-Yorker Banquiers. Scheint indessen der rechte Hans im Glücke gewesen zu sein, da er nichts Eiligeres zu thun hatte, als ein halbes Jahr nach der Hochzeit zu sterben. Die junge Frau folgte ihm, wiederum ein halbes Jahr später, nachdem sie einem Kinde das Leben gegeben, dessen Geburt ihr eben selbst das Leben kostete. Hatten Sie von diesen Dingen in der Familie wirklich nichts gehört?“
„Nur im Allgemeinen,“ erwiderte ich, „nicht in diesen Details.“
„Die ich eben auch nur aus den amerikanischen Zeitungen kenne,“ fuhr er fort. „Sie wissen, daß ich diese, sowie die englischen, stets mit Interesse verfolge; sie sind jetzt voll von der Sache, besonders natürlich die amerikanischen. Ein Fall, in welchem es sich um viele Millionen handelt, ist eine nationale Angelegenheit, Uebrigens hätten Sie die Geschichte nur bis zu diesem Punkte, von den Vogtriz hören können, die, wie aus dem weiteren Verlauf hervorgeht, zu der amerikanischen Familie, in welche ihr Verwandter geheirathet, wohl von Anfang an kaum in nähere Beziehung traten und jedenfalls später mit derselben außer allem Konnex gekommen sind. Aber wo war ich stehen geblieben?“
„Bei der Geburt des Kindes,“ erwiderte ich, dessen düstere Zerstreutheit nun doch der Theilnahme an dem Geschicke dieser Menschen gewichen war, von denen ich zuerst in den guten Schlagododro-Tagen gehört hatte: von dem Freunde in dem Ahnensaale der Vogtriz vor dem Bilde jenes seines Großonkels. Ich hatte demselben ja ähnlich sein sollen, obgleich ich es nicht finden konnte und eine Aehnlichkeit höchstens darin sah, daß der junge Mann, wie ich, weder Glück noch Stern gehabt.
„Richtig,“ sagte der Herzog, „bei der Geburt des Kindes, der Heldin dieser nach den Zeitungen wahrhaftigen Geschichte. Sie wuchs aber in dem Hause der Großeltern auf, die außer jener Tochter eben keine Kinder hatten und deren Abgott sie natürlich war und blieb, trotzdem sie schon früh eine Neigung zu Extravaganzen an den Tag gelegt zu haben scheint. Mit sechs Jahren – immer den wahrhaftigen Zeitungen folgend – war sie bereits ihren Großeltern entlaufen, um mit einer braunen Zigeunerin, die es ihr angethan – es treibt sich in New-York viel dergleichen Gesindels umher, das an den Straßenecken singt oder sonstige brotlose Künste ausführt – ich habe oft, als ich drüben war, meinen Spaß daran gehabt – kurz mit einem solchen Weibe war die Kleine davongelaufen, für die Hexe, die sie ,so gejammert‘, mit dem Teller zu sammeln und, wenn die Person, was oft geschah, zu betrunken war, die Zotenlieder derselben mit ihrer hellen unschuldigen Kinderstimme zu singen. Die Polizei hatte ihre liebe Noth, die kleine Vagabundin wiedereinzufangen. Als sie knapp zwölf Jahre, kam statt der Ziegeunerin irgend eine verrückte religiöse Sekte an die Reihe, die es ihr wiederum ,angethan‘, und diesmal war der Fall insofern ernster, als sie mit der ehrenwerthen Gesellschaft von New-York fortgezogen und verschwunden war, bis sie, ich weiß nicht wo, endlich entdeckt und zu ihren Großeltern zurückgebracht wurde, die natürlich abermals ein Freudenkalb schlachteten. Dann scheinen sie Ruhe vor den Emancipationsgelüsten der jungen Miß gehabt zu haben; aber mittlerweile war sie achtzehn Jahre alt geworden und besann sich darauf, daß sie nach der extravaganten Seite etwas Entscheidendes thun müsse. Dies bestand denn darin, daß sie sich in einen Schauspieler verliebte – einen strolling actor – dessen unrühmliche Bekanntschaft sie in einem Seebade gemacht hatte, und den sie heirathen zu müssen erklärte, ob mit ob ohne Einwilligung der Großeltern. Die dann zu einem sehr mißlichen Vertheidigungsmittel griffen. Sie schickten nämlich den jungen Herrn in den fernsten Westen mit einer Entschädigungssumme, die ganz anständig gewesen sein wird, aber nur ein paar wilde Nächte in den Spielhöllen von San Francisko – dem San Francisko von damals! – vorhielt, worauf denn der arme Teufel ohne einen Pfennig in der Tasche, dafür aber mit einer Revolverkugel im Leibe an einem schönen Morgen von dem Straßenpflaster oder aus dem Straßenschmutz aufgehoben und in ein Hospital oder dergleichen gebracht wurde. Leider hatte er noch Leben genug, an die Miß in New-York einen Brief zu diktiren, den diese kaum empfangen hatte, als sie auch schon auf dem Wege nach San Francisko war mit einer nicht unbedeutenden Summe – der Erbschaft irgend einer reichen Tante – die sie stets selbst verwaltet und längst für alle Eventualitäten bereit gehalten hatte. Sie gelangte unangefochten bis an das Ziel ihrer Reise, die freilich insofern resultatlos ausfiel, als sie den jungen Mann bereits als Leiche fand. Von dem pompösen Begräbnisse, das sie ihm bereiten ließ, verschwand sie in der zusammengelaufenen Menge in dem Augenblicke, als der bekümmerte Großvater, der ihr nachgeeilt war, auf dem Plane erschien. Verschwand und blieb verschwunden. Wie das möglich gewesen trotz der angestellten Recherchen, die bei den Mitteln des alten New-Yorker Banquiers sicherlich mit großem Nachdruck betrieben wurden, darüber wissen selbst die sonst allwissenden Zeitungen keine Auskunft zu geben. Die Vermuthung ist, daß sie sich längere oder kürzere Zeit in einem der selbst für die Polizei unzugänglichen ,camps‘ der Goldgräber verborgen gehalten und sich dann auf einem ostindischen Dampfer heimlich – trotz aller Ueberwachung der Häfen – eingeschifft hat.“
Der Herzog schwieg und zündete sich eine neue Cigarre an. Ich mischte ihm ein drittes Glas und sagte:
„Die Geschichte kann doch nicht zu Ende sein, Hoheit.“
„Weßhalb nicht?“
„Weil ich sonst nicht wüßte, weßhalb sich die Zeitungen mit derselben beschäftigen sollten, gerade jetzt, nachdem doch eine, wie mir däucht, geraume Zeit darüber verflossen ist. Oder ist der Banquier etwa jetzt erst gestorben, und man weiß nicht, wohin mit den Millionen?“
Ein flüchtiges Lächeln zog über das Gesicht des Herzogs.
„Sieh, sieh!“ sagte er. „Nun, die Vermuthung macht Ihrem Scharfsinn alle Ehre. Sie ist nämlich richtig. Der alte Banquier Gilmore – oder hatte ich den Namen schon genannt?“ –
„Nein, Hoheit.“
„Also, der alte Banquier Gilmore ist gestorben, nachdem ihm seine Gattin schon ein paar Jahre vorausgegangen, und man hat in der That, kurze Zeit wenigstens, nicht gewußt, wohin mit den Millionen, oder doch mit dem größten Theil derselben. Der alte Herr hatte nämlich ein Testament hinterlassen des Inhalts, daß, im Falle seine geliebte Enkelin, Miß Katharina Vogtriz – denn das war ihr legitimer Name, – noch lebe und sich bis zu einer bestimmten Frist melden würde, ihr zwei Drittel der Hinterlassenschaft auszuliefern seien, wenn sie unvermählt geblieben, dagegen das Ganze, wenn sie sich vermählt und Nachkommenschaft habe. Wiederum dieser Nachkommenschaft ein Drittel, wenn sie selbst inzwischen gestorben wäre. Der Rest im ersten Falle sollte für bestimmte wohlthätige Stiftungen verwandt werden, und das Ganze, falls keiner jener Fälle eintrete; also, wenn weder sie – sei es nun mit, sei es ohne Nachkommenschaft – noch betreffende Nachkommen ohne sie als Erben bis zu jener Frist ihre Ansprüche geltend machten. Dieses seltsame Testament war nach dem Willen des Testators in allen Hauptzeitungen der Erde, wenigstens der Hauptsache nach, veröffentlicht worden, und es währte denn in der That auch nur wenige Wochen, als bereits – nun rathen Sie einmal!“
„Sich die Erbin meldete?“ sagte ich auf gut Glück.
„Bravo! aber nun: mit oder ohne Nachkommen?“
„Im Interesse meiner Nonnendorfer Freunde hoffe ich das Letztere,“ erwiderte ich. „So bleibt für sie doch die Aussicht, wenn nicht auf einen reichen Onkel, so doch auf eine reiche Tante aus Amerika.“
„Nun, die haben sie freilich,“ sagte der Herzog. „Es hat allerdings vorher noch einen scharfen Rechtshandel gegeben, da man die Reklamantin natürlich nicht ohne Weiteres als legitimirt gelten lassen wollte. Aber sie muß doch ihre Identität überzeugend nachgewiesen, oder, was auf dasselbe herauskommt, sehr gute Rechtsbeistände gehabt haben – jedenfalls haben ihr die zuständigen zwei Drittel, die nebenbei noch immer die erfreuliche Summe von fünf oder sechs Millionen Dollars betragen, ausgeliefert werden müssen. Nun, was sagen Sie?“
„Daß Hoheit die Geschichte, wie alle, die ich von Hoheit noch zu hören bekommen, meisterhaft erzählt haben.“
„Danke unterthänigst. Aber ist das Alles?“
Der Herzog blickte mich so gespannt an – mit Augen, die wieder einmal den starren gläsernen Glanz hatten.
„Was können Hoheit sonst noch meinen?“ fragte ich verwundert.
„Ist Ihnen denn bei der Geschichte wirklich nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, daß die Heldin derselben – Ihre Mutter sein könnte?“
„Hoheit belieben zu scherzen.“
„Ganz und gar nicht. Sie haben mir mitgetheilt, was Ihnen Ihr Adoptiv-Vater gelegentlich von dem Vorleben Ihrer Mutter erzählt hat. Das stimmt ja nun freilich in keiner Weise mit den Erlebnissen der Heldin meiner Geschichte. Aber kann Ihnen Ihr Adoptivvater nicht aus immerhin ehrenwerthen Gründen die Wahrheit verschwiegen und anstatt derselben ein Märchen aufgetischt haben?“
„Das ist unmöglich, Hoheit,“ erwiderte ich. „Dazu war der Vater nicht der Mann. Aus seinem Munde ist nie ein unwahres Wort gegangen.“
„So mag es für ihn Wahrheit und doch ein Märchen gewesen sein – dann von der Erfindung Ihrer Frau Mutter selbstverständlich. Ich bemerke dazu, daß in den Zeitungen über die Erlebnisse der Miß Vogtriz in den Jahren, welche zwischen ihrem Verschwinden vom amerikanischen Schauplatze und ihrem Wiedererscheinen auf demselben liegen, nichts verlautet, wir also Freiheit haben, diese lange Intervalle nach Belieben – ich meine so auszufüllen, wie wir müssen, wollen wir sie – Ihre Mutter – ins Spiel bringen.“
„Aber weßhalb wollen Hoheit das?" rief ich.
„Nun mein Gott,“ erwiderte er lebhaft, „das ist doch am Ende leicht begreiflich. Ich glaube Ihnen ausreichende Beweise gegeben zu haben, daß ich mich für Sie interessire; daß ich Ihr Bestes will; Ihnen eine Position im Leben zu verschaffen wünsche, die den Aspirationen, zu welchen Sie Ihre schönen Talente berechtigen, entspricht. Leider wird die bloße Berechtigung des Talentes heut zu Tage selten anerkannt, jedenfalls leichter anerkannt, und das Talent selbst kann sich ganz anders frei und fröhlich entfalten, wenn es die irdische Basis eines soliden Vermögens hat. Das kann ich Ihnen beim besten willen nicht gewähren, denn ich bin selbst ein armer Mann. Und da reizt mich – ich gestehe es gern – der Gedanke, es Ihnen auf diese Weise zu verschaffen. Ich gebe ja zu, die Kombinationen, welche ich da in Ihrem Interesse gemacht, beruhen nur auf Möglichkeiten – Unwahrscheinlichkeiten, wenn Sie wollen; aber es wäre wahrhaftig nicht das erste Mal, daß die anfangs unwahrscheinlichsten Möglichkeiten sich nachträglich in die erfreulichsten Wirklichkeiten verwandelten.“
Ich hatte, während der Herzog so sprach, meinen Sitz ihm gegenüber verlassen und war gegen alle Etikette in peinlichster Erregung im Zimmer auf- und abgeschritten. Bei seinen letzten Worten wandte ich mich wieder zu ihm und rief:
„Wenn nun aber diese Wirklichkeit für mich keine erfreuliche; wenn ich trotz aller Zweifel, die mir in bösen Stunden kommen wollten, mich immer wieder daran festgeklammert habe, wie an einen letzten Rettungsanker, daß meine Mutter, was sie auch an mir gefehlt haben mag, doch ihrem Gatten, meinem Vater, ein treues und liebendes Weib gewesen ist; wenn die Vorstellung der bloßen Möglichkeit, jene amerikanische Abenteurerin könnte meine Mutter sein, und ich müßte mir meinen Vater der Himmel mag wissen wo suchen, mich mit schauderndem Abscheu erfüllt; ja, wenn ich diesen Vater, er sei auch wer er sei, der dann meine Mutter so tief unglücklich gemacht hätte, daß sie mich, ihr Kind, hassen konnte – wenn ich den Mann im Voraus hassen müßte als meinen ärgsten Feind, und das Schicksal bitten müßte, es möchte mich vor dem Gräßlichen bewahren, ihm im Leben jemals zu begegnen –“
„Genug!“ unterbrach mich der Herzog mit rauher gebieterischer Stimme, indem er sich in den Hüften aufreckte und mir einen schnellen drohenden Blick zuwarf; – „setzen Sie sich!“
Ich that, wie er geheißen, voll bittersten Grolles, daß ich gehorchen mußte, während es in meiner Seele nach Freiheit schrie aus dieser goldenen Sklaverei, deren hohnvollen Gegensatz zu dem Schwur, den ich am Sarge des Vaters gethan, ich nie annähernd so tief empfunden, als in diesem Augenblicke.
Er rauchte ein paar Sekunden still vor sich hin, dann sagte er in dem ruhig vornehmen Tone, welcher ihm in jedem Moment zu Gebote stand:
„Sie sind über Gebühr aufgeregt. Ich wiederhole, was ich da gesagt und angedeutet, das sind Kombinationen, wie sie ein Kopf, der nicht ohne alle Phantasie ist, zusammenzuwirken liebt, und die Sie, der Poet, welcher mit dergleichen ex officio hantirt und noch viel krausere Dinge alle Tage ausheckt, Unsereinem – noch dazu, wenn die Absicht die beste von der Welt ist – doch nicht gleich gar so sehr verübeln sollten. Uebrigens kann ich Ihnen zu Ihrer Beruhigung sagen, daß ich, wenn ich mich aufs Phantasiren lege, mir die europäische Episode im Leben der schönen Amerikanerin noch ganz anders auszufüllen vermag, und ich muß mich wundern, daß der Herr Poet nicht von selbst darauf verfallen ist. Oder hätten Ihnen Renten und die anderen Herren wirklich niemals von der hübschen Miß erzählt, die vor einer Reihe von Jahren hier an meinem Theater sang und spielte und mit ihrem Kinde den Tod im Wasser suchte?“
Wieder blickte er mich mit starr gläsern forschenden Augen an; ich schlug die meinen nicht nieder. Ich war empört. Wie konnte er, er es wagen, auf diese gräßliche Geschichte auch nur anzuspielen?
„Ich habe davon gehört,“ erwiderte ich, „lange zuvor: schon von dem Kammerherrn.“
„Ah!“ sagte der Herzog mit einem Lächeln, das mir seltsam gezwungen schien, „der Kammerherr! Da kann ich mir freilich denken, wie er sie erzählt hat. Nun, das mag er mit seinem Gewissen ausmachen. Und da ich keine Ursache habe, ihm das zu erleichtern, habe ich ihn bis heute in dem Glauben erhalten – und gedenke es auch ferner zu thun – daß die Geschichte jenen tragischen Ausgang nahm, mit dem er sie Ihnen erzählte.“
„Hatte sie denn einen anderen?" fragte ich verwundert.
„Freilich,“ erwiderte der Herzog; „denn, sehen Sie nicht, mein höchst scharfsinniger Herr Poet, daß, wenn das nicht der Fall gewesen wäre, ich doch nicht eine Affaire, die hier ein so jähes Ende fand, weiter spinnen und mit der famosen amerikanischen Geschichte kombiniren könnte? Nun, so will ich Ihnen denn sagen, was außer mir und einem Zweiten bis jetzt kein Mensch weiß. Dieser Zweite aber ist der Müller, zehn Minuten von meinem Bellevue, welcher die Unglückliche sammt ihrem Kinde aus dem Wasser gezogen hat und ihr, nachdem er sie noch zwei Tage in seiner Mühle vor aller Welt verborgen gehalten, zur Flucht behilflich gewesen ist. Das Letztere wiederum vor aller Welt geheim, außer vor mir, der ich meine Gründe hatte, der Aermsten die Verborgenheit zu gönnen, nach der sie ein unwiderstehliches und mir sehr begreifliches Verlangen trug. Auch ich hätte mich täuschen lassen wie Jedermann und an das Märchen von der Unauffindbarkeit der Leichen geglaubt, nur daß man einem alten Jäger, Vogelsteller und Fischfänger wie mir nicht so leicht ein Märchen aufbindet, und ich dem Müller auf den Kopf zusagte, wie sich die Sache verhielt. Er ist ein alter zäher Mensch und war der Dame sehr ergeben; aber seinem Herzog gegenüber wagte er denn doch nicht, mit der Wahrheit zurückzuhalten, was ihm nebenbei auch nichts geholfen haben würde. Nun aber paßt Alles – was, wie ich Ihnen herzlich gern zugebe, auf Ihre Mutter gar nicht paßt – à merveille auf meine kleine Sängerin, und ich konnte Ihnen mit den Theilen, die ich in der Hand habe, eine Geschichte konstruiren, die, wenn sie nicht wahr ist – was ich nicht behaupte – doch auf gute Erfindung und logische Konstruktion einigen Anspruch machen dürfte. indessen, Sie sind nun heute Abend einmal für meine poetischen Leistungen nicht empfänglich, und Sie haben mir dadurch völlig den Muth genommen zu einer anderen kleinen Ueberraschung, die ich für Sie vorhatte und die ich nun in petto behalte. Also sprechen wir von etwas Anderem. Wie steht es mit dem ,Münzer‘?“
Ich blickte erschrocken auf. Er war heute wirklich fürchterlich. Was wollte er nun wieder von meinem ,Münzer‘ in dem Augenblick, wo ich mit ganzer Seele bei der letzten Geschichte war, die mich ganz anders interessirte, als der beleidigende Unsinn, in welchen er vorhin den Namen meiner Mutter gemischt hatte. Der ,Münzer‘ war ein Thema, wie er es für die Stimmung, in der ich mich befand, übler nicht hätte wählen können.
„Schlecht steht es," sagte ich nach einer unschicklich langen Pause. „ich kann, je weiter ich komme, mich um so weniger mit der Auffassung Eurer Hoheit befreunden. Behielten die Fürsten nicht nur Recht, wie sie es ja leider in Wirklichkeit gethan haben, sondern hatten auch Recht, wie Hoheit meinen – während sie nach meiner Ansicht nur deßhalb obsiegten, weil sie im Besitz der Macht und Gewalt waren und hier, wie auch sonst, Macht vor Recht ging – dann habe ich, offen gestanden, auch keine Freude mehr an dem Werke, das sich mir unter den Händen zu einem Lobgesang für die Fürsten verwandelt aus einem Mene Tekel der von den Fürsten gemordeten Freiheit.“
„Das thut mir aufrichtig leid,“ erwiderte der Herzog, jetzt wieder ganz in seinem alten freundlich gütigen Tone; „ich hatte geglaubt, daß meine Ansicht, als die historisch richtige, auch in
[338] dem Drama, soll es anders ein wirklich historisches und nicht ein bloßes Phantasma sein, zur Geltung kommen müsse. Ich gebe auch die Hoffnung nicht auf. Denn nach dem, was Sie mir eben gesagt, muß ich schließen, daß Sie mich keineswegs völlig verstanden haben, und so möchte ich mir erlauben, von dem schlecht unterrichteten Poeten an den besser zu unterrichtenden zu appelliren. Dazu ist freilich heute nicht mehr die Zeit.“
Er warf über die Breite des Zimmers einen Blick nach der Stutzuhr auf dem Kamin, von der trotz der Entfernung und der mangelhaften Beleuchtung seine falkenscharfen Augen Stunde und Minute abzulesen vermochten.
„Der Tausend! schon so spät!“ rief er. „Also nun – Ende gut, Alles gut: ein paar hübsche Gedichte!“
Es war dem Herzog fast schon zur Gewohnheit geworden, daß er sich bei diesen Zusammenkünften ein oder das andere Gedicht, welches inzwischen bei mir entstanden, vorlesen ließ, um seine Bemerkungen daran zu knüpfen, die manchmal zu förmlichen ästhetisch-poetischen Exkursen wurden. Ich pflegte mir zu dem Zweck ein paar Sächelchen zurecht zu legen, von denen ich hoffen durfte, daß sie ihm gefallen würden. Heute stand mein Sinn ganz anders. Es war wie eine Tollheit über mich gekommen, ihm zu widersprechen, ihn zu reizen, ja mehr: ihn zu zwingen, den störrisch-widerspänstigen Menschen fortzuschicken, fortzujagen womöglich noch in dieser Stunde, auf der Stelle.
„Ich hätte Eurer Hoheit nur eines aufzuweisen,“ erwiderte ich, scheinbar ruhig, trotz des furchtbaren Herzklopfens, das mir den Athem zu benehmen drohte, „und ich fürchte, Eure Hoheit würden das eine keineswegs hübsch finden.“
„Da ich bei Ihnen sicher sein darf, daß es nicht de mauvais genre ist – ein genre, das, wie Sie wissen, ich ein für allemal nicht goutire – heraus damit! Wo steckt es?“
„Ich kann es Eurer Hoheit auswendig sagen,“ erwiderte ich.
„Desto besser. Ist es lang?“
„Nein.“
„Also!“
Er lehnte sich in die Sofa-Ecke zurück. Ich holte noch einmal hastig Athem und recitirte, ohne zu stocken und ohne die Augen von ihm zu verwenden, der die seinen, als aufmerksamer Hörer, halb eindrückte:
„Nie neidet’ ich dem Hirschen seine Schnelle;
Nie wünscht’ ich mir des Löwen wucht’ge Krallen;
Und selbst im Traum ist mir nicht eingefallen,
Zu prunken in des Panthers buntem Felle.
Den Armen war ich stets ein Gutgeselle;
Auch mied ich nicht des Reichen Marmorhallen;
Wenn fromme Leute zu den Tempeln wallen,
Verengt’ ich ihnen nie die heil’ge Schwelle.
So laß’ jedwed’ Geschöpf ich gerne gelten.
Nur ein’s, gesteh’ ich, macht mein Herz beklommen:
Der Herrscher Existenz und sondre Rechte.
Und doch unbillig wär’s, darob zu schelten,
So lang’ neun Zehntel, die zur Welt gekommen,
Sich wohlig fühlen als gebor’ne Knechte.“
„Bravo!“ rief der Herzog.
Ich starrte ihn erschrocken an.
„Das ist vortrefflich,“ fuhr er lebhaft fort; „Alles rund und klar, mit schönem Rhythmus der wohlgebauten Verse, die in vollen Reimen rein ausklingen. Auch das scheinbar bedeutungslose Vorspiel der ersten Strophe, das sich dann in der zweiten schon vertieft, bis in der dritten das Thema schnell und kräftig einsetzt, um in der vierten mit nicht minder kräftiger Ironie abgethan zu werden – es ist wirklich mit das Beste, was Sie in letzter Zeit gemacht haben. Und wie à propos der Inhalt zu unserem abgebrochenen Gespräche über den ,Münzer’! Ja, cher ami, merken Sie denn gar nicht, welche Waffe Sie mir mit diesem Sonett gegen Sie in die Hand geben? Kann man die ,Existenz der Herrscher’ und ihre ,sondren Rechte’ fester stabiliren, als auf dem Umstand, daß neun Zehntel aller Geborenen geborene Knechte sind? Sie räumen das ja selber ein. Nun, und neun Zehntel, die ohne Herrscher nicht leben können, werden wohl das eine Zehntel, das ohne dieselben fertig werden zu können glaubt, majorisiren dürfen! Dagegen kann doch der eingefleischte Demokrat nichts einzuwenden haben. Ich gebe Ihnen mein Wort: in dem Augenblicke, wo die Sache umgekehrt liegt, und unsere neun Zehntel Ihre neun Zehntel geworden sind, bin ich der Erste, der den, welcher seine fürstlichen Herrlichkeiten auskramen wollte, aufs Schafott oder ins Irrenhaus schickt. Bis dahin –“
Er brach ab, hielt nachdenklichen Blickes die ausgegangene Cigarre in das Licht und fuhr dann, leiser und mehr mit sich selbst, als zu mir sprechend, fort:
„Bis dahin, fürchte ich, wird noch viel Wasser bergab laufen. Ich sage: fürchte, denn im Grunde meines Herzens gehöre ich zu Ihrem einen Zehntel, und wäre ich nicht auf einem Throne geboren, würde ich ein fanatischer Revolutionär geworden sein, ja auch auf dem Throne, wäre der Thron hoch genug gewesen, daß sich das Revolutioniren der Mühe verlohnt hätte. Dennoch habe ich es versucht. Was ist mein Lohn gewesen? Des Thoren Lohn, der zusehen muß, wie nun hinterher Schlauere jene neun Zehntel, die ich aus ihrer stumpfen Lethargie wecken und zur Freiheit begeistern wollte, mit dem Mohnsaft von Macht und Ruhm – ah bah!“
Er hatte die Cigarre in den Aschbecher geschleudert und sich erhoben.
„Da schwätzt man die Mitternacht heran, und ich muß morgen so früh heraus. Ich möchte Sie eigentlich mitnehmen, um Sie auf andere Gedanken zu bringen; aber an dem leidigen Berlin würden Sie auch keine Freude haben. Ich will Ihnen einen andern Vorschlag machen. Laufen Sie einmal, während ich weg bin, in meinen lieben Bergen herum! Das wird Ihnen gut thun. Sie sehen verzweifelt blaß und angegriffen aus. Sie können ja den Holzbock mitnehmen, oder Sie gehen auch meinetwegen allein. Aber gehen Sie. Und kommen Sie wieder mit rothen Wangen und Augen, die fröhlich in die Welt und nicht in Jedem, der das Unglück hat, als Fürst geboren zu sein, gleich einen Tyrannen sehen, zumal wenn er es so herzlich gut meint, wie ihr unterthänigster Diener mit Ihnen – Sie Brausekopf, Sie!“
Er hatte mir bei den letzten Worten die Wange sanft mit der Hand gestreichelt, die er mir nun mit lässigem Drucke reichte.
Dann war ich allein, verstört auf die Thür blickend, durch die er gegangen war.
So mag ein Gefangener auf die Thür blicken, die der Kerkermeister hinter sich abgeschlossen. Der dumme Teufel hatte wirklich versucht, die goldenen Ketten abzustreifen. Für diesmal war es ihm nicht gelungen.
Am andern Morgen war der Herzog bereits fort, und das Ränzelchen, das er mir noch herübergeschickt mit dem Bemerken, er habe es selbst als junger Mensch durch den Wald getragen, hatte Holzbock, den ich zu Hause lassen wollte, bereits sorgfältig gepackt, als mir ein Briefchen von Adele gebracht wurde:
„Lieber Trauter! Sei so gut und komme sofort zu mir! Ich habe Dir etwas mitzutheilen, wozu ich gestern nicht den Muth hatte und woran das Glück meines Lebens hängt, das Du in Deiner Hand hast, die viel mächtiger ist, als Du ahnst. Ich darf dem Papier nicht mehr anvertrauen, wie ich Dich denn auch bitte, Niemand wissen zu lassen, daß Du zu mir gehst. Aber so viel mußte ich schreiben, weil ich fürchte, daß Du mir zürnst und auf eine nicht unterstrichene Bitte nicht kommen würdest.“
Ich fand in meinem Herzen nicht die Kraft, ihr jetzt schon wieder unter die Augen zu treten; ich fühlte, daß ich mich verrathen würde. So nahm denn der Bote, ihr alter treuer Diener, die Antwort zurück:
„Ich kann nicht kommen. Der Herzog schickt mich auf acht Tage in den Wald. Der Befehl ist bündig; ich muß gehorchen. Auch würde ich jetzt, wo die Leute auf mein Fortgehen warten, ohne Aufsehen zu erregen, Dich nicht besuchen können.“
Nach einer halben Stunde brachte der Mann ein zweites Billet:
„Nun wohl! Es ist vielleicht besser so. Im Walde wirst Du Deine Liebe zu mir wiederfinden. Halb, wie sie jetzt ist, kann ich sie nicht brauchen: sie würde das Geheimniß, das ich ihr anzuvertrauen habe, nicht verstehen. Also Dein ganzes Herz! Deine volle Liebe! Und: auf Wiedersehen in acht Tagen.“
Im Walde wirst Du deine Liebe wiederfinden! Aber hatte sie mich denn verlassen selbst in dem schauderhaften Moment, als ich den fremden Mann in ihren Armen sah? Und ob mein Herz in Eifersuchtsqualen zuckte, war es nicht wieder die Liebe zu ihr, aus der ich den Muth schöpfte, dem Herzog zu trotzen und für die Tochter an sein Vaterherz zu appelliren, wenn ich auch den Vaternamen nicht aussprechen durfte? Er hatte mich wohl verstanden. Dann erst, als dieser Appell kein Echo in seinem egoistischen Herzen fand, hatte ich an mich selbst gedacht und, da ich sie nun doch einmal nicht zu retten vermochte, wenigstens mich selbst zu retten gesucht.
Es war mir mißlungen: er hatte mich nicht weggejagt: hatte mir zum Lohn für meine unerhörte Keckheit die Wangen gestreichelt wie ein Lehrer einem lieben Schüler, fast wie ein Vater seinem Sohne, dem er nicht zürnen kann trotz alledem. Und wenn ich mich so entwaffnen und wieder in Ketten schmieden ließ, so war es nicht sowohl, weil mir der Muth zu weiterem Widerstande gebrochen war, sondern weil ich schon in demselben Moment fühlte und wußte, was Adele mir heute Morgen schrieb: daß meine Hand in der That viel mächtiger sei, als ich irgend geahnt, daß ich dem Herzoge sagen mochte, was ihm kein Anderer zu sagen wagte, und also auch nicht daran verzweifeln durfte, ihn für die Geliebte umzustimmen, wenn auch der erste Angriff abgeschlagen war.
Nein, ich brauchte nicht in den Wald zu ziehen, um meine Liebe wiederzufinden, meine ganze und volle Liebe, nur daß sie im Walde, mir selbst zu einem Wunder, dessen sanfter Gewalt ich nicht widerstreben mochte, ein anderes Antlitz zeigte.
Ein Antlitz voll stiller, wehmuthsvoller Melancholie, das wundersam harmonirte mit der ahnungsvollen, aus Licht und Schatten mystisch gewobenen Dämmerung in den hohen Hallen unter dem Gewölbe in einander verschlungener Buchenkronen; dem feierlichen Rauschen des Windes durch die unsichtbaren Wipfel zu meinen Häupten; dem süß-leisen Gesange der Vögel; dem Kinderlied, das die Quelle in ewig wiederkehrenden Refrains murmelte, sich den Weg zu kürzen zwischen bemoostem, farnkrautüberwuchertem Gestein; dem großen glänzenden Auge des Rehs, das in der Lichtung friedlich äßte und, zu dem nahen Wanderer furchtlos aufblickend, zu fragen schien: Was willst du hier in unserem Frieden, du friedloser Mensch?
Ja, gieb mir Frieden, heilige Waldesruhe! Laß mich theilhaben, du stilles Waldesleben, an deinem seligen Genügen, deinem frommen Verzichten auf Alles, was du nicht selbst bist, nach Anderem trachtet, als das ewige Gesetz will, das du in dir trägst! Siehe das zarte Vergißmeinicht an der Quelle: es will sich nicht zur Höhe der krausen Farnbüschel über ihm heben; die Farnbüschel bescheiden sich, unter dem Weißdornstrauch zu wehen; der Weißdornstrauch will sich nicht messen mit der schlanken Birke; die Birke läßt gern der Buche ihre trotzige Kraft; das Reh stutzt, wie jetzt die Krähe auf der Buchenkrone ruft, und folgt gehorsam dem Warner, aber neidet ihm nicht die sichere Freiheit da oben im luftigen Revier!
Und mein Gebet wurde erhört und der Friede kam über mich.
Nicht auf einmal. Allmählich, tiefer, erquicklicher mit jedem neuen Morgen, wenn ich nach nächtiger Rast in waldumragtem Forsthause, von meiner Lagerstatt am schwälenden Kohlenmeiler fürbaß zog in das grüne Revier, auf ein Streckchen begleitet von dem Förster, dem Köhler, damit ich auch den rechtem Pfad nicht verfehle durch die Wildniß.
Denn ich suchte die einsamsten Pfade und tauchte in die Oede, nur der gegebenen Weisung folgend und meiner Karte vertrauend, in welcher ich mit einer Sicherheit las, die sich mit jedem Tage vermehrte. Und ging ich einmal vollständig in die Irre, mir war es recht. Mochten Weg und Steg doch verschwinden, wenn sich mir dafür die Pforte zum Allerheiligsten des Waldes aufthat, wo, während mein Fuß lautlos uber den fußdicken Moosteppich glitt, ich das Athmen des großen Pan zu vernehmen glaubte und die stille Antwort des Uralten auf die bange Frage des klopfenden jungen Menschenherzens.
Ach, mein junges Herz hatte noch gar viel zu fragen, jetzt, nachdem der wilde Kampf in meiner Brust geschlichtet war und die mahnenden Stimmen vernehmbar wurden, die sein Lärmen übertönt hatte.
Mein Leben der legten Monde, das wie ein einziger rosiger Traum an mir vorübergeglitten, begann sich in Wochen und Tage zu sondern, die vor mich traten ernsten Antlitzes und Auskunft begehrten, was ich mit ihnen begonnen. Ich, der Sohn des Sargtischlers, der schon als Knabe seine bitteren Thränen geweint hatte, daß er das kärgliche tägliche Brot nicht mit seiner Arbeit verdiente; dessen Sinnen und Trachten, sobald er so viel Einsicht in das Menschentreiben gewonnen, darauf gestanden, sich frei zu machen von der Güte der Befreundeten und von dem Mitleide der Fremden; der eben darum keine Erholung gekannt hatte als in der Arbeit und heimlich lächeln mußte, wenn ihn die Lehrer als Muster des Fleißes hinstellten, ohne zu ahnen, wie scharf die Skorpionen waren, mit denen der Fanatismus des Stolzes und des Dranges nach Unabhäbhangigkeit ihn zur Arbeit geißelten! Wohin der Stolz? wohin der Drang? Seine Tage vertändeln an der Schürze eines schönen Weibes; seine Stunden verzetteln im Geschwätz mit müßigen Kavalieren über tausend und eine nichtsnutzige Kleinigkeit; zu Roß, zu Wagen, auf der Jagd junkerlichen Sport treiben; sich anrühmen lassen, wie herrlich man doch zu aller und jeder ritterlichen Uebung veranlagt sei, und diesen billigen Ruhm mit langen Thorenohren einsaugen; an üppiger Tafel hinter der Flasche sitzen, die immer wieder erneuert werden muß, und sich Geschichten erzählen lassen und zu Geschichten lachen, von denen die Seele sich abwendet, wenn auch die Wange zu erröthen verlernt hat – heißt das Arbeit? Und was man so nennen möchte, was ist es wieder, als abermals Tändelei, nur jetzt nicht mit einer schönen, zu Scherz und Neckerei allzeit aufgelegten Frau, der leicht gefallen ist, sondern mit der ernsten Muse, der man jede Gunst mit heißem Mühen abringen muß?
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Ich hatte das schön gebundene Büchlein mit den Gedichten des Herzogs in der Reisetasche gefunden, in die er es, wie mir Holzbock berichtete, mit eigener Hand gelegt. Wiederholt hatte er davon gesprochen, daß er, bevor er sie drucken ließ (selbstverständlich nur für den kleinen Kreis Auserwählter), mir die Gedichte zur Durchsicht, zur Kritik geben wolle. Ich dürfe unbedenklich streichen, was mir nicht gefallen würde. Er hatte es nicht gethan. Ich wußte von Adele, daß er jene Auswahl nun selbst vorgenommen, die Kritik selbst geübt habe, mit dem Resultate sehr zufrieden sei und sich schon im Voraus des Eindrucks freue, den die Sammlung, nachdem sie so auf die Hälfte ihres zuerst geplanten Umfanges gebracht, gerade auf mich machen werde. Jedenfalls sollte die Ueberreichung des Büchelchens die Ueberraschung sein, die er mir an jenem Abend zugedacht und von der er dann doch gesagt, daß er sie lieber in petto oder – in der Tasche behalten wolle. Vielleicht war ihm die erregte Stimmung, in die wir uns hineingesprochen, nicht als der rechte Augenblick erschienen, um im Glanze des Poeten vor den Uebelgelaunten hinzutreten.
Wie dem auch sein mochte: ich führte das Büchelchen in meiner Reisetasche mit mir; und wiederholt, wenn ich im Forste am murmelnden Bache oder auf dem Moosteppich zu Füßen der schattenden Buche Rast machte, hatte ich es hervorgenommen und darin zu lesen versucht. Ich war niemals weit gekommen. Hier störte mich ein unreiner Reim, dort ein schlecht gebauter Vers; hier ein hinkender Vergleich, dort ein schiefes Bild; hier die Flüchtigkeit, dort die Weitschweifigkeit, mit der das Thema behandelt war; und nicht selten war es das Thema selbst, das auch für ein harmloses Lied doch gar zu dürftig schien, ein anderes Mal wieder einen Umfang und eine Bedentung hatte, die es auf die dürre Heide der Spekulation, aber nicht in das blumige Reich der lyrischen Muse wiesen. Nicht als ob sich bei allen diesen Mängeln der reiche und vielgewandte Geist des Mannes verleugnet hätte! Auf jeder Seite, ja fast in jedem Gedichte war seine Spur unschwer zu finden; aber zum Dichter gehört eben mehr als bloß gewandt und geistreich sein, und – der Mann war kein Dichter. In der schlichten Prosa des Vaters, wenn er mir in meiner Kindheit selbsterfundene Märchen erzählte, oder später, was sein klares Kinderauge aus Wald und Flur oder dem Menschentreiben in Dorf und Stadt herausgeschaut, oder er an sich selbst erlebt und erfahren – um, ach! jede Erfahrung mit seinem Herzblute zu bezahlen – in dem Allem war tausendmal mehr Poesie, als in diesen anspruchsvollen Versen. Deßhalb, weil in Allem das warme Herzblut des besten, liebevollsten der Menschen pulsirte, und in der Brust des Fürsten von Gottes Gnaden schlug kein warmes Herz, und so konnte er kein Dichter von Gottes Gnaden sein.
Seltsam! Ich konnte die beiden Gestalten in meinen Gedanken nicht mehr so weit sondern, daß ich nicht der anderen hätte gedenken müssen, sobald ich an die eine dachte. Und zu meinem Erstaunen sah ich, wie mit jedem Tage das Bild des Fürsten neben dem des Mannes aus dem Volke verblasste, wie ein Werk der Schule neben dem des Meisters. Ja, beim Himmel, wenn Größe der Gesinnung die Vornehmheit, Reinheit des Herzens den Adel macht, wie tief stand die Hoheit unter der Niedrigkeit, der Herzog unter dem Sargtischler! An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Wohin der Sargtischler seine verstümmelte Hand legte, da waren Früchte der Liebe emporgequollen, eine Wunde geheilt, ein Schmerz gelindert. Hier, in diesen Bergen, diesen Thalen, über denen des Anderen mächtige Hand schaltete, waren seltsame Früchte zu schauen von seiner Liebe zum Volk, der Barmherzigkeit mit den Armen und Elenden, die er doch so gern und mit so pomphaften Worten im Munde führte!
Denn ich war jetzt aus den reicheren Breiten am Fuße und den noch immer wohl angebauten Strichen zwischen den lang sich streckenden Hängen des Gebirges heraus in Regionen gelangt, wo entweder schier undurchdringlicher Wald die Kämme bedeckte und die Schluchten füllte, oder da, wo der steinige Boden dem Walde keine Nahrung mehr bot, sich der Mensch angesiedelt hatte und der Wüstenei seinen kümmerlichen Unterhalt abzuringen suchte: armselige, aus Feldsteinen, wenig Holz und viel Lehm zusammengeklebte Hütten, umgeben von steineübersäeten Oeden mit einem Stück dürren Hafers hier, einem bischen Kartoffeln da; die Hütten selbst schwarz von Alter und Rauch, mit vergilbten Scheiben in den viereckigen Fenstern (und oft mit einer alten Zeitung oder einem Lappen statt der Scheiben); vor der Thür, wenn es hoch kam, ein paar umfriedete Quadratfuß, die mit ihrem Küchenkraut und ein paar Sonnenblumen ein Gärtchen darstellen sollten; an der Giebelwand ein oder zwei Ställchen mit dem Hof, auf dessen Dung und zertretenem Stroh Schweine, Hühner und Kinder einträchtlich sich umtrieben. Halbnackte Kinder, wenn es zum Besten war; ich hatte aber auch schon mehr als ein gänzlich nacktes gesehen und mich der armen Würmer willen des heißen Sonnenscheins gefreut, wie arg er mich auch auf meiner Wanderung belästigt hatte. Und die erwachsenen Personen, wie sie eben aus diesen krankhaft abgemagerten oder aufgedunsenen Kindern mit den stumpfen Augen werden konnten: dürftigste Gestalten von lange vor der Zeit gealterten Männern und Weibern, alle mit dem stumpfen dumpfen Ausdruck des Hungers und der Hoffnungslosigkeit in den gelben verwelkten Gesichtern.
So war ich wieder in eine dieser Ortschaften gekommen, die man nur zum Hohn ein Dorf nennen mochte. Es war womöglich noch trostloser als die bisherigen, wenn es gleich weniger alt und verfallen schien. Ich hörten dann auch von Einem, den ich ansprach, daß es erst vor fünf Jahren gänzlich abgebrannt gewesen sei bis auf ein Haus, das nur hätte mit abbrennen sollen, denn es sei das allerälteste und wohl schon viele hundert Jahre alt. Ich wollte mir eine solche Merkwürdigkeit nicht entgehen lassen, und das Männlein führte mich in eine Art Seitengasse, in der nur noch zwei oder drei Häuser standen, von denen das letzte das verschonte war. In der That ein seltsames Haus – wenn man dies anders so nennen konnte – von einer Baufälligkeit, daß man nicht begriff, wie es zusammenhielt, und das doch mit seinen tief durchgebogenen Balken, die an den hervorstehenden Enden Spuren von Schnitzwerk zeigten, und dem windschiefen Giebel über der zweigetheilten Thür, und dem steinernen Treppchen mit seinen ausgetretenen Stufen, das zu der Thür hinaufführte, etwas Ungewöhnliches, ja Ehrwürdiges hatte.
Aber der Anblick, trotzdem man heute nach seines Gleichen wohl weit herum in deutschen Landen vergeblich suchen möchte, war doch nichts Neues für mich. Dies hier und die Umgebung, die reinlicher, aber womöglich noch dürftiger war, als bei den andern Häusern, hatte ich doch schon gesehen. Das monotone gleichmäßige Pochen, das aus der offenen Hausthür zu kommen und mit einem schwälenden Feuerchen in dem Halbdunkel des Flurs in Verbindung zu stehen schien, an welchem eine gekrümmt sitzende Person irgend etwas schaffte – ich hatte es doch schon gehört, aber wo? Im Traum?
Und auf einmal fuhr es mir durch die Seele: nein, nicht in einem Traum: in der Erzählung des Vaters von seinen Kinderjahren; von dem Leben der armen Nägelschmiede, deren einer sein Vater gewesen, wie dessen Väter, die alle in dem alten zerfallenen Hause gewohnt hätten mit der Esse auf dem Flur, auf welcher das Feuer nicht ausging!
Warum sollte dies nicht das Haus seiner Erzählung, sein Geburtshaus sein? Alt und verfallen war es genug. Und war ich doch oben „auf dem Walde“! Ich hatte den Vater nie gefragt, wo ich das zu suchen habe „oben auf dem Walde“. Aber warum sollte es hier nicht sein? Es mußte hier sein.
Mein Begleiter hatte mich verlassen. So stieg ich denn das Treppchen hinauf und trat in den Hausflur.
Die dunkle Gestalt schaute auf und nickte, als ich fragte, ob ich hereinkommen dürfe; fuhr dann aber alsbald mit ihrer Arbeit fort, die darin bestand, daß sie mit einem Hammer ein Stückchen an der Spitze glühendes Eisen auf einem winzigen Amboß zu einem Nagel klopfte, dergleichen bereits fertig neben seinem Schemel ein ganzer Haufen auf dem Estrichfußboden lag – jedenfalls das Produkt seines morgendlichen Fleißes. Es war ein alter Mann in schäbiger Kleidung, aus dessen geschwärztem abgemagerten Gesicht ein paar geröthete Augen so hilflos blickten, wie das Feuer auf der Esse, das nur um ein Weniges aus seiner grauen Aschenhülle aufglimmte, wenn der Mann, um es aufzuschüren, oder auch nur nicht ausgehen zu lassen, mit dem Fuß einen kleinen Blasebalg in Bewegung setzte.
Aus dem Alten war nichts herauszubringen; er murmelte Unverständliches auf meine weiteren Fragen; ich mußte ihn für stumpfsinnig oder schwerhörig halten. Daß er das Letztere sei, bestätigte eine alte, aber doch ein wenig intelligenter aussehende Frau, die jetzt aus der Stube rechter Hand auf den Flur trat. Ich fragte sie, ob dies das Haus sei, in welchem eine Familie Namens Lorenz sonst gewohnt hätte? – „Ja, sonst!“ erwiderte die Alte; „der Letzte ist bei dem Brande vor fünf Jahren umgekommen, als er ein Kind rettete, das ohne ihn verbrannt wäre. Er hatte keine Kinder und keinen Anhang. So hat mein Alter sich hier festgesetzt. Denn wir waren auch abgebrannt, und mein Alter und der Lorenz waren die einzigen Nägelschmiede. Früher waren hier Alle Nägelschmiede; aber nach dem Brande haben sie’s nicht wieder aufgenommen und suchen sich nun so durchzuhelfen. Mein Alter ist aber schon zu alt, um noch umzulernen. So ist er denn dabei geblieben, und sie lassen uns hier, weil Keiner sich mehr in dem Hause zu wohnen getraut, und wenn es uns mal über dem Kopfe zusammenfällt und uns todt schlägt, so schadet es auch nichts.“
„Haben Sie denn keine Kinder?“
„Gott sei Dank, nein!“
Ich blickte der Alten in die hohlen Augen, und ein Schauder durchrieselte mich. Es war so aus tiefstem Herzen gekommen, das fürchterliche: „Gott sei Dank, nein!“
Die Thür zu der Stube hatte sie offen gelassen. Ob ich einen Blick hinein werfen dürfe? – Gern.
Die Thür so niedrig – ich mußte mich bücken, um einzutreten; die durchgebogenen Balken der Decke so dicht über mir – ich berührte sie beinahe mit dem Scheitel. Ein Spinnrad in der Nähe des Fensterchens mit den vergilbten Buzzenscheiben; ein Tischchen, auf dem das gesponnene Garn lag; ein Schränkchen mit ein paar thönernen Tellern und Kannen – Alles von großer Sauberkeit. Ein sorgfältig gemachtes, reinliches, breites Bett unter einer Art von Betthimmel, zwischen dem und der Decke noch gerade Raum blieb für ein Bild in braunem, wurmstichigem Rahmen – ich hätte wohl kaum erkannt, was es darstellte, hätte ich es nicht gewußt und hätte es nicht so oft vor meiner Seele gestanden: der hochbeinige Hirsch, auf den sie den Schächer gebunden haben; hinter ihm her die Meute; vor ihm der Wald, über dem die Sonne aufgeht; in den Sonnenstrahlen Gott Vater und seine Engelscharen!
Sah ich das Alles? glaubte ich nur, es noch zu sehen auf dem rauchgeschwärzten Bilde? Ich weiß es nicht; ich hatte mich auf einen Schemel, der mitten in der Stube stand, gesetzt und weinte – weinte, wie ich noch nie geweint, seitdem ich ein Kind gewesen.
Die verwunderte, rathlose Alte trippelte auf und ab und rief ihren Alten, ob er nicht wisse, was dem fremden jungen Herrn fehle? Ich ermannte mich und beruhigte, noch immer mit meinen Thränen kämpfend, die guten Leute. Ich sei der Pflegesohn von einem Lorenz, der auch hier in dem Hause geboren sei, einem Bruder des letzten Insassen, der in dem Brande umgekommen.
Das war ein Erstaunen. Selbst der halbtaube Alte, als ihm die Alte die seltsame Mähr ins Ohr geschrieen, wachte ein wenig aus seiner Stumpfheit auf. Eiha, der Lorenz, der Sargtischler! Ja, das sei ein guter Mann gewesen. Der habe dem Bruder hier oben auf dem Walde immer zu Ostern und Michaelis regelmäßig Geld geschickt. Viel sei’s just nicht gewesen; aber er
Ich hatte hier die höchste rauhe Höhe des Waldgebirges überschritten, das nun nach Norden schroffer zur Ebene absank. Mit der Form der Berge hatte sich auch der Wald verändert: Laubholz drüben, Nadelholz hüben; hochragender Wald, zwischen dessen schlanken Stämmen das Wild aus weiterer Ferne sichtbar wurde, und durch dessen Wipfel es einförmiger und feierlicher rauschte, daß es fast wie das Rauschen meines geliebten Meeres klang.
Und daß es mit der Stimmung zusammenklang, die jetzt in meiner Seele obwaltete. Nicht mehr die weiche Friedenssehnsucht, die mich ganz erfüllt hatte, als es noch galt, mich aus den wilden Herzensstürmen zu retten; eine stille gefestete Entschlossenheit jetzt, das Rettungswerk zu vollenden und das letzte Glied der Kette durchzufeilen, das mich noch an den Herzog fesselte.
Zwar einen letzten Versuch wollte ich machen, ihn zu Adele’s Gunsten umzustimmen. Mißlang der Versuch – und ich hatte wenig Hoffnung, daß er gelingen werde – nun, so mußte mir Adele Freiheit geben, mich loszuringen aus einer Lage, in die ich nicht gehörte: nicht nach meiner Geburt, Erziehung, nach meinen Ueberzeugungen, und nicht nach der Begabung, welche ich schließlich als die einzige in mir fand, für die zu leben sich für mich der Mühe des Lebens verlohnen könne.
Schwere, düstere Gedanken, als ob sie aus den schwarzen Wolken gekommen wären, welche sich über dem Walde zusammenzogen, und unter deren Druck die Tannen ihre hohen Wipfel zu beugen und im vielverschlungenen Geäst zu stöhnen und zu knarren begannen. Und nun große, warme Tropfen, vereinzelt erst, dann dichter und dichter, daß der Wanderer auf der Landstraße sich unter die vorspringenden Nadeldächer an der Wegseite drückte, die auch bald keinen Schutz mehr vor dem jetzt in Strömen herniederrauschenden Regen gewährten. Im tiefen Forst hatte ich zu wiederholten Malen ein Unwetter gern über mir sich austoben lassen, hier zerstörte die Landstraße mit ihrem grauen Staube, der sich alsbald in rinnende Schmutzwasser verwandelte, die Poesie des Regensturms. Auch hatte ich vorhin an dem einen Ende einer Schneise, welche die Landstraße durchschnitt, ein Haus liegen sehen, das seitdem allerdings wieder verschwunden war, in dessen Nähe ich mich aber, wenn mein Ortssinn mich nicht trog, befinden mußte. So entschloß ich mich, weiter zu gehen, und erblickte nach ein paar hundert Schritten das gesuchte Haus: ein ziemlich ausgedehntes niedriges Gebäude auf einer Waldblöße, die den Scheitel des Berges zu bilden schien, welchen ich bereits seit einer Stunde emporstieg.
Triefend langte ich auf der Schwelle an, zusammen mit einem halben Dutzend Personen, die irgendwo anders her aus dem Walde kamen, ich hatte bis zu diesem Moment keinen von ihnen wahrgenommen. Es mußten sich hier viele Wege kreuzen: die weite, sehr niedrige Gaststube war bereits halb gefüllt, als wir eintraten, und immer noch kamen neue Nachzügler, triefend wie wir; denn das Unwetter wüthete weiter, ja gebärdete sich immer toller. Obgleich es eine halbe Stunde zuvor heißer heller Nachmittag gewesen, war es jetzt dunkel, wie beim Einbruch der Nacht, und das Heulen des Sturmes vernahm man nur zu deutlich durch die klappernden Fenster, gegen die Guß auf Guß prasselte und klatschte.
Nur zu deutlich, denn in dem weitem Raum, trotzdem längst jede Bank und jeder Stuhl besetzt war, und so Manche, die keinen Platz in ihr gefunden, sich an den wenigen freien Stellen zwischen den Tischen zusammendrückten, herrschte eine Stille, die das jeweilige, murmelnd geführte Gespräch zwischen ein paar Benachbarten nur noch bänglicher zu machen schien. Offenbar kannten einander die Wenigsten, die hier der Zufall zusammengetrieben; auch waren sie augenscheinlich von den verschiedensten Berufen, wie sie im Wald und auf der Landstraße ihr Wesen treiben: ein paar Forstläufer mit dem Jagdzeug und den Hunden, die sich unter die Tische drückten; Holzhauer, Wegeknechte; alte Frauen und selbst Kinder; Botengänger, Tabuletkrämer, Handwerksburschen, Fuhrleute und so mancher verkommene Gesell, dessen Heim im Sommer der Wald sein mochte und im Winter irgend ein Arbeits- oder Krankenhaus.
So saßen und standen sie neben und durch einander, und der verdrießliche Wirth und seine Leute hatten wenig zu thun. Kaum daß hier und da vor einem der Schweigsamen ein Glas Bier stand, welches so lange vorhalten zu sollen schien wie das Unwetter. Man durfte wohl annehmen, daß die Anderen sich aus traurigen Gründen selbst diesen kärglichem Genuß versagen mußten. – Und wie nun mein Blick wieder und wieder diese schweigsame Versammlung in dem düsteren Raum durchlief, glaubte ich mich plötzlich die Jahrhunderte zurückversetzt in die Zeit meines „Thomas Münzer", als der „Bundschuh" durch das Land ging, und „der arme Konz" sich zusammenrottete, ob es nicht doch geschehen könne, daß man sich der Dränger und Peiniger erwehre und das neu verkündete himmlische Evangelium zu einer irdischen Wahrheit mache. Wie hatte der Herzog gesagt? „Die Zeit kommt nicht wieder; der Bauer ist jetzt zu klug, um sich auf eine Revolution einzulassen, bei der er nur verlieren könnte, und der letzte Vagabund hat es jetzt besser, als der bestsituirte Bauer von damals.“ Nun, er hatte wohl nie – und wie sollte er auch? - eine Gesellschaft gesehen wie diese hier. Sie würde ihn gelehrt haben, daß der arme Konz mit nichten gestorben war, sondern noch heute umging in seinem Walde und auf der Landstraße, von der sein Fiskus den Zoll nahm. Dies waren dieselben Jammergestalten, dieselben verkümmerten, vor der Zeit gealterten Gesichter, dieselben dumpfen grollenden Mienen, dieselben stumpfen Augen, die nur vom Widerschein brennender Burgen und Klöster aufleuchten mochten, oder vor grausamer Lust, wenn sie den Ritterleib am Bauernspieß verzucken sahen. Und da waren auch die dornigen Knittel, die ihre Dienste thun mochten, bis man es zu einer Hellebarde brachte, und die Aexte, die ihr Werk besser verrichteten, als das beste Schwert. Nein, nein, Herr Herzog, es steht nicht Alles ganz so gut in der Welt, wie du glaubst und Andere glauben machen möchtest! Das Elend nur, das hier in diesem engen Raum zusammengepfercht ist, wiegt so schwer, daß es deine ganze Herrlichkeit in die Luft schnellt, und doch ist’s nur ein Tropfen in dem Meer von Elend, das über die ganze Erde sich breitet und steigt und steigt – –
Das Unwetter begann nachzulassen; es dauerte nicht lange, so war die Wirthsstube zur Hälfte geleert; dann folgten auch die Zaghafteren; zuletzt war kaum noch Jemand drinnen, außer den Fuhrknechten, die jetzt näher zusammen gerückt waren und ihre Unterhaltung fortsetzten.
Ich hatte dem Aufbruche der Leute, die hier der Regensturm so plötzlich von allen Seiten zusammen getrieben, und die nun nach allen Seiten ebenso plötzlich wieder aus einander stoben, mit Interesse zugeschaut. Es war, als ob Tauben einzeln, zu Paaren und haufenweise einen geöffneten Schlag verlassen, nur daß das ein lustiges Bild ist, und dies der armen, frierenden, verregneten Menschen, die sich und ihren Packen Elend so weiter in den Regen schleppten, Alles in Allem recht traurig war.
Auch ich hatte jetzt meine leichte Tasche wieder umgehangen und wollte eben das Haus verlassen, als der Wirth zu mir trat. Ob ich nicht das gänzliche Aufhören des Regens abwarten wolle? ob ich noch weit für heute habe? Ich hielt es nicht für nöthig, ihm zu sagen, daß mir der Herzog sein Lustschloß Bellevue am Fuße des Gebirges zum Ziel meiner Wanderung bestimmt hatte, sondern nannte einen bekannten Ort in der Nähe desselben. Dahin könne ich eine Stunde früher gelangen, wenn ich einen Richtweg verfolge, der gerade von diesem Punkte anfange, um tiefer unten wieder auf die Landstraße zu treffen. Derselbe sei nicht zu verfehlen, wenn man nur die ersten Abzweigungen und Kreuzungen der Pfade hinter sich habe. Ob er mir bis dahin das Geleit geben solle?
Ich nahm das Anerbieten dankend an. Er mochte mich für einen Studenten halten, der einen Ausflug in die Berge gemacht habe; wenigstens mußte ich das aus seinen weiteren Fragen schließen, die ich denn auch in diesem Sinne, wenn auch mit einiger Unbestimmtheit, beantwortete. Dann war er, ich weiß nicht wie, auf die Noth der Leute „auf dem Walde“ und den Herzog zu sprechen gekommen.
„Die Sache ist eben,“ sagte er am Schlusse seiner Ausführung, „der Herzog ist nicht beliebt. Er gilt für einen harten Herrn, der für den kleinen Mann kein Herz hat und auch sonst nicht für das Land sorgt, immer bloß für sich, wie in der Domainensache, wo er auch nicht gefragt hat, was ist gut für den Fiskus, sondern was ist gut für deine Tasche? – So, nun kann der Herr nicht mehr fehlen. Jetzt noch an die tausend Schritte immer gerade aus durch den Wald. Dann kommen der Herr heraus, zusammen mit dem Bache, den Sie verfolgen bis zur Mühle. Wenn Sie den Müller von mir grüßen und ein bischen Zeit daran wenden wollten, der konnte Ihnen auch eine Geschichte erzählen, die so vor ein Jahrer neunzehn oder zwanzig bei ihm passirt ist. Ja, ja, lieber Herr, es hat seine Gründe, wenn die Leute nun mal partout nicht gut von Hoheit denken und reden mögen. Aber ich darf den Herrn nicht länger aufhalten.“
Der gesprächige Mann verabschiedete sich, ohne mir einen anderen Dank zu verstatten, als das Versprechen, ihn gelegentlich wieder zu besuchen. Ich hatte die größte Mühe gehabt, bei seinen Erzählungen scheinbar unbefangen zu bleiben. Nun, da ich wieder allein war, beschleunigte ich meinen Schritt, als könne ich so den bösen Dingen entrinnen, die ich soeben gehört. Vergebens, daß ich mir sagte, diese Aufregung, die mir jetzt die Thränen in die Augen trieb, sei doch ganz thöricht und sinnlos. Wußte ich denn nicht schon von lange her – aus des Kammerherrn, aus Weißfisch’s Munde – daß der Herzog kein Heiliger sei? Hatte er selbst sich je für einen solchen ausgegeben? Und hatte er nicht selbst die unglückselige Geschichte, die an der Mühle gespielt hatte, noch an dem letzten Abend auf das Tapet gebracht, als wollte er mich vorbereiten auf das, was ich hier oben zu hören bekommen würde?
Schneller, als ich gedacht, war ich an die Stelle gekommen, die mir der Wirth bezeichnet hatte. Aus dem Walde heraustretend, blickte ich hinab auf ein allmählich sich erweiterndes Thal, durch das sich ein Bach schlängelte, der mit mir aus dem Walde kam und an dessen Rande der Fußpfad weiter lief. Vorerst durch sanft absinkende Wiesen bis zu einer Stelle, wo aus Baum und Busch die Dächer eines Gehöftes blickten – die Unglücksmühle jedenfalls, von welcher der Wirth gesprochen. Ueber das Gehöft schweifte der Blick in die Ebene – nicht allzu weit, denn die Sonne, welche im Untergehen war, sandte ihre röthlichen Strahlen darüber weg, alle Einzelheiten in Glast hüllend und mir die Augen blendend, daß ich erst jetzt einen Giebel des Schlosses wahrnahm, rechter Hand unterhalb der Mühle und jenseit des Baches aus massiven welligen Baumgruppen ragend, während linker Hand die einförmige Mauer des Waldsaumes, den Senkungen des Terrains folgend, zur Ebene hinabstieg, bis sie sich in dem röthlichen Flimmer verlor.
Da stand ich denn oben und schaute, auf meinen Wanderstab gebogen, in die entzückende Landschaft wie in ein Bild, das in seinem Rahmen noch einmal all die Herrlichkeit zeigen zu wollen schien, in der ich so lange geschwelgt hatte und die nun zu Ende ging – für mich zu Ende ging und für immer. Ja, es war herrlich gewesen, und ich schämte mich der Thränen nicht, die mir, im Gedenken daran, jetzt stromweis über die Wangen liefen. Aber – – „Und scheint die Sonne noch so schön“ – wer hat dich zuerst gesungen, du Kinderweisheitswort, das doch das ganze Menschenlos in sich faßt, seines Glückes ganze jauchzende Seligkeit und all sein dunkles Weh – den unaussprechlichen Schmerz der Trennung von den Lieben und ach, von der Liebe, die unseres Lebens Sonne war, und mit der, wenn sie nun doch verlöschen will, das Leben gern verlöschen mag!
Als ich wieder aufschaute, glühte eben noch der Rand der Sonne über dem Horizonte. Bläuliche Schatten deckten schon die Ebene und zogen das Wiesenthal herauf; jetzt erblich auch die Gluth, die noch in den Tannenwipfeln rings um mich her gebrannt hatte. Nur ein Bogenfenster im Schloßgiebel schimmerte, vom letzten Strahl der Sonne schräg getroffen – wie ein Leuchtthurmlicht.
Ein warnendes Licht, kein gastliches! Denke dessen, du einsamer Schiffer. Oder du zerschellst an eben dem Felsen, vor welchem es dich warnen wollte!
Immer am Bache entlang, der lustig lieben mir herplätscherte, dem gutgehaltenen Pfade folgend, war ich in wenigen Minuten zu dem Mühlengehöft gelangt, das einen ziemlich geräumigen Hof umschloß, in welchen der Pfad mündete. Auf dem Hofe war es still, wie denn das ganze Gehöft gar verschlafen schien, außer daß noch ein paar Tauben auf dem Dache eines offenen Schuppens gurrten. In dem Schuppen entdeckte ich einen alten Mann, der Holz gespalten hatte und jetzt dem Fremden entgegenkam. Es war der Müller selbst. Ich richtete meinen Gruß aus, ohne selbstverständlich der bösen Geschichte zu erwähnen, in welcher der alte Mann eine so rühmliche Rolle gespielt hatte. Ich sagte nur, daß ich nach dem Schlosse wolle, und ob ich von hier aus über den Bach dorthin gelangen könne? Der Wirth hatte mich recht berichtet: es führte hier eine Brücke über den Bach und ein kurzer Wiesenweg bis zu einer Rebenpforte des Parkes, die meistens nicht verschlossen sei. Schlimmsten Falles müßte ich um die Parkmauer herum bis zu dem Schlosse selbst gehen. Der Weg durch den Park sei nicht schwierig. Doch wolle er mich, wenn’s mir recht sei, gern begleiten. Ob der Herzog schon im Schlosse sei, wisse er nicht; doch drüben würden wir es bald erfahren, wenn wir in den Park kämen, wo wir dann das Schloß sähen, und ob eine Fahne auf dem Thurme wehe oder nicht.
Ich nahm das Anerbieten des alten freundlichen Mannes, der aber doch etwas Gedecktes, ja Trauriges hatte, gern an. Wir verließen den Hof, nachdem er seiner Frau ein paar Worte in das stille Haus hineingerufen, und gingen über die Brücke, welche unmittelbar vom Hofe über den Bach führte. Ich bemerkte, daß die Mühle, deren großes Wasserrad in geringster Entfernung von dem Brückenstege sich befand – es war aber mehr ein Steg, als eine eigentliche Brücke – nicht arbeitete. Aus Wassermangel, erzählte mir der Müller auf mein Befragen. Es habe in den letzten Tagen nicht geregnet, außer heute, und das auch nur reichlich oben auf dem Walde, weniger hier unten. In einer Stunde werde das Wasser wohl kommen und mehr als man brauche. Es sei eben kein Verlaß auf das Wasser, seitdem der Herzog da, wo der Bach sich weiter oben gabele, den Theil, der durch den Schloßpark führe, habe erweitern, austiefen und mit Schleusen versehen lassen, so daß nun wohl er für seine Teiche immer das richtige Wasser habe, aber keineswegs die Mühlen, die Schloßmühle – denn so heiße sie, obgleich sie, Gott sei Dank, nicht zum Schlosse gehöre – ebenso wie die anderen weiter unten, deren es, Alles in Allem noch acht gebe. Alle die acht Müller, mit ihm, dem Schloßmüller, als dem neunten, lägen schon seit zwei Jahren mit dem Herzog in einem Proceß, der jetzt, gottlob, in die letzte Instanz gekommen sei, und den sie wohl gewinnen würden. Sonst könnten sie nur freilich Alle nach Amerika auswandern.
Ich mochte auf diese Sache, die mir der alte Mann weitschweifig aus einander setzte, nicht eingehen. Wollten denn die Klagen über den Herzog heute kein Ende nehmen? und war mir das Herz für den Abschied von ihm, der mir vielleicht noch heute Abend bevorstand, nicht schon schwer genug? Ich wäre den alten Mann, der immer eintönig auf mich einsprach, gern los gewesen. Und warum blickte er mich von Zeit zu Zeit so seltsam prüfend aus seinen tiefliegenden Augen an?
„Verzeihe der Herr,“ unterbrach er sich selbst plötzlich; „sind Sie der junge Herr, der bei dem Herzoge jetzt in so großer Gunst stehen soll?“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen,“ erwiderte ich verlegen.
„Ich glaube es schon, daß Sie es sind,“ sagte er, mich wieder mit einem jener seltsamen Blicke betrachtend. „Und dann wollte ich den Herrn nur um Eines recht schön bitten: wenn Sie die Rede einmal auf den alten Müller Siebenpfeiffer bringen und Hoheit dabei erinnern wollten, daß ihm der Siebenpfeiffer einmal einen großen Dienst erwiesen hat! Hoheit wird das schon verstehen, wenn – der Herr es ihm sagt. Es ist nur, daß der Proceß am Ende doch für uns verloren gehen könnte. Und sehen der Herr, ich bin ein alter Mann und möchte ungern auf meine alten Tage nach Amerika.“
Er war stehen geblieben. Vor uns, die wir längst im Parke waren, lag, durch breite, mit Bosketts geschmückte Wiesengründe von uns getrennt, das Schloß. Von dem Thurme bauschte sich an ihrer Stange die seidene Fahne lässig in dem Abendhauche, von dem man hier in der Tiefe nichts spürte. Der Herzog war im Schlosse.
„Vergessen der Herr mich nicht!" sagte der alte Mann, indem er sein Käppchen zog.
Ich war froh, daß er ging. Mir war seine Gegenwart förmlich unheimlich geworden. Ein großer Dienst, den er dem Herzoge geleistet, und an den ich den Herzog erinnern sollte? Es war also wahr und wahrhaftig der Mann, der damals das unglückselige Weib und ihr Kind gerettet hatte. Und der Herzog lohnte ihm den Dienst jetzt mit einem Proceß? Nun, so konnte er auch nicht auf diese Rettung so großen Werth legen, wie es mir doch nach seinen Worten an jenem Abend erschienen war.
Die Bosketts hatten mich einen Teich übersehen lassen, an den ich jetzt, schon ganz nahe dem Schlosse, gerieth. Ich mochte wohl, ihn zu umgehen, mich nach der unrichtigen Seite gewandt haben, denn ich kam nun, anstatt um das Schloß herum und auf die Vorderseite desselben, an die Hinterseite in herrliche Gartenanlagen vor den weithin sich streckenden Stufen zu einer niedrigen, mit einer Balustrade eingefaßten Rampe, von welcher man unmittelbar in die Parterrezimmer gelangen mochte. In einer Allee von Orangebäumen in großen Holzkübeln und Götter- und Heroenköpfen auf Hermensäulen langsam hinwandernd, vernahm ich von der Seite her, wo ein Wald von hochstämmigen Rosen mir die Aussicht verdeckte, endlich die ersten Stimmen. Ich hoffte, es würden Gärtner oder Diener sein, die ich nach dem Eingange zum Schlosse fragen könnte. Meine Schritte beschleunigend, um die Redenden, deren Stimmen zeitweise schwiegen, nicht zu verlieren, wandte ich mich links, erst das Rosenwäldchen umkreisend, dann, da es kein Ende nehmen wollte, mich vorsichtig zwischen den Stöcken durchwindend, und erblickte, auf einen breiteren Gartenweg heraustretend, in geringer Entfernung den Herzog und eine Dame – Adele! Ein jäher Schrecken überfiel mich. Ich war auf die Begegnung mit dem Herzoge vorbereitet; an ein Wiedersehen Adele’s hatte ich nicht gedacht; ich hatte gehofft, es werde mir erspart bleiben. Und ich fühlte sofort, daß ihre Gegenwart gerade jetzt für meinen Entschluß verhängnißvoll werden könne. Das durfte nicht sein. Sie hatten mir den Rücken gewandt; ich vermeinte, unbemerkt zwischen den Rosen zurückschlüpfen zu können.
Es war zu spät. War es Zufall, ader hatte mein Fuß auf dem Kies des Weges geknirscht – Adele hatte sich umgewandt und mich erblickt. Sie stieß einen leisen Schrei aus und machte ein paar Schritte auf mich zu, blieb aber wieder stehen, wie mir schien, auf ein kurzes Wort des Herzogs, der mir seine mächtige Gestalt nun ebenfalls zugekehrt hatte. Adele’s liebliches Gesicht war mit einer lebhaften Röthe übergossen; auf dem des Herzogs schien ein finsterer Ausdruck zu liegen, der sich aber etwas erhellte, als ich, mich aus meiner Bestürzung aufraffend, nun grüßend rasch herantrat.
„Das ist wahrlich seltsam,“ sagte der Herzog, „wir sprechen eben von Ihnen, und da sind Sie, wie aus der Erde gewachsen! Wie kommen Sie denn hierher?“
Er hatte mir die Hand gereicht, mit einem herzhaften Druck, der mir sagte, daß ich ihm, trotzdem seine Worte noch immer nicht eigentlich freundlich klangen, willkommen sei.
Ich stammelte etwas von „direkt aus dem Walde“.
„So sieht er aus,“ sagte der Herzog, jetzt wirklich mit einem Lächeln. „Nicht wahr, Adele?“
Adele hatte offenbar nur auf dies Lächeln gewartet, denn sie lachte sogleich hell auf, indem sie mir jetzt erst die Hand reichte mit einem Blick, dessen strahlende Freudigkeit mich durchschauerte.
„Wahrhaftig, so sieht er aus,“ rief sie. „direkt aus dem Walde!“
Dabei wandte sie mich, indem sie mich an der Hand fest hielt, um mich selbst, lustig meinen Anzug musternd, der in der That während dieser acht Tage nicht besser geworden war. Ich murmelte etwas von dem Unwetter, das mich heute Nachmittag im Walde überrascht habe, indem ich sie mit den Augen bat, die Scene abzukürzen, welche mir mit jeder Sekunde peinlicher zu werden begann.
Sie hatte mich sofort begriffen.
„Und ich glaube, er ist noch nicht einmal ganz wieder trocken,“ rief sie. „Ich glaube, Hoheit schicken ihn vorerst auf sein Zimmer, damit er sich einigermaßen restauriren kann. Da sehe ich einen von den Leuten. Darf ich rufen?“
[374] „Lassen Sie!“ sagte der Herzog. „Seine Sachen sind freilich hier; aber das eilt nicht, und schaden wird’s ihm nicht. Ich werde oft fünfmal an einem Tage naß und wieder trocken – das letztere manchmal auch nicht. Sie wollen ja so wie so noch einen Brief schreiben, liebe Adele. Wir sehen uns dann beim Thee wieder.“
Adele hatte offenbar keinen Brief zu schreiben, aber wagte selbstverständlich nicht, Einspruch zu erheben, wie gern sie es auch, nach ihrer Miene zu schließen, gethan hätte. Ich verstand nicht ganz diese Miene, die sie mir hinter dem Rücken des Herzogs machte, während wir jetzt dem Schlosse zuschritten. Es lag Enttäuschung, fast Bestürzung darin und zugleich eine Bitte, die ich mir eben so wenig zu deuten wußte.
Und doch auch kaum deuten konnte, als sie mir, indem der Herzog jetzt ein wenig vor uns die Stufen zu der Rampe hinaufschritt, in kaum vernehmlichem Ton: sei gut! zuflüsterte.
Ich sollte zu spät erfahren, was sie gemeint hatte.
Denn zu einer Erklärung blieb keine Zeit. Wir hatten eben die Höhe der Rampe erreicht, als der Herzog ihr eine verabschiedende Bewegung mit der Hand machte, die sie mit einer Verbeugung erwiderte, welche halb etikettenmäßig und halb vertraulich war, und dann, einen letzten Blick mit demselben räthselhaften Ausdruck auf mich werfend, langsam nach rechts an der Fronte des Palais hin ging, bis zu einer nahen Thür, in der sie verschwand.
Der Herzog hatte, stehen bleibend, ihr ebenfalls nachgeblickt und blieb so noch einige Momente, nachdem sie bereits verschwunden war. Dann hob er plötzlich das Haupt und sagte, aber ohne mich dabei anzublicken. „Kommen Sie!“ indem er, mir voran schreitend, durch eine offene Fensterthür ein Gemach betrat, in welches ich ihm auf dem Fuße folgte, auf sein Geheiß die Fensterthür schließend.
Es war ein sehr weites und hohes Gemach, in welchem ich kaum eine Einzelheit erkennen konnte, da es, nach Westen gelegen, so ganz von dem röthlichen Widerscheine einer letzten höchsten Abendwolke erfüllt war, daß ich im ersten Momente nicht einmal die Lampen bemerkte, von denen eine auf einen großen Tisch in der Mitte, ein paar andere in den Ecken auf Postamenten brannten. Ich hatte, eintretend, Reisetasche und Mütze auf einen Sessel neben der Thür gelegt, während der Herzog bis zu dem Tisch geschritten war, an welchem er sich jetzt in einen Armstuhl niederließ, mich auffordernd, zu ihm zu kommen und auf einem Sessel vor ihm Platz zu nehmen. Ich gehorchte, vorsichtig über den glatten Marmorfußboden schreitend, der nur da, wo er saß, und an einigen anderen Stellen mit Teppichen belegt war. Mein Fuß war so lange auf Moosboden getreten, und die marmorne Pracht, die mich umgab, so wenig ich auch davon unterscheiden konnte, machte einen schauerlichen Eindruck auf mich, da mir unwillkürlich der weite von Blumenduft erfüllte Raum, in welchem die beiden einzigen Personen zu verschwinden schienen, die niedrige, von Menschen wimmelnde, dunstige Waldschenke und das Leben der armen Leute „vom Walde“ in Erinnerung brachte.
So fielen denn die Antworten, die ich dem Herzog auf seine mancherlei in der bei ihm gewohnten raschen und kurzen, oft abspringenden Weise gestellten Fragen gab, recht mangelhaft und verworren aus. Ich fühlte das wohl; er aber schien es nicht zu bemerken, obgleich er sonst dergleichen ungebührliche Zerstreutheit hat sofort und streng rügte. Ich hatte den Eindruck, als ob er selbst mit irgend etwas, das mit seinen Fragen in keinem Zusammenhange stehe, innerlich beschäftigt sei und an meinen Antworten so wenig ein Interesse nehme, als an seinen aufs Gerathewohl gestellten Fragen. Oder an der Erzählung seiner Berliner Erlebnisse, in die er, ich weiß nicht wie, gerathen war, und in welcher „der Mann, dessen Namen er nicht zu nennen brauche“, die hergebrachte unliebsame Rolle spielte. Zugleich sagte mir eine Stimme, daß dies Etwas, was ihn innerlich beschäftige, sich auf Adele beziehen müsse; er hatte sie sicher nicht uns allein lassen heißen, damit wir das völlig unfruchtbare Gespräch mit einander führen könnten.
Und ich schien mich nicht getäuscht zu haben. Plötzlich traf ihr Name mein Ohr, nicht: Adele, sondern: Frau von Trümmnau, wie er sie immer mir gegenüber nannte.
„Sie erinnern sich,“ fuhr er fort, „was ich Ihnen an dem Abend vor meiner Abreise sagte. Ich weiß, daß Sie einen lebhaften Antheil an der liebenswürdigen Dame nehmen, wie sie selbst – was Sie sich immerhin als ein Kompliment anrechnen dürfen – sich nicht minder lebhaft für ihren jungen Protégé interessirt. Als ein solcher echauffirten Sie sich, wie billig, neulich Abends für Ihre Dame, und ich glaube, ich gerieth darüber ebenfalls in einen größeren Eifer, als just nöthig war – sich zum wenigsten in der Folge nöthig erwiesen hat. Ich will nicht sagen, daß Frau von Trümmnau gestern Abend – ich bin bereits seit gestern Abend zurück – und selbst noch heute nicht auf ihre Emancipationsideen zurückgekommen ist. Sogar mit einiger Lebhaftigkeit. Aber meine alte erprobte Erfahrung und Welt-, Menschen- und Herzenskunde hatten doch einmal wieder Recht behalten. Sie konnte denn doch nicht in Abrede stellen, daß das Bild des famosen Russen in den Jahren ein wenig stark eingedunkelt ist und verhältnißmäßig an seinem Zauber verloren hat. Und nebenbei vermuthlich vice versa, obgleich ich ein zu höflicher Mann bin, einer schönen Frau gegenüber auf diese Seite der Medaille auch nur hinzudeuten. Es bedurfte dessen auch nicht, da sich auch ohne das die Vortheile ihrer hiesigen Situation für ihre klugen Augen ganz von selbst in das rechte Licht gestellt hatten. Entin, wir beide: Frau von Trümmnau und ich, haben unsere kleine Differenz á l’aimable ausgeglichen und ich theile Ihnen das mit, weil ich weiß, daß es Sie freuen wird, und damit Sie dieser Ihrer Freude, wenn die Rede, wie wahrscheinlich, zwischen Euch Beiden daraufkommt, einen diskreten Ausdruck geben.“
Ich war starr. Denn von zwei Dingen konnte doch nur eines sein: entweder Adele hielt trotzdem an ihrer Liebe fest und hatte also gelogen, als sie dieselbe scheinbar preisgab; oder sie hatte sie wirklich preisgegeben und dann den Mann verrathen, an dessen Halse sie vor meinen Augen gehangen. War aber das Letztere der Fall – und in meiner verzweifelten Stimmung hielt ich es für wahrscheinlich, um es im nächsten für gewiß zu halten – nun, es gab eine Zeit, wo meine eifersüchtige Liebe darüber aufgejauchzt hätte. Jetzt nicht mehr. Jetzt, wo ich ihr nach so schweren Herzenskämpfen voll und rein entsagt, empfand ich nichts als Empörung über einen so schimpflichen Verrath des Herzens um die dreißig Silberlinge elender weltlicher Vortheile. So mochte sie denn hinfahren auf dem stolzen Glücksschiff mit den seidenen Segeln, das zu verlassen ich im Begriff war und nun gewiß verlassen wollte!
„Es scheint, dieser Ausgang hat Sie denn doch überrascht?“ sagte der Herzog, als ich beharrlich schwieg, mit einem Stirnrunzeln des Erstaunens.
„Ja, Hoheit,“ erwiderte ich entschlossen; „er hat mich überrascht, und ich gestehe, auf eine peinliche Weise.“
„Ich bitte gehorsamst, mir das zu erklären,“ sagte er, indem sich die Falten auf seiner Stirn vertieften.
„Ich fürchte, Hoheit wird von meiner Erklärung wenig befriedigt sein,“ fuhr ich fort, nun, da die Entscheidung gekommen war, mit einer Festigkeit, über die ich erstaunt war. „Ich halte es aber für das heilige angeborene Recht jedes Menschen, sich sein Schicksal nach seinen Ueberzeugungen und nicht zum wenigsten nach den Bedürfnissen seines Herzens zu gestalten. Wer dies Recht aufgiebt, macht sich zum Sklaven, schmiedet sich an die Kette, und wäre sie von Gold. Und um so schlimmer, wenn sie von Gold ist, denn dann liegt der Preis gleich bei der Waare, und dem Sklaven bleibt nicht einmal der armselige Trost, sich einbilden zu können, er habe seine Freiheit verschenkt.“
Ich hatte sicher geglaubt, vielmehr, ich hatte gehofft, der Herzog werde das nicht von seinem Schützling geduldig hinnehmen: ich hatte mich getäuscht. Die Falten von seiner Stirn waren verschwunden, als er jetzt nach einer kleinen Pause ruhig, fast freundlich erwiderte:
„Das klingt Alles recht schön und gut, und ungefähr habe ich dergleichen schon oft selbst gesagt. Sie vergessen nur in diesem Falle Eines. daß in der Wagschale nicht immer gerade Gold zu liegen braucht, oder ein Brennusschwert oder dergleichen rohe Dinge. Daß es wiederum eine Ueberzeugung und ein Herzensbedürfniß sein kann, wie eben in diesem Falle. Zugegeben, Frau von Trümmnau bringt ein Opfer; aber sie bringt es mir – Jemandem, dem sich dankbar zu erweisen, den zu lieben sie sich verpflichtet fühlt. Dankbarkeit und Liebe sind keine sklavischen Gesinnungen, und man darf sie acceptiren, wie ich es thue, ohne sich damit zu einem Tyrannen zu erniedrigen.“
Es war das erste Mal, daß der Herzog seinem Verhältniß zu Adele mir gegenüber einen so unzweideutigen Ausdruck gab, und ich fühlte mich halb entwaffnet. Nur halb: denn auf den heiligen Glanz des Verhältnisses von Vater zu Kind fiel ein dunkler Schatten. Unten im Thal war ich eben durch die Mühle gekommen, in der Eine gewohnt hatte, die für sich selbst auf Liebe und für ihr Kind auf ein Vaterherz Anspruch erhoben hatte und – damit abgewiesen war. Mit der Heiligkeit der Naturbande schien es hier also doch nur mißlich zu stehen. Mich aber fesselte an ihn kein Band, das ich nicht hätte zerreißen dürfen, ohne göttliche und moralische Gesetze zu verletzen. Was denn zögerte ich?
Für den Moment hatte ich jedenfalls schon zu lange gezögert, denn er fuhr, offenbar mein Schweigen für sich deutend, in einem Tone fort, der jetzt fast herzlich klang:
„Sehen Sie, Sie wissen nichts vorzubringen, und ich freue mich, offen gestanden, Sie überzeugt zu haben. Schon deßhalb, weil ich, nachdem dieser Stein des Anstoßes für Sie beseitigt ist, mit Ihnen selbst glattere Bahn zu haben hoffe. Frau von Trümmnau sagt mir, daß Sie mit Hartnäckigkeit daran festhalten, Ihr Verhältniß hier zu mir und meinem Hause als ein passagères zu betrachten – als einen Besuch gewissermaßen, den Sie mir auf meine Einladung machen, und der, wie jeder Besuch, einmal sein Ende finden wird. Ich wünsche, daß Sie diese Auffassung fallen lassen. Selbstverständlich sind Sie mir gegenüber vollkommen frei und Herr Ihrer Handlungen und Entschlüsse. Daß Sie, wie Sie Frau von Trümmnau gesagt haben, mein Schuldner wären, weil ich Sie aus Ihren alten Verhältnissen gelöst und Ihnen die Mittel gewährt habe, ein halbes Jahr oder so unter Weißfisch’ Leitung die Schauspielkunst zu studiren, ist mit Ihrer Erlaubniß falsch. Das Gegentheil findet statt: nachdem ich Sie aus Ihren alten Verhältnissen gelöst, habe ich auch die Verpflichtung, weiter für Sie zu sorgen. Das kann auf mancherlei Weise geschehen, und ich habe mir auch bereits einen Lebensplan für Ihre nächsten Jahre ausgedacht und Frau von Trümmnau mitgetheilt, die ganz damit einverstanden ist. Daß wir, Frau von Trümmnau und ich, dabei auf unsere Kosten zu kommen suchen, das heißt: Sie so viel als möglich in unserer Nähe behalten wollen, werden Sie begreiflich finden. Damit genug für heute. Und jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer. Auf Wiedersehen in einer Stunde beim Thee!“
Er winkte mit der Hand; ich erhob mich, an allen Gliedern wie gelähmt. Gegen seinen Zorn wäre ich gewaffnet gewesen, gegen seine Güte war ich machtlos. Ach, und er hatte so gütig gesprochen, wie noch nie; so wohlwollend, so bittend fast, ohne auch nur einmal den Fürsten durchblicken zu lassen, so ganz nur als ein älterer, reiferer, besorgter Freund! Und da war mir denn, während er sprach, gewesen wie damals, als ich und Fritz Brinkmann unser leckes Boot gegen Strom und Wellen zum Ufer zwingen wollten und es nicht konnten, und endlich die Ruder sinken ließen und sagten: wenn der Wind nicht umgeht, sind wir verloren
Damals ging der Wind um, aber jetzt –
Ich schwankte fast über den Marmorboden nach der Thür, durch die wir eingetreten waren.
„Da kommen Sie in den Park!“ sagte der Herzog hinter mir her.
„Ich wollte nur meine Reisetasche holen,“ erwiderte ich verwirrt.
„Ja so! à propos Reisetasche! Haben Sie das Buch gefunden, das ich Ihnen hatte hineinlegen lassen?“
„Ja, Hoheit.“
„Wissen Sie, daß es eigentlich ein wenig unfreundlich von Ihnen ist, mir darüber auch nicht ein Sterbenswort zu sagen? Sie haben es am Ende nicht einmal gelesen?“
„Doch, Hoheit!“
„Oder nicht goutirt. Man schweigt sich doch nicht aus über ein Buch, an dem man Freude gehabt hat. Nun?“
„Was soll ich sagen, Hoheit?“
Ich hatte mich auf seinen Aufruf wieder gewandt, und wir standen uns jetzt, da er sich inzwischen ebenfalls erhoben hatte, einander gegenüber. Aber die herzgewinnende Freundlichkeit, die vorhin seine Züge belebt hatte, war völlig verschwunden und hatte einem finsteren Ausdruck Platz gemacht, welcher sich besonders um die Augen koncentrirte, die starr und gläsern auf mich geheftet waren.
„Was Sie sagen sollen?“ rief er mit unterdrückter Heftigkeit. „Schöne Frage! da darf ich sie wohl in Ihrem Sinne beantworten? Der gute Herr hätte besser gethan, die Hände von dem Spiel zu lassen, das er nicht versteht, das nur wir verstehen, wir, die Poeten von Gottes Gnaden! Meinen Sie das? Dilettantenkram! Verse, wie sie Jeder machen kann! Schülerarbeit! nicht werth, einem Meister vorgelegt, von einem Meister beurtheilt zu werden! So sagen Sie es doch! Oder hätte der Herr Poet von Gottes Gnaden nicht einmal den Muth seiner Meinung?“
„Lassen mich denn Hoheit auch nur zu Worte kommen?“
Er biß sich auf die Lippen und aus seinen Augen schoß ein zorniger Blitz.
„Ich danke Ihnen für diese Lektion,“ sagte er mit bebender Stimme. „Nun die andere, wenn ich bitten darf!“
Jetzt war der entscheidende Augenblick da. Ich fühlte es bis in den letzten Nerv. Jagte er mich weg, weil ich seine Verse nicht loben wollte, nun, so war die Freiheit, die ich bei ihm genießen sollte, eitel Schein und Lüge; so war es von allem Anderen abgesehen mein Recht und meine Pflicht, dieser Lüge ein Ende zu machen mit Schrecken, wenn es sein mußte, lieber, als das Grauen dieser Lüge endlos weiter zu schleppen.
Er hatte den Platz, auf dem er mir gegenüber gestanden, verlassen und ging mit Schritten, die von dem marmornen Fußboden widerhallten, auf und ab. Ich folgte ihm mit den Augen und sagte mit einer Festigkeit, über die ich mich selbst wunderte:
„Zuerst werden mir Hoheit die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich mich nie für einen Poeten von Gottes Gnaden ausgegeben habe. Ich habe mich für einen solchen in meinem Innern auch noch nie gehalten, und ebenso wenig für einen Kenner in poetischen Dingen, der zu einem Urtheil berechtigt wäre und dessen Urtheil einen Werth hätte. Ich kann nichts geben, als meine subjektive Empfindung, und wenn also Hoheit darauf bestehen, daß ich dieselbe über Ihre Gedichte äußere, so muß ich allerdings sagen –“
Ich kam nicht weiter. Eine schmale Seitenthür dicht neben dem gewaltigen Kamine hatte sich geöffnet und Adele war in das Gemach getreten, eilenden Schrittes auf den Herzog zugehend, der sich in diesem Momente halbwegs zwischen jener Thür und mir befand.
„Was soll das heißen?“ rief er heftig.
Sie antwortete nicht, sondern kam vollends an ihn heran und suchte seine Hand zu fassen, die er ihr entzog.
„Wer hat Dich gerufen?“ herrschte er sie an; „Du weißt, ich liebe dergleichen Ueberraschungen nicht. Oder bin ich nicht mehr Herr in meinem eigenen Hause?“
Sie hatte nun doch seine Hand ergriffen und war, dieselbe festhaltend, an seiner Seite niedergesunken, mit leisen, flehenden Worten, in die sich manchmal ein lauteres Schluchzen mischte, zu ihm emporsprechend, der sich vergebens loszumachen suchte, wobei er fortwährend die blitzenden Augen auf mich gerichtet hielt.
Und während ich, ein stummer Zeuge dieser seltsamen Scene, da stand, kam plötzlich jene wunderlichste aller Empfindungen über mich, daß man das, was da um uns geschieht, schon einmal erlebt hat. In diesem Saale, in welchem jetzt der Abendschimmer längst erloschen war und dessen mächtigen Raum die spärlichen Lampen nur so weit erhellten, daß ein gespenstischer Schein von den weißen Statuen an den Wänden flimmerte, und aus den Wandgemälden, an deren gewaltigen goldenen Rahmen hier und da ein röthlicher Reflex aufblitzte, ein nackter Menschenleib tauchte, oder ein unheimliches Gesicht, wie wenn Jemand durch die Wand herein- und auf mich niederschaute – in diesem Saale war ich schon einmal gewesen zu eben dieser Stunde. Und den hohen Mann mit den blauen blitzenden Augen, den hatte ich gesehen an eben derselben Stelle, und eine Frau hatte vor ihm gelegen – gerade so auf den Knieen, seine Hand festhaltend, die er ihr entziehen wollte; in leisen, schluchzenden Worten, die ich nicht verstand, zu ihm emporsprechend. Nur Eines war nicht da und ich sah es doch: das Kind, das neben der Frau, die seine Mutter war, auf den Knieen gelegen und auf seiner Mutter Geheiß die gefalteten Händchen zu ihm emporgestreckt hatte – das Kind, das ich gewesen war!
Ich, der ich da stand und mich nach einem Gegenstande bückte, der dem Herzoge, als er sich niederbog. Adele aufzuheben, aus der Tasche geglitten, sich ihm von der Kette gelöst haben mochte – ich weiß es nicht – und auf dem Marmorboden bis zu mir gerollt war und jetzt zu meinen Füßen lag, der ich mich niederbog, es aufzuheben, und es jetzt in der Hand hielt: mein Medaillon mit dem Bilde der Mutter, dessen Kapsel in dem Momente, als es zur Ruhe kam, aufgesprungen war, als wollte es dem Träumer zu Hilfe kommen und ihm seinen Traum deuten.
Es war nicht mehr nöthig gewesen: er hatte auch ohne das das Furchtbare voll begriffen.
Und nun packte es ihn und schüttelte ihn, daß ihm die Glieder flogen, es dunkel wurde um ihn her und er meinte, er müsse zu Boden sinken. Und daß ihn dann der Marmorboden verschlingen möchte!
Ich hatte mich doch aufrecht erhalten, aber wohl für einen Moment das Bewußtsein verloren, das mir erst von einer Berührung wiederkam. Es war Adele, die mich an beiden Händen gefaßt hatte und mit schreckensbleichem Gesichte zu mir aufschaute. Und nun sah ich auch den Herzog wieder. Er stand, näher als vorhin, aber noch immer in einiger Entfernung, mit einer finsteren und doch gespannten Miene auf mich, auf uns blickend.
Auf uns! auf mich und auf sie, die ich so grenzenlos geliebt hatte!
Entsetzen!
Ich schleuderte das schöne Weib von mir, als wäre es eine giftgeschwollene Natter, und stürzte aus dem Saale in die Nacht hinein.
Wie ich den Weg durch die vielverschlungenen Pfade des Parks gefunden habe – ich weiß es nicht. Ich rannte nur fort, denselben Weg, den mich vorhin der alte Müller geführt hatte, denselben Weg, den mich meine Mutter getragen hatte in ihren Armen, während die Sterne droben schimmerten. Und blickte jetzt wieder zu ihnen auf, aber nicht mehr mit den wundernden Kinderaugen – mit den Augen eines Verzweifelten, den sie zu verhöhnen schienen in ihrer stillen Majestät.
Nun quellen sie hervor in unendlicher Zahl, die ich eben nur noch vereinzelt sah, denn der Park liegt hinter mir, und ich eile den schmalen Pfad über die Wiese hin dem Bache zu und dem Rauschen, das immer lauter wird. Aber ich weiß, es ist nicht der Bach, der so rauscht; es ist der Wasserberg, der ganz schwarz ist, nur daß weiße Streifen über ihn hingleiten, die im Lichte der Sterne flimmern. Und hart an ihm vorüber geht es über den Steg, von dem mich der Mann mit den blauen blitzenden Augen an jenem Morgen weggetragen hat, als ich hier auf der Wiese gespielt hatte, die aber keine Wiese war, sondern ein Wald von hohen nickenden Halmen, über denen riesengroße bunte Schmetterlinge flogen.
Und da ist der Steg, und da ist der schwarze Wasserberg mit den flimmernden weißen Streifen. Hier hat die Mutter mit mir gestanden, hier an dieser Stelle. Und sich so über das schwanke Geländer gebogen, und so schoß unter dem Stege das Wasser siedend und gurgelnd dahin.
Das dünne Geländer, das eigentlich nur eine Stange ist, biegt sich unter meiner Last. Wenn es bricht! Es ist heute mehr Wasser im Bache, als dem Müller lieb ist! Und um das Schwimmen mit dem lahmen Arme wird es wohl mißlich stehen. So kann’s bald vorüber sein.
Eine schwere Hand legt sich mir auf die Schulter, und eine große Gestalt steht neben mir. Ich habe sie vor dem Donner des Wasserberges nicht kommen hören, und es ist so dunkel, daß ich nur eben die Umrisse der Gestalt sehe. Aber er ist es nicht, vor dem ich fliehe. Er! wie käme auch er hierher!
„Wer sind Sie?“
„Ich bin der Müller Siebenpfeiffer. Wer Sie sind, junger Herr, das brauche ich nicht zu fragen. Ich habe Sie auf den ersten Blick erkannt an der großen Aehnlichkeit. Sie sind ihr wie aus den Augen geschnitten. Kommen Sie von hier weg, junger Herr! Der Ort ist schon einmal ein böser Ort für Sie gewesen. Und mir scheint, er könnt’ es noch einmal werden.“
Der Alte hat mich mit einer Kraft, die mir unwiderstehlich scheint, am Arme ergriffen und von dem Stege geführt. Ich kann eben keinen Widerstand leisten, denn meine eigene Kraft ist gebrochen, und als wir jetzt den Hof erreichen, muß ich mich schwer auf seine Schulter stützen.
„Kommen Sie ins Haus!“ sagte er.
„Ich kann nicht,“ erwiderte ich; „ich muß fort, fort. Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, helfen Sie mir von hier!“
„Morgen, wenn Sie wollen; heute nicht mehr.“
„Sie versprechen es mir?“
„Ja, das thue ich.“
„Und wenn man mich hier sucht?“
„So soll man Sie nicht finden, wenn Sie nicht gefunden sein wollen.“
„Nein, nein! Lieber sterben!“
„Just so sagte Ihre Mutter auch.“
Wir stehen vor der Hausthür, in der eine Matrone erscheint, die, das Licht mit der Hand schützend, uns entgegen leuchtet.
„Bist Du’s, Alter?“
„Ja, Alte. Und ich bringe da Jemand, den Du schon kennst.“
„Herr Gott!“
„Still! Hinein ins Haus! und mach’ das Licht aus.“
Er hat uns durch die Thür geschoben, die er hinter uns zudrückt. Die Alte hat das Licht ausgeblasen. Ich stehe mit ihr auf dem dunklen Flur hinter der Hausthür. Auf dem Pflaster des Hofes klappern Pferdehufe. Eine unbekannte Stimme fragt; die tiefe Stimme des Alten antwortet. Dann wieder das Klappern von Pferdehufen. Als sie verklungen sind, öffnet der Alte die Thür, die er hinter sich abschließt, und dann ein Schwefelholz anreißt.
„Es war der Reitknecht Martens,“ sagt er: „sie haben schon Boten nach allen Richtungen geschickt.“
Er leuchtet mir mit dem wieder angezündeten Lichte ins Gesicht. Die alte Frau schlägt vor Verwunderung die Hände zusammen.
„Sagte ich es nicht? ganz wie seine Mutter. Und er will auch nicht gefunden sein. Hörst Du, Alte?“
„Ich höre schon,“ erwidert die Matrone. „Mir ist’s recht. Wenn’s nach mir gegangen wäre, Der im Schlosse hätt’s nie erfahren, daß Du sie aus dem Wasser gezogen hast, und es auf dem Gewissen behalten müßen zu allem Anderen.“
Fünf Tage später – in der letzten Stunde eines schwülen Sommerabends – stand vor einem jener uralten, windschiefen, mit jedem Stockwerk ein wenig vorspringenden Häuser, welche sich in langer Zeile an dem Innenhafen von Hamburg hinziehen, ein junger Mensch und betrachtete ein großes Schild, auf welchem ein Schiff gemalt war, das mit vollen Segeln durch grasgrüne Wogen strich. Unter dem Schiff las man in großen Bnchstaben: Nach Amerika. Darunter in kleiner Schrift: Billett-Ausgabe nach New-York, Philadelphia, Boston, New-Orleans und Australien. Wieder darunter: Geldwechsel.
Der junge Mensch war ich, und das Schild betrachtete ich nur so aus Langeweile, denn, wenn ich auch nach Amerika wollte, so war dies nicht meine Route. Ich hatte vielmehr mein Billet bereits in der Tasche. Es lautete auf einen südamerikanischen Hafen mit dem Segelschiff „Cebe“, Kapitän Karl Haltermann: und mein alter Spielgenoß aus den Knabenjahren, Fritz Brinkmann, hatte es mir besorgt.
Fritz Brinkmann war Untersteuermann auf der „Cebe“, und der Kapitän war auch aus unserer Stadt, ein älterer Mann, den ich vom Ansehen wohl gekannt hatte, und der um der Landsmannschaft willen und weil mich Fritz Brinkmann so warm empfohlen, ein Auge über den gänzlichen Mangel an Legitimationspapieren bei mir zudrücken und mich mitnehmen wollte.
Ich aber hatte Fritz Brinkmann gestern Morgen hier am Hafen zufällig getroffen. Die Freude des Wiedersehens war auf beiden Seiten gleich groß gewesen und ich hatte den braven Burschen ohne Weiteres mit meiner Lage so weit vertraut gemacht, als es für ihn nothwendig war. Ich sagte ihm, daß nach dem Tode des Vaters meine Verhältnisse immer mißlicher geworden seien, bis ich den Entschluß gefaßt habe, Europa den Rücken zu kehren und in Amerika mein Heil zu versuchen. Mit Geld sei ich hinreichend versehen, um die Ueberfahrt nach New-York in der zweiten Klasse eines Postdampfers bezahlen zu können. Aber, abgesehen davon, daß dabei fast mein ganzes kleines Kapital draufgehen und ich so ziemlich pfenniglos drüben ankommen würde, mache man mir wegen meiner Legitimationslosigkeit Schwierigkeiten, die mich beinah schon mit der Polizei in bösen Konflikt gebracht hätten. Ob Fritz keinen Rath wisse?
Nun, und der gute Fritz hatte Rath gewußt. Ganz glatt lief die Sache freilich auch jetzt noch nicht, und Vorsicht und Geheimniß waren dringend geboten, wenn auch über die Schiffe nach Südamerika, die im Außenhafen vor Anker lagen, eine so scharfe Kontrole nicht geübt wurde und zumal die „Cebe“, die nur gelegentlich Passagiere beförderte, kaum etwas nach dieser Seite zu fürchten brauchte. Gegen das Gesetz verstieß der Kapitän immer, wenn er mich hinter dem Rücken der Polizei mitnahm, und so hatte er sich denn den Dienst, den er mir leisten sollte, nicht nur ganz anständig, wie Fritz meinte, bezahlen lassen, sondern diesem auch auf die Seele gebunden, daß er mich „auf seine Gefahr“ an Bord zu schaffen, das heißt: wenn er dabei abgefaßt würde, „vor dem Riß zu stehen habe“. Er – der Kapitän – werde in diesem Falle von der ganzen Geschichte „nichts nicht wissen“.
Fritz hatte gesagt, er habe es auch nicht anders verstanden, und was die Gefahr betreffe, so „pfeife er darauf“.
Zwischen mir und Fritz aber war verabredet worden, daß wir uns Punkt neun Uhr vor dem Saxonia-Hotel begegnen, den Abend – er hatte zu dem Zweck vom Kapitän Urlaub erhalten – mit einander zubringen und Punkt zwölf Uhr von einem ihm bekannten völlig sicheren und verschwiegenen Jollenführer an Bord rudern lassen wollten.
Das Saxonia-Hotel war mein Hôtel: von all’ den schiefen, wurmstichigen Häusern am Hafen das schiefste und wurmstichigste; trotz senier drei Stockwerke, über denen nach rechts und links je ein Giebel aufragte, nicht höher, als die zweistöckigen Nebenhäuser, welche auch nicht eben hoch waren. Die Fenster klebten dicht nebeneinander und bildeten, da das Haus sich nach der Mitte zu gesenkt hatte, anmuthige Kurven. Nur die beiden oberen Reihen (nebst den Giebeln) gehörten zum „Hôtel“; zu ebener Erde und in dem Souterrain hatten neben und über einander noch ein Holz- und Kohlenhändler, ein Uhrmacher und ein Wein- und Spirituosenhändler Raum gefunden.
Vor diesem interessanten Gebäude, welches ich auf meiner Wanderung nun schon ein paar Dutzend Male passirt – jedes Mal dem Himmel dankend, daß ich in der gräßlichen heißen Koje da oben in dem Giebel rechts nicht noch eine Nacht zuzubringen brauchte – machte ich jetzt wieder Halt. Denn die Uhr in dem Laden des Uhrmachers zeigte auf neun, und gleich darauf schlug es auch neun von irgend einem Thurme in der Nähe: die verabredete Stunde.
Ich wartete fünf, zehn Minuten, nach allen Richtungen spähend: unter den Passanten wollte Fritz’ breitschultrige Gestalt nicht auftauchen. Es mußte ihm irgend Etwas dazwischen gekommen sein. Geduldig begann ich meine Wanderung von neuem, jetzt aber mich auf die Nähe des Saxonia-Hôtel beschränkend und nur manchmal über die Straße herüber bis an den Rand des Quai gehend und dort, mich auf die hölzerne Brüstung lehnend, in den Hafen hinein nach der Richtung spähend, wo, wie ich wußte, die „Cebe“ vor Anker lag.
Es lagen nicht eben viele Schiffe im Hafen – hatte mein Wirth gesagt, und Fritz hatte es bestätigt – trotzdem mir, dem an die bescheidenen Verhältnisse meines kleinen Heimathsortes Gewöhnten, der Anblick der langen schier endlosen Reihen von so viel Fahrzeugen jeder Größe und Gattung mit dem Wald von Masten, Raaen, Spieren, der von einem unentwirrbaren Netz von Tauen übersponnen und von zahllosen Wimpeln überflattert war, gewaltig imponirte. Gerade in diesem Moment, wo sich das ungeheure Bild von dem rothglühenden abendlichen Himmel, bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich erkennbar, abhob, schwimmend auf dem Wasser, welches die rothe Gluth zurückstrahlte, daß es, aller Erdenschwere entrückt, mir wie ein Abbild der Freiheit erschien, nach der meine Seele lechzte, wie der Hirsch nach Wasser.
Und die Worte Faust’s, der der scheidenden Sonne nachblickt, kamen mir in den Sinn:
„Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht –“
Welche Nacht! so dunkel, so voll von Schrecken, daß mir, der ich jetzt an sie zurückdachte, an dem brutwarmen Sommerabend das Blut kalt durch die Adern rieselte. O, der grausigen Stunden, die ich – drei endlose Tage und Nächte hindurch – in dem Giebelstübchen der Mühle verbrachte, bis die Jagd, welche man ringsumher nach mir, wie nach einem entsprungenen Verbrecher anstellte, an ihrer Erfolglosigkeit ermüden würde! Damals, als man glaubte, daß die Wasser des Baches sich über meiner Mutter und ihrem Kinde geschlossen, hatte man es sich bequemer gemacht. Die böse Sache sollte eben geheim bleiben. Heute hatte es gerade nur noch an einem Steckbrief in den Zeitungen hinter mir her gefehlt. Woher der Unterschied zwischen damals und jetzt? War es, daß man die vermeintlich Todte nicht zu fürchten brauchte, oder höchstens, wenn ihre Leiche gefunden wurde, und deßhalb lieber den Bach gar nicht absuchte; wohl aber den voraussichtlich Lebenden scheute, der am Ende gar die Indiskretion hatte, die Welt mit seinen Erlebnissen am herzoglichen Hofe bekannt zu machen? War es Adele’s Einfluß, die, nachdem sie ihren Frieden mit dem Herzog gemacht, nicht daran zweifelte, daß es ihr gelingen werde, den Bruch zwischen ihm und mir wieder auszuheilen? War es die kindisch-lächerliche Ursache dieses Bruches, deren man sich nachträglich schämte, und die man vergessen machen wollte, bis – nun ja, bis man den Ueberlästigen wenigstens auf eine anständige Weise entfernen konnte? War es, daß die momentane thörichte Wallung denn doch einer besseren Empfindung hatte weichen müssen; man sich des Wohlwollens erinnerte, mit dem man den jungen Menschen behandelt hatte, und das dieser doch auch zu verdienen schien, und in Folge dessen wirkliche Reue über das Geschehene empfand und das Verlangen, es nach Kräften wieder gut zu machen?
Gleichviel: mir gebot die Ehre, daß ich lieber mich von Träbern nähren müsse, ein oerlorenes Menschenkind, als mit ihm an einem Tische essen, für den meine Mutter sich sammt ihrem Kinde ertränkt hatte.
Sechzehn Jahre hatte er die Schuld auf seinem Gewissen fühlen können, wenn ein Etwas der Art in seinem moralischen Haushalt sich vorfand. Denn nicht, wie er mir an jenem Abend sagte, unmittelbar nach dem bösen Vorfall war er in die Müllersleute gedrungen, ihm die Wahrheit zu entdecken, und hatten sie ihm dieselbe entdeckt – nein! erst im vorigen Herbst, als Weißfisch die Todtgeglaubte wiedergefunden und durch das Bild, welches er mir aus dem Koffer stahl, die Identität der Tischlersgattin mit der einstigen Primadonna des Hoftheaters auch für den hohen Herrn konstatirt hatte, war der Müller halb durch Bitten, halb durch Drohungen vermocht worden, einen Schwur zu brechen, welcher durch die Thatsache des Lebens meiner Mutter und ihres Kindes inhaltlos geworden war.
Was hätte der hohe Herr wohl jetzt darum gegeben, wäre der schlaue Weißfisch weniger schlau gewesen, und sein Gewissen hätte die leichte Last weiter tragen dürfen!
Aber weßhalb kehrten meine Gedanken immer wieder zu ihm zurück, der fürder für mich todt sein mußte, wie ich selbst es für die war, die ich doch wenigstens Mutter hatte nennen dürfen?
Und die mir doch in den ersten Jahren meines Lebens wirklich Mutter gewesen war und ihre Mutterpflichten an mir erfüllt hatte, ich durfte nicht zweifeln, mit derselben Leidenschaftlichkeit, mit der sie Alles bis ins Uebermaß steigerte, was immer ihre phantastische Seele erfaßt hatte. War es doch dieser Gedanke, daß sie den Sohn in ihre Arme und an ihr leidenschaftliches Herz schließen würde, wenn er jetzt vor sie trat und sprach: ich weiß nun, was an uns Beiden gefrevelt ist, und verzeihe dir, wie ich hoffe, daß du mir verzeihen wirst – der mir den Weg nach Amerika gewiesen. Gutmüthiger Narr! – –
So stand ich, in Gedanken vertieft, auf das hölzerne Geländer gelehnt, während die Abendgluth allmählich verblich und der dumpfheulende Ton einer Signalpfeife von einem der kleinen Schlepper im Hafen mich daran mahnte, daß ich vorläufig noch sehr weit von dem Lande meiner Hoffnung sei und, wenn mich Fritz Brinkmann im Stich lasse, wie es nun allen Anschein hatte, auch schwerlich jemals dahin gelangen werde.
Verzweifelnd schier starrte ich in den Abend hinein. Schon begannen die Gestalten der Passanten schattenhaft zu werden; die Lichter der Laternen blitzten längs des Quai auf, die Fenster in den alten Häusern erhellten sich allgemach – und noch immer kein Fritz! Das hatte ich dem sonst so braven Kerl nicht zugetraut!
„Endlich! – Aber Du hast mich lange warten lassen!“
„Konnte bei Gott nicht eher! gab zu viel zu thun an Bord; und just, als ich da unten anlege, begegne ich ein paar Jungen, die ich in Australien glaubte und mit denen ich nothwendig ein Glas trinken mußte – dammi!“
Es war augenscheinlich nicht bei dem einen Glas geblieben. In dem Licht der Laterne, das plötzlich neben uns aufflammte, sah ich, daß sein breites Gesicht von einer bedenklichen Röthe war und aus dem breiten Gesicht die kleinen Augen unbehaglich hell glitzerten. Indessen, der Fritz konnte einen Hieb vertragen – das wußte ich; und – betrunken oder nüchtern – er war mein Stab und meine Stütze.
Und die auch nicht wesentlich schwankte, als wir jetzt Arm in Arm den Quai hinunterschlenderten, vorüber an dunklen Gestalten, die uns nur noch seltener begegneten, und mit denen Fritz gelegentlich einen kurzen Gruß oder ein derbes Schifferwort austauschte. Dazwischen sprach er ganz vernünftig mit mir über unsre bevorstehende Reise, die voraussichtlich sechzehn Wochen dauern würde; über den Kapitän, der so weit ein ordentlicher Mann und nur ein bischen sehr hinter dem Gelde her sei. Ich hoffte, den guten Jungen so im Gespräch zu erhalten bis zur Stunde, in welcher wir an Bord gehen sollten; aber plötzlich bog er vom Hafen ab in eine schmale und dünne Seitengasse, aus der uns in einiger Entfernung das Licht einer rothen Laterne entgegendämmerte. Das sei seine Lieblingskneipe, sagte Fritz – und man hörte ordentlich das Behagen, mit dem er es sagte; – und so oft er noch von Hamburg ausgefahren sei, habe er seinen letzten Abend da verbracht. –
Was sollte ich thun? Dem guten Jungen ein Vergnügen stören, auf das er sich offenbar schon so lange gefreut hatte, und welches auf Monate hinaus das letzte nach seinem Geschmacke sein würde? Dazu hatte ich kein Recht, und ich war seit mindestens drei Stunden ununterbrochen auf den Beinen gewesen, gründlich ermüdet und einer Erquickung dringend bedürftig. So bat ich denn den Kameraden nur, der Verantwortung, die er sich mit mir aufgeladen, eingedenk zu sein und sich nicht vollends –
„Zu betrinken?" unterbrach mich der Vergnügte lachend. „Als ob ich bi Gott nicht so nüchtern wäre, wie die Spritzen bei uns zu Hause, wenn sie im Sommer mal probirt wurden, und das Wasser aus allen Schläuchen platzte. Weißt noch? Nein, sei ganz ruhig! Erstens betrinke ich mich nie, und zweitens würde sich das in der Gesellschaft von einem so noblen jungen Herrn auch gar nicht schicken.
Ich blickte zaghaft zu dem Schild über der Thür, auf dem noch eben „Mermaid“ zu entziffern war über einer Gestalt, welche vermuthlich die betreffende Nixe in Person vorstellen sollte, wie sie im obligaten Kostüm aus spritzenden Wogen taucht und einem Herrn in Matrosenkleidung, der sich von einem Felsen zu ihr herabbiegt – auf die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren – einen weitbauchigen, von dem edlem Inhalt überschäumenden Pokal kredenzt. –
„Es wird Dir schon gefallen,“ raunte mir Fritz mit vor anticipirtem Vergnügen rauher Stimme zu; „bi Gott!“
Und wir gingen in das Haus.
Ein dunkler oder doch kaum erhellter Flur; Fritz faßte mich bei der Hand und führte mich gerade aus bis zu der hinteren Wand, in welcher er eine Thür öffnete, durch die er mich vor sich herschob, um dann selbst zu folgen.
Ich mochte mir von dem Lokal in der Eile ein schauerliches Bild gemacht haben und war deßhalb angenehm überrascht, als nun, was ich sah, jenem Bilde in keiner Weise entsprach: ein sehr großer, allerdings drückend niedriger, mäßig beleuchteter, aber durchaus reinlicher, mit einem rohen, offenbar gut gemeinten Geschmack dekorirter Raum, der mit seinen glatten Dielen wohl als Tanzplatz dienen mochte, und von dem nach allen Seiten (außer der Flurseite) sich größere und kleinere, zum Theil mit rothen Vorhängen verhüllte Kojen öffneten. Der große Raum war bis auf einige wenige Paare, welche sich nach den Klimpertönen eines verstimmten Klaviers, das ein alter Mann bearbeitete, im Walzer drehten, leer; in den Kojen mußten sich hier und da Gesellschaften befinden, denn man hörte sprechen, lachen oder singen, aber keineswegs übermäßig laut, oder doch nicht viel lauter, als es in unserem ersten Restaurant auch zugegangen war, wenn mich Renten nach einem Hoffest abgeholt hatte, noch eine Flasche Sekt mit ihm und anderen Hofkavalieren en petit comité zu trinken.
Allmählich hatten sich die Räume gefüllt, die dadurch, und weil sich von der Decke der Tabaksrauch wie ein graues Tuch immer tiefer senkte, um vieles kleiner und noch niedriger als im Anfang erschienen. Die verhältnißmäßige Stille war einem wüsten Lärm gewichen, in welchem man nur noch manchmal das Klavier hörte, trotzdem der alte Mann ohne Aufhören die Tasten bearbeitete. Auch schienen die Tänzer der Musik nicht zu bedürfen, sondern machten sich solche nach Bedarf durch Schreien, Jauchzen und Klappern mit Stückchen Holz, die sie zwischen den Fingern hielten, auch wirklichen Kastagnetten, welche ein paar braunschwarze Bursche mit großen Ringen in den Ohren aus den Taschen ihrer verschlissenen Sammetjacken genommen hatten. Und so wenig wie der Musik, bedurften die Lärmenden der Tänzerinnen – glücklicherweise! denn es waren schreckliche Tänze zum Theil, die da getanzt wurden, wenn man dies Gliederverrenken, dies Schleudern mit Armen und Beinen noch so nennen durfte: Tänze, vielmehr Tanzscheusale, wie sie nur die Lasterhöhlen überseeischer Hafenorte so grauenhaft hatten ausbrüten können. Der Anblick wäre unerträglich gewesen, hätte ich dabei nicht beständig das Gefühl gehabt, daß es die Bursche im Grunde gar so schlimm nicht meinten, ja, daß sie sich zum guten Theil gar nichts dabei dachten und in der Welt nichts wollten, als die überschüssige Kraft vertoben und eine Stunde lustig sein im Rückblick auf die monatelangen Entbehrungen und Strapazen, von denen sie gestern heimgekehrt waren, oder denen sie mit dem nächsten Morgen entgegengingen.
Dennoch sehnte ich mich von Herzen aus diesem traurigen Tempel der Lust, den ich doch ohne Fritz nicht verlassen konnte; und Fritz raste schon seit einer Stunde mit den Rasenden und war jetzt sogar gänzlich verschwunden.
„Er wird schon wieder kommen,“ tröstete mich die Wirthin, die sich, wie sie das schon mehrmals im Laufe des Abends gethan, zu mir gesetzt hatte.
Ich saß auf glühenden Kohlen, und meine Situation wurde dadurch nicht weniger peinlich, daß ich wiederholt die Gesichter der vorüberstreifenden Gäste mit einem spöttischen Ausdruck auf das seltsame Paar in dem Winkel gerichtet sah. Denn wir befanden uns in einem äußersten Winkel des Lokals, den die Wirthin wohl für sich und etwaige bevorzugte Gäste reservirt hielt, deren einziger ich Aermster heute Abend war und keiner der Anderen wagte uns zu stören! Und Fritz schien mich ganz vergessen zu haben! Wie sollte dies enden? Plötzlich wurde ich starr vor Schrecken. Meine Augen, die ziellos in dem weiten Lokal umherschweiften, hatten an dem entgegengesetzten Ende eine Gestalt entdeckt, welche auf den ersten Blick Weißfisch zu ähneln schien, und in der ich mit einem zweiten Blick Weißfisch erkannte. Er war in Begleitung eines um einen Kopf kleineren Mannes, der sicher kein Schiffer war. Beide konnten eben erst eingetreten sein und standen noch in der Nähe der Thür, in diesem Augenblick im Gespräch, zu welchem Weißfisch, des Lärmens wegen, der in dem Lokal tobte, den Kopf tief zu dem Kleinen herabbog. Noch hatte er offenbar, den er suchte, nicht gesehen, denn daß er mich suchte, daß man die Spur des gehetzten Wildes, der Himmel mochte wissen wie, aufgefunden hatte und derselben bis hierher gefolgt war – daran zweifelte ich nicht einen Moment.
„Retten Sie mich“ flüsterte ich der Wirthin ins Ohr.
Mein starrer Blick hatte der Klugen gesagt, wovor und vor wem: vor dem Fremden, der da eben mit dem Kleinen, den sie nur zu gut kannte, hereingekommen war.
„Der verdammte Polizist!" murmelte sie durch die weißen Zähne.
Sie hatte sich schnell erhoben und vor mich gestellt, der Art, daß sie mich mit ihrer Gestalt, wenigstens gegen die in der Tiefe des Lokals, beinahe vollständig deckte. So schob sie mich vor sich her, nur zwei oder drei Schritte bis zu einer Thür unmittelbar neben dem „Bar“, die ich vorher nicht bemerkt hatte, und durch diese Thür, die sie sofort hinter uns schloß.
Wir befanden uns in einem kleinen Zimmer, das wohl ihr eigenes war, und in welchem eine auf dem Tisch vor dem Sofa stehende Lampe ein mäßiges Licht verbreitete.
„Ist es schlimm?“ flüsterte die Frau.
„Was?“
„Was Du gethan hast?“
„Nein. Aber, die mich verfolgen, sind sehr mächtig. Ich will lieber sterben, als wieder in ihre Hände fallen.“
„Es ist gut.“
Sie hatte mich wieder bei der Hand gefaßt und leitete mich so aus dem Zimmer auf einen dunklen Korridor, dann ein paar Stufen hinab, dann wieder durch dunkle Gänge, in welchen es feucht und kühl war, bis zu einer Thür, deren Riegel sie vorsichtig zurückschob.
„Man kann nicht wissen,“ flüsterte sie.
Nun öffnete sie langsam die Thür und schaute hinaus.
„Es ist Alles sicher,“ flüsterte sie. „Halt Dich links den Hof hinauf! Du kommst direkt an den Hafen. Da nimm das erste beste Boot und laß Dich an das Schiff bringen! Hast Du Geld?“
„Ja.“
„Dann geleit Dich Gott!“
Ich eilte mit so raschen Schritten, als die Dunkelheit erlaubte, durch die lange enge Passage in der von der Wirthin angewiesenen Richtung davon.
Schneller, als ich gedacht, – denn der schmale Gang schien endlos, und ich hatte wiederholt über Bretter, Fässer oder was sonst im Wege lag, mühsam klettern müssen – gelangte ich ins Freie, das heißt auf jenen breiten Quai, der auf der einen Seite die Häuser und auf der anderen den Hafen hatte. Aber es war nicht jener Theil des Quai, den ich kannte, in der Nähe meines Gasthofes, dem gerade gegenüber eine „Abfahrt der Jollenführer“ sich befunden hatte, nach der ich jetzt suchte, denn wie sollte ich anders an Bord der „Cebe“ gelangen? Ich hielt mich auf gut Glück rechts, merkte aber bald, daß ich von der gesuchten Stelle mich nur noch weiter entfernte. So kehrte ich denn wieder um, diesmal die Häuserseite wählend, die im Schatten lag, während
[406] die andre Seite von dem Mond, der eben über die Giebel heraufkam, hell beleuchtet war. Auch hoffte ich hier im Nothfalle mich hinter einem der Kellerhälse, oder in irgend einer jener dunklen unendlichen Gänge – wie jener, aus dem ich gekommen – eher verbergen zu können. Daß ich im Grunde keine Ursache habe, meinen Verfolgern auszuweichen, sondern ihnen kühn die Stirn bieten müsse und mir einen freien Abzug ertrotzen – daran dachte ich auch nicht einen Augenblick. Vielmehr war meine Seele von einer Angst erfüllt, die etwas Grauenhaftes hatte und mir jede klare Besinnung raubte: sie hätten zweifellos die Macht, mich festzuhalten, zur Umkehr zu zwingen, und ich müßte noch einmal ihm, vor dem ich geflohen war, gegenübertreten. Lieber sterben! wiederholte ich mir fortwährend, indem ich so mit klopfendem Herzen, auf jedes Geräusch lauschend, mit starren Augen das Dunkel durchspähend, an der Häuserzeile hinstrich.
Ich war bis jetzt nur wenigen Personen begegnet und keiner, die meine scharfen Augen nicht schon aus einiger Entfernung als unverdächtig erkannt hätten. Auch bemerkte ich zu meiner großen Beruhigung, daß ich mich jetzt in der rechten Richtung bewegte. Das mußte die Hafenwache sein, die ich von meinem Fenster im Gasthof hatte liegen sehen – das die hohen Masten des Auswandererschiffes, welches mir der Wirth gezeigt hatte – ich konnte nur noch etwa fünfzig Schritt bis zum Saxonia-Hôtel haben. Und da war es mit seinen beiden Giebeln, schräg vom Monde beschienen, der auf den krummen Fensterzeilen glitzerte und – auf drei Gestalten fiel, die vor der Thür standen. Im nächsten Moment war ich in einen jener schmalen Gänge getaucht, dessen schwarzer Mund sich gerade an der Stelle, wo ich mich befand, nach links zwischen den Häusern aufthat. Ich hatte in den Gestalten Weißfisch, den Polizisten von vorhin und meinen Wirth völlig deutlich erkannt – denn ich war höchstens noch dreißig Schritte entfernt gewesen, und nur ein paar großen Fässern, welche bis beinahe auf das Trottoir gewälzt waren, und hinter denen ich eben hervortreten wollte, hatte ich es zu verdanken, daß sie mich nicht ebenfalls gesehen.
Wenn sie mich nicht gesehen! Gleichviel: man war mir auf der Spur und hart auf den Fersen. Das gehetzte Wild mußte seine ganze Schlauheit aufbieten, wollte es den Jägern entrinnen.
Und nun kam auch etwas von jener Ruhe über mich, deren ich mich in den kritischen Momenten meines Lebens noch immer zu erfreuen gehabt hatte. Ich überlegte, was ich thun sollte, wenn der Gang, wie ich hoffte, auf der anderen Seite einen Ausweg hatte, und was, wenn er sich als eine Sackgasse erwiese. Im ersteren Falle wollte ich auf dem kürzesten Wege, den ich auffinden könnte, zum Hafen zurückkehren und – von welchem Punkte auch immer – ein Boot, das mich ans Schiff brächte, und wäre es um den ganzen Rest meiner Baarschaft, zu erlangen suchen; im zweiten hier in dem Gange noch eine halbe Stunde bleiben und dann umkehren, auf die Gefahr hin, meinen Verfolgern in die Hände zu laufen. Die „Cebe“ sollte um zwei Uhr die Anker lichten; bei dem trüben Schein, der aus einem Fensterchen in dem Gäßchen dämmerte, las ich von meiner Uhr halb zwölf; ich konnte nicht wissen, wie lange es währen würde, bis ich ein Boot fand; die andere Gefahr also, daß, wenn ich zögerte, das Schiff ohne mich abging, war nicht minder groß.
In dem Gäßchen, das keine acht Fuß breit sein konnte und bei der Dunkelheit noch schmaler schien, war es völlig still; so leise ich auftrat, hallte mein Schritt doch unheimlich laut auf dem holperigen Pflaster, welches wie mit einem zähen Schleim überzogen schien, so daß mein Fuß fortwährend ausglitt. In den Jammerhöhlen zur Rechten und zur Linken mochten hier und da die Fenster aufstehen; ich vernahm, wie ich so vorüberschlich, dann und wann röchelndes Schnarchen oder das erstickte Wimmern eines Kindes oder ein paar dumpfe Worte, wie von Leuten, die aus dem Halbschlaf heraus zu einander sprechen. Ein mephitischer Dunst, der von der Gasse selbst, aus den Baracken herausqualmte, benahm mir fast den Athem, und immer noch wollte das entsetzliche Gäßchen kein Ende nehmen.
Da hörte ich plötzlich ein Geräusch wie von Schritten. Lauschend, mich dicht an die Wand drückend, blieb ich stehen. Ich hatte mich nicht getäuscht: es waren Schritte, hinter mir das Gäßchen herauf, und von mehreren Personen, mindestens zweien, wenn nicht dreien, die sich schnell näherten, da sie offenbar nicht, wie ich, eine ängstliche Vorsicht beobachten zu müssen glaubten. Wer sollte das sein, wenn nicht meine Verfolger? Noch war mein Vorsprung groß genug, daß ich im Schutze der Dunkelheit ihnen zu entkommen hoffen durfte. Ich that ein paar eilige Schritte, verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und glitt mit Blitzesschnelle, seltsamerweise, ohne zu fallen, die klebrigen Stufen einer Holztreppe hinab, die unten in einer Thür endete, durch deren oberen Theil ein mattes Licht dämmerte. Von den gewaltsamen Verrenkungen, durch die ich mich beim Hinabgleiten instinktiv vor dem Fallen bewahrt hatte, in allen Gliedern wie gerädert, lehnte ich noch keuchend in der Ecke von Thür und Treppenwand, als die Tritte meiner Verfolger bereits über mir in dem Gäßchen erschallten. Sie standen unmittelbar an der Treppe still, und in demselben Moment blitzte ein scharfer Schein schräg die Stufen hinab hart an mir vorüber, der ich mich gerade in die andere Ecke gedrückt hatte. Es war glücklicherweise auch eben nur für einen Moment, dem sofort wieder die alte Finsterniß folgte.
„Was giebt es?“ hörte ich Weißfisch’s Stimme.
„Nichts!“ war die Antwort. „Eine alte Gewohnheit, wenn ich hier vorbeikomme. Die Hinterthür zu einem Lokal, das ihr in Berlin einen Verbrecherkeller nennen würdet."
„Da kann er nicht sein?"
„O nein,“ sagte der Beamte. „Dazu gehört mehr.“
„Wenn er nicht am Hafen zu finden ist, ist er nirgends zu finden,“ hörte ich eine dritte Stimme sagen, die wohl dem Wirth gehören mochte.
„Ich will nur noch eben den Gang zu Ende gehen,“ sagte der Polizist. „Die Herren können hier stehen bleiben, oder auch gleich umkehren. Umkehren müssen wir so wie so; es ist eine Sackgasse.“
„Und eine reizende Gasse,“ sagte Weißfisch, „in der man sich Hals und Beine brechen kann. Wenn Sie doch nur wenigstens Ihre Laterne auflassen wollten!“
„Dann könnte ich sie ebenso gut ausmachen,“ sagte der Beamte lachend. „Also ich treffe Sie am Hafen wieder.“
Man trennte sich. Der Beamte ging die Gasse weiter hinab, die Anderen kehrten um. Sobald die Schritte nach beiden Seiten ncht mehr zu vernehmen waren, pochte ich leise gegen die Thür. Der Beamte konnte, zurückkommend, aus „alter Gewohnheit“ die Treppe noch einmal hinableuchten und weniger flüchtig als das erste Mal. Ich pochte stärker, da keine Antwort erfolgte, trotzdem ich jetzt dumpfe Stimmen von drinnen zu vernehmen glaubte. Was sollte ich beginnen? In wenigen Minuten mußte der Beamte die Treppe abermals passiren. „So öffnet mir doch!“ rief ich durch das Schlüsselloch, das ich endlich entdeckt hatte. Und wirklich drehte sich ein Schlüssel. Die Thür wurde vorsichtig so weit zurückgezogen, als die Sperrkette es zuließ; durch die Spalte sah ich das brutale Gesicht eines Kerls, der mir jetzt mit der Laterne, die er bei sich führte, in das Gesicht leuchtete.
„Was wollt Ihr?“
„Obdach.“
„Könnt Ihr bezahlen?“
„Ja.“
Die Sperrkette wurde geräuschlos ausgehoben, und die Thür geöffnet, daß ich eben durchschlüpfen konnte. Dann schloß der Mann hinter mir ab, hängte die Kette wieder ein und beleuchtete mich, die Laterne hebend, von Kopf bis zu Fuß und wieder bis zum Kopf. Das Examen schien günstig für mich ausgefallen zu sein. Von einem Menschen wie ich, mochte mich nun hergeführt haben, was da wollte, hatte man offenbar nichts zu fürchten.
„Kommen Sie!“ sagte der Mann.
Ich hatte es ja aus dem Munde des Polizisten, daß dies ein „Verbrecherkeller“ sei, und um hier einzudringen, „mehr gehöre“, und darunter verstanden: mehr Muth, als er mir zutraue. Nun, ich hatte den Muth gehabt und war auf Alles gefaßt; vielmehr ich glaubte es zu sein. Auf das hier war ich nicht gefaßt gewesen: nicht auf das scheusälige Elend, das hier zusammengehäuft war, wie der Kehricht einer Gasse, und über das die Laterne des Wirthes schauerliche Streulichter warf, wie er jetzt vor mir her durch diese entsetzlichen Höhlen schlurfte, hier und da das Bein, den Arm eines der auf dem faulenden Stroh rechts und links Schlafenden mit dem Fuße bei Seite stoßend, einmal auch über einen Haufen Lumpen, der mitten in dem schmalen Gang lag, und in dem ein Menschenleib steckte – ich weiß nicht, ob eines Mannes oder Weibes – ruhig wegschreitend, wie ich es, ihm nach, auch thun mußte, während Ekel mir das Herz zusammenschnürte und Entsetzen mir die Glieder wie im Fieberfrost schüttelte. Ich hatte vorhin geschaudert bei der wüsten Orgie in der Matrosenkneipe und gemeint, das sei die äußerste Tiefe, bis zu welcher das Laster sinken könne; und war doch Alles nur kaum getrübtes Wasser gewesen, in Vergleich zu dem stinkenden Schlamm, durch den ich jetzt zu waten hatte. O, der grauenhaften Stunde, die mir noch jetzt nach Jahren in ihren gräßlichen Einzelheiten dann und wann ein Traum zurückbringt, aus dem ich, in Angstschweiß gebadet, erwache! Und mir einreden möchte, es sei eben nur ein Traum und nicht denkbar, daß so wahnsinnig Scheußliches in der Wirklichkeit existire. Und das ich deßhalb weiter zu schildern nicht versuchen will, da man mir doch nicht glauben und, vermöchte ich das Entsetzliche Zug für Zug wiederzugeben, nun erst recht annehmen würde, ich habe nur eben der Phantasie die Zügel der Vernunft abgestreift und lasse sie dahinrasen, Kinder und Thoren zu schrecken. O Kinderweisheit, o Thorenklugheit, die sich schrecken lassen. O Aberwitz, der die Gefahr nicht sieht! unselige Verblendung, welche die Augen vor dem Abgrund schließt, dem klaffenden Höllenrachen dem nimmersatten, der Jahr aus Jahr ein und Tag für Tag seine Speise in sich schlingt, hungrig nach mehr und immer mehr – die ekle Speise, die doch nur Stücke sind, so er von dir losriß mit gierig giftigen Zähnen von deinem Leib, o Menschheit!
Ich erinnere mich genau, daß es gerade dieser Gedanke war, an dem sich mein betäubtes Gehirn abquälte, als ich, die Augen mit der Hand bedeckend, vor einem Glase Schnaps saß, das der Wirth ungeheißen vor mich hingestellt hatte, nachdem wir aus den Schlafhöhlen heraus in einen Raum gelangt waren, welcher die Gaststube dieser fürchterlichen unterirdischen Herberge zu sein schien. Ein etwas größerer Raum, von dessen schmutzigen, nackten Wänden das Wasser in dicken Tropfen rann, die hier und da aufglitzerten im trüben Schein der Talglichter, welche vereinzelt auf den von übergegossenem Schnaps und Bier klebrigen Tischen qualmten. Es waren nur noch wenige Gäste da, wohl die zuletzt gekommenen, oder solche, die noch ein paar Pfennige dran zu wenden hatten, den letzten Rest von Verstand und Besinnung vollends zu ersäufen; aufgedunsene, todtbleiche oder gräßlich geröthete Gesichter, aus denen die verglasten Augen stumpfsinnig ins Leere stierten oder wie im Wahnsinn brannten. Ich hatte den Anblick nicht länger ertragen können und zwang mich nun doch, wieder hinzusehen, als sei es meine Pflicht, mich, bevor ich ausbräche, noch einmal zu überzeugen, daß dies Fürchterliche wahr und wahrhaftig sei, und ich es sei, der es gesehen und erlebt – derselbe Mensch, der vor noch nicht acht Tagen den Wind hatte rauschen hören durch die Riesentannen oben „auf dem Walde", und von der Freiheit geträumt hatte, die er sich erringen müsse um jeden Preis. Nun, dies hier war der Preis: die Gesellschaft der Elendesten der Elenden – ein grausamer Hohn scheinbar, und der doch die Rechtfertigung dessen, was ich gethan, in sich barg. Der mir sagte: ja, du thatest recht, als du eine Herrlichkeit von dir wiesest, welche sich auf diesem Schlammgrund aufbaut, und deßhalb nicht sein sollte, ja, in Wirklichkeit gar nicht ist, nur ein Schein ist, wie Irrlichttanz auf einem faulen Sumpfe. So hatte Adalbert die Welt gesehen, in deren Glanz beim Sonnenuntergang ich mich berauschte. Ich hatte ihn einen Pessimisten gescholten. Jetzt wußte ich es besser. Es ist leicht, Optimist sein, wenn man nicht sehen will oder – sehen kann.
Der Wirth war eben einmal wieder in den Raum gekommen; ich erhob mich, an allen Gliedern wie geschlagen, und trat zu ihm heran und fragte, was ich zu zahlen habe? Er sah mich verwundert mißtrauisch von der Seite an und versetzte brummend: „Das hat Zeit bis morgen früh.“ – Ich erwiderte, ich müsse fort; ich habe keinen Augenblick zu verlieren.
„So!“ sagte er gedehnt. „Und vorhin hatte man’s so eilig? Wer ist man denn eigentlich?“
„Das gehört nicht hierher,“ erwiderte ich trotzig.
„Nicht hierher? so? Vielleicht gehört man überhaupt nicht hierher unter ehrliche Leute?“
Er sah mir starr in die Augen mit einem Ausdruck im Blick, vor dem mir schauderte. Offenbar hielt er mich – und hatte er nicht Grund dazu? – für einen Verbrecher, der eben von der frischen That kam. Schwerlich wurde ich dadurch schlechter vor diesen gräßlichen, blutunterlaufenen Augen, wohl nur kostbarer. Er hatte mich in seiner Gewalt. Wie hoch war der Preis, für den er mich losgeben konnte?
Ich bin überzeugt, daß der Mensch in diesem Moment sich das fragte, wie ich mich fragte, was ich ihm wohl bieten dürfe? Es war ein harter Schlag für mich, dessen Barschaft so schon gering genug war. Aber was sollte ich thun? Eine halbe Stunde mochte ich doch wohl schon in dieser Hölle zugebracht haben. Ich mußte fort, oder das Passagierbillet in meiner Tasche wurde zu einem werthlosen Stück Papier, und dann war ich ganz verloren.
„Wieviel?“ sagte ich.
„Taxiren Sie sich selbst,“ sagte der Wirth „werde dann schon sagen, ob’s langt.“
Ich war im Begriff, eine für meine Verhältnisse thörichte Summe zu nennen, bei der es doch schwerlich sein Bewenden gehabt hätte, als ein Mann, der in dem äußersten, dunkelsten Winkel des Raumes, das Gesicht in beide Hände gedrückt, an einer Tischecke gefesselt und, wie ich meinte, geschlafen hatte, plötzlich den Kopf hob und nach uns stierte. Mir war, als müßte ich das Gesicht schon gesehen haben; aber der aus Tabaks- und Torfrauch gemischte bläuliche Qualm, welcher den Raum, wie das ganze gräßliche Lokal füllte, war zu dicht – ich konnte es nicht herausbringen, und was war auch daran gelegen? Dennoch hatte der Anblick meine Aufmerksamkeit auf einen Moment in Anspruch genommen und meine Antwort verzögert; im nächsten war der Mann von seinem Sitze aufgetaumelt und hatte ein paar Schritte auf uns zu gemacht. War es möglich? konnte das mein Bruder August sein?
Der Mann war stehen geblieben und fixirte jetzt mich, wie ich ihn. Auf einmal flog ein Lachen über das verwilderte bärtige Gesicht, und einen gurgelnden Laut des Wiedererkennens ausstoßend, der in einen gräulichen Fluch endete, stürzte er auf mich zu und riß mich in seine Arme: „Muttersöhnchen, Zuckersöhnchen! kennst Du mich denn nicht mehr?“ – Und derselbe gräuliche Fluch noch einmal.
Es war ein schlimmes Wiedersehen und das mir doch das Herz seltsam bewegte. Nicht bloß, weil ich in dieser äußersten Noth einen Menschen fand, der zu mir stehen würde. Er hatte mich stets mißhandelt, und ich war froh gewesen, als er aus dem Hause kam; aber er war der Sohn des Mannes, den ich Vater nannte; ich hatte ihn wie einen Bruder geliebt – trotz alledem. Das alte Gefühl der Zugehörigkeit, das ich längst erloschen glaubte, wallte mächtig in mir auf, und so erwiderte ich seine Umarmung.
„Na, was heißt denn das?“ sagte der Wirth verwundert.
„Das heißt, daß Du dich zum Teufel scheeren kannst, anstatt hier zu stehen und Maulaffen feil zu halten,“ schrie August den Kerl an „Oder ja, geh’ hin und mach’ uns einen Grog, Peter – halb und halb! und von Deinem Besten, Du …“ hier folgte ein wüstes Schimpfwort „oder ich komme Dir auf Deine Glatze. Du kennst mich.“
Der Wirth murmelte Unverständliches in seine Bartstoppeln, aber schlürfte gehorsam davon. August hatte mich zu sich an einen Tisch gezogen, der jetzt, wie auch so ziemlich die übrigen, leer geworden war, – von den trunkenen Gästen waren die meisten einer nach dem andern in die gräßlichen Hinterräume getaumelt.
„So,“ sagte er, „wir sind hier ganz unter uns, von den … hört uns keiner. Nun erzähle einmal, Brüderchen, was Du dem Peter nicht auf die Nase zu binden brauchtest – war ganz recht von Dir! Mir kannst Du’s ruhig erzahlen. was hast Du ausgefressen?“
„Nichts, August,“ erwiderte ich, „oder es wäre doch eine lange Geschichte, zu der ich keine Zeit habe. Ich muß fort von hier, auf der Stelle, und ich bitte Dich, hilf mir dazu!“
„Wo willst Du denn hin?“
„Nach Amerika, und das Schiff segelt um zwei.“
Ich sah nach der Uhr. Es war bereits über halb eins.
Ich wollte erschrocken aufspringen; August hielt mich fest.
„So eilig wird’s nicht sein.“
„Ja, es ist!“ rief ich; „ich habe höchstens noch anderthalb Stunden, und ich weiß nicht, wie ich an Bord komme. Ich bitte Dich, halt’ mich nicht auf.“
Der Wirth war wieder hereingekommen, in jeder Hand ein dampfendes Glas, die er vor uns auf den Tisch stellte.
„Trink!“ rief August mir zu.
„Ich kann nicht,“ sagte ich schaudernd.
Er nahm das Glas an den Mund und leerte es bis zur Hälfte in langsamen Zügen. Ich blickte ihn während er trank, stumm flehend in die Augen.
„Na,“ sagte er, das Glas niedersetzend, „meinetwegen.“
Und dann auf französisch – und einem guten Französisch dazu, das mir aus seinem Munde gar seltsam klang: – „Hast Du Geld?“
Ich nickte.
„Dann“ – er sagte das wieder französisch – „gieb dem Kerl –“
Er nannte eine kleine Summe und sagte, als ich ihn unsicher anblickte, lachend hinzu: das sei genug, ich könne aber ein paar Groschen mehr geben, wenn ich wollte.
Ich that, wie er geheißen, und zählte das Geld auf den Tisch, von dem es der Wirth in seine hohle Hand strich, augenscheinlich wenig erbaut von diesem Ausgang des Handels, aber ohne Widerrede, von der er sich keinen Vortheil versprechen mochte.
August hatte unterdessen sein Glas vollends geleert, sich erhoben und mit dem Wirth, den er ein wenig auf die Seite zog, ein paar Worte geflüstert. Dann wandte er sich wieder zu mir und sagte, abermals französisch: „Wenn Du aber denen in die Hände läufst, die Dich suchen?“
„Es ist mir Alles eines,“ erwiderte ich ebenso; „aber fort muß ich.“
„Dann komm!“
Der Wirth war mit uns auf einen schmalen Flur hinausgetreten, wo eine Laterne an der Wand schwälte, und an dessen Ende es eine Reihe Stufen hinaufging bis zu einer Thür, die er aufschloß. Wir gelangten in ein Gäßchen, das ziemlich steil abfiel. Nach der abfallenden Seite sah ich gegen den helleren Himmel die dünnen Linien der Schiffsmasten. Der Anblick und die frische Luft, die von dort heraufstrich, erfüllten mich nach dem Grausen dieser letzten Stunde mit einem unendlichen Dankesgefühl, das ich doch ihm schuldete, der mich aus jener Hölle erlöst hatte. Die Thränen stürzten mir aus den Augen, während ich, unfähig zu sprechen, August an beiden Händen faßte.
„Ja, ja,“ sagte er. „Du bist das nicht gewohnt; unser einer schüttelt das ab, wie der Hund die Flöhe. Wir sind ja nur Hunde, und das Hundeleben, das ich schon seit vierzehn Tagen führe – Tag und Nacht in der Spelunke, und nur des Nachts einmal eine Stunde draußen, wie jetzt, um ein Bischen frische Luft zu haben, immer in Gefahr, abgefaßt zu werden, wie jetzt. Und dann ein paar Jahre Festung und hinterher noch ebenso viele Zuchthaus. Und das Alles, weil man kein Tyrannenknecht ist und sich für die Tyrannen nicht die Knochen entzwei schießen lassen will, daß sie ihre schönen Siege gewinnen und sich Retter des Vaterlandes schelten lassen, damit’s doch hübsch beim Alten bleibt. Vereinigtes Deutschland – ich pfeife darauf! Schönes vereinigtes Deutschland da unten in der Spelunke, he? mit dem braven Peter als souveränem Herrscher. Möchte nur alle Fürsten und Minister da mal auf eine Nacht zusammen haben, damit sie wenigstens wissen, wie das Leben der Armen riecht! Sie scheert’s nicht. Beim Teufel, mich scheert’s auch nicht, wenn ich so wollte. Könnte da ruhig unten in der Schweiz sitzen und von anderer Leute Fett leben. Aber wir sind ehrlich und tragen unsre Haut zu Markte, wenn’s für die Brüder sein muß. Hätten mich ums Haar abgefaßt in Berlin; bin nur noch eben mit heiler Haut davongekommen – just das nackte Leben – zwei Treppen hoch zum Fenster hinaus – hoffe, daß ich sie noch alle einmal an dem Strick baumeln sehe! Gehetzt von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, wie sie ihre Sauen hetzen, die Herren im rothen Frack – hinter den Hecken geschlafen, auf einem Heuboden, wenn’s hoch kam, bis hierher, wo sie mir auch schon wieder auf den Hacken sind, daß ich wohl nächstens das Quartier werde wechseln müssen, obgleich Peter soweit ein ehrlicher Kerl ist und so leicht keinen von der Partei verräth. Siehst Du, Brüderchen, das nennt man in der Patsche sitzen! Weiß nicht, in welcher Du sitzest; schlimm wird’s just nicht sein, wie ich Dich kenne. Aber, schlimm oder nicht, Du bist besser dran als ich. Denn Du hast Geld und hast ein Billet nach Amerika.“
„Da hast Du es!“ sagte ich.
Ich hatte das Papier aus meiner Brieftasche genommen und drückte es ihm in die Hand – „Und da hast Du Geld – hier und hier und hier! Du siehst, ich behalte nur den einen Schein für mich, und würd’ Dir auch den geben, wenn – willst Du ihn haben?“
„Gar nichts will ich,“ sagte August, „bist Du betrunken?“
Er war es bis zu diesem Augenblicke gewesen; ich hatte es wohl aus seinem Schwanken und an der schweren Zunge gehört, mit der er mir die konfuse Geschichte seiner Mission nach Berlin und seiner Flucht nach Hamburg erzählte. Jetzt war der Rausch mit einem Male verflogen. Er stand fest auf den Füßen und blickte mich, wie ich im fahlen Licht des Mondes wohl bemerken konnte, mit prüfenden Augen an.
„Ich bin nicht betrunken,“ sagte ich; „aber Du brauchst es notwendiger, als ich. Nimm, und mach’, daß Du an Bord kommst. Es ist die höchste Zeit.“
„Und Du? kannst Du denn noch einen Platz bezahlen?“
„Nein, ich bleibe hier. Es war das nur so ein Einfall. Ich habe drüben nichts zu suchen. Du mußt fort. Und ich geb’s Dir von Herzen gern. Nimm, nimm!“
Ich drückte ihm nun noch die Scheine in die Hand; er zögerte, sie einzustecken.
„Das habe ich nicht um Dich verdient,“ murmelte er.
„Du hast Dich ja schon meiner annehmen wollen, – nach des Vaters Tode – erinnerst Du Dich nicht? und mir eine Zuflucht bei Dir angeboten. Wollte ich hätt’s angenommen und nicht zu erleben brauchen, was ich jetzt erlebt habe. Komm! komm! oder es ist zu spät!“
„Wenn Du wenigstens von der Partei wärest,“ sagte er durch die Zähne.
„Und bin ich’s nicht?“ erwiderte ich in athemloser Hast, „von der Partei der Armen und Elenden, so gut wie Du? Die uns zu Brüdern machen würde, wenn wir es nicht schon wären? Bei dem Andenken an unseren Vater beschwöre ich Dich, thu’ mir den Willen! Ich habe keine ruhige Stunde im Leben wieder, wenn Du es nicht thust!“
Ich weiß nicht, wie es gekommen war, aber wir hatten uns auf einen Haufen Bretter gesetzt, der in der Gasse in einem wüsten Winkel lag, ein paar Schritte vor dem Ausgang der Gasse auf den Hafenquai. Der Mond schien hell in den Winkel, und in dem Licht des Mondes betrachtete August das Papier, das er noch in den Händen hielt.
„Ist denn das ein richtiges Passagierbillet?“ fragte er.
Es war in der That nur ein Blatt Papier, auf welchem in des Kapitäns Karl Haltermann steifer Hand geschrieben stand, daß er den Inhaber dieses für so und so viel nach Rio in seinem Barkschiffe „Cebe“ mitnehmen wolle – Verköstigung inklusive – und daß Inhaber die Summe bezahlt habe.
Ich erklärte das Alles, und wie gut es sich treffe, daß es ein Segelschiff sei und der Kapitän keine Legitimation verlange, die ich meinerseits auch nicht habe. Und weiter, wie Fritz Brinkmann, den August ja so gut und besser noch kannte, wie ich, mich habe an Bord schaffen wollen, und wie ich von dem Fritz auf so unglückliche Weise fortgekommen sei. Zu dieser Auseinandersetzung hatte ich nur wenige Minuten gebraucht, indem ich mich auf das durchaus Nothwendige beschränkte. Ich konnte die Zeit von der Uhr lesen: es war in fünf Minuten ein Uhr.
„Nur noch eine Stunde,“ rief ich aufspringend.
Er erhob sich langsamer.
„Es wird nichts helfen,“ sagte er; „wir kommen – oder ich komme nicht an Bord ohne Fritz. Sie halten scharf Wache am Hafen. Und wenn nicht wenigstens Einer dabei ist, der selbst unverdächtig, den Anderen legitimiren kann, geht es nicht.“
„Versuchen müssen wir’s,“ sagte ich; „auf alle Fälle.“
„Nun denn: auf alle Fälle,“ sagte er.
Er hatte schon vorher den Rock über dem Billete, das er mit dem Gelde in eine schmutzige Brieftasche gesteckt, zugeknöpft. Bei den letzten Worten hatte er in eine Seitentasche gegriffen und Etwas hervorgezogen, das er mir hinhielt. Es war ein langes Dolchmesser.
„Hast Du auch so was?“ sagte er mit finsterem Lächeln, das Messer halb aus der Scheide ziehend.
„Nein,“ sagte ich, „wozu?“
„Eben auf alle Fälle!“ erwiderte er, das Messer wieder in die Tasche gleiten lassend.
Ich weiß nicht, was ich zu einer andern Zeit, in anderer Stimmung dabei empfunden haben würde. Jetzt sah ich nichts als einen wilden Eber, den die Hunde verbellt haben und der seine Hauer wetzt. Und wahrlich, das Bild mußte mir wohl kommen, als im Scheine des Mondes das Messer in der Hand dieses finsteren, breitschulterig-stämmigen Mannes blinkte, dem ein stachliger schwarzer Bart bis beinahe in die funkelnden Augen starrte. Ich hatte immer einen tiefen Respekt vor seiner Alles wagenden Kühnheit und seiner schier übernatürlichen physischen Kraft gehabt, und die knabenhafte Bewunderung solcher Eigenschaften war dem Jüngling noch unverloren. Er wird’s schon durchwettern, sprach ich bei mir, besser, als Du’s irgend gekonnt hättest. Und so gebührt ihm die Fahrt ins Land der Freiheit und nicht Dir.
Wir waren eben aus unserem Winkel herausgetreten, als ein eiliger Schritt das Gäßchen herabkam.
„Es ist nur Einer,“ sagte August ruhig, mit der Hand in die Tasche fassend, wo das Messer stak. Ich reckte meine waffenlosen Arme – gutwillig gab ich mich nicht, das stand bei mir fest.
Da war der Eilige schon bei mir.
„Hollah! Lothar, bist Du’s?“
„Fritz!“
„Dammi! das war zur rechten Zeit. Ich lauf’ schon seit einer Stunde Gass’ auf, Gass’ ab. Wo zum Teufel hast Du denn gesteckt? Wer ist das?“
„Ein alter Freund, Fritz: der August!“
„Dammi! welcher Satan führt denn Dich hierher?“
„Er geht statt meiner mit Dir, Fritz.“
„Dammi! Warum?“
„Das kann Dir gleich sein und Deinem Kapitän auch. Mach nur, daß wir fortkommen!“
Fritz hatte als Junge stets Alles gethan, was ich gewollt, und an jenem Herbsttage, als wir auf dem wackligen Boot jene unsinnige Probefahrt machten, sein Leben für ein Gelüst von mir in die Schanze geschlagen. Es bedurfte auch diesmal nur weniger Worte, den Gutmüthigen unter meine Autorität zu beugen. Wenn ich darauf bestehe, nun, er hätte mich dammi gern mitgehabt, aber der August sei ihm auch recht, und der Kapitän wolle nur sein Geld. Das habe er, und einen tüchtigen Schlosser an Bord, das sei auch nicht bitter auf einer Fahrt von sechzehn Wochen – bi Gott! Das Boot liege schon seit einer Stunde da gerade vor uns. Aber ich solle nun zurückbleiben. Einen könne er schon herausreden, im Fall wir angehalten würden: zwei – dammi! das gehe über den Flaggenstock.
„Gut denn! so geht Ihr Beide. Leb’ wohl, August! leb’ wohl, Fritz!“
Ich hatte August umarmt und Fritz die große harte Hand gedrückt; zu langem Abschied war nicht die Zeit. Ich begleitete sie ein paar Schritte, bis zum Ausgang des Gäßchens; da blieb ich im Schatten der Häuser stehen. Sie huschten über den mondbeschienenen Quai schräg weg nach der Stelle, wo unten an der Treppe, deren oberes Geländer ich noch eben sehen konnte, das Boot lag, und verschwanden hinter der Brüstung. Würden sie unbehelligt fortkommen? ich stand da, spähend, mit hochklopfendem Herzen. Eine Militärpatrouille kam den Quai herauf gleichmäßig hallenden Schrittes: ein Officier auf der Ronde mit seinen Leuten. Sie konnten eben so wohl in mein Gäßchen biegen; mochten sie den Vagabunden mit zur Wache nehmen! Ich hatte nur Aug’ und Ohr für meinen Flüchtling.
Die Patrouille war vorüber, Alles war wieder still. Da der dumpfe, mir so wohl bekannte Ton, wenn die Riemen eines Bootes gegen die Pricken drücken. Und noch ein paar bange Minuten, dann gleitet über die offene Stelle des Hafens, welche ich gerade von meinem Standpunkt überblicken kann, zwischen den großen Schiffen ein Boot. Ich sehe es deutlich in dem hellen Mondschein, und daß Zwei die Riemen führen, während ein Dritter am Ruder sitzt. Es gleitet pfeilschnell dahin und ist im nächsten Moment hinter dem dunkeln Schiffskörper rechts verschwunden. Die „Cebe“ liegt weiter draußen; aber einmal in dem Außenhafen, sind sie vor jeder Verfolgung sicher. Gott sei Dank!
Und dann saß in dem Gäßchen, in dem Winkel auf dem Bretterhaufen, auf welchen der Mond schien, ein armer Junge, den Kopf in die Hand gestützt. Er hatte gethan, wozu ihn sein Herz getrieben, und er bereute es nicht. Aber, als jetzt eine benachbarte Thurmuhr zwei schlug und von den andern Thürmen es weiter hallte in der großen fremden Stadt, die ihm nach dem, was er hier durchlebt, als ein schlingendes Ungeheuer erscheinen mußte, und er nun im Geist die Ankerketten des Schiffes rasseln hörte, das einen Geretteten in das Land der Freiheit trug – es wird wohl Keiner so grausam sein, den armen Jungen zu verachten, wenn er da das Gesicht in die Hände drückte und bitterlich weinte.
An dem Bach, da wo er eine Viertelstunde unterhalb des kleinen Badeortes aus dem Walde tritt, stehen zwei junge Leute auf einer erhöhten Stelle des Ufers und lassen ihre Angelleinen in dem hier ziemlich tiefen Wasser schwimmen. Der starke Strom führt die Leinen binnen einer halben Minute regelmäßig so weit, daß sie dieselben wieder herausnehmen und mit weitem Schwunge bachaufwärts schleudern müssen.
Dies monotone Spiel mochten sie wohl bereits seit zwei Stunden getrieben haben, ohne daß während dessen ein anderes Wort, als etwa ein kurzes, welches das gemeinsame Geschäft betraf, über ihre Lippen gekommen wäre. Jetzt schnellte der Größere von den Beiden, der weiter bachaufwärts stand, seine Leine, an der „beinahe“ ein Fisch gehangen hätte, nur daß der Schlaue im letzten Augenblick vorgezogen, „wieder nicht“ anzubeißen, zum vielhundertsten Male leer aus dem Wasser und sagte gähnend. „Sie wollen wirklich nicht beißen. Ich denke, wir hören auf.“
„Hören Sie auf!“ erwiderte der so Angeredete; „ich will nicht Lamarque heißen, wenn ich nicht der Peller das versprochene Gericht mit nach Hause bringe.“
„Ich hätte gewiß nichts dagegen,“ sagte der Andere, „da Sie mich dazu eingeladen haben. Aber was nicht sein soll, das ist eben nicht.“
„Es soll sein und deßhalb wird es sein,“ sagte Lamarque. „Wenn Sie noch eine halbe Stunde bleiben, können Sie sich selbst davon überzeugen.“
„Wüßte nicht, daß ich etwas versäumte, wenn ich bliebe,“ sagte der Andere, sich in das Moos streckend, welches die Wurzeln der Rieseneiche mit einem dicken Teppich überspann. „Ist auch hier so viel schöner als in dem langweiligen Nest. Was ich sagen wollte, Lamarque, Sie spielten gestern Abend wirklich –“
„Ausgezeichnet, süperb, ich weiß. Aber so gern ich mich loben höre, zumal von Ihnen, bitte, jetzt weiter kein Wort!“
„Wie, kein Wort?“
„Denken Sie, daß man angeln und konversiren kann zu gleicher Zeit? Sehen Sie, den hätte ich gehabt, wenn ich aufgepaßt hätte. Verdammt! Das kommt von dem Schwatzen.“
Der Kleine hatte den beschädigten Köder erneuert und warf abermals seine Leine aus. Der Andere legte die Hände unter den Kopf und fing an, in das mächtige Laubdach über ihm hinaufzustarren.
Die jungen Leute waren die beiden „Liebhaber“ des Sommertheaters, das sich seit acht Wochen in dem kleinen Badeorte etablirt hatte; Lamarque war der erste; ich war der zweite.
Ich sollte morgen eine größere Rolle in einem alten Benedix’schen Stück spielen und begann, mir meinen Text im Stillen herzusagen. Ich fand, daß mir kein Wort fehlte – nicht einmal ein Stichwort – und daß ich mir den Rest schenken könne. Ueberdies hatte über mir eine Amsel angefangen zu singen, und die Sonne, die im Untergehen war, warf einzelne Streifen durch das Laubdach, sodaß hier und da ein Stück Ast, ein Convolut Blätter in tiefem Purpur glühten, während aus den dichten Massen schon die Dunkelheit „mit hundert schwarzen Augen sah“. Und ich hatte noch keine zwei Minuten so hinaufgeblickt, als ich Zeit und Ort und den Gefährten und das Stück morgen und Alles vergessen hatte und im Geist bei den Liebenden des Lustspiels war, an dem ich in meinen Mußestunden schrieb, und darüber grübelte, ob ich die entscheidende Scene nicht, anstatt im Zimmer, im Walde spielen lassen könne, – in einem Eichwald wie dieser. Nur daß ich dann die Entdeckung des Handels durch den eifersüchtigen Sekretär – ich müßte denn –
Und so spann ich weiter an den bunten Fäden meines Gewebes, während droben die Purpurgluth verlosch, die Amsel sich den Unterschlupf für die Nacht längst gesucht hatte, und Lamarque wortlos weiter angelte, bis er plötzlich mit einem hellen Jauchzer die tiefe Stille und meine Träume unterbrach. Erschrocken fuhr ich in die Höhe und griff mir an die Stirn, denn das Blut war mir von dem langen Liegen in den Kopf gestiegen, und vor meinen Augen schwammen große blaue Wolken.
„Was giebt’s?“
„Das versprochene Abendessen! Sehen Sie!“
Ich sah nun wirklich fünf oder sechs größere und kleinere Fische, die in dem Korb, welchen er mir triumphirend hinhielt, zappelten.
„Sie sind ein Tausendkerl, Lamarque,“ sagte ich.
„Pah!“ sagte er; „ich habe nur Ausdauer. Das ist alles.“
„Das ist auch alles,“ sagte ich, „oder doch viel, sehr viel.“
„Freilich. Wenn Sie –“
Lamarque brach ab, nahm seine Angelruthe auseinander, den zugedeckten Korb unter den Arm, und wir machten uns auf den Rückweg am Ufer des Baches hin durch den schweigenden Wald.
„Sie wollten vorhin etwas sagen, Lamarque. Sie fingen an: ‚Wenn Sie‘ –“
„Ich weiß es nicht mehr.“
„Haben Sie Ihre Rolle so schlecht gelernt, daß Sie nicht einmal auf den Souffleur weiter spielen können? Soll ich Ihnen den ganzen Text bringen?“
„Wenn Sie können –“
„Ich glaube. Sie wollten sagen: ‚Wenn Sie Ausdauer hätten, wären Sie kein so schlechter Schauspieler‘.“
„Oder doch: ein besserer.“
„Das kommt auf Eines heraus.“
„Nicht ganz. Sie sind kein schlechter Schauspieler; aber Sie könnten ein guter sein, wenn –“
„Mir nicht eben Alles fehlte, was zu einem guten Schauspieler gehört; zu einem, wie Sie, zum Beispiel.“
„Lassen wir mich aus dem Spiel! Was meinen Sie, was zu einem guten Schauspieler gehört und Ihnen fehlt?“
„Soll ich Ihnen das wirklich expliciren, Lamarque, stehe ich mir sehr im Licht, lasse ich Sie aus dem Spiel. Ich brauche nämlich bloß aufzuzählen, was Sie haben, und ich habe die sämmtlichen Requisiten zu dem betreffenden guten Schauspieler beisammen.“
„Na, dann schießen Sie meinetwegen los! Was habe ich denn?“
Zuerst, was Sie sich ja selbst zusprechen, Ausdauer. Und welche Ausdauer! Sie haben mir selbst gesagt, Ihre Schulkenntmisse seien über Lesen, Schreiben und Rechnen nicht weit hinausgegangen –“
„Wie sollten sie,“ unterbrach mich Lamarque. „Ich ging in eine Bürgerschule in einem kleinen polnischen Nest. Mein Vater – hieß übrigens eigentlich Markus – Jude selbstverständlich – war Barbier. Er brauchte mich im Geschäft von meinem zehnten Jahre an. Als ich sechzehn war, lief ich ihm weg –“
„Um Schauspieler zu werden – ganz recht. Weil Sie den unwiderstehlichen Drang hatten – das ist das Zweite zu der Ausdauer – und doch eigentlich dasselbe mit jener. Denn wohnte Ihnen nicht früher und später dieser unwiderstehliche Drang inne, so hätten Sie eben nicht die Ausdauer gehabt, Ihre schwache, dünne Stimme – pfeifende, sagten Sie – so zu schulen, daß Sie sich jetzt eines starken, wohlklingenden, vor allem unermüdlichen Organs erfreuen und einer Pronunciation, der man Ihre halb polnische Abkunft nicht im geringsten mehr anmerkt. Dasselbe Kunststück haben Sie mutatis mutandis –“
„Was heißt das?“
„In ähnlicher, wenn auch in anderer Weise mit Ihrem Körper fertig gebracht, der, nach Ihren eigenen Worten, anfangs gebrechlich oder doch ungelenk war, und jetzt die Kraft und Elasticität selbst ist, sodaß Sie mit ihm machen können, was Sie wollen. Nun kommt das Dritte, das freilich die Hauptsache ist: Ihr für mich und alle Kunstverständigen, die Sie gesehen haben, staunenswerthes Talent, Ihr theatralisches Genie: die reine, ganz spontane und momentane schauspielerische Intuition –“
„Was ist das nun wieder?“
„Eine Anschauung von dem darzustellenden Charakter, ohne daß Sie über denselben: sein Wesen, seinen Gehalt, seine psychologische oder gar historische Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit lange nachzudenken brauchen.“
„Oho, Sie meinen, ich denke gar nicht!“
„Keineswegs, nur daß Ihr Denken über einen Charakter mit dem inneren Nachschaffen desselben Hand in Hand geht. Und das innere Nachschaffen auch wieder sofort in das äußere Nachbilden, Herausformen, die eigentliche schauspielerische Darstellung mit einem Worte, übergeht, so daß im Grunde die Rolle, wenn Sie beim letzten Worte angekommen sind, auch eigentlich schon fertig ist.“
„Das ist wahr,“ sagte Lamarque. „Ich muß mich manchmal über mich selbst wundern, wie ich dazu komme, und wie fix das geht. Aber ich vergreife mich auch manchmal.“
„Gewiß, wenn auch sehr selten. Und selbst dann kann man Ihnen nicht gram sein, weil das etwa Unrichtige, sagen wir: in der Anlage Verfehlte, das Sie bringen, tausendmal interessanter und werthvoller ist, als das schulmäßig Richtige anderer Leute. Sehen Sie, Lamarque, das sind Sie. Brauche ich Ihnen nun noch zu sagen, was und wie ich bin?“
Lamarque antwortete nicht. Wir gingen eine Weile schweigend neben einander hin; plötzlich rief er:
„Sagen Sie mir nur das Eine: weßhalb sind Sie denn Schauspieler geworden?“
Ich mußte lächeln; in dieser Frage lag das ganze Urtheil des Mannes über mich und die Verfehltheit meines Berufes. Aber er sagte mir ja nichts, was ich nicht längst gewußt hätte, und mit einer Heiterkeit, die doch nicht ganz ohne Wehmuth war, erwiderte ich:
„Weil man mir so lange eingeredet hatte, ich habe Talent zum Schauspieler, bis ich es am Ende selbst beinahe glaubte. Beinahe, nicht ganz; und wären meine Verhältnisse nicht gar so mißlich gewesen, ich hätte mich doch wohl noch im letzten Augenblicke besonnen. Aber meine Situation war zu langem Besinnen nicht angethan. Sehen Sie: es sind nun eben vier Jahre her, da war ich einmal nach Hamburg verschlagen. Ich hatte nach Amerika gewollt; daraus wurde nichts. Nach einer schlimmen Nacht, in welcher der leibhaftige Teufel mit mir sein Spiel zu treiben schien – Sie brauchen sich dabei nichts Arges zu denken – ich kam leidlich unschuldig, wie ich hineingerathen, aus seiner Küche heraus – war ich einen ganzen Tag freudlos, ziellos und auch bis auf ein Weniges mittellos in den fremden Gassen umhergeirrt mit diversen Selbstmordsanwandlungen, denen ich aber glücklich widerstand. Der Abend fand mich in Sankt Pauli – Sie kennen Hamburg nicht? – nun, das ist eine Vorstadt, in welcher sich so ziemlich auf einem Platz Alles zusammendrängt, was im Genre der sogenannten Volksbelustigungen von den Cafés-chantants bis zu den Karrousels und den Buden mit der größten Dame der Welt, oder dem Schafe mit zwei Köpfen und so weiter geleistet werden kann. Ich hatte da so wenig zu suchen, wie überall sonst in der großen Stadt, aber ich war einmal da; und das bunte Treiben zerstreute mich doch ein wenig und lenkte mich vor Allem von jenen tristen Hamletsphantasien ab, die jetzt, wo die Sonne zur Rüste ging, in Erinnerung der furchtbaren verlebten Nacht, sich wieder stärker zu regen begannen. So trieb ich mich da herum, innerlich einem verlaufenen Hunde ähnlicher, als irgend einem anderen lebenden Wesen, wenn ich auch hier und da stehen blieb und mir irgend eine Wunderlichkeit oder Abenteuerlichkeit dieser tollen Welt scheinbar aufmerksam betrachtete; oder ebenso an den Schaubuden eine und die andere der Affichen las, die denn freilich manchmal ebenfalls wunderlich und abenteuerlich genug lauteten. Zum Beispiel folgende, die ich aus guten Gründen im Gedächtnisse behalten habe, und die Sie sich mit den nöthigen Absätzen untereinandergedruckt denken müssen: ,Felicia-Theater. Dreizehntes Gastspiel der kleinen Mimili – Der Liebling der Welt. – Das geehrte Publikum wird gebeten, während des Gastspiels der kleinen Mimili nicht zu rauchen. – Viertes Auftreten des englischen Original-Bauchredners Mister S. Vox mit seinen acht Automaten in sechs verschiedenen Sprachen. – Zum ersten Male: Badekuren. Lustspiel in einem Akte von G. zu Putlitz.‘
Nicht wahr, die Zusammenstellung ist originell? Wenigstens interessirte sie mich, vielleicht nur deßhalb, weil mein Lehrer mir die Rolle des Reinhold eingeübt und mich auf dem kleinen Probirtheater, auf welchem ich meine praktischen Studien machte, ein paarmal hatte spielen lassen. Wie ich noch da so stehe und den Zettel lese – es war an der Hinterseite des Kunsttempels neben der Ausgangsthür – wird diese Thür geöffnet; ein plumper kurzer Mann tritt auf die Schwelle und blickt, die Hände auf dem Rücken, vor sich hin mit einem verdrießlich-nachdenklichen Gesicht. Plötzlich wendet er sich zu mir, der ich noch immer bald die Affiche ansehe, bald den Mann, ohne mir bei dem Einen mehr zu denken, als bei dem Andern, und fragt mich in grobem Ton: ,Sind sie Schauspieler?‘ Ob ihn mein unbärtig jugendliches Aussehen zu der Frage bewogen hat oder nur der Umstand, daß ich so eifrig die Affiche zu lesen schien – ich weiß es nicht. Und auch nicht, warum ich mit ja antwortete. Ich bin überzeugt, es ist die reine Zerstreutheit gewesen, und ich hatte, der Wahrheit gemäß, Nein sagen wollen. – ‚Können Sie den jungen Kerl da in dem Stück da spielen?‘ fragte er weiter, mit der rothen Hand auf den Zettel schlagend. Diesmal konnte ich mit einiger Ueberzeugung Ja sagen. – ,Dann sind Sie mein Mann!‘ ruft der Dicke, jetzt mit strahlendem Gesicht. ,Kommen Sie herein, wie Sie gehen und stehen. Sie finden Alles! Rönner ist gerade von Ihrer Statur; es wird Ihnen passen, als wär’ es Ihnen auf den Leib gearbeitet.‘
Ich mochte dazu wohl ein recht verdutztes Gesicht gemacht und der Mann das für eine Abneigung, auf den Handel einzugehen, gehalten haben. Er ließ sich deßhalb zu einer Erklärung herbei. Herr Rönner habe sich vor zehn Minuten krank melden lassen – werde wohl mit der Krankheit nicht weit her sein – sei überhaupt ein unzuverlässiger Patron, der Musjö Rönner. Aber herbeizuschaffen sei er nicht; die Möglichkeit, ihn zu ersetzen oder ein anderes Stück zu geben, ebenfalls ausgeschlossen, und die kleine Mimili und Mister Vox hielten für den Abend nicht vor. Ich solle meine Gastrolle nicht umsonst geben, und wenn ich dem Publikum gefalle und ich meine Ansprüche nicht zu hoch spanne, so sei ich sein Mann nicht bloß für heute Abend; und der Teufel möge den Bummler, den Lumpen – nämlich den Herrn Rönner – holen!
Nun, ich hatte wahrlich nicht die Absicht, einem anderen armen Unglücksraben sein Stück Brot wegzunehmen, aber so waren doch wenigstens der Abend und die Nacht untergebracht, denn der Mann hatte mir freies Quartier in dem Hause selbst zugesagt; und die Stelle an der Außenalster, die mir für mein Valet auf dieser Welt ganz besonders geeignet schien, war ich sicher, auch morgen wieder zu finden. Ich schlug also ein und spielte den Reinhold nicht schlechter und nicht besser, als ich ihn heute noch spielen würde. Das Vorstadtspublikum war in seiner Sonntagslaune, überhäufte den ,Gast‘ mit großmüthigem Beifall; mein Patron umarmte mich nach der Vorstellung, lud mich zum Abendessen im Kreise der Familie und – die deutsche Bühne hatte einen schlechten Schauspieler mehr.“
„Blieben Sie lange in Hamburg?“
„Kaum ein Vierteljahr. Mein Patron war ein roher Trunkenbold, der heute mit seinen ‚Künstlern‘ Bruderschaft trank und sie morgen ein gut Theil schlechter behandelte, als Mister Vox seine Automaten. Doch hatte ich mir während der kurzen Zeit einige Routine angeeignet, ein kleines Repertoire geschaffen, und fand leicht ein anderes Engagement. Seitdem bin ich noch auf sieben oder acht anderen Bühnen gewesen, ohne irgendwo festen Fuß fassen zu können.“
„Oder zu wollen,“ rief Lamarque. „Ich behaupte noch einmal, es liegt nur an Ihnen, wenn Sie, ich will nicht sagen, ein Ludwig Devrient oder Seydelmann, aber doch ein guter Schauspieler sind.“
„Ich habe die Hoffnung definitiv aufgegeben,“ erwiderte ich; „und, offen gestanden, der Gedanke, der mich früher allerdings begeisterte, hat jetzt allen Reiz für mich verloren. Auch bin ich entschlossen, daß dies mein letztes Engagement sein soll.“
„Ja, aber was wollen Sie dann anfangen?“
„Ich weiß es selbst noch nicht. Ich weiß bloß, ich möchte eine Thätigkeit, der ich wirklich gewachsen und von der ich überzeugt wäre, daß bei derselben, und sei sie noch so gering, wirklich etwas, und sei es noch so wenig, zum Vortheil und Nutzen der anderen Menschen herauskäme. Und eine, bei der man die leidigen Gedanken, die sich nur immer um unser eigen Ich drehen, los würde und Zeit und Geistesfreiheit behielte, an die Anderen und ihr Wohl und Wehe zu denken; – zum Beispiel die Thätigkeit eines Handwerkers.“
„Im ,Fest der Handwerker‘?“
„Nein, in der hausbackenen Wirklichkeit.“
„Als ob ich ein Wort von all dem Unsinn glaubte! – So – da wären wir. Ich will nur schnell die Fische zur Peller bringen. Sie kommen doch sicher?“
„Gewiß.“
„Also auf Wiedersehen in einer Stunde etwa!“
„Auf Wiedersehen!“
Es war mir bei dieser Gelegenheit ergangen, wie das ja öfter im Leben vorkommt. daß man mit Jemand ein Gespräch beginnt, ohne eine andere Absicht als die einer ganz harmlosen Plauderei, und dabei zu einem folgenschweren, den weiteren Lebensgang bestimmenden Resultat gelangt, welches freilich wohl schon fertig in der Seele lag, aber doch jetzt erst gleichsam geboren und zum Entschluß erhoben wird. Von diesem Abend an war ich entschlossen, nicht nur dem Theater zu entsagen, das hatte schon so ziemlich festgestanden, – sondern alles Ernstes Handwerker zu werden.
Auf dem Wege ging es nicht weiter und wollte ich nicht weiter.
Mich aus meinen augenblicklichen Verhältnissen zu lösen, war herzlich leicht. Die Geschäfte der kleinen Truppe, zu der ich gehörte, gingen in diesem Jahre noch ganz besonders schlecht. Einen Direktor hatten wir eigentlich nur dem Namen nach, um dem Dinge vor den Augen des Publikums doch ein gewisses Ansehen zu geben. Im Uebrigen spielten wir bereits seit vier Wochen „auf Theilung“, und den Anderen war es ganz genehm, wenn durch mein Ausscheiden der Divisor in den schmalen Dividendus sich um eines verringerte. Man mußte dann freilich einige Stücke vom Repertoire streichen; aber das war kein Verlust, da dem wenig zahlreichen Publikum völlig gleichgültig war, was gespielt wurde, wenn nur gespielt wurde, und es so noch öfter als zuvor Gelegenheit hatte, Lamarque zu sehen, den es sich mit Recht zu seinem Liebling erkoren. Er hatte sich zum Winter ein Engagement an einem der besseren kleinen Berliner Theater zu verschaffen gewußt. Ich freute mich darüber seinethalben, der damit den Fuß auf die erste Sprosse der Leiter setzte, deren letzte zu erreichen er berufen und entschlossen war, und auch ein wenig um meinetwillen. Wir waren in der kurzen Zeit Freunde geworden, da ich ihn aufrichtig bewunderte und er keinerlei Veranlassung hatte, in mir einen Rivalen zu sehen. So nahm ich denn keinen Anstand, ihm mein Geheimniß mitzutheilen.
Auch ich wollte nach Berlin.
Ich war stets mit meinem Bruder Otto in Verbindung geblieben, wenn dieselbe auch nur darin bestanden hatte, daß ich ihm das wenige Geld schickte, welches ich erübrigen konnte, und er mir dafür, anstatt des Dankes, den ich nicht begehrte, mit Briefen antwortete, die unweigerlich nur die alten stereotypen Klagen über die bösen Menschen und die schlechten Zeiten enthielten und ebenso unweigerlich auf Blättern von verschiedenem Format geschrieben waren, zu denen aus Schulheften gerissene das Hauptkontingent stellten. Er trieb noch immer sein altes Metier eines Fenster- und Thürentischlers, manchmal mit, meistens ohne Hilfe eines Lehrlings; zu einem Gesellen hatte er sich meines Wissens noch nie aufgeschwungen. Ich hatte noch an dem Abend der Unterredung mit Lamarque bei ihm angefragt, ob er mich aufnehmen wolle. „Ich hoffe,“ schrieb ich ihm, „nicht lange Lehrling zu bleiben; übrigens kann ich auch ein kleines Lehrgeld zahlen als einen Zuschuß zur Wirthschaft, bis ich im Stande sein werde, mir meinen Unterhalt zu verdienen, und bald hoffentlich ein Uebriges, das ich dann brüderlich mit Dir theilen will.“
Die Antwort hatte auf sich warten lassen; es nahm mich bei dem allezeit Lässigen kein Wunder. Endlich war sie denn doch gekommen: er habe nicht früher schreiben können; ein fünftes Kind sei geboren worden; eine größere Bestellung gegen alles Erwarten eingelaufen – er wisse nicht, wo ihm der Kopf stehe – (als ob der Arme das jemals gewußt hätte!) –. Natürlich freue er sich außerordentlich, nach so langen Jahren wieder mit mir beisammen zu sein; aber bei ihm sei, wie ich wisse, Schmalhans Küchenmeister und – ich solle es mir doch ja noch einmal recht überlegen.
Ich schrieb ihm zurück: „Ich habe Alles überlegt; am nächsten Sonnabend treffe ich ein.“
Und nun, nachdem dieser entscheidende Brief abgesandt war, befiel mich jäh eine neue Sorge.
Ich hatte in allen diesen Jahren von den Menschen, die mir in meiner Jugend nahe gestanden, nichts gesehen und nichts gehort. Kein Wunder, da ich mich fast beständig fern von der eigentlichen Heimath (wenn anders ich von einer Heimath sprechen durfte), meistens in kleinen obskuren Orten der verlorensten Winkel des Vaterlandes umgetrieben! War auch nach Böhmen und Deutsch-Oesterreich, einmal sogar bis nach Pest verschlagen und so selten an meine Vergangenheit erinnert worden, daß sich mir dieselbe allmählich in ein Traumland verwandelte.
Denn nur zweimal während dieser ganzen Zeit hatte eine solche Erinnerung stattgefunden, das erste Mal vor etwa zwei Jahren, und peinlich genug war sie für mich gewesen.
Sie ging von einer Schauspielerin aus, welche kurze Zeit mit mir an demselben Theater wirkte. In jenen Reminiscenzen, denen sich alternde Bühnenkünstlerinnen so gern hingeben, war die Dame auch auf die Zeit zu sprechen gekommen, wahrend derer sie das Fach einer ersten tragischen Liebhaberin am herzoglichen Hoftheater bekleidete. Es war die Zeit ihrer Triumphe gewesen – eine glanzvolle Zeit nach ihrer Behauptung, in welcher es nur einen dunklen Punkt gegeben: daß sie sich in die Gunst des Publikums mit einer jungen Sängerin aus Amerika theilen mußte, einer Miß Howard. Freilich sehr ungerechter Weise. Denn die junge Dame habe eine zwar wohllautende, aber völlig ungeschulte Stimme gehabt, keine Ahnung vom Komödienspiel und den Leuten nur durch ihre allerdings große Schönheit und Anmuth die Köpfe verdreht. Nicht bloß den Leuten: nicht minder dem Chef – dem bekannten Kammerherrn von Trechow – und in erster Linie Serenissimus selbst. Das heißt, es sei immer zweifelhaft gewesen, wer von den beiden Herren in erster Linie gestanden; und auch die Katastrophe, in welcher die Unglückliche mit ihrem Kinde zu Grunde ging, habe diesen Zweifel nicht völlig gelöst. Denn hätte auch die Katastrophe in der unmittelbaren Nähe eines der Schlösser von
Serenissimus und unmittelbar nach einer heftigen Scene mit demselben stattgefunden – die Veranlassung dieser Scene sei immer ein Geheimniß geblieben, und könne so gut in einer etwaigen gerechtfertigten Eifersucht des hohen Herrn gefunden werden, als in einem anderen Umstande. Ueberdies sei es, wiederum unmittelbar nach jener Katastrophe, zwischen Serenissimus und dem Herrn Intendanten zu einem jähen und völligen Bruch gekommen, der denn doch die angedeutete Erklärung als die weitaus natürlichste und einfachste erscheinen lasse.
Ich hatte mich selbstverständlich gehütet, wenn die Dame diese Geschichte erzählte – was sie gern und mit Hinzufügung aller möglichen und unmöglichen Details that – auch nur mit einer Miene, geschweige denn einem Worte anzudeuten, in welch’ grausam inniger Beziehung ich zu der Heldin derselben stand. Glücklicherweise konnte ich bald das betreffende Theater verlassen, und ich verließ es nur deßhalb, um aus der Nähe der Dame zu kommen und der Versuchung nicht zu erliegen, die famose Geschichte richtig zu stellen und das Andenken meiner Mutter von dem Flecke zu reinigen, welcher aus der behaupteten Nebenbuhlerschaft des Herzogs und des Kammerherrn auf demselben haften blieb. Zwar auch Weißfisch hatte in seinem ersten Bericht damals in Nonnendorf dasselbe angedeutet, und der Kammerherr selbst nie ein Hehl daraus gemacht, daß er meine Mutter geliebt habe. Aber niemals hatte er behauptet, der Begünstigte gewesen zu sein; und welchen Grund hätte er gehabt, das zu verschweigen, wäre es der Fall gewesen? Nein, mein Unglück blieb, wie es war, und hatte durch Erzählungen der alten Müllersleute seine volle Bestätigung erhalten. Ihnen, besonders der guten Frau, hatte meine Mutter ihr volles Vertrauen geschenkt. Die Mühle war ihr Lieblingsaufenthalt gewesen; sie hatte den ganzen letzten Sommer dort verlebt. Da war auch von einem berühmten Künstler das Medaillonbild, das jetzt wieder auf meinem Herzen ruhte, gemalt worden. In aller Heimlichkeit. Es hatte eine Ueberraschung sein sollen, und die Aermste sich in ihrer phantastischen Weise mit den reizendsten Farben die Freude ausgemalt, die sie „ihm“ durch dieselbe bereiten würde. Wie sie sich denn auch sonst gerade in der Zeit vor der Katastrophe in den glänzendsten Hoffnungsträumen gewiegt zu haben schien. Nur noch gegen den Gedanken, nicht die rechtmäßige Gattin des geliebten Mannes werden zu können, hatte sich ihr Stolz gesträubt. Sie, die Abkömmlingin eines adligen Geschlechtes, das seinen Stammbaum bis auf die Zeit der ersten Kreuzzüge zurückführte, die Erbin – sobald sie wollte – von Millionen, die Bürgerin des größten Freistaates der Welt – sie, die sich gerade so vornehm glaubte wie er, und vielleicht reicher war als er – sie sollte ihm nur zur linken Hand angetraut werden dürfen! Und so war über die Ahnungslose das Furchtbare hereingebrochen, das sie nicht hatte überleben wollen. Worin es bestanden? Auch nicht die leiseste Andeutung darüber war während der wenigen Tage, die sie dann noch bei den Müllersleuten verbrachte, über ihre Lippen gekommen. Sie hatte nur gesagt: es ist Alles vorbei, fragt mich nicht! Ich hätte es wissen können. Aber ihr habt ganz Recht: die Schmach, es nicht vorausgesehen zu haben, wäre durch meinen Tod nicht gesühnt worden. Das kann nur dadurch geschehen, daß ich die Last des Lebens in Reue und Buße weiterschleppe.
War es ein Theil dieser Buße geweseu, daß sie die Liebe zu ihrem Kinde erstickte und von der Pflicht sich lossagte, welche selbst die Barbarin heilig hält?
Aber daß wenigstens das Band von mir zu ihr nicht zerrissen war, hatte ich empfunden an dem Glücksgefühl, welches mich durchströmte, wenn ich sie so wenigstens von jener anderen Schuld der Treulosigkeit gegen den Mann ihrer Wahl freisprechen durfte. Sie hatte ein hohes Spiel gespielt und es verloren; es war ein ehrliches gewesen. Und dafür war ich ihr so dankbar, daß mir dagegen, was sie früher und später an mir gesündigt, geringfügig erschien, und es Momente gab, wo mir bei Betrachtung des geretteten Bildes die alte heiße Kinder- und Knabensehnsucht nach ihrer Liebe voll zurückkam.
Die zweite Erinnerung an die Vergangenheit war von jüngerem Datum und mir ebenfalls indirekt, sogar nicht einmal durch eine Person, nur durch Zeitungen vermittelt worden.
Ich las aber in einer derselben, daß der bekannte Graf Pahlen, der vor zwei Jahren in die famose nihilistische Verschwörung Netschajeff verwickelt, seitdem in dem Alexejewskischen Ravelin in Petersburg gefangen gehalten worden, zum Tode verurtheilt, aber vom Kaiser, bei dem er früher in so hohem Ansehen gestanden, zu lebenslänglicher Deportation nach Sibirien begnadigt war, auf dem Wege dorthin entsprungen sei und sich nach London gerettet habe. Wie das möglich gewesen, wisse mit Bestimmtheit wohl nur eine Dame, welche kurze Zeit vor der Beendigung des Processes an einem gewissen deutschen Hof, als dessen erster Stern sie gegolten, durch ihr plötzliches und völlig räthselhaftes Verschwinden die größte Bestürzung hervorrief. Ob der betreffende Hof durch die Nachricht, daß die Dame jetzt – und zwar in London und an der Seite des Grafen Pahlen (dessen Flucht sie zweifellos veranstaltet und geleitet) – wieder aufgetaucht sei, in einen geringeren Schrecken versetzt worden, als vor zwei Monaten durch ihre räthselhafte Flucht, wage der Berichterstatter nicht zu entscheiden.
Diese Nachricht, welche andere Zeitungen zum Theil mit mehr oder weniger pikanten Details bestätigten, hatte auf mich einen tief wehmüthigen Eindruck gemacht. Ich beklagte alle Betheiligten von ganzem Herzen: den unglücklichen Grafen, den aller Wahrscheinlichkeit nach die Verzweiflung an seinem Lebensglück in die Verschwörung getrieben; die theure Adele, welche ihrer Liebe so ungeheure Opfer bringen mußte; schließlich ihn – und ihn nicht zum mindesten, – den seine Hartnäckigkeit und die Kurzsichtigkeit seines Egoismus nun auch die Tochter gekostet hatte, vielleicht das einzige Wesen auf Erden, das er wahrhaft liebte, so weit sein Herz eben lieben konnte.
Aber diese Trauer mußte denn doch bald der Freude weichen, daß sie, der ich alles Glück der Erde gönnte, nun doch ihr höchstes Glück sich erringen mit einem Heldenmuth, um dessenwillen ich sie, welche ich von ganzer Seele zu lieben nie aufgehört hatte, nun auch ebenso bewundern mußte. Welch’ andere Bedeutung gewann jetzt jenes unvergessene Bild der beiden Liebenden, wie sie, in der Salonthür sich umschlungen haltend, zu den Sternen emporblickten! Da hatte sicher schon die Schwere des kommenden Geschickes auf ihren Herzen gelastet, die ich von eitel Seligkeit erfüllt wähnte! Wie verstand ich so jetzt erst jenes räthselhafte Wort Adele’s, das sie vor der verhängnißvollen Unterredung mit ihrem Vater mir zuflüsterte: „sei gut!“ Sei gut, damit, wenn er mich verliert, er wenigstens dich behält! Nun, ich hätte sie ihm doch niemals ersetzen können. Aber ihrem Herzen machte es Ehre, daß sie noch frauenhaft für den zu sorgen bemüht war, den sie doch kränken mußte, weil er ihr keine Wahl ließ. Zweifellos war die Flucht schon damals beschlossen gewesen, wenn ein letzter Versuch, auf dem Wege der Bitte zum Ziel zu gelangen, mißglücken sollte. Der Versuch war mißglückt, und welche Qualen mochte die Aermste erduldet haben, als nun die Kerkerthüren sich dem unglücklichen Verschwörer öffneten, ihr jeder Tag die Nachricht seines schmählichen Todes bringen konnte! Gott sei Dank, es war anders gekommen. Ich brauchte mich dieser Schwester nicht zu schämen, und der Heroismus ihrer Handlungsweise hatte sicher, ohne daß ich es merkte, meinen jetzigen Entschluß zeitigen helfen. Weib oder Mann, es kam eben darauf an, daß jeder seiner Ueberzeugung lebte. Sollte sich der Mann von dem Weibe beschämen lassen?
Nun, der Brief, welcher mich bei Brder Otto ankündigte, war fort, und hinter ihm kam die Sorge, von der ich vorhin sagte, daß sie mich jetzt erst befallen: die Sorge, in Berlin wieder denen zu begegnen, die mich als hoffnungsvollen Knaben, als strebenden Jüngling gekannt hatten und mich jetzt wieder finden würden – wenn sie mich wiederfanden – als einen, der alle Hoffnung hinter sich gelassen und nur noch von dem einen Wunsche erfüllt war, sich in der Menge verlieren zu dürfen. Die Werins, das wußte ich ja, lebten in Berlin. Mutter und Tochter jedenfalls, Adalbert sehr wahrscheinlich – gehört doch der Sturmvogel auf das hohe Meer! Ellinor war damals zu ihrer Tante dorthin gegangen, und ich erinnerte mich, daß Schlagododro mir immer gesagt, er werde das erste Jahr in Heidelberg und die übrige Zeit in Berlin studiren. Er mußte nach meiner Berechnung jetzt mit seinem Studium fertig und voraussichtlich dort sein. Ebenso wie Astolf, der ja in einem der Garderegimenter Officier war und seine Kousine jedenfalls schon geheirathet hatte. Mochte er! – Professor Hunnius, hatte er seinen Plan, in die Hauptstadt überzusiedeln. ausgeführt? Vermuthlich: er gehörte nicht zu den Leuten, die sich mit müßigen Plänen ihre Zeit verderben.
Das gab schon eine lange Reihe, und wer von den alten Bekannten mochte sich nicht noch angeschlossen haben! Aber dann: ich war längst kein Knabe mehr, und das Schicksal hatte während meiner Jünglingsjahre hinreichend an mir herumgehämmert, daß es nicht seine Schuld, wenn es mich nicht zum Manne geschmiedet, der sich durch die Einreden der Freunde nicht aus seinem Wege drängen ließ. Thor, der ich mir den frischen Muth mit solchen Phantasien beschwerte! Woher sollten die Einreden kommen, wenn die höchste Wahrscheinlichkeit dafür sprach, daß ich von allen den Genannten auch nicht einem in der Riesenstadt jemals auf meinen dunklen Lebenspfaden begegnen würde! Oder wollte ich, daß sie mir begegneten und mir ausredeten, was ich mir eben auch nur eingeredet? Dann hätte ich nur gleich bei meinem alten Handwerk bleiben können.
Sie machten mir den Abschied schier schwer, die guten Gesellen, meine Herren Kollegen, und die Damen, meine liebenswürdigen Kolleginnen. Wir kannten uns alle einander erst seit ein paar Monaten, aber die gemeinschaftliche Misère hatte uns längst zu den besten Freunden gemacht. Nie hatte es ein unfreundliches Wort zwischen uns gegeben, und es gab wahrlich keines an dem letzten Abend, an welchem sie mich wegfeierten. Auf gemeinschaftliche Kosten natürlich – es war so ziemlich Alles zwischen uns gemeinschaftlich – auf der Bühne selbst, auf der wir uns eben noch in einem schauderhaften französischen Sensationsstück abgequält, und die uns der Direktor zu dem Zwecke großmüthig zur Verfügung gestellt, auf die Gefahr hin, daß die „alte Scheune“ – es war wirklich nur eine alte, ein wenig herausgeputzte Scheune – bei der Gelegenheit in Feuer aufging. Ich saß zwischen Fräulein Peller, unsrer ersten Liebhaberin, einem gutmüthigen Mädchen von unbestimmtem Alter, und Frau Sorge-Schellhorn, der Anstandsdame und Heldenmutter, einer würdigen Matrone, deren Jahre mit denen der weißköpfigen Krähe rivalisiren mochten. Mir gegenüber Lamarque, der bei dem Symposion – das Kouvert eine Mark, inclusive Bowle – den Vorsitz führte. Ich erinnere mich nicht, daß wir etwas Nennenswerthes gegessen haben; aber die Bowle war unergründlich, Ach, und welche prächtigen Anekdoten stiegen aus ihrer Tiefe – funkelnagelneue von der heutigen Vorstellung, in der wir alle „geschwommen“ hatten, und solche, die sich schon Roscius und seine Kollegen erzählt haben mochten, und von denen alle ausnahmslos mit demselben schallenden Gelächter begrüßt wurden! Und welche Reden! eine immer schöner und länger und rührender als die andre, daß die Damen in Thränen zerflossen, und wir Männer uns schier die Hände wund drückten! Und welche improvisirte Possen und übermüthige mimische Karrikaturen, daß wir Männer uns die Seiten hielten, und die Damen erklärten, sie könnten nicht mehr lachen!
Und dann hatte unser Baß-Buffo (der allerdings tief zu tauchen verstand) irgend wie doch den Grund der Bowle gefunden, und dann gab’s ein Schluchzen und Küssen und Umarmen, als wäre mit dem fahlen Morgenlicht, das durch die Soffiten fiel, der jüngste Tag angebrochen, und nicht einer wie die andern auch, an dem nur eben ein Kollege, den nach vierundzwanzig Stunden Keiner vermissen würde, von dannen ziehen wollte.
Außer Lamarque wußte Keiner, was ich vorhatte, sondern sie meinten, ich ginge nach Berlin, mir ein neues Engagement zu suchen. So wagte auch Keiner – dem alten schauspielerischen Aberglauben folgend – mir „gut Glück“ auf die Reise zu wünschen, als sie mich in corpore zur Bahn gebracht hatten, und ich in dem Wagon (dritter Klasse) am Fenster stand und ihnen, Einem nach dem Anderen, aus dem Fenster noch einmal stumm die Hand zum Abschied reichte.
Aber sie wünschten mir Glück nichts destoweniger. Ich sah es an ihren Gesichtern. – Lebt wohl, ihr lieben, verrunzelten, verschminkten Gesichter, über deren manchem in diesem Augenblick eine so ehrliche Thräne rinnt! Lebt wohl! auf Nimmerwiedersehen!
Da Zeit Geld ist und ich diese Geldsorte im Ueberflusse besaß, hatte ich einen sogenannten Bummelzug gewählt und zu der sonst nicht langen Fahrt von dem kleinen Bade am Fuße des Harzes bis zur großen Stadt an der Spree einen ganzen Tag gebraucht. Wenigstens war der Sommerabend schon stark hereingebrochen, als die Eisenbahnschnecke langsam in die Halle glitt, und der Durchrüttelte das Gefängniß, welches er zuletzt mit dreißig oder vierzig tabakrauchenden Personen getheilt, verlassen durfte, um alsbald von Jemand umarmt zu werden, den er im ersten Augenblicke nicht kannte: einem schmächtigen, in seinem Anzuge vernachlässigten, mit farblosen Augen träumerisch aus blassem Gesichte blickenden Mann, der fünfzig Jahre alt zu sein schien, und in welchem er dann doch Bruder Otto erkennen mußte, der nach seiner Berechnung noch nicht dreißig zählte. Ich hütete mich, der traurigen Empfindung Ausdruck zu geben, die bei diesem Anblicke mein Herz erfüllte und mit dem traurigen Lächeln auf dem blassen Gesichte korrespondirte; konnte aber doch einen leisen Ruf des Schreckens nicht ganz unterdrücken, als jetzt eine schwere Hand auf meine Schulter schlug und eine rauhe Stimme rief: „Haben wir den Ausreißer endlich!“
Nun, es war kein Schutzmann; es war H. H. – Herr Heinrich Hopp – der vor mir stand und mich jetzt in seine Arme schloß, wobei ein böser Fuselgeruch mich rings umhauchte. Und ach, dem bösen Dufte entsprach die Erscheinung des alten Freundes: als wenn der joviale Fuhrherr von ehemals inzwischen zum Fuhrknechte geworden wäre – so vergröbert däuchte mir seine Gestalt, Miene, Stimme, sein Lachen – Alles, Alles!
Ich suchte meine Verlegenheit hinter der Frage nach meinem Gepäcke zu verstecken; H. H. hatte bereits für Alles gesorgt, oder würde doch für Alles sorgen. Ob Einer, wie er, nun schon zwei Jahre lang in dem vertrackten Neste von Berlin wohnen und tagtäglich drei Droschken unterwegs haben solle – dazu eine Nachtdroschke – und den Rummel nicht kennen! Draußen halte seine Droschke – Gepäckdroschke, Nummer einundzwanzig – vierundvierzig; dahin sollten wir uns scheeren. In fünf Minuten habe er den ganzen Krempel auf dem Verdecke, und wenn’s zehn Koffer wären.
Er sagte oder schrie das Alles vielmehr in unserem heimischen Platt zum Ergötzen der Umstehenden und zum Verdrusse eines Schutzmannes, der jetzt herantrat und ihn gelassen hieß, nicht dergleichen ungebührlichen Lärm zu machen. H. H. maß den Mann mit wüthenden Blicken, begnügte sich dann aber doch auf Otto’s ängstlich-leises Zureden mit ein paar in die Bartstoppeln gemurmelten Worten, welche der verständige Beamte lieber nicht hören wollte.
„So ist er nun immer,“ sagte Otto seufzend, während wir bereits, H. H.’s harrend, in der bezeichneten Droschke saßen; „immer wüthend auf die Welt, als ob die an seinem Unglücke schuld wäre. Ich sollte nur die Hälfte von seinem Vermögen gehabt haben – nur ein Viertel, ich wollte jetzt ein anderer Kerl sein.“
Und der gute Mensch seufzte abermals. Ich hatte starke Bedenken an der Richtigkeit dieser Behauptung. „Wie steht es denn bei Dir?“ fragte ich.
„So, so, la, la!“ war die Antwort.
Ich hatte allen Muth zu weiteren Fragen, ja, in diesem Momente überhaupt allen Muth verloren. Der Eintritt in die neue Welt war auch gar so kläglich. Dieser Kummermann, der da jetzt, als hätten wir uns sonst auf der Welt nichts zu fragen und zu sagen, von mir abgewandt zur offenstehenden Wagenthür ins Leere starrte; ein alter Freund, der in so fragwürdiger Gestalt so unerwartet vor mich getreten war in seiner Atmosphäre von Fusel und jedenfalls selbstverschuldetem Unglück; das Schreien der auf dem Platze sich drängenden, schiebenden, stoßenden Menschen: das Rasseln der vorrückenden oder abfahrenden Wagen; der Regen dazu, der den ganzen Tag gedroht und jetzt erst langsam, dann heftiger und bald in Strömen fiel – das war die Wirklichkeit, nach der ich mich gesehnt aus der geschminkten Lüge heraus, die mir jetzt wie ein Feenland erscheinen wollte!
„Da hätten wir den Krempel!“ sagte H. H., zu uns in den Wagen steigend, während mein Koffer oben auf das Verdeck herabkrachte – „fort!“
Und fort ging es, nicht eben schnell. H. H. hatte die Mähre erst gestern gekauft, und eine niederträchtige Schindmähre war’s mit Gallen und Spat, ein Krippensetzer, der nicht fünf Thaler werth sei und für den er fünfzig gegeben habe. Er müsse betrunken gewesen sein; anders könne er sich so eine dicke Dummheit nicht erklären; aber das komme von dem niederträchtigen Schnaps in dem niederträchtigen Neste, wo man einen richtigen Kognak oder auch nur Korn nicht für eine Million haben könne.
In diesem Tone ging es fort (mit untermischtem Schimpfen auf den Schutzmann, die dämliche Blechkappe, die einem ehrlichen Kerl das Maul verbieten wollte) während Otto, uns gegenüber, kein Wort sprach, und ich nur den einen Wunsch hatte, daß diese triste Fahrt endlich einmal ein Ende nehme, auf der mir der beständig gegen die Scheiben klatschende Regen nur unsichere Blicke auf die Umgebung erlaubte. Stattliche Häuser anfangs und Prachtbauten, unter denen ich nach gesehenen Abbildungen das Brandenburger Thor zu erkennen glaubte; weiter durch Straßen; über mächtige Plätze, die mit Lichtern übersäet waren, deren Strahlen sich in den Regentropfen auf den Scheiben brachen; über Brücken; wieder über Plätze; durch engere Straßen, kümmerliche Gassen, weiter, weiter nach Moabit, wie ich endlich aus dem schweigsamen Otto nach mancher wiederholten Frage herausbekam. Es sei keine gute Geschäftslage für einen Tischler; aber was wolle man machen? Man wohne da noch immer ein bischen billiger, er wenigstens; es sei aber auch danach.
Otto schwieg; ich schwieg, und H. H., der zuletzt sehr undeutlich gesprochen hatte, schwieg ebenfalls. Noch immer rumpelte das Gefährt auf dem jetzt sehr holprigen Pflaster in monotoner Langsamkeit weiter. Dann hörte auch das Pflaster auf; es ging Schritt vor Schritt in einem sandigen Wege, der, nach den hier und da aufgeschichteten Balken und Brettern zu schließen, über einen Zimmerplatz zu führen schien; endlich hielten wir. H. H. erwachte und schrie. „Halloh!“ Otto reichte mir die Hand und sagte mit muthloser Stimme: „Willkommen!“ schlug dann aber sofort den Rockkragen in die Höhe und lief durch den Regen in das Haus, ohne sich nach mir und H. H. umzusehen, der sich inzwischen mit meinem Koffer beladen hatte. Ich wollte es nicht leiden; es gab einen kleinen Streit, während dessen in der Hausthür ein paar Kinder sichtbar wurden, die aber bei meiner Annäherung sofort wieder verschwanden. Otto stand mit einer Lampe auf dem Flure und leuchtete uns voran in ein Zimmer linker Hand, wo er die Lampe auf den runden Tisch vor dem Sofa setzte und sagte, daß seine Frau gleich kommen werde. Dann war er wieder verschwunden, auch Herr Hopp hatte draußen noch mit dem Kutscher zu sprechen; ich blieb allein und hatte Zeit, mich in dem Zimmer umzusehen.
Ein ziemlich weites, niedriges Gemach, in welchem ein muffiger Geruch herrschte, als ob das Haus sehr feucht sei oder in der unmittelbaren Nähe eines Sumpfes liege. Dennoch konnten die beiden Fenster erst während des Regens geschlossen sein, denn vor jedem derselben stand auf den wurmstichigen Dielen eine große Lache, von welchen nasse Spuren nach allen Richtungen liefen, augenscheinlich von Kinderfüßen. Auch sonst war es wüst und unwirthlich in dem großen Raume, der fast keine Möbel enthielt und es doch fertig gebracht hatte, unordentlich auszusehen. Auf dem Tische vor dem Sofa mit dem kattunenen, stellenweise zerfetzten Ueberzuge, auf den paar Rohrstühlen, auf der Kommode, an dem Boden selbst lag allerhand umher: zerknitterte Zeitungen, Anzugsstücke, ein zerrissenes Hemdchen, an dem eben noch genäht schien; eine kleine Puppe ohne Kopf, ein Spielwägelchen mit zwei Rädern und einem Holzpferde, dem sämmtliche Beine fehlten; gebrauchtes und ungebrauchtes Geschirr, angebissenes Butterbrot, daneben ein mit einer durchlöcherten Brotscheibe bedecktes Glas, inwendig schwarz von ertrunkenen Fliegen. Ich kam eben aus Kreisen, in denen man es mit den Geboten der Ordnung nichts weniger als streng nahm; aber da hatte selbst die Unordnung einen heiteren Anstrich gehabt. Hier sah sie trostlos aus und drückte schwer auf mein so schon gepreßtes Gemüth. Wie sollte dies werden?
Otto kam zurück: seine Frau bitte noch für einige Minuten um Entschuldigung, sie müsse erst die Kleinsten zu Bett bringen; ob er mir unterdessen meine Stube zeigen dürfe?
Ich war es mehr als zufrieden; überdies hatte ich mich noch von dem Staube der langen Fahrt zu reinigen. Otto führte mich über den Flur eine schmale steile Treppe hinauf über einen Boden, der, wie ich sah, ihm als Werkstatt diente, in ein Giebelzimmerchen mit nur oben etwa drei Fuß breit horizontaler, an den Seiten stark abgeschrägter Decke und einem kleinen viereckigen Fenster. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Bette, einem Stuhle und einem Tischchen, das zugleich als Waschtisch figurirte.
„Ein Schelm giebt mehr, als er hat,“ sagte Otto, sich verlegen in dem Zimmerchen umsehend.
„Und ich will ein Schelm sein, wenn ich mehr erwartet habe,“ sagte ich, indem ich zugleich das Fensterchen aufstieß, frische Luft hinein zu lassen, an der es hier wie unten fehlte.
„Es ist von dem Leim und dem feuchten Holz,“ sagte Otto; „ich dachte mir gleich, Du würdest das nicht aushalten.“
„Und ich sage Dir,“ erwiderte ich, „mir ist auf der Welt kein Geruch lieber. Das ist ja gerade wie beim Vater. Ich das nicht aushalten! Und sieh doch! Das ist ja gar Wasser – Schiffe – was heißt denn das?“
Ich stand an dem offenen Fenster. Dicht vor mir, nur durch einen schmalen Uferstreifen getrennt, dämmerte es durch den Regen, der jetzt nur noch rieselte: ein mächtiges Flußbild, in welchem ich viel Einzelheiten just nicht mehr erkennen konnte, trotzdem die Regenluft von einem unsichtbaren Mond ein wenig durchhellt war, hier und da auf den Ufern hüben und drüben die Laternen brannten und von den Schiffen oder aus Nachbarhäusern ein matteres Licht durch den Dunst herüberschimmerte.
„Das ist die Spree,“ sagte Otto. „Ich freue mich, wenn es Dir gefällt. Meine Frau meint, es sei sehr ungesund, hier zu wohnen; aber es ist billig – das ist die Hauptsache. Na, Du kommst wohl hernach herunter. Das Licht lasse ich oben.“
Als ob ich mich ohne das Licht hätte wieder herunter finden können!
Kopfschüttelnd ging ich an das Reinigungswerk, bei dem ich mich möglichst beeilte, obschon es mich, der Himmel weiß es, gar nicht drängte, wieder nach unten zu kommen. Dieselbe Stunde, in der wir uns gestern Abend nach der Vorstellung zu einem Abschiedsschmaus zusammengefunden hatten! Es fehlte nicht viel, so wären mir bei der Erinnerung die Augen naß geworden. Indessen: die Reue kam zu spät. Und ich bereute ja nichts. Es hätte da unten noch viel armseliger aussehen können, wenn es nur ordentlicher gewesen wäre. Ich erinnerte mich, daß Goethe einmal gesagt hatte, er mochte noch eher ein Verbrechen begehen, als Unordnung dulden. Aber gab es nicht armselige Verhältnisse, und waren Bruder Otto’s etwa solche, welche, weil sie wider die Ordnung sind, auch wiederum die Ordnung nicht dulden? Das war eine von den vielen Fragen, auf welche mir die Antwort zu holen ich ja eben hierhergekommen war. Also vorwärts!
Und da öffnete ich denn unten wieder die Thür, um alsbald von zwei kräftigen Frauenarmen umfangen und von einem kräftigen Frauenmunde herzlich geküßt zu werden. Die gute Frau Hopp! und ich hatte auch nicht mit einem Gedanken daran gedacht, daß, wenn H. H. in Berlin war, seine weitaus bessere Hälfte schwerlich fern sein würde! So war denn meine Ueberraschung, die alte Freundin hier zu finden, ganz aufrichtig, und meine Freude wahrlich nicht minder. Und wahrhaftig, da tritt hinter dem breiten Rücken des Vaters, der nun in ein schallendes Gelächter ausbricht, Christine hervor und reicht mir beide Hände, trotzdem der Vater ruft. „Ei, so mache es doch wie die Mutter, dummes Gör! Ihr seid ja Nachbarskinder!“ Nun, Christine war damals schon aus den Kinderschuhen, und ist jetzt ein schönes, schlankes Mädchen, dessen Augen lange nicht mehr so hell blicken, als damals, und dessen Wangen nicht mehr die fröhliche gesunde Röthe haben. Auch sonst liegt es wie ein melancholischer Hauch über dem schönen bleichen Gesicht. Dafür ist ihr Anzug, mit dessen Akkuratesse und Sauberkeit es immer bedenklich stand, von fast ausgesuchtem Geschmack, was mir mißfällt, ich weiß nicht warum; vielleicht nur, weil Mama Hopp sich die ganze alte Gleichgültigkeit gegen ihre Erscheinung mit der obligaten Frisur von gestern unter der zerknitterten Haube treu bewahrt hat.
Aber ich habe keine Zeit, darüber zu grübeln, denn ich muß jetzt meine Schwägerin begrüßen, die eben aus dem Nebenzimmer kommt: eine kleine schwächliche Person mit einem kleinen Gesicht, das früher vielleicht hübsch gewesen ist, jetzt aber durch Krankheit und Sorgen etwas beängstigend Fades, Verkümmertes und Versäuertes hat. Doch versucht sie zu lächeln, als sie mir nun die Hand reicht und ein paar Worte sagt, die gewiß freundlich gemeint sind, obgleich ich kaum eine Silbe verstehe, so leise spricht sie. Ich antworte ihr, wie mir’s ums Herz ist: daß ich hoffe, ihr durch meine Gegenwart keine neue Last aufzubürden, und ihr aufrichtig für das freundliche Willkommen danke, auf das ich freilich gerechnet, nachdem sie Otto die Erlaubniß gegeben, mich kommen zu lassen.
Ich habe der Frau nicht schmeicheln wollen, aber sie sieht geschmeichelt und dankbar aus; ich sage mir, daß sie durch Komplimente nicht verwöhnt ist, und daß, Alles in Allem, es nicht schwer halten wird, mich mit ihr auf einen guten Fuß zu stellen. Sie läuft auch sogleich in das Nebenzimmer und kommt mit den beiden ältesten Kindern zurück, die eben haben ins Bett gehen sollen und nicht wollen, da sie den neuen Onkel erst sehen möchten. Es sind Zwillinge: ein Knabe und ein Mädchen von sechs oder sieben Jahren mit blassen, dürftigen Gesichtchen. Sie wollen nun doch nicht hinter der Mutter hervor, die darüber schilt, worauf Beide anfangen zu weinen und wieder in die Schlafstube zurücktransportirt werden.
Unterdessen hat sich die andere Gesellschaft um den Sofatisch gesammelt, Herrn Hopp zuzusehen, der mit großem Eifer in einer Suppenschüssel Punsch braut, zu welchem die Damen Hopp die Ingredienzen mitgebracht haben. Einen alten Freund wie mich nach so langen Jahren nicht mit einem guten Trunk zu empfangen, das gehe gegen Hopp’sche Gewohnheiten, so viel werde ich wohl noch wissen. Und Nachbarn seien wir auch wieder, wenn auch nicht gerade Wand an Wand, wie ehemals. Da wollen wir Eines auf die alte neue, gute Nachbarschaft trinken!
So redeten Herr und Frau Hopp durch einander; Christine lächelte manchmal dazu, wenn auch nicht mit der Lustigkeit von ehemals, und ich empfand es seltsam, daß Otto und seine Frau, die wieder hereingekommen war, dabei standen und die Hopp’s in ihren Räumen die Honneurs machen ließen, als ob sie dabei nicht weiter betheiligt seien.
Endlich war das schwierige Werk vollendet. H. H. wischte sich den Schweiß von der Stirn, kostete das Gebräu noch einmal und meinte, er glaube, daß es so gut sei. Wir waren im Begriff uns zu setzen, als die Thür nach dem Flur langsam geöffnet wurde und auf der Schwelle ein anderes altes bekanntes Gesicht erschien: Karl Brinkmann! Wie hatte ich vergessen können, daß die Fuhrherr Hopp’sche Familie ohne Kutscher Karl Brinkmann sich gar nicht denken lasse! Ich mußte mit meiner Freude, den alten lieben Menschen, den treuen Mentor unserer Kinder- und Knabenspiele, meinen Exercirmeister aus der kriegerischen Zeit, wieder zu sehen, einigermaßen an mich halten, um nicht Frau Hopp’s Eifersucht zu erregen. Auch kam mir der gute Mensch darin entgegen, indem er selbst sich bescheiden zurückhielt und sich wohl mit an den Tisch setzte, aber etwas abseits, genau so, wie ich ihn in den guten Hopp’schen Tagen, wenn ein Fest im engsten Familienkreise gefeiert wurde, auch hatte sitzen sehen.
Ach! sie waren vorüber, die guten Hopp’schen Tage, auf Nimmerwiederkehr! Wenn ich daran noch hatte zweifeln können, so erfuhr ich jetzt in den Gesprächen, die sich fast nur darum drehten und in welchen H. H. selbst das große Wort führte, die ganze tragische Geschichte von dem Niedergang und Fall der Hopp’schen Herrlichkeit. Den Niedergang hatte ich selbst ja noch in der letzten Zeit beobachten können, ohne freilich zu ahnen, daß der Fall so schnell eintreten und so tief sein wurde. Natürlich war Bismarck an Allem schuld. Bismarck hatte den Krieg eingerührt, und der Krieg den Ruin gebracht. Erst das Kriegsjahr selbst, wo Handel und Wandel stockte, das Geld sich verkroch und nur mit Wucherzinsen herauszulocken war, es keine Lustbarkeiten mehr gab und die Menschen vor lauter Aufregung nicht mehr ans Sterben dachten; dann das Milliardenjahr, wo, wie H. H. sich ausdrückte, die Juden im dicken Rohr saßen und sich die besten Pfeifen schnitten und der kleine Mann flöten ging.
„Das hat mir den Rest gegeben,“ schrie er, auf den Tisch schlagend, „und wem nicht noch! der ganzen Hafengasse, wie wir da waren! Zwischen den Fingern hatte er uns ja schon alle vorher, der verdammte Manichäer; aber nun konnte er fest zufassen und uns ausquetschen – so!“
Und H. H. ergriff ein paar Citronenschalen, die neben der Punschschüssel lagen, preßte sie in seiner rothen Faust und warf sie wüthend wieder auf den Tisch.
Ich bekam nun schlimme Dinge über den kleinen Mann im Giebelhause zu hören. Nach H. H.’s Darstellung hatte Herr Israel schon vor dem Kriege sämmtliche Bewohner der Hafengasse zu seinen Schuldnern gehabt, so daß ihm die Hälfte aller Häuser thatsächlich gehörte; die andere habe er noch während des Kriegsjahres und in dem folgenden durch Angebote, denen die Leute nicht zu widerstehen vermochten, in seinen Besitz gebracht. Darüber dürfe man sich nicht wundern, wenn man bedenke, daß eine lange Reihe der großen Herren auf dem Lande ebenso von ihm ausgewuchert und ausgekauft worden wären, die freilich zum Theil noch auf ihren Gütern gesessen hätten, Eigenthümer zum Schein, in Wirklichkeit Verwalter J. J.’s, der sie jeden Augenblick von Haus und Hof hätte jagen können. Denen in der Hafengasse sei es so gut noch nicht einmal geworden; sie hätten von Haus und Hof gemußt, da J. J. Alles niederreißen ließ, um für sechs große Kornspeicher Platz zu schaffen, die er einen neben dem anderen dahin gebaut, wo früher die fünfundvierzig Häuser mit ihren Höfen und Gärtchen gestanden. Auch der Wall sei abgetragen worden – alles Speicher vom Hafenthor bis zur Johanniskirche! Könne man es den armen Leuten verdenken, die so für ein elendes Stück Geld, das ihnen der Jude hinterher doch wieder aus der Tasche zu ziehen gewußt habe, um ihr Eigen gebracht waren, wenn sie sich nicht gutwillig in ihr Schicksal hätten finden und dem Manichäer nachträglich den Spaß versalzen wollen?
Und hier kam in der traurigen Geschichte eine Episode, die, um der dabei Betheiligten willen, mein Interesse aufs Schmerzlichste erregte.
Was ich aber aus den sich durchkreuzenden und zum Theil widersprechenden Berichten als Faktum herausschälen konnte, war Folgendes:
Es hatte sich der Bewohner der kleinen durch den Israel’schen Spekulationsgeist aus ihrem jahrhundertelangen Schlafe erweckten Stadt eine fieberhafte Unruhe bemächtigt, an welcher freilich alle Gemüther teilnahmen, aber in sehr verschiedener Weise. Eine liberale Minorität, an ihrer Spitze selbstverständlich Professor von Hunnius, hatte sich für die Neuerungen und den großen Neuerer, in welchem sie den Wohlthäter und Regenerator der sonst ihrem Untergange entgegengehenden guten alten Stadt sahen, begeistert, während eine starke konservative Majorität aus eben diesen Neuerungen umgekehrt den Untergang der Stadt prophezeite, die ihnen nur, weil sie eine alte war und so lange sie am Alten festhielt, eine gute däuchte. Der unermüdliche Vorkämpfer dieser Partei war der Pastor Renner von der Johanniskirche, der allsonntäglich gegen den Tanz um das goldene Kalb von der Kanzel donnerte und an den Wochentagen in seiner neugegründeten konservativen Zeitung (Redakteur Ernst Streben) für Gott, König und Vaterland gegen die neugegründete liberale Zeitung (Herausgeber Professor von Hunnius) und die goldene jüdische Internationale mit ihrem sogenannten christlichen, in Wahrheit atheistischen Anhang zu Felde zog.
Nachdem dieser Streit in Wort und Schrift lange genug gewüthet, war denn geschehen was – ich mußte es annehmen – die Führer mindestens der einen Partei nicht bloß vorausgesehen, sondern gewollt und auf jede Weise ins Werk zu setzen sich bemüht hatten: der Streit war aus den Zeitungsbureaus und den Versammlungslokalen auf die Straße getragen worden, um dort endgültig ausgefochten zu werden.
[454] So weit war mir der Zusammenhang klar. Nun aber, als es an die Erzählung der Katastrophe ging, drohte, da Alle zugleich sprachen oder zu sprechen versuchten, eine solche Verwirrung hereinzubrechen, daß ich mir die Bemerkung erlaubte, ob es nicht besser sei, vorläufig wenigstens dem Familienvater allein das Wort zu lassen.
Ich hätte aber den Muth zu diesem Vorschlage nicht gehabt, wenn der dicke Herr, je mehr er von dem „Frauenzimmergetränk“ zu sich nahm, nicht immer nüchterner geworden wäre. Vielleicht war es auch nur, daß die bei der Erinnerung so merkwürdiger und für ihn so verhängnißvoller Tage erwachende leidenschaftliche Theilnahme den Sieg über den Rausch davontrug. Jedenfalls blickte aus seinen verschwommenen Augen etwas von der alten Kraft und dem alten Trotz des Bürgers der weiland freien und Hansa-Stadt, als er, mir seine breite Gestalt voll zuwendend, sagte:
„Haben ganz Recht, Lothar! Was wissen die Frauenzimmer von Dingen, bei denen sie nicht zugegen gewesen sind oder doch nicht Hand angelegt haben? Und Brinkmann war immer ein alter scheuer Fuchs, der sich retiré hält, wenn’s brenzlich wird, und gar Otto, der die ganze Geschichte nur aus den dämlichen Zeitungen kennt! Sie wissen Alle nichts; ich aber weiß es, und so ist es gewesen.“
„An dem Hafen hat es angefangen, denn der sollte erweitert und ausgebaggert werden, daß die Schiffe bis unmittelbar an die Speicher herankommen konnten. Darüber mußten aber in dem alten Hafen eine Menge Leute ihr Brot verlieren: die Strandkarrer und Sackträger und die Anderen, die Alle oder doch zum größten Theil bei der neuen Einrichtung, wo die Schiffe aus den Speichern heraus beladen werden und ebenso bequem ihre Ladung löschen konnten, überflüssig wurden. Na, und Lothar, Sie kennen ja die Sorte! Und Matrosen, die nichts zu thun hatten, gab’s in dem Jahre auch genug; die thaten sich denn zusammen, und wo sie sich mit den Maurern und Zimmerern begegneten, da gab es blutige Köpfe. Meinetwegen, sie hatten kein Recht, die Leute von der Arbeit abzuhalten, aber wenn man die verdammten Speicher so in die Höhe steigen sah, das mußte einen ja wurmen, und da man dem Juden selbst nicht an den Kragen konnte, hielten wir uns an die, die ihm dabei geholfen. Ich sage: wir, denn ich bin ein- oder zweimal dabei gewesen. Zu thun hatte ich nichts mehr, und ich gönnte es dem Schuft von J. J. Kommt eines Tages der Pastor Renner zu mir und sagt: ,Das ist Alles ganz schön, Herr Hopp; aber die Speicher werden darum doch zum Herbst fertig, und jetzt hat er ein großes Terrain vor dem Schwedenthor gekauft, darauf will er eine Bierbrauerei en gros bauen, und vor dem Teichthor die sämmtlichen Gärten, die er rasiren lassen wird für eine Villen-Vorstadt.‘ – ,Ja,‘ sage ich, ,Pastor, der wird uns ja wohl noch Alle in die See werfen, wie verfaulte Heringe. Ist denn dagegen gar nichts zu thun?‘ – ‚Man muß sehen, ob man nicht die Maurer und Zimmerer zum Streiken bringen kann,‘ sagt der Pastor. ,Viel hilft’s auch nicht; aber er kriegt dann doch die Speicher bis zum Herbst nicht unter Dach und hat dadurch Tausende an Schaden.‘ – Der Gedanke gefiel mir so weit ganz gut, und der Pastor schickte mir den Kerl, den Streben, mit dem sollte ich mich ins Benehmen setzen. Nun, ich und er, der übrigens ein ausgesottener Schuft ist, wie nur je einer einen ehrlichen Kerl in die Tinte gebracht hat – aber ich hatte damals ordentlich einen Narren an dem Kerl gefressen – also er und ich, wir beriefen dann eine Volksversammlung zusammen, zu der wir die Maurer und Zimmerer auch einluden, und auf der wir unsere Sache mit ihnen ins Gleiche bringen wollten. Ich präsidirte, und der Hauptredner war der Pastor selbst. Und eine schöne Rede war’s von Einigkeit und Brüderlichkeit, und daß wir alle arme Teufel wären zu unserm Seelenheil, damit wir dereinst in den Himmel kämen, wo wir sicher sein könnten, Herrn Israel nicht zu treffen, der freilich nicht ganz so groß wie ein Kamel – das gab ein Gelächter, Lothar, kann ich Ihnen sagen! – aber eben so wenig wie ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe und durch die Himmelspforte auch nicht. Das behaupte er, denn er könne es aus der Bibel beweisen. Wenn die Herren Maurer und Zimmerer aber doch so schlechte Christen seien und durchaus einen Juden im Himmel haben wollten, so sollten sie wenigstens dazu das Ihre thun, indem sie ihm von seinem irdischen Mammon so viel als möglich abnähmen und nicht für den elenden Lohn arbeiteten, da sie doch jeden Augenblick einen doppelt so großen haben könnten, wenn sie nur zusammenhielten. Na, Lothar, nun war der Rummel im Gang. Mit dem Zusammenhalten sah es freilich man schwach aus, denn die Maurer wollten streiken und auch nicht alle; die Zimmerer und Tischler aber nicht, und nun lagen sich wieder die unter einander in den Haaren. Das ging wohl so acht Tage lang, und jeden Tag ein größerer Krawall als an dem vorangehenden, bis wir – Streben und ich – wieder eine Volksversammlung ausschrieben, zu der auch der Professor mit seinen Leuten kam. Das gab einen Tanz! Der Professor und der Pfaff sagten einander die schönsten Dinge. ,Jesuit, Volksverführer!‘ rief der Professor; ,Herrgottsleugner, Judenfreund!‘ schrie der Pfaff. Na, Lothar, wenn ich die Sache recht bedenke, der Professor meinte es mit uns ehrlich, und der Pfaff wollte nur sein Müthchen kühlen an dem Juden, und wir sollten ihm die Kastanien aus dem Feuer holen; aber er redete uns nach dem Munde, und der Andere nicht. Und da wir gegen ihn und seine Leute vier zu eins waren, warfen wir sie hinaus, oder wollten sie doch hinauswerfen, und es gab einen furchtbaren Spektakel, als der Streben auf den Tisch sprang und eine Rede anfing, so was haben Sie nie gehört. Der Kerl war wie besessen, raufte sich das Haar und heulte und schrie: es sei eine Sünde und Schande, daß sich tausend ehrliche Christenmenschen in den Haaren lägen um des einen Juden willen, und wir sollten von einander lassen und Buße thun und es machen wie die Vorfahren von dem Juden es gemacht hätten, die ihre Sünden alle auf einen Haufen warfen und den Haufen auf einen Bock luden und den Bock zur Stadt hinaus in die Wüste trieben. Na, Lothar, da war denn der Wagen geschmiert. Der Jud’ muß zur Stadt hinaus, schrien sie alle, auch die von der anderen Seite, denn wir waren auf beiden Seiten des Streitens und Raufens müde, und der Jud’ war doch am Ende an Allem schuld. Der Professor wollte dagegen reden; aber sie ließen ihn nicht mehr zu Worte kommen, und so ging’s denn in hellen Haufen in die Stadt zurück – wir waren in dem großen Evers’schen Tanzlokal vor dem Teichthor gewesen, wissen Sie, Lothar – und durch die Stadt, wo Alles mitlief, was Beine hatte, daß wir gut und gern an die Zweitausend sein mochten, als wir in die Hafengasse kamen, das heißt an die Speicher, denn eine Hafengasse giebt’s ja wohl nicht mehr, außer dem Haus von dem Juden. Na, Sie kennen es ja, Lothar!“
Ob ich es kannte, das alte hochgegiebelte Haus! Ich sah es im Geist vor mir und war im Hause unten im Familienzimmer linker Hand bei den geängstigten Frauen und sah die wüsten Haufen die Gasse heraufkommen, voran den Mann da mit der rothglühenden Nase (die er eben in sein Punschglas tauchte) und den schuftigen Streben.
H. H. wischte sich die Lippen und fuhr fort:
„Streben und ich und noch ein Dutzend Anderer hatten als Deputation hineingehen und dem Juden den Beschluß der Volksversammlung, daß er binnen vierundzwanzig Stunden aus der Stadt müsse, ausrichten sollen; aber als wir heranrückten, war die Straße von Polizisten gesperrt, und auf den Stufen vor der Hausthür standen auch noch welche. Der Schuft von Streben war plötzlich von meiner Seite weg, als wär’ er in die Erd’ geschlupft: das Kunststück verstand ich nicht, und da hatte mich einer von den Polizisten vor die Brust gestoßen, und das läßt sich Heinrich Hopp nicht gefallen, nicht einmal, wenn er nüchtern ist. Und das, will ich gern zugeben, war ich an dem Tage nicht. Aber wenn meine Frauenzimmer sagen, ich hätte nun wenigstens umkehren sollen, so sind sie eben nicht dabei gewesen. Da soll Einer umkehren, wenn ein paar Tausend hinterherdrängen: Komité, so viel noch da war, Polizisten, Alles in einem Haufen bis vor das Haus, wo der Polizeidirektor selber stand und auf mich einschrie und ich auf ihn, ohne daß Einer ein Wort vom Anderen verstanden hätte. Denn die Menschen tobten wie besessen, und es dauerte auch nicht lange, da hatten sie einen Balken herbeigeholt, mit dem wollen sie die Thür einstoßen. Die Frauenzimmer sagen wieder, das hätte ich nicht leiden sollen: aber sie haben gut reden hinterher. Wenn Einer selbst mitten mang ist, sieht die Sache anders aus. So sollt’s denn eben mit dem Balken [456] schon seit einer Stunde vor der Hausthür wartete. Den noch immer schluchzenden Frauen versprach ich, sie morgen nachbarlich, wie in alter Zeit, zu besuchen.
Dann lag ich noch lange oben in meinem Giebelstübchen in dem schmalen Bette, ohne die Erregung, in welche die Erzählung jener traurigen Ereignisse in meiner Heimathstadt mich versetzt hatte, besänftigen zu können. Kannte ich doch jeden Quadratfuß der Bühne, auf der das Drama sich abgespielt hatte, und sämmtliche Akteurs: Professor Hunnius, den Pastor Renner, seinen würdigen Helfershelfer Ernst Streben – Alle. Die gute Frau Israel, das arme Jettchen! Welche Stunde mußte es für sie gewesen sein: die tobende Menge draußen, und drinnen der alte Mann auf dem Sofa, dem kein „He, he?" und „Sie sagten?" mehr über die bleichen Lippen kam! In meines Geistes Aug’ sah ich es, das schmächtige todesblasse Mädchen mit den großen, glänzenden, todesmuthigen Augen – den Augen, die mir geleuchtet hatten, als ich in den Krieg wollte und sie mir aus ganzer Seele den Segen dazu gab! Und ich konnte sie leibhaftig wieder sehen. Sie waren in Berlin! Ich würde sie nicht aufsuchen – selbstverständlich nicht; so würden wir uns schwerlich je begegnen. Es war auch besser, wenn es nicht geschah.
Und der Major, der jetzt Oberst war! und der ja nun auch in Berlin lebte! Lieber Himmel, mich würde er gewiß nicht wieder kennen; ich ihn auf den ersten Blick unter Tausenden! Ihn, den ich so oft sah im Wachen und im Traume; ihn, dessen theures Bild ich von der Stelle im Herzen, die ihm der kleine Knabe eingeräumt, so oft hatte reißen wollen ohne es zu können, bis ich jetzt längst keinen solchen Versuch mehr machte und mir sagte, daß ich, und wäre ich tausendmal Demokrat, diesen Aristokraten lieben müsse!
Auch wenn er Feuer kommandirte auf das Volk?
Wie hatte es mich gepackt, als der Mann in seiner Erzählung an die gräßliche Scene kam!
Bürgerblut war geflossen – das Blut von Vätern und Brüdern durch die Kugeln ihrer Söhne und Brüder – auf sein Kommando. Ich konnte das Entsetzliche nicht fassen: auf sein Kommando! des Gütigen, Liebevollen!
Hatte es sein müssen? Waren alle anderen Mittel erschöpft gewesen? Und ist das ein Mittel, bethörte, verhetzte Menschen zur Vernunft zu bringen, wenn man auf sie schießt? Zur Ruhe! o ja! zur Todesruhe! Zur Vernunft? nimmermehr!
Und war es denn so ganz unvernünftig, was sie verlangt und angestrebt? Wenn das der Fall, weßhalb hatte der alte Mann, den sie aus der Stadt haben wollten, einst in einer schwachen Stunde, als ihn ein momentanes Grauen packen mochte vor den ungeheueren Reichthümern, die er unersättlich zusammenscharrte auf Kosten des Volkes, halb zu mir, halb zu sich selbst sprechend, gesagt: „Ich glaube, sie schlagen mich und uns Alle noch einmal todt!“ – Nun, Thomas Münzer hätte nichts dagegen gehabt. Er hätte an jenem Tage auf der Seite des Pöbels gestanden, der Armen und Elenden, die durch die Unvernunft socialer Zustände, die sie nicht geschaffen und deren Verantwortung sie nicht zu tragen haben, zu ihrer Armuth, ihrem Elende, ihrer Unwissenheit verdammt sind. Und zu den Folgen, deren letzte darin besteht, daß die Vertreter der staatlichen Ordnung auf sie Feuer geben.
So taugt doch wohl diese Ordnung nicht ganz? So ist doch wohl etwas faul in diesem Staate?
Er aber war an jenem Tage für diese Ordnung, diesen Staat eingetreten bis zur äußersten Konsequenz und würde es immer thun
Und so würde ich nie seine Hand wieder in der meinen halten und halten wollen; er nie die meine in der seinen, wenn er meine Gesinnung kannte.
Es wäre denn, daß er mich zu der seinen bekehrte, oder ich ihn zu der meinen. Wie konnte das Eine oder das Andere je geschehen? Eh’ mochten Himmel und Erde zusammenkommen!
Und es ging ein Riß durch die Menschheit, daß sich als Todfeinde bekämpfen mußten, deren Herzen sich sonst in herzlicher Liebe gefunden haben würden.
So sollte ich denn auch diese meine Liebe zu ihm, der mir immer als mein Ideal gegolten hatte, aus dem Herzen reißen. Es war das schwerste von allen Opfern, die ich früher und später meiner Ueberzeugung gebracht hatte.
Das zu bringen ich doch entschlossen war und so den Schwur zu halten, den ich geschworen am Sarge des Vaters.
Und den ich im Herzen und in der Gesinnung nie gebrochen, aber auch nie zur herzhaften, leibhaftigen Wahrheit zu machen mit allen Kräften der Seele und des Leibes mich bemüht hatte.
Bis ich den Entschluß gefaßt, der mich hierher gebracht auf einem langen Umwege, welcher dem Träumer, dem Zauderer so viel Zeit gekostet, daß ihm nun keine mehr zu verlieren blieb.
Und er sich durch nichts auf dem Wege, dem rechten, den er endlich betreten, aufhalten lassen durfte.
Durch Nichts und durch Niemand. Hörst du’s, du stolzer Soldat? Du Mann der strengen Pflicht und der staatlichen Ordnung? Auch nicht durch dich!
Der Himmel weiß, wie gern ich dich zum Freunde gehabt hätte. Nun, da du mein Feind sein willst und sein mußt – sei’s drum! Ich ringe mit dir auf Tod und Leben. –
So rasten die Gedanken durch mein pochendes Gehirn.
Und als dem ganz Erschöpften endlich die Augen sich schlossen zu fieberhaftem Schlafe, rang er weiter im Traume mit dem geliebten Manne, wie Jakob mit dem Engel.
Und stöhnte im Traume wieder und wieder die verzweifelnden Worte. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“
Es ist der Leim und das Holz, hatte Bruder Otto gesagt, als er mich am ersten Abend über den Boden, der als Werkstatt diente, in mein Giebelstübchen führte, und hatte damit die schlechte Luft in den Räumen erklären wollen. Nun, sie erklärten mir bald noch mehr, der Leim und das Holz; erklärten mir, weßhalb es mit Otto’s „Bautischlerei“ nicht vorwärts ging und gehen konnte, denn der erstere war ausnahmslos schlecht und das letztere ein- für allemal feucht. Die Thüren, die aus seiner Werkstatt kamen, verzogen sich und wurden rissig; die Fenster wollten oft schon nach wenigen Tagen nicht mehr schließen – Pfuscharbeit, welche von den soliden Bestellern nicht einmal abgenommen und von den unsoliden hinterher nicht bezahlt wurde, in welchen beiden Fällen es dann regelmäßig zu einem Processe kam, den Otto ebenso regelmäßig verlor. Und dabei arbeite er doch von Tagesgrauen bis in die sinkende Nacht! und wenn er zugeben müsse, daß seine besser situirten Kollegen freilich mit leichter Mühe bessere Waare liefern könnten, so hätte er doch auch dafür die Preise so niedrig gestellt! Er sei eben Einer von Denen, auf die es das Unglück abgesehen; dagegen sei, wie gegen den Tod, kein Kraut gewachsen, wenigstens so lange die Socialdemokratie mit der gräulichen Wirthschaft, die in der Welt herrsche, nicht ein Ende gemacht habe – mit Schrecken seinetwegen; ein armer Teufel, wie er, könne auf keinen Fall etwas verlieren, höchstens gewinnen, es möge nun drüber oder drunter gehen.
Ich sah, daß von dieser Seite keine Hilfe zu erwarten war, und wandte mich, den Bruder vor der Hand ganz bei Seite lassend – an die Schwägerin. Sie wollte ja gern Alles thun, wovon ich glaubte, daß ihnen damit geholfen werden könne, und Gott möge geben, daß es helfe! Noth thue es; sie sei mit ihrem Rathe zu Ende und mit ihren Kräften auch.
Ich brauchte diesen Beistand wahrlich, sollte ich nicht bei meinem Rettungswerke verzagen. Konnte ich doch sicher sein, was ich an einem Tage mühsam errungen, durch Otto’s Unverstand am nächsten wieder in Frage gestellt, ja vernichtet zu sehen. Glücklicherweise schienen meine Bestrebungen von Demjenigen anerkannt zu werden, der in der ganzen Angelegenheit den Ausschlag geben konnte: von dem Holzhändler Kunze, auf dessen Grundstück die elende Baracke stand, die wir bewohnten, und der auch Otto’s Hoflieferant war: ein kleiner, untersetzter Herr, der wenig Worte machte (und dann unweigerlich in unverfälschtem Berliner Dialekt), dafür aber mit seinen hinter den dicken rothen Backen fast verschwindenden Augen (von denen das eine noch dazu bedenklich schielte) sehr scharf beobachtete und jedenfalls mich, ohne daß ich es gewahr geworden wäre, sehr scharf beobachtet hatte.
Der nun hielt mich eines Tages, als ich mit höflichem Gruße an ihm vorüber wollte, auf dem Holzhofe an und sagte, daß er mit mir zu sprechen habe. Mir schlug das Herz. Ich hatte ihm freilich die seit einem halben Jahre rückständige Miethe vor ein paar Tagen bezahlt; aber es war noch ein großer Posten von ihm entnommener Bretter zu begleichen, und meine Kasse war bis auf eine kleine, bereits zur Abtragung einer andern Schuld bestimmte Summe leer. So war mir denn übel zu Muthe, während ich dem Manne in sein Komptoir folgte, das sich in einem mitten auf dem Hofe errichteten Holzhäuschen befand; ja, ich machte mich auf das Schlimmste gefaßt, als er jetzt seinen „jungen Mann“ mit irgend einem Auftrage wegschickte und, nachdem er mich gebeten, Platz zu nehmen – auf einem kleinen schwarzen Sofa, welches ganz dem in J. J.’s Komptoir, schauerlichen Andenkens, glich – in dem Hintergrunde des Gemaches mit dem Schlüsselbunde an einem Schranke zu rasseln begann, um aus demselben, wie ich nicht zweifelte, jene unbeglichene Rechnung hervorzuholen.
Da war es denn eine überaus erfreuliche Empfindung für mich, als Herr Kunze aus dem fragwürdigen Schranke anstatt der erwarteten Rechnung eine höchst unerwartete Flasche Rothwein nebst zwei Gläsern hervorholte, welche erfreulichen Dinge er auf dem kleinen Tische vor dem Sofa sorgsam aufbaute, um, nachdem er die Gläser gefüllt, mit mir angestoßen und nachdenklich das seine bis zur Hälfte geleert hatte, zu sagen, was er schon seit vierzehn Tagen auf dem Herzen habe; aber er sei ein vorsichtiger Mann und seine Maxime sei: trau, schau, wem?
Mir nun glaube er so weit trauen zu dürfen. Mein Bruder sei, mit Vergunst, ein Schwachkopf und Faselhans, den er schon längst aus dem Hause und vom Hofe gejagt, wenn ihn die Frau und die Kinder nicht gejammert hätten. Und auch so würde er binnen Kurzem dazu gezwungen gewesen sein, wäre ich nicht gekommen, und hätte er nicht gesehen, daß ich mir rechtschaffene Mühe gebe, den Karren aus dem Schmutze zu ziehen. Da wolle denn auch er seine Schulter ein bischen ans Rad legen, und über die unbezahlten Bretter solle ich mir nur keine Sorge machen; im Gegentheile! Er sei bereit, das schlechte Zeug, so viel noch davon vorhanden, zurückzunehmen und uns dafür gutes, brauchbares Holz für denselben billigen Preis zu geben. Auch habe er für uns einen namhaften Auftrag, den er uns zuwenden wolle, wenn ich mich für solide Arbeit und prompte Lieferung verbürge.
So weit war gewiß Alles gut und mehr als das. Nun aber kam ein schlimmer Punkt, welchen der dicke Herr, trotzdem ich wiederholt davon abzulenken suchte, mit unbehaglicher Hartnäckigkeit in sein schielendes Auge faßte. Ich hätte doch wohl gesehen, daß er ein Mann sei, mit dem sich reden lasse, und ich gefiele ihm so weit ganz wohl; aber ich würde ihm noch besser gefallen, wenn ich ihm gefälligst sagen wollte, mit wem er denn eigentlich die Ehre habe? So viel habe er nun schon heraus – trotzdem ich ja in der Werkstatt fleißig mitarbeite und auch vom Rechnungswesen Einiges verstehe – ein gelernter Tischler sei ich nicht, ein gelernter Kaufmann ebenso wenig, überdies eigentlich gar nicht Otto’s Bruder, wie er gelegentlich von den Hopps erfahren, die ja so große Stücke auf mich hielten. Das Alles gehe ihm sehr durch den Kopf, und wenn er auch die Neugier den Weibern überlasse, so sei doch sein erster Grundsatz immer trau, schau, wem? gewesen, und sein zweiter: den Leuten reinen Wein einzuschenken.
Herr Kunze hatte bei diesen Worten das Glas erhoben, diesmal aber nicht, um mit mir anzustoßen, sondern um mit dem gesunden Auge durch das purpurne Naß zu blicken, während er das schielende starr auf mich gerichtet hielt, als auf ein zweites Glas, in welchem er eben so „reinen Wein“ zu sehen wünsche, wie in jenem. Ich hatte mir unterdessen überlegt, daß es zweifellos das Beste sei, dem Manne seinen Willen zu thun, das heißt, ihm aus meinem Leben und von meinen Verhältnissen so viel mitzutheilen, wie nöthig war, sollte ich vor seinen Trau-schau-wem-Augen nicht als ein Hansdampf, wohl gar noch etwas Schlimmeres erscheinen.
„Wenn Sie’s man durchhalten,“ sagte Herr Kunze, nachdem ich meine aus einem gut Theil Wahrheit und einer kleinen Portion Dichtung klüglich gemischte Erzählung geläufig genug vorgetragen hatte. Ich meinte, er spiele auf meinen schwachen rechten Arm an, von dem ich allerdings einräumen mußte, daß er mir schon ein paarmal bei besonders schwerer oder andauernder Arbeit hinderlich gewesen sei.
Herr Kunze schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht,“ sagte er, „obgleich es auch ins Gewicht fällt. Aber sehen Sie, lieber Herr Lorenz, da wollte mir vorgestern Einer ein Pferd verkaufen – ein Milchmann – für ein Spottgeld – er hatte es in der Lotterie gewonnen – es wolle partout nicht vor seinem Karren gehen. Ein wunderschönes Pferd, sage ich Ihnen – für einen Gardelieutenant. Ich konnt’s nicht brauchen. Sie nehmen es mir nicht für ungut, lieber Herr Lorenz; ich habe es nicht bös gemeint. Im Gegentheil! Ich wünsche von Herzen, daß Sie’s durchhalten. Darauf lassen Sie uns das letzte Glas trinken! Und, wie gesagt: Wurst wider Wurst! das ist immer mein Grundsatz gewesen.“
Ich trank das Glas von ganzem Herzen und ohne eine Spur von Empfindlichkeit gegen den Mann der vielen Grundsätze. Sein Gleichniß mit dem Gardelieutenantspferd war ein wenig grell; aber ich hatte mir die Frage: ob ich es durchhalten werde, in der ersten Zeit jeden Tag mehr als einmal vorgelegt, und wenn ich darauf natürlich immer mit Ja geantwortet – zuversichtlich war dies Ja nicht gewesen und hatte es nicht sein können.
Ich war kein Romanheld, ich war ein Mensch, der sich eine furchtbar schwere Last aufgeladen, grausam unter derselben litt und unfehlbar in kürzester Frist zusammengebrochen wäre, hätte er nicht zu Denen gehört, die – ohne daß sie sich ein Verdienst daraus machen dürften oder wollten, sondern weil eben ihre eingeborene Natur nicht anders kann – es von Kindesbeinen an bitter ernst mit dem Leben nehmen, es handle sich um Großes oder Kleines.
Der Sommer hatte sich bereits zum Herbste gewandt, zusehends kürzer wurden die Tage; das Wetter war für die Jahreszeit ungewöhnlich rauh; selten daß die Sonne aus den Wolken hervorblickte, die sich bleiern von West nach Ost über den Himmel schoben, endlose Regengüsse herabschüttelnd, unter welchen die Lachen auf dem weiten Zimmerplatze von Tag zu Tag größer und die Luft in unserem engen, hart am mürrisch sich vorüberwälzenden Flusse gelegenen Hause dumpfer und schwerer wurde. Aber auf dem verregneten Platze, wenn mich mein Weg über denselben führte, begegneten mir nur Menschen, die mich freundlich, ja respektvoll grüßten, und aus dem feuchten Hause war die bange Trostlosigkeit gewichen, welche mich in der ersten Zeit tausendmal schwerer gedrückt hatte, als jetzt die dumpfe Luft. In der Werkstatt roch es gewiß noch nach Leim und Brettern; aber der Leim war von bester Qualität, und die Bretter, welche Herr Kunze selbst ausgesucht hatte, machten seinem Trau–schau–wem–Grundsatze alle Ehre. Wir hatten, die schleunige Arbeit zu bewältigen, einen Gesellen einstellen müssen, der mich anfangs nicht für voll nehmen wollte, bis ich ihm zu seiner Verwunderung nach wenigen Tagen die paar besonderen Handgriffe, auf die er sich mächtige Stücke einbildete, abgesehen hatte, und der mich jetzt um Rath fragte, wenn er mit seiner Kunst, was bald geschah, zu Ende war. Darüber versank denn wohl Otto mitten in der Arbeit in melancholisches Grübeln und seufzte tiefer als je – der arme Kerl! Aber diese Molluskennatur ihrer angeborenen und angewohnten Schlaffheit zu entreißen, hatte ich aufgeben müssen; ich mußte zufrieden sein, daß er mich wenigstens gewähren ließ; mir erlaubte, bis die Sonne der Socialdemokratie den Sumpf des allgemeinen Elends ausgetrocknet, ihn und die Seinen auf das Trockene zu retten.
Wußte er mir keinen Dank dafür, nun wahrlich, ich begehrte keinen, und was er mir vorenthielt, wurde mir von der Frau und den Kindern so reichlich gewährt, daß ich mich wohl für entschädigt halten durfte. Nicht daß Anna viel Worte gemacht hätte. Aber was sie nicht aussprechen wollte oder konnte – es klang aus ihrer Stimme, welche den mürrisch–weinerlichen Klang von Tage zu Tage mehr verlor; es gab sich kund in tausend Kleinigkeiten, die mich zu gleicher Zeit ergötzten und rührten.
Auch die Kinder waren mit Freuden in die neue Ordnung getreten, die „Onkel Lothar“ so viel Freude zu machen schien. Sie hatten bald herausgefunden, daß er ihnen gern bei ihren kleinen Aufgaben half; des Abends, wenn ihm auch manchmal vor Müdigkeit fast die Augen zufielen, wunderschöne Geschichten erzählen und des Sonntags mit ihnen spielen konnte – gleichviel ob draußen auf dem Hof oder im Zimmer bei schlechtem Wetter – wunderschöne Spiele, von denen sich ihre kleine verkümmerte Phantasie nichts hätte träumen lassen. Und das war ein Lachen und Jauchzen, wie die öden Räume es noch nie vernommen! und dabei war der Glücklichste von der lärmenden Gesellschaft vielleicht Onkel Lothar selbst! Er hatte endlich einmal wieder Wesen, an die er sein Herz hängen konnte, ja, er hatte sie so zum ersten Male in seinem Leben: kleine, bedürftige Geschöpfe, die nach ihm um Liebe und Hilfe blickten, ihm vertraulich auf die Kniee kletterten und hinter ihm hergelaufen kamen, wenn er einen Ausgang zu machen hatte, ihn noch ein Streckchen zu begleiten, und, die kleine schmutzige Hand in seine legend, eifrig plaudernd neben ihm hertrippelten. Sie waren nicht schön, die Kinder – Lieschen hatte eine hohe linke Schulter, Karlchen einen Ansatz zu einer Hasenscharte, Rudolphchen watschelte auf Säbelbeinen, bei Hänschen war es nicht ganz richtig im Kopf. Auch die drei erstgenannten zeichneten sich nicht durch geistige Begabung aus – Kinder, Alles in Allem, eher unter als über dem Durchschnittsniveau – aber ich liebte sie doch und, ich glaube, besser, als wenn sie die schönsten und geistreichsten Prinzchen und Prinzessinchen gewesen wären. Ich las jetzt, nachdem sich mein Körper an die ungewohnte Arbeit mehr gewöhnt und meinem Geist die alte Freiheit zum Theil zurückgegeben hatte, gar viel in der Bibel, und wenn ich an den Spruch kam: „die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“, dachte ich zuerst an die kleine hochschultrige, hasenschartige, krummbeinige, dümmliche Schar, die da unter mir, immer zu zwei, in ihren engen Bettchen schlief, und an die sorgenvolle, arbeitgequälte Frau, in deren matten Augen ich einen schwachen Strahl vorher nicht gekannter Lebensfreudigkeit entzündet, und an den passiven Bruder, der dem moralischen Hausarzt nicht beistehen, die Schulter nicht – wie doch der gar nicht betheiligte Herr Kunze – an den festgefahrenen Familienwagen stemmen wollte, und vor dessen trauriger Leibes– und Seelenbeschaffenheit meine Kunst zu Schanden wurde.
Meine Kunst! Du lieber Himmel, wenn es hoch kam und ich „es durchhielt“, wie Herr Kunze sagte, und das Glück (an das Otto nicht glaubte) mich weiter so begünstigte – ich durfte ja hoffen, daß sie ausreichen mochte, diesen „Tropfen am Eimer“ zu trocknen!
Aber der Eimer, der übervolle, nach allen Seiten überquellende menschlichen Leids und Elends, wie ich es da vor mir sah in dieser Riesenstadt – das bescheiden–schöne Dichterbild erdrückend, verschlingend und an Stelle desselben einen unermeßlichen schwarzen Schlund öffnend, aus dem es ohne Unterlaß seine Schlammmassen wälzte – was bedeutete da das bischen individuelle Liebe, der Gran gesunden Menschenverstandes und opferfreudigen Muthes eines einzelnen, in seiner Vereinzelung hilflosen Menschen!
Das waren keine schwarzen Phantasien eines pessimistischen weltentfremdeten Poeten. Ich hatte den Rath des wackeren Professors von Hunnius befolgt und jetzt, da der Lärm des Lebenskampfes mich zu wild umtoste, meine Leier an die Wand gehängt; aber in dieser Welt, welche sich da durch die abendlichen Straßen wälzte, war ich längst kein Fremdling mehr. Und ich kannte sie nicht bloß vom Vorübergehen auf der Gasse. In wie vielen dieser dunklen Häuserkasernen war ich, der Handwerker zu Handwerkern, Bestellungen machend, Forderungen eintreibend, oder ausrichtend, was sonst das Geschäft erheischte, die steilen Treppen hinauf in die Mansarden, hinab in die dumpfigen Keller gestiegen und hatte in den engen Räumen so viel Hunger und Kummer, physische Gebrechlichkeit und moralische Häßlichkeit gesehen und beobachtet, daß man, wäre es räumlich meßbar gewesen, eben so viele weiteste fürstliche Säle damit hätte füllen können!
So war denn das gemeinsame Mühen der vielen wackeren und uneigennützigen Männer, Väter, Berather, Lenker und Helfer der Gemeinde, waren alle jene großartigen Einrichtungen und Veranstaltungen doch auch nur wieder ein Schöpfen in das Danaidenfaß des über die Menschheit verhängten Elends?
Von wem verhängt?
„Von dem brutalen Egoismus der Wenigen, welche sich durch jedes Mittel in den Besitz der Macht zu setzen wußten, um ohne Scham und Reue diese Macht gegen die Vielen auszubeuten,“ sagten die Socialdemokraten. „Von der Dummheit und außerdem von dem vielen Trinken,“ sagte Karl Brinkmann.
„Denn sehen Sie, lieber Herr Lorenz,“ sagte Karl Brinkmann; „wie das ist, ist es gewesen und wird es bleiben, so lange die Welt steht; einmal ein bischen besser, das andere Mal ein bischen schlimmer, was denn just keinen großen Unterschied macht. Gute und schlechte Menschen hat es immer gegeben und wird’s immer geben. Und, wenn man’s bei Licht besieht, sind der schlechten gar nicht so viele, und die meisten sind auch gar nicht so sehr schlecht. Aber die Dummen, lieber Herr Lorenz, die werden nicht alle, sagen sie hier in Berlin, wo sie es wissen müssen, denn sie haben sie hier gleich scheffelweise. Und sehen Sie, lieber Herr Lorenz, das ist das wahre Unglück, gegen das kein Kraut gewachsen ist, wie Ihr Bruder Otto zu sagen pflegt. Was so ein richtig dummer Mensch ist, aus dem wird sein Lebtag kein kluger, Sie mögen mit ihm anstellen, was Sie wollen. Ich weiß das von den Pferden; da ist es just so. Und wenn die Pferde sich aufs Trinken legen könnten, wie die Menschen, wär’ es noch juster so. Das können die Gott sei Dank nicht; die saufen ihr Lebtag nur Wasser. Aber die Menschen, die können es, Gott sei’s geklagt. Und nun trinkt so ein dummer Mensch sich sein bischen Verstand und Gesundheit vollends weg, und dann wundert er sich, wie er ins Unglück gekommen ist. Darum, lieber Herr Lorenz, sehen Sie, ist es auch mit der Socialdemokratie nichts: denn das werden sie nie zu Stande bringen, daß von zehn Menschen, die geboren werden, nicht mindestens die Hälfte dumm ist; es mögen auch wohl zwei Drittel sein – nach meiner Taxe. Und dann wird die kluge Hälfte oder das kluge Drittel immer die dumme Hälfte oder die dummen zwei Drittel im Sack haben, und ich wüßte auch nicht, was dagegen zu sagen wäre. Denn regieren können sich die Dummen gerad so wenig wie die Kinder, die auch aufmucken, weil sie natürlich Alles besser wissen, und wenn sie dann in der Patsche sitzen, sind sie doch froh, wenn ein Erwachsener kommt und sie herausholt. Und was die Socialdemokraten immer sagen, daß es die paar Klugen so viel besser hätten wie die Dummen – das heißt, sie sprechen ja nie von Klugen und von Dummen, und von Fleißigen und Faulen auch nicht, sondern immer nur von Reichen und Armen, als ob der Reichthum den Leuten vom Himmel gefallen wäre und dumme Reiche lange reich blieben – so wäre dagegen auch nicht viel zu sagen. Denn die guten Pferde sind den Hafer werth, und ich habe Rackers genug vor dem Wagen gehabt, für die Häcksel noch viel zu gut war. Aber es ist nicht einmal an dem. Denn, was so ein kluger Mensch ist, der muß gleich immer für zehn und zwanzig und auch wohl für noch mehr arbeiten und sorgen und sich abrackern, just so, wie ein fleißiges Pferd, wenn der Kutscher nicht aufpaßt, den Wagen ganz allein zieht, und das faule troddelt nebenbei. Und, steckt der Karren fest, schindet sich das fleißige ab und reißt ihn ’raus, und das faule thut nur so, wenn’s auch noch so viele Schläge kriegt. Glauben Sie mir, lieber Herr Lorenz, das Elend kommt von der Dummheit und würde davon kommen, wenn auch das verdammte Trinken nicht wäre. Mit dem zusammen kommt’s aber erst recht davon.“
Der brave Karl Brinkmann hatte sich sein System, wie andere Philosophen auch, aus den Erfahrungen gezogen, die er im Leben gemacht, den Beobachtungen, die sich ihm früher oder später aufgedrängt. Ich konnte das am besten beurtheilen, der ich ihn von Kindesbeinen an kannte und wußte, welcher Art seine Erfahrungen gewesen waren bis auf den heutigen Tag, und die Richtigkeit seiner Beobachtungen leider vollauf bestätigen mußte. Ich hatte den Hopps die Gutthaten nicht vergessen, die sie einst an dem armen Tischlerjungen gethan, und das Herz schnürte sich mir zusammen, mußte ich denken, in welchen breiten behaglichen Verhältnissen diese Menschen einst gelebt hatten – und nun sah, was aus all der Herrlichkeit geworden war: noch das bare Elend nicht, aber etwas, das unheimlich nahe daran grenzte und dazu werden mußte, wenn H. H. seiner unseligen Leidenschaft nicht Herr wurde. Und das wagte ich nicht zu hoffen von Einem, der sich niemals hatte beherrschen können, dem das Unglück den geringen moralischen Halt vollends gebrochen und der, wie er
früher getrunken hatte, um die Lust zu erhöhen, jetzt trank, die Unlust und das heimlich nagende Gefühl seiner Ohnmacht zu ersäufen.
Die arme gute Frau Hopp! Sie liebte den Trunkenbold noch immer; nahm alle Schuld auf sich, die nicht besser zu wirthschaften verstanden, durch ihre schlechte Wirthschaft ihren braven Mann um sein Vermögen und dadurch zur Verzweiflung gebracht habe! Und wenn Christine über ihren alten guten Vater die Nase rümpfe, weil er manchmal in seinem Kummer ein Glas zu viel trinke, solle sie sich doch erst einmal fragen, ob sie ihm keinen Kummer bereite! Und wenn Karl Brinkmann in der Stadt herumgehe und seinen alten Herrn schlecht mache, selbst vor alten Freunden, wie ich doch einer sei – keinen Fuß sollte der Duckmäuser wieder über ihre Schwelle setzen! Sein Lamentiren und seine Begräbnißmienen habe sie schon lange satt. Und wenn er denke, er könne in ihrem Hause den Meister spielen, weil er seine paar Groschen in dem Geschäft angelegt habe, morgen solle er kommen und sie sich wieder holen, und sollten ihre letzten sieben Sachen dafür aufs Leihhaus wandern müssen!
Der arme Karl Brinkmann! Das war der Lohn für die Treue, mit der er aus freien Stücken der Familie seines Herrn in die Verbannung gefolgt war, dem hereingebrochenen Ruin mit Aufbieten aller seiner Kräfte, mit Hingabe seiner ganzen mühseligen Ersparnisse sich entgegenstemmte und in der Familie einzig und allein noch zwischen einem zur Noth erträglichen Dasein und der völlig unerträglichen verschlingenden Noth stand!
Wie oft war ich schon auf meinen Gängen durch die Stadt dem guten Kerl begegnet, während er in gleichmäßigem Trabe an mir vorüberkutschirte – Kutscher, Wagen und Pferd ein Bild der Tüchtigkeit und Sauberkeit – und er hatte mir dann, wenn er meiner gewahr wurde, zugenickt – auf dem jetzt von einem ergrauenden Bart beschatteten Gesicht ein Lächeln, das mir immer wie ein Gruß war aus der seligen Jugendzeit. Oder ein glücklicher Zufall hatte es auch gemacht, daß ich ihn auf dem „Stande“ traf und mir von ihm die neuesten Nachrichten aus dem H. H.’schen Quartier erzählen lassen durfte, in welches ich, nachdem es kürzlich von Moabit in das weitentfernte Innere der Stadt verlegt worden war, jetzt nur noch sehr selten kam.
So hatte ich ihn auch heute Abend getroffen. Ich hatte bis nach Feierabend in dem Kunze’schen Neubau, für welchen wir die Tischlerarbeit übernommen, zu thun gehabt und war auf dem Wege zu einer socialdemokratischen Versammlung, die in eben diesem inneren Stadttheile, aber erst zu einer späteren Stunde, stattfinden sollte. Brinkmann’s Wagen war der letzte in einer langen Reihe; er hatte eben eine „Zeitfuhre“ von zwei Stunden gehabt, und ich traf ihn, als er dem müden Gaul die Decke überbreitete (es war noch eine von den alten Decken mit dem H. H. in der Ecke – genau so eine, wie die, welche über des Vaters Lager gebreitet gewesen in seinem Kämmerlein hinter der Werkstatt). Wir standen, Brinkmann am Kopf seines Pferdes, noch auf dem Pflaster, ich am Rande des Trottoirs, im Scheine einer nahen Laterne; ich hatte dem alten Freunde gesagt, wohin ich wollte, und daß es das erste Mal sei, daß ich eine derartige Versammlung besuche – auf Zureden meines Mitgesellen, der für die neue Lehre schwärmte. So waren wir in ein social– politisches Gespräch gerathen, und Brinkmann hatte als seiner Weisheit letzten Schluß sein System von dem Ursprung alles Elends auf Erden entwickelt. Ich konnte dem braven Menschen nicht ganz Unrecht geben, freilich auch bei weitem nicht ganz Recht; mochte ihn aber durch Widerspruch nicht kränken, um so weniger, als er heute Abend noch ganz besonders schwermüthig unter seinem harten glänzenden Hut aus den guten blauen Augen schaute. Ich fragte ihn, ob (ich brauchte nicht zu sagen: wo?) etwas besonders Unangenehmes vorgefallen sei?
„Besonderes? Daß ich nicht wüßte,“ erwiderte der Alte, seinem Pferd die Kinnkette aushebend und das Gebiß aus dem Maule nehmend; „es geht so weit Alles seinen Gang; bloß Karling und Liesing werden wohl die Masern kriegen; aber sie sollen ja dies Jahr besonders gutartig sein, und, wenn Eines zu Hause krank ist, nimmt sich der Herr immer noch ein bischen zusammen, denn seine Kinder hat er doch lieb – das ist wahr, und deßhalb –“
Brinkmann hing dem Gaul die „Futterkiepe“ um.
„Und deßhalb?“ fragte ich.
„Es ist wegen der Christine,“ erwiderte er, sich den Hut ab– und aus demselben ein rothes Taschentuch nehmend, mit welchem er sich nachdenklich die Stirn wischte.
„Was ist mit ihr?“ rief ich.
„Wer das wüßte,“ antwortete er, den Hut, bevor er ihn wieder aufsetzte, von allen Seiten betrachtend; „aber es ist nicht, wie es sein sollte. Ich glaube, es ist die alte Geschichte.“
„Das glaube ich nicht,“ sagte ich eifrig. „Ich kenne Schlagododro besser, wie Ihr. Mag er sich noch so sehr verändert haben in den vier oder fünf Jahren – einer Schlechtigkeit wird er niemals fähig sein.“
„Schlechtigkeit?“ sagte der Alte, dem Pferde leise, langsame Schläge auf den Hals gebend; „nein, schlecht ist es just nicht, wenn zwei junge Leute, noch dazu ein paar so schöne und stattliche, wie die Beiden, sich lieb haben. Aber wenn sie ein armes Mädchen ist, welches sich durch die Welt drücken muß, und er ein vornehmer Herr, dem die ganze Welt sperrangelweit offen steht, wie ein Scheunthor, dann sage ich, es ist dumm von ihr, wenn sie denkt, daß er sie jemals heirathen wird. Und posito den Fall, er heirathete sie, so wäre das wieder dumm von ihm, denn Art läßt nicht von Art, und es gäbe ein Unglück so oder so, wofür dann der liebe Gott verantwortlich gemacht wird, als ob er den Menschen den Verstand gegeben hätte, um damit recht handfeste Dummheiten auszuhecken.“
„Ich denke, er hat sich nicht wieder bei Hopp’s sehen lassen,“ erwiderte ich.
„Es ist schwer, sich in Berlin zurecht zu finden,“ sagte Brinkmann; „aber Zwei, die sich finden wollen, die finden sich schon.“
„Und ich sage: das sieht ihm nicht ähnlich,“ rief ich.
„Sie sieht sich auch kaum noch ähnlich,“ brummte der Alte; „so blaß und abgegrämt – arme Dirn!“
Er hatte dem Pferde das Futtergeschirr abgenommen, um in demselben aus dem nahen Brunnen Wasser zu holen. Ich stand regungslos in tiefer Betrübniß über so schlechte Kunde. Der Alte pflegte sich nicht zu täuschen; seine stillen blauen Augen sahen so scharf.
„Na,“ sagte er, „adjies für heute. Und was ich noch sagen wollte: ich habe einen Brief von meinem Fritz aus London; er kann aber wieder keinen Urlaub kriegen, weil sein Schiff gleich wieder Ladung nach Valparaiso nimmt. So werde ich wohl noch ein Jahr warten müssen. Aber Ihren Bruder August werden Sie wohl schon früher zu sehen bekommen. Fritz hat ihn in London getroffen und August hat ihm gesagt, daß er nach Deutschland zurückwolle.“
„O weh!“ rief ich unwillkürlich.
„Haben Recht,“ sagte der Alte; „er hat sein Lebtag nichts als Dummheiten gemacht, und von der Sorte Menschen haben wir schon gerade genug im Lande. Sie nehmen’s mir nicht übel, Herr Lorenz. Denn sehen Sie, Sie gehören ja doch nicht dazu, trotzdem Sie ’mal wieder angezogen sind, daß ich Sie nicht aus den Anderen rausfinden würde, wenn ich Sie nicht von Kindesbeinen kennte und wüßte, daß Sie ein feiner junger Herr sind und so viel gelernt haben und eigentlich Doktor oder Assessor oder so was sein müßten, und da in die Versammlung gehen wollen, wo sie nichts als Dummheiten reden und machen – aber nicht wahr, Sie nehmen es mir nicht für ungut?“
„Ihnen nichts!“ rief ich, die dargebotene grobe Hand herzlich drückend.
„Na, dann adjies!“ sagte der Alte, das Geschirr aus der Linken in die Rechte nehmend und hinter den anderen Droschken nach dem Brunnen gehend, während ich meinen Weg auf dem Trottoir fortsetzte.
In schweren Gedanken. Wenn Schlagododro doch den schönen Adel seiner Seele eingebüßt hätte, so unritterlich geworden wäre, ein armes Mädchen seiner Leidenschaft opfern zu können! Wäre er doch nie über meine Schwelle gekommen da oben in dem alten Hause der Hafengasse! Aber, wie hätte ich denken können, daß seine Neckereien mit dem hübschen, lustigen Nachbarskinde jemals diese Wendung nehmen würden! Freilich, sie war längst schon kein Kind gewesen, die fünfzehnjährige großäugige Kokette, und er – nun, er hatte sicher schon damals seine Erfahrungen gehabt, war nicht umsonst durch seine adligen Kreise gelaufen! Dann war seine heroische Liebe zu Maria gekommen, und ich wußte jetzt, weßhalb Christine sich so eifrig nach den Geschehnissen in Nonnendorf erkundigt hatte und auf Maria, trotzdem sie dieselbe nur ein paarmal flüchtig gesehen, immer so schlecht zu sprechen gewesen war. Dann mußte es das Unglück wollen, daß, kurz nachdem Hopps vor zwei Jahren nach Berlin gezogen waren, Schlagododro die Familie, die sich anfangs noch wohl zeigen konnte, in einem Vergnügungslokale getroffen und die alte Freundschaft erneuert hatte. Das war ein Fest für H. H. gewesen! Seinen lieben Herrn von Vogtriz wieder zu haben, mit dem es sich so prächtig spaßen, so gründlich über Pferde und was damit zusammenhing, plaudern und so gemüthlich trinken ließ! Bis dann eines Abends dem braven H. H. – ich hatte nicht erfahren, bei welcher Gelegenheit – die trunkenen Augen aufgingen über die eigentliche Veranlassung von des jungen Herrn Besuchen in seinem Hause und es zu einer Auseinandersetzung kam, die diesen Besuch zu einem letzten machte.
Und nun sollte Schlagododro, wenn Brinkmann richtig gesehen, das leidige Verhältniß doch fortgesetzt oder wieder aufgenommen haben. Was konnte für das arme Mädchen daraus kommen als das Elend, das mich, der ich so, düsteren Sinnes, eilig dahinschritt, nur allzu oft vorüberstreifend aus frechen Augen anstarrte, von geschminkten Lippen entgegengrinste!
Ein heftiger Regenguß, der sich plötzlich entlud, hatte mich mit einer Schar Anderer in dem zugigen Nebendurchgang eines Hauses Schutz suchen lassen. Es kamen noch Mehrere, die uns zuerst Untergetretene weiter nach hinten drängten. Plötzlich gewahrte ich über die Köpfe der Leute weg im Vordergrunde, wohin noch der Flackerschein der nahen Straßenlaterne fiel, Jemand, der den schwarzen Haufen ebenfalls um Kopfeslänge überragte und in welchem ich, als er, nach dem Wetter aufblickend, für einen Moment den Kopf hob, Schlagododro zu erkennen glaubte. Ohne zu überlegen, daß ich ihn ja nicht ansprechen durfte, wollte ich mein Inkognito, an dem mir so viel lag, bewahren, drängte ich, der Schelt– und Drohworte der Leute nicht achtend, gewaltsam durch den Knäuel – vergebens: als ich den Ausgang erreichte, war die Stelle, wo der Herr gestanden, leer. Auf dem schmalen Trottoir der Straße schoben sich dicht neben den vorüberrasselnden Droschken und Lastfuhrwerken die Regenschirme durch einander. War er nach rechts, war er nach links gegangen? Ein hoffnungsloser Fall. Und vielleicht hatte ich mich geirrt: der Kopf mit dem modisch kurz geschnittenen Haar, das Gesicht mit dem starken blonden Schnurrbarte und (wenn ich recht gesehen) der breiten rothen Narbe quer über die linke Wange – sie mochten der Himmel weiß wem gehören; es waren nur der hohe Wuchs, die breiten Schultern und die Weise gewesen, mit welcher der Herr den Kopf in den Nacken schleuderte, was mich an den Freund erinnerte. Und es war gut so. Die alte Zeit lag hinter mir – ein Ruinenfeld, auf dem ich nichts mehr zu schaffen, nichts mehr zu suchen hatte – vorbei, vorbei!
Da – zwanzig Schritte vor mir – taucht sie wieder auf, die breitschulterige Gestalt, jetzt aber mit einer Dame am Arme, die auch vorhin schon bei ihm gewesen sein mag, nur daß ich die so viel Kleinere nicht bemerken konnte. Er hält den Regenschirm sorgsam über sie, während er eifrig zu ihr hinabspricht. Jetzt stehen sie an der Kreuzung der Straßen still; er drückt ihr den Regenschirm in die Hand, winkt einer leer vorüberfahrenden Droschke, welche sich alsbald mit ihm in Bewegung setzt. Die nun Einsame an der Straßenecke blickt dem sich rasch entfernenden Wagen noch ein paar Momente nach und geht dann, ein kleines Bündel, das sie zusammen mit dem Schirme in der Rechten gehalten, in die Linke nehmend, weiter die Straße hinauf. Mit ein paar raschen Schritten bin ich an ihrer Seite.
„Christine!“
„Ach, Sie sind’s!“
„Wohin willst Du?“
„Ich habe diesen Hut hier in der Nachbarschaft abzugeben.“
„Darf ich Dich begleiten?“
Sie zögert mit der Antwort. Ein paar junge Männer, die an uns vorüberstreifen, stoßen einander an und fangen an zu lachen. Sie schaudert zusammen und ergreift hastig meinen Arm:
„Kommen Sie!“
Wir hatten ein paar Dutzend Schritte schweigend neben einander zurückgelegt, als Christine meinen Arm wieder losließ: dies sei das Haus, in welchem sie den Hut abzugeben habe, ob ich ein paar Minuten warten wolle? Sie verschwand in dem Hause, kam nach kurzer Zeit zurück und nahm wieder meinen Arm. Ich machte die Bemerkung, die scherzhaft sein sollte (trotzdem mir nichts weniger als scherzhaft zu Muthe war), daß eine so elegante Dame mit mir keinen Staat machen könnte. Sie erwiderte darauf nichts, sondern sagte nach einer kurzen Weile:
„Eben erst habe ich mit ihm über Sie gesprochen.“
Wir hatten uns, seitdem wir uns in Berlin wieder begegnet, immer Du genannt wie in unseren Jugendjahren. Daß sie das Du plötzlich in ein Sie verwandelte, war mir nur ein Zeichen, wie schwer ihr Gemüth belastet war. Mit wem sie über mich gesprochen, brauchte ich nicht zu fragen; offenbar nahm sie an, daß ich sie vorhin mit ihm gesehen habe.
„Und weiß er, was ich treibe? wo ich wohne?“ fragte ich.
„Ja,“ sagte sie; „ich habe es ihm gesagt – heute – eben erst.“
„Aber Du weißt, daß es mein dringender Wunsch war, hier in Berlin von meinen früheren Freunden und Bekannten unbehelligt leben zu können,“ sagte ich mit leisem Vorwurf.
„Ich – ich hatte das vergessen. Ich habe Sie ja seit ein paar Wochen nicht gesehen – auch ihn nicht er ist verreist gewesen und muß morgen wieder fort. Er will sich an einer Universität – ich weiß nicht, wie es heißt -“
„Habilitiren?“
„Ja, so was. Er ist eigens um meinetwillen nur für heute hier; ich hatte ihn so dringend gebeten.“
Sie sagte das Alles in einer hastig nervösen Weise, die es mir bei dem Lärmen in der Straße schwer machte, sie zu verstehen. Dabei zitterte die Hand, die sie auf meinen Arm gelegt hatte. Das arme Mädchen, dem ich immer gut gewesen war, that mir von Herzen leid. Wir befanden uns in der Nähe ihrer elterlichen Wohnung; ich fragte, ob ich sie nicht dahin geleiten solle? Sie erwiderte: „Das hat noch Zeit; es ist ein so großes Glück, daß ich Sie getroffen habe.“
Sie wollte in Weinen ausbrechen, beherrschte sich aber doch und sagte: „Nicht wahr, Sie sind so grausam nicht gegen mich, wie die Anderen? Sie sind ja auch ein ganz anderer Mensch.“
„Jedenfalls Einer, der es von Herzen gut mit Dir meint,“ erwiderte ich; „aber weßhalb nennst Du es ein Glück, daß Du mich getroffen? Kann ich etwas für Dich thun? und was ist es?“
Wir waren in eine stillere Querstraße gebogen, auch hatte der Regen fast aufgehört; man konnte ohne größere Anstrengung sprechen und hören. Da sie auf meine letzte Frage nicht antwortete, wiederholte ich dieselbe. Sie müsse einsehen, daß, wenn sie, wie es doch scheine, Hilfe von mir erwarte, die erste Bedingung sei, daß sie mir einen klaren Einblick in die Verhältnisse gewähre.
„Also noch einmal,“ schloß ich, „was kann ich thun?“
„Reden Sie mit ihm!“ sagte sie schnell.
Ich hatte es erwartet, weil ich wußte, daß ich mich gerade dazu am allerschwersten würde entschließen können. Und weil ich fühlte, daß ich würde Ja sagen müssen, und es doch nicht sagen mochte, sagte ich statt dessen: „Warum nennst Du mich heute Sie? Da muß ich ja auch wohl Sie sagen?“
„Das ist etwas Anderes,“ murmelte sie, „ich und – wollen Sie – willst Du mit ihm reden?“
„Was versprichst Du Dir davon?“ fragte ich zurück.
„Er hält so große Stücke auf Sie,“ erwiderte sie hastig; „er hat von Anfang an und immer wieder von Ihnen gesprochen, und daß Sie – ach, verzeih’ mir, ich kann wirklich nicht mehr Du sagen – der einzige Freund seien, den er in seinem Leben gehabt habe. Und als ich ihm jetzt – ich schwöre es, es war das erste Mal – aber ich mußte es ja, wenn ich wollte, daß Sie mit ihm über mich sprächen – als ich ihm sagte, daß Sie schon seit ein paar Monaten hier in Berlin seien, war er ganz außer sich und schalt mich fürchterlich, weil ich es ihm nicht schon früher gesagt. Und dann hat er gefragt, wo Sie wohnten und was Sie trieben; und ich habe es ihm gesagt – wie konnte ich anders? Und da hat er so gelacht! – die Leute blieben ordentlich stehen – er konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Und dann hat er gesagt –“
„Nun?“
„Ich glaube, ich sollte es Ihnen nicht wieder sagen,“ fuhr sie zögernd fort. „Aber jetzt ist ja Alles eins, und wenn es wirklich der Fall ist, wird er ja um so eher auf Sie hören.“
„Wenn was wirklich der Fall ist?“
„Daß Sie ein vornehmer Herr sind, viel vornehmer, als er selbst, und daß Sie nur zum Spaß Tischler sind – wie auf einem Maskenball.“
„Ein sonderbarer Maskenball!“ rief ich lachend, meine unbehandschuhte, arbeitsschwielige, in diesem Augenblicke noch dazu mit Oelfarbe betupfte Hand vorstreckend.
Aber mir war keineswegs lächerlich zu Muthe. Wie um Alles in der Welt kam Schlagododro zu einer Kunde, welche geheim zu halten doch gewiß im Interesse aller Betheiligten lag?
„Das beweist nichts,“ sagte sie eifrig; „Sie werden nie Handwerkerhände bekommen, und wenn Sie hundert Jahre arbeiten. Ich habe es immer gedacht, daß Sie etwas Anderes sein müßten, als wir. Und ganz dasselbe sagt Ul – Herr von Vogtriz; und da stand es bei mir fest, daß Sie und nur Sie allein mir helfen können.“
„Aber was wolltest Du gerade jetzt von ihm?“ fragte ich ausweichend.
„Sie dringen Alle so in mich,“ sagte sie, die Augen niederschlagend; „es ist Ihr Wirth, Herr Kunze. Er hat mich ein paarmal gesehen, wenn ich Ihre Verwandten – aber es sind ja gar nicht Ihre Verwandten – besuchte; ich habe auch wohl ein paar Worte mit ihm gesprochen – im Vorübergehen. Und vorgestern ist er gekommen und hat um mich angehalten. Ich war glücklicherweise auf Arbeit; aber sie haben natürlich gleich Ja gesagt. Er will Vater so viel Kapital geben, daß er die große Posthalterei hier, die zu Neujahr frei wird, übernehmen kann. Dann soll auch gleich die Hochzeit sein.“
„Und Du?“ fragte ich zögernd.
„Ich gehe lieber ins Wasser,“ rief sie, in Schluchzen ausbrechend.
„Und was sagt –“
Ich brach jäh ab; ich konnte mir ja denken, was „er“ gesagt hatte.
Sie weinte jetzt still leidenschaftlich vor sich hin, um dann in Tönen, die mir durchs Herz schnitten, zu rufen: „Wie kann er mir das zumuthen, wenn er mich doch liebt! Er hat es mir ja eben noch gesagt!“
„Ich glaube gern, daß er es thut,“ erwiderte ich; „Du bist ein schönes und liebenswürdiges Mädchen, warum sollte er Dich nicht lieben? Aber, gutes Kind, ich würde Dir einen üblen Dienst erweisen, wenn ich Dich in Hoffnungen bestärken wollte, die nie in Erfüllung gehen: Herr von Vogtriz wird Dich nicht heirathen, auch nicht auf mein Bitten und Drängen, was also in diesem Falle ganz nutzlos sein würde. Du mußt mit ihm brechen, selbst wenn Du den Antrag des Herrn Kunze zurückwiesest.“
„Und Sie, Sie rathen mir, wie die Andern, daß ich ihn heirathe?“ rief sie. „Ach, thun Sie es doch nicht, wenn auch Herr Kunze sagt, ich solle Sie nur fragen: Sie würden mir gewiß zureden!“
Mir ging plötzlich ein häßliches Licht auf über das Wohlwollen, welches mir der Holzhändler in, wie ich glaubte, uneigennützigster Weise neuerdings zugewandt. Aber das gehörte vorläufig nicht hierher. So sagte ich denn:
„Ich rathe Dir nur, Dir völlig klar zu machen, daß Du nun und nimmer – es mag geschehen, was da will – Frau von Vogtriz wirst. Vielleicht kommst Du dann doch zu einem anderen Entschluß.“
„Nie!“ rief sie. „Dann werde ich Schauspielerin.“
„Um Himmelswillen!“
„Ganz sicher. Ich habe mir Alles überlegt.“
Sie hatte sich wieder in meinen Arm gehängt, den sie vorhin entrüstet hatte fahren lassen, und nun kam der Plan, den sie sich überlegt haben wollte. Sie habe immer geglaubt, daß sie Talent für die Bühne habe – ich habe ihr das früher auch gesagt, wenn wir zusammen gespielt und Märchen und Charaden aufgeführt und dargestellt hätten. Sie sei jetzt oft im Theater gewesen mit Herrn von Vogtriz; er habe ebenfalls gemeint: was die da auf der Bühne könnten, das könnte sie zehnmal. Und ich müsse ihr dabei helfen: ich habe gewiß noch gute Freunde und Freundinnen unter den Schauspielern. Und dann wolle sie eine große Künstlerin werden, wie die Wolter, die sie neulich erst gesehen. Und einen Grafen oder Prinzen heirathen, wie so viele Künstlerinnen schon gethan hätten – nicht Herrn von Vogtriz – nein, einen Andern – ihm zur Strafe, um sich an ihm zu rächen. Er würde außer sich sein; denn, wenn er auch heute noch so schlecht gegen sie gewesen sei, sie wisse ja doch, daß er sie liebe.
Das arme Kind! Der tolle Plan war also nur der Umweg zu dem einzig ersehnten Ziele, und das sie doch für ein erreichbares hielt – trotz alledem. Ich durfte sie nicht ermuthigen, aber ebenso wenig die Arme, Tiefgekränkte, Verzweifelnde der letzten Hoffnung berauben. So sagte ich denn, im Falle sie wirklich auf ihrem Vorhaben bestände, meinen Beistand zu, dessen Möglichkeit davon abhänge, daß ich meinen früheren Kollegen, einen Herrn Lamarque, der jetzt, so viel ich wisse, am X-Theater spiele, für sie interessire. Sie war bei der Nennung des Namens wie elektrisirt. Wenn Herr Lamarque mein Freund sei, gebe es keine Schwierigkeit mehr. Sie habe ihn oft gesehen; sie sei entzückt von ihm, wie alle Welt. Jedermann halte ihn für einen der besten Schauspieler der Gegenwart, für den das X-Theater viel zu klein sei; ob ich denn gar keine Zeitungen lese?
Ich entschuldigte mich: ich läse jetzt grundsätzlich keine Theaterberichte. Gleichviel: sie dürfe auf mich zählen unter der Bedingung, daß sie die Zwischenzeit benutze, um über Alles, wovon wir heute Abend gesprochen, reiflicher, leidenschaftsloser, als sie bis jetzt im Stande gewesen, nachzudenken und mir in einer ruhigeren Stunde, zu der ich mich für sie frei zu machen versuchen würde, den Beweis davon zu liefern.
Wir hatten uns zuletzt immer in unmittelbarer Nähe ihrer elterlichen Wohnung bewegt, an deren Thür ich jetzt von ihr Abschied nahm. Sie verschwand, nachdem sie mich auf dem Flur noch schnell in die Arme geschlossen und mir einen heißen Kuß auf die Lippen gedrückt, im Dunkel der nach oben führenden steilen Treppe; ich trat wieder auf die Gasse, meinen Weg nach der socialdemokratischen Versammlung fortzusetzen, aus dem mich die wunderliche Begegnung nicht eigentlich gebracht hatte.
Nicht aus dem Wege und wahrlich auch nicht aus der Stimmung, die man wohl zu solchen Versammlungen mitbringen muß. War dies, was ich da eben durchlebt, nicht auch wieder ein Stück des socialen Jammers, von dem die Welt, wie sie ging und stand, erfüllt war? Ein von Haus aus edelgesinnter, großherziger Mensch, wie Ulrich Vogtriz, der ein Mädchen, das er – ich zweifelte nicht daran – liebte, dennoch zu heirathen rundweg verweigerte, weil er es mit seinen Begriffen von Standesehre nicht vereinigen konnte. Ein Mädchen wiederum, so schön, so begehrenswerth und auch, trotz ihrer Gefallsucht – wollen sie denn nicht Alle gefallen? – ein gutes Mädchen, das dem Moloch dieser Standesehre geopfert wird. Um der Noth ihrer Familie weiter geopfert, zur Ehe gezwungen zu werden mit einem, wie ich jetzt fürchten mußte, sehr wenig achtbaren und ganz gewiß gründlich unliebenswürdigen Manne. Oder, daran verzweifelnd, sich ehrbar durchs Leben zu bringen, in eine Laufbahn gedrängt wurde, in der ihrer, die ein wirkliches Talent nicht einzusetzen hatte, im Ausnahmefalle ein glänzendes und in dem sehr wahrscheinlichen das bare nackte Elend harrte. Elend also, was der schaudernde Blick sah, sobald man von dieser Welt der scheinbaren Ordnung und Sitte ein Stückchen nur der Oberfläche abstreifte, auf welcher das Auge der Zufriedenen, Satten haften bleibt, die nicht weiter sehen wollen oder können. Nein, guter Brinkmann, so einfach, wie du meinst, steht es mit der Rechnung des Lebens denn doch nicht. Oder aber, wenn die Dummheit alles Uebels Wurzel ist, so wäre erst zu untersuchen, wie tief man am Baume der Menschheit bis zu dieser faulen Wurzel hinabdringen kann; ob sie am Ende nicht doch noch verbesserungs– und heilungsfähig ist, auf daß der Baum reichere, labendere Früchte bringe, nicht so viel solche wie die, von denen ich mein junges Leben hindurch schon so manche gekostet – und jetzt eben wieder – Früchte, aschetrocken und todesbitter.
Aschetrocken und todesbitter – sie hatten Alle den Geschmack auf der Zunge, die Hunderte, von denen ich das große Lokal, in welches ich mich mit noch ein paar anderen Nachzüglern mühsam gedrängt, bis auf den letzten, möglicherweise benutzbaren Platz erfüllt fand. Sie standen auf Stühlen und Tischen; dennoch gelang es mir, einige Schritte weit vorzudringen, wo ich denn freilich in fürchterlicher Enge bleiben mußte und es nur meiner Länge verdankte, wenn ich über die Köpfe der Anderen von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Rednerbühne am andern Ende des Saales hatte, welche selbstverständlich abermals ein Tisch war.
Mein Nachbar theilte mir flüsternd mit, daß bereits zwei Redner, die er mir nannte, zur Tagesordnung: „Die Ursachen der heutigen Geschäftskrise“ gesprochen – ausgezeichnet! An dem, der jetzt das Wort habe, „scheine nicht viel zu sein“. Die Meinung mochte von der Mehrzahl der Anwesenden getheilt werden; es war eine Unruhe in der Versammlung, welche von Minute zu Minute wuchs und die ohnehin nicht starke Stimme des Redners oft völlig übertönte. Was ich dann zwischendurch verstand, wollte mir freilich so uneben nicht erscheinen. Der Mann suchte klar zu stellen, daß der Gründungsschwindel mit seinen Folgen allerdings die erste und vorzüglichste Veranlassung der momentanen Handelskalamität und der verhängnißvollen Stockungen auf dem Arbeitsmarkte sei; daß aber die Arbeiter selbst durch die unaufhörlichen Strikes, für welche sie den Moment schlecht wählten und welche sie in Folge dessen mit dem nöthigen Nachdruck nicht durchführen könnten, das Uebel nur vergrößerten. Die Strikes seien eine furchtbare Waffe in den Händen des Arbeiters, aber man müsse sie auch zu handhaben wissen; sonst kehre sich die Schneide gegen Den, der sie führe, und erleichtere dem schon überstarken Gegner den Sieg.
Der Redner, ein schon älterer Mann, dem es offenbar heiliger Ernst um die Sache war, für die er eintrat, und der sich durch die Zwischenrufe der Gegner und die im Saale wachsende Unruhe nicht aus der Fassung bringen ließ, wollte seine Sätze durch das Beispiel einer Strikebewegung erhärten, welche gerade jetzt in Brünn eingeleitet war und in unseren Kreisen viel von sich reden machte. Aber schon vermochte man nur noch Einzelnes, bald gar nichts mehr zu verstehen vor dem ohrenbetäubenden Lärme, der durch den Saal toste. Man stampfte mit den Füßen, man gestikulirte mit den geballten Fäusten; man pfiff, johlte, schrie, brüllte aus Leibeskräften. Vergebens daß der Vorsitzende eine Glocke schwang, die keinen Klöpfel zu haben schien; vergebens auch, daß der anwesende Polizeilieutenant neben den Vorsitzenden trat und vermuthlich die Versammlung mit Auflösung bedrohte, falls sie fortfahre, sich auf diese Weise selbst zwecklos zu machen.
Ich hatte das widerliche Schauspiel längst satt und war im Begriffe mich zu entfernen, als ganz plötzlich der ungeheure Lärm einer tiefen Stille wich, der alsbald ein donnerndes, nicht enden wollendes Bravo folgte.
Und dann wieder tiefe Stille über all den Hunderten, welche, die Hälse reckend, sich auf den Fußspitzen hoben, die Gesichter, aus denen die Augen glühten, nach der Rednerbühne gewandt.
Und nun eine Stimme, deren Heller, metallener Klang den weiten Raum bis in die fernste Ecke füllte und mir das Herz erbeben machte.
Konnte er es sein? Adalbert?
Als ob dies nicht der Ort, wo ich ihn wiederfinden mußte, ihn hätte suchen müssen, wenn ich ihn wiederfinden wollte! Er war, wie er jetzt zur Einleitung mit wenigen knappen Worten mittheilte, mehrere Wochen auf Reisen gewesen – im Interesse selbstverständlich der Sache, für die zu leben es sich überhaupt des Lebens verlohne und für die er auch heute zu zeugen gekommen sei.
Einige Enthusiasten schrieen hier Bravo, wurden aber sofort von allen Seiten zur Ruhe gezischt; man wollte sich kein Wort des Mannes entgehen lassen.
Nun trat er in sein Thema ein: den Nachweis, daß es thöricht sei, irgend eine besondere Erscheinung unseres socialen Lebens, und läge die Schädlichkeit derselben noch so klar vor Augen und könne noch so deutlich nachgewiesen werden, im Sinne des Vorredners zur Ursache oder auch nur einer der Ursachen der augenblicklichen Kalamität zu machen; ja, daß man von einer solchen im eigentlichen Verstande gar nicht sprechen könne, nicht, weil ihre Existenz fraglich, sondern deßhalb, weil sie keine augenblickliche, vorübergehende, vielmehr eine bleibende sei, die genau so lange dauern werde wie die Gesammtheit der Zustände, aus denen sie mit der Nothwendigkeit der Folge zur Ursache hervorgehe. Sich an die besondere Erscheinungsform des Allgemeinübels, wie Ueberproduktion, Strikes oder dergleichen halten und vermeinen, durch die Abmilderung derselben etwas gewonnen zu haben, heiße den ärztlichen Pfuschern gleichen, welche der Krankheit beikommen zu können wähnen, wenn sie den Symptomen nur kräftig zu Leibe gehen. So verhalte es sich zum Beispiele mit dem modernen Militarismus.
Hier erhob sich der beaufsichtigende Beamte und verlangte, daß dem Redner das Wort entzogen werde, der nicht zur Sache spreche. Er werde keine Abweichung von der Tagesordnung dulden, am wenigsten Angriffe auf die Armee. Wenn Redner in der angefangenen Weise fortfahre, werde er die Versammlung auflösen.
Durch die Menge ging ein Brausen, wie von einem heranziehenden Sturme, das aber sofort wieder tiefer Stille wich beim ersten Tone der hellen stählernen Stimme von dem Rednertische.
„Wie?“ rief die Stimme, „habe ich denn gesagt, daß ich mit der bestehenden Staatsform nicht einverstanden bin? Will man mich hindern, die Großthaten unserer Armee zu feiern durch Aufzählen der Opfer, welche die nothwendige Bedingung und Voraussetzung jener Großthaten sind? Entferne ich mich von der Tagesordnung, wenn ich nachzuweisen suche und nachweisen werde, daß man die Ursachen unserer heutigen Geschäftskrise freilich zum Theil in jenen nothwendigen Opfern zu suchen hat, eben darum aber auch diese Geschäftskrise ein Nothwendiges ist, das man wie andere Nothwendigkeiten ertragen muß, so lange man den modernen Staat will, den nicht zu wollen ich noch mit keiner einzigen Silbe erklärt habe?“
Es war der grausamste Hohn – jedes Wort, das da ohne den leisesten Anflug von Ironie in dem ruhigsten, sachgemäßesten Tone gesprochen wurde. Der Beamte wußte das zweifellos so gut wie die Versammlung, durch die ein Rauschen des Einverständnisses ging; aber es mochte ihm die Geistesgegenwart und die Gewandtheit fehlen, um die geschickte Parade des Gegners auf der Stelle zu durchkreuzen, oder er wartete auf eine ihm passendere Gelegenheit, die schwerlich ausbleiben konnte – jedenfalls setzte er sich wieder, dem Redner die Freiheit lassend, bis auf Weiteres seine Gedanken zu entwickeln.
Und nun eine Verherrlichung der Thaten der Armee im Kriege, ihres wohlthätigen Wirkens im Frieden, indem sie das Reich, welches nur durch sie zu einem einigen geworden sei, durch ihr bloßes Dasein nach außen schütze, ihm die Möglichkeit gewähre, sich innerlich zu entfalten, zu kräftigen – eine Verherrlichung, so schwunghaft, so scheinbar jeden Widerspruch von vorn herein entkräftend, so ganz aus dem Pathos eines echten Soldatenherzens heraus, daß die Versammlung denn doch in ihrer Mehrzahl offenbar stutzig wurde und es der ganzen Autorität Derer, welche ihren Mann kannten, bedurfte, das wachsende Mißvergnügen der Kurzsichtigen nicht zum lärmenden Ausbruche kommen zu lassen.
Und nun im Handumdrehen die andere Seite der Medaille. Zuerst in einzelnen Blitzen, wie von einem Metallschild, der hin– und herbewegt wird: die paar Dutzend Opfer, welche die Uebungs– und Manövermärsche gerade diesen Sommer erfordert hätten! – ob man denn glaube, daß man eine leistungsfähige Truppe sich von dem Tanzboden holen könne? – die berüchtigten Säbelaffairen zwischen harmlosen, unbewaffneten Civilisten und ebenso harmlosen, allerdings bewaffneten Soldaten! – ob man denn die Stirn habe, dem Soldaten zuzumuthen, daß er seine Waffe, seinen Stolz und seine Zier, zu Hause lasse, wenn er zu Biere gehe? – Und so vom Kleinen zum Großen, bis aus dem Metallspiegel Zug um Zug ein entsetzliches, schlangenumringeltes Gorgohaupt herauswuchs zum Entzücken der Hörer, durch deren athemlose Massen nur von Zeit zu Zeit frenetischer Beifall fieberhaft zuckte, zur Verzweiflung des Beamten, der gegen eine – scheinbar streng sachgemäße, in jedem Punkte sich auf officielle Zahlen und Daten stützende Darstellung keinen begründeten Widerspruch fand, bis er endlich bei einer Wendung, die harmloser war, als hundert vorhergegangene, zu der längst beschlossenen Auflösung schritt.
Und nun die herkömmlichen wüsten Scenen, das Schreien und Toben, das Drängen und Schieben, Gedrängt– und Geschobenwerden einer hundertköpfigen, fanatisirten Menge, die widerwillig ein Lokal verläßt; dazu schließlich von den aufs Aeußerste gereizten Beamten mit Gewalt gezwungen wird – wüste Scenen drinnen, denen andere noch wüstere auf der Gasse folgen, wo sich beim Flackerschein der Laternen Weiber und Buben in den Haufen der Tumultuanten mischen, Schutzleute ihre Rosse in die dunklen Massen spornen, irgend Einen herauszugreifen, der vielleicht nicht der schlimmste, vielleicht nur widerwillig in die Masse gerathen ist, bis ihn, der sich aus dem Chaos gerettet hat, in den vom Schauplatz entfernteren Straßen wieder das hergebrachte allabendliche Treiben der Großstadt empfängt.
Ich aber eilte durch diese Straßen in einer Aufregung, die wohl erklärlich ist, wenn man bedenkt, in welcher Weltabgeschiedenheit, meiner selbst vergessend, einzig der nächsten Aufgabe lebend, ich alle diese Wochen verbracht hatte, um mich auf einmal in die große Arena geschleudert zu sehen, in welcher die Massenkämpfe der Menschheit ausgefochten werden. Denn dies war es, was sich mir zuerst unabweisbar aufdrängte: daß ich, jedem sonstigen Wunsch meines Herzens, jeder noch so tief gewurzelten Neigung meines Geistes, jedem liebsten Spiel meiner Phantasie schroff entsagend, hierher gekommen war, mich, wie Professor von Hunnius es gewollt, als Soldat in diesen Kampf zu stürzen, und – die große Sache doch wieder klein aufgefaßt hatte, als Privatmensch, der, mag der Donner der nahen Schlacht noch so laut grollen, Zeit und Muße findet, seines Gärtchens zu warten. Was war ich neben Adalbert! Ich hatte ihm ja das Uebergewicht des kräftigeren, umfassenderen Geistes, der glänzenderen Begabung von jeher neidlos zugestanden. Diese Vorzüge fielen ja zweifellos bei seiner Leistung heute Abend schwer ins Gewicht; aber sie erklärten doch keineswegs völlig die gewaltige Wirkung seiner Rede; vor Allem nicht den treuherzigen Glauben, den seine Zuhörer ihm entgegenbrachten und der sie selbst dann nicht völlig verließ, wenn sie ihn, wie es heute mehr als einmal der Fall gewesen, ganz offenbar nicht verstanden. Sie glaubten eben an ihn und durften, mußten an ihn glauben, weil er an sich – nein! nicht an sich, weil er an seine Sache, an die Möglichkeit glaubte der endlichen Befreiung des Menschengeschlechtes aus den Banden knechtischer Gesinnung, in die – es sich selber schlägt. Das war das Zeichen, unter dem er stritt und siegte. Das war die Quelle, aus der er die Hammerkraft schöpfte, mit der jedes seiner Worte diese Bande traf, und von denen mir noch so viele im Ohre klangen. Großer Gott, was war ich neben Diesem! Ein Knabe neben einem Manne! Einer, der nie den Muth haben würde, auf seine Ziele loszuschreiten, ohne nach rechts oder links zu blicken; der immer ängstlich erwägen würde, ob die Mittel zum Zweck auch zweifellos loyal seien, nicht das eine oder das andere irgend eine zarte Seele beleidigen dürfte! Himmel, mit welchen Trugschlüssen, mit welchen Sophismen hatte der Mann heute operirt, wenn er sah – und sein Falkenauge irrte sich nie – daß er so schneller und sicherer seine Hörer dahin bringen könnte, wohin er sie haben wollte!
Ein geborner Heerführer, zu dessen Fahne sie in hellen Haufen strömen, und der es versteht, aus Gesindel Soldaten zu machen. Er brauchte die Kunst! Was für Menschen waren es gewesen, die meisten seiner Zuhörer! Ich wollte sie nicht schelten; ich wußte, daß sie nicht anders sein konnten, aufgewachsen, wie sie es waren, in materiellem Elend, ohne geistige und sittliche Pflege, von früher Jugend an keuchend unter dem Joch einer unerbittlichen seelenlosen, seelenmörderischen Arbeit – aber würden sie jemals anders werden? er und seines Gleichen je das Joch brechen, die Sklaven der Arbeit zu freien Menschen machen? Oder sah die Einfalt des braven Droschkenkutschers doch weiter als die Genialität des kühnen Demagogen? Würde je für ihn
die fürchterliche Stunde kommen, wo er sich mit dem Weisen von Ferney sagen müßte: es ist Alles vergebens, und du verläßt die Welt so dumm und so schlecht, wie du sie gefunden? Wahrlich, wie ich ihn kenne, diese Stunde, sollte sie ihm kommen, es würde seine letzte sein, denn er würde sie zu seiner letzten machen.
Und wie nun so meine Gedanken bei ihm weilten, dem ich die höchsten Weihestunden meiner Jünglingsjahre verdankte, erfaßte mich jählings eine unendliche Sehnsucht nach ihm. Ich konnte nicht begreifen, wie ich es über mich gebracht hatte, seinen Namen hundertmal im Adreßbuche zu lesen und ihn nicht einmal aufzusuchen; wie ich vorhin mich begnügt hatte, seine geistvollen Züge mir aus der Ferne durch den Dämmer der schwülen tabaksraucherfüllten Luft des weiten Raumes mühsam zusammen zu suchen, nicht seiner am Ausgang des Saales geharrt hatte, ihm die Hand zu drücken. Die schlanke kühle Hand! Er mochte sie sich ja nie drücken lassen, auch nicht von mir, den er doch in seiner Weise geliebt hatte! Nein, es war besser so. Folgen konnte ich ihm auf seinem steilen Pfade doch nicht; so mochten unsere Wege getrennt bleiben, wie ich wünschte und hoffte, daß sich der meine und der Schlagododro’s nie kreuzen möchten. War ich kein kühner Steiger, wie der eine meiner alten Freunde – ich wollte gern des adligen Muthes entbehren, mit dem sich der andere in die Tiefe stürzte. Ich wollte meinen ebenen Weg, wie ich ihn mir vorgezeichnet, so weiter gehen, ohne Tausende vielleicht glücklich, aber auch ohne eine Menschenseele so unglücklich zu machen, wie ich die arme Christine vor ein paar Stunden gesehen hatte.
Vor ein paar Stunden? Ja, war denn das Alles im kurzen Laufe eines einzigen Abends vor sich gegangen? hatten ein paar Stunden genügt, die Vergangenheit, welche ich für immer begraben wähnte, zur Gegenwart zu machen, die mit gieriger Hand in mein Leben greifen wollte? Dem Dienst, den Christine von mir heischte, durfte ich mich ja keinesfalls entziehen; mit einem dritten der sorgsam gemiedenen Freunde, mit Lamarque, mußte ich also sicher wieder anknüpfen, wenn sie sich nicht zu der Heirath mit dem alten Holzhändler entschloß. Und wer konnte wissen, wohin dieser eine erste Schritt aus dem engen Kreis meines kleinbürgerlichen Lebens mich führen würde?
Ich stand vor diesem Gedanken, der für mich etwas seltsam Erschreckendes hatte, jäh still – zum ersten Male in dem Laufschritt, mit welchem ich aus dem Versammlungslokal fürbaß geeilt war – um auch sofort die tiefste seelische und physische Erschöpfung zu empfinden. Seit einem frühen Mittag hatte ich keinen Bissen gegessen, keinen Trunk gethan – und es ging stark auf elf. Die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich befand mich freilich bereits in der Nähe unserer Wohnung; aber dort würde Alles längst zu Bett sein, und ich hatte gesagt, daß man mir das Abendbrot nicht aufzuheben brauche. Dicht vor mir hing eine rothe Laterne über einem jener Keller, in welchen „der gemeine Mann“ zu verkehren pflegt. Ich stieg die paar Stufen hinab und fand in einem zweiten stilleren Raum hinter dem noch sehr belebten „Billardzimmer“ in einer Ecke ein Plätzchen, wohin mir der verschlafene Kellnerjunge Butterbrot und ein Glas Bier brachte.
Ich setzte das zur Hälfte geleerte mit einem tiefen Athemzuge hin.
„Wohl bekomm’s!“ sagte eine Stimme hinter mir.
Ich wandte mich, nur um mich zu überzeugen, daß mich meine überreizten Nerven geäfft hatten, und fuhr von meinem Sitze auf.
„Sie irren sich nicht,“ sagte der Mann; „ich bin es wirklich. Glaub’s gern, daß Sie den Weißfisch, wie er da vor Ihnen steht, schwer erkennen. Habe ich doch selbst Mühe gehabt, meinen gnädigen Herrn aus dem Kostüme herauszuschälen.“
Er lächelte; aber in seinen hellen Augen flackerte es unruhig. Er war offenbar in Zweifel, wie ich diese Begegnung nehmen würde, und wirklich war meine erste Regung, ihn anzuherrschen, daß er sich seines Weges trollen möge. Dann hatte eine zweite Regung die erste verdrängt: der Mann da vor mir, dessen früher sorgsam glatt rasirtes oder mit einem Künstlerschnurrbart kokett ausgestattetes Gesicht ein struppiger Vollbart bis fast in die Augen umstarrte; dessen langer, sonst so wohlgepflegter, wohlgekleideter Leib in einem bis zur Schäbigkeit dürftigen Anzuge stak – er war zweifellos arm, vielleicht in Noth – ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihn von mir zu jagen.
Die hellen Augen hatten mir das Alles längst vom Gesichte abgelesen.
„Darf ich?“ sagte er, die Lehne eines zweiten Stuhles, der an dem Tischchen stand, berührend.
Ich nickte; er nahm Platz. Die Augen waren jetzt auf mein Butterbrot gerichtet, und mit einem Blick, den ich früher vielleicht nicht verstanden hätte.
„Nehmen Sie!“ sagte ich.
Er griff hastig zu und murmelte, wie zur Entschuldigung seiner Gier: „Ich habe heute noch nichts gegessen.“
„Geniren Sie sich nicht,“ sagte ich; „ich lasse mehr kommen.“
Der Kellnerjunge brachte das Bestellte. Er aß und trank, ohne aufzublicken, ohne ein Wort zu sprechen, und mit jedem Bissen, den er hinunterschlang, jedem Schluck, den er that, schwand etwas von der Feindseligkeit, die ich anfangs gegen ihn empfunden.
Beruht doch die Heiligkeit der Gastfreundschaft zum guten Theil auf dem Lustgefühl des Wohlthuns, das selbst die grimme Kraft des Hasses wenigstens zur Zeit bändigt. Und dann, hatte ich auch volle Ursache, den Mann zu hassen, der schon meiner Mutter und später mir so viel des Leides bereitet – wäre mir ohne ihn so manche Stunde geworden, an die ich doch nur mit schmerzlichem Sehnen zurückdenken konnte?
Er hatte seinen Hunger gestillt, that noch einen kurzen Zug aus dem Glase, das ich ihm bereits zum zweiten Male hatte füllen lassen, und sagte, das lange Schweigen brechend: „Ich will es nur gestehen: ich stand da“ – er wies mit dem Daumen über die Schulter nach der Stadt zurück – „während der ganzen Zeit in Ihrer Nähe und hätte Sie wohl ansprechen können; aber ich wagte es nicht. Bin Ihnen auch schon auf dem langen Wege gefolgt, bis ich Sie hier hineingehen sah und mir den Muth faßte. Verzeihen Sie meine Dreistigkeit! Aber wenn man Jemand, den man so –“
Er fuhr sich über die Augen und murmelte:
„Gleichviel! Sie würden es mir ja doch nicht glauben. Ich wollte auch nur sagen: wenn man Jemand, den man sich in Amerika verschollen, vielleicht todt dachte, nun leibhaftig vor sich sieht – noch dazu so – und es hätte Alles so anders, so ganz anders kommen können!“
„Lassen wir das,“ sagte ich mit Nachdruck. „Es hat im Gegentheil so kommen müssen, und ich bin zufrieden, daß es so gekommen ist – für mich. Daß ich Sie freilich dabei um Ihre Hoffnungen und Aussichten und, wie ich annehmen muß, ins Elend gebracht habe, thut mir leid. Ich meinte, ein Mann von solchen Gaben würde sich immer zu helfen wissen.“
„Ja wohl,“ erwiderte er, „da helfe sich Einer, der sich zwischen zwei Stühle setzt! Mit dem Kammerherrn hatte ich es gründlich verschüttet; er hat mich nicht einmal angenommen, als ich es wagte, mich wieder bei ihm zu melden, nachdem der Mohr bei dem – nun, Sie wissen ja, bei wem – seinen Dienst gethan hatte und zum Teufel gehen konnte. Als ob es meine Schuld gewesen wäre, daß er nicht die Kunst verstanden hatte, Sie zu halten; meine Schuld, daß Sie sich auf und davon machten; meine Schuld, daß all meine Mühe, meine – ich darf wohl sagen verzweifelten Anstrengungen, Ihrer wieder habhaft zu werden, Sie zurück zu bringen – lebend oder todt, lautete der Auftrag – vergeblich waren!“
„Zum Beispiel in Hamburg,“ schaltete ich, wider Willen lächelnd, ein.
„Ah!“ sagte er gedehnt. „Sie haben mich gesehen! Nun verstehe ich, weßhalb Sie nicht wieder in den Gasthof zurückgekehrt sind und lieber Ihre Sachen im Stich gelassen haben, um gleich an Bord gehen zu können. Das erfuhr ich freilich erst am folgenden Abend. Da war es zu spät, und die Jagd war aus. Das Schiff – ,Cebe‘ hieß es – war längst auf offener See, und bis nach Chile reichte selbst seine Macht nicht.“
„Und doch hätten Sie mich noch vier, ja acht Wochen später in Hamburg finden können,“ sagte ich. „Ueberhaupt bin ich gar nicht fortgekommen, weder damals, noch später.“
Er blickte mich mißtrauisch an und sagte:
„Sie spielen mit mir und haben es doch gar nicht nöthig. Lieber wollte ich mir diese Hand und den Kopf abhacken lassen, ehe ich Sie an ihn verrathe – ich meine: irgend wie gegen Sie für ihn Partei nehme. Einmal und nie wieder!“
„Ich wüßte auch nicht, welchen Vortheil Sie sich dabei versprechen könnten,“ erwiderte ich trocken. „Sein Dank dürfte so gering sein, als der meine.“
„Der Ihre!“ rief er; „ich muß es glauben. Aber der seine! Ach, gnädiger Herr, Sie wissen, Sie ahnen ja nicht, wie lieb er Sie gehabt hat! Als Sie fortgelaufen waren – verzeihen Sie! – da hat er geschäumt wie ein angeschossener Eber und geweint wie ein Kind. Ja, bei Gott, geweint und geschluchzt vor diesen meinen Augen; ich hätt’ es nie für möglich gehalten. Und als ich zurückkam ohne Sie, da fehlte nicht viel, er hätte mir eine Kugel vor den Kopf geschossen. Und ,aus meinen Augen, Sie Lump, Sie‘ – nun, Sie kennen ihn ja. Ich hab’ ihm den Lump und die anderen Ehrentitel nicht vergessen. Und als vor einem Jahre Frau von Trümmnau es gemacht hatte wie Sie und dann in London sein sollte, und er sich nun doch des Mannes erinnerte, den er mit Schimpf und Schande fort und ins Elend gejagt, da habe ich ihm geantwortet: ,Ein Lump, Hoheit, eignet sich nicht zu einer so delikaten Mission. Da müssen Hoheit schon selber gehn.‘ – Ja, und wenn die gnädige Frau hier in Berlin wäre und ich wüßte Straße und Nummer – ich bin nicht viel mehr als ein Bettler; aber eine Million könnte er mir bieten, auf die Folter könnte er mich legen, er kriegte keine Silbe aus mir heraus, der – verzeihen Sie: er hat mich zu schlecht behandelt!“
Der Mann saß da, an den Lippen nagend, mit nervösen Fingern auf die Tischplatte trommelnd, während die Augen auf mich stierten, als gelte der Haß, den sie sprühten, mir und nicht dem Anderen. Und wäre dieser Haß denn unberechtigt gewesen? Mochte er auch aus völlig selbstischen Gründen jene ganze Intrigue damals eingefädelt und fortgeführt haben – er hatte immer seine ganze Existenz dafür aufs Spiel gesetzt und – das Spiel verloren. Andere, hätte er für sie dasselbe gethan, wie für mich, würden es ihm hoch gedankt und reich gelohnt haben. Ich durfte den Undank nicht so weit treiben, ihm, nachdem er indirekt durch mich ruinirt war, jede Theilnahme zu versagen. Und dann: es war mir zum ersten Male unwiderleglich zu Gemüthe geführt, was ich bis dahin hartnäckig von mir gewiesen: daß ich dem Herzog, als ich mich von ihm losriß, einen schweren Seelenschmerz bereitet; ich, der ich Niemand geflissentlich weh thun konnte, dessen größte Lust es war, Schmerzen zu lindern! Und dann, wie ich nun so da saß, den Kopf aufgestemmt, vor mir die Reste des kärglichen Abendbrotes auf dem unsauberen Tische, wollte die Erinnerung wiederkommen jener halkyonischen Tage, in denen ich von goldenen Tafeln gespeist hatte, auf Wolken dahingetragen wurde, wie die seligen Götter –
„Mußte es denn sein?“
Ich zuckte zusammen und starrte dem Manne, der das aus meiner Seele herausgesprochen hatte, erschrocken in das bärtige Gesicht. Er fuhr, mich mit den hellen Augen fixirend, bedächtig fort:
„Und wenn es sein mußte – ich meine, wenn Sie in jenem Momente nicht anders handeln konnten – muß es denn so bleiben? Ich spreche, glauben Sie es mir, nicht für ihn, den ich hasse und dem ich jede Kränkung gönne; nur für Sie, an den ich mein Herz gehängt habe von der ersten Stunde, als ich Sie in Nonnendorf sah und auch gleich beschloß, daß Sie fortan mein Herr sein sollten, dem ich zu allen Ehren und allem Reichthum und aller Lust der Welt verhelfen wollte und um ein Haar verholfen hätte, ja, schon verholfen hatte, und den ich nun da vor mir sehe – ja, ich weiß nicht, was Sie jetzt sind; das aber weiß ich, so wahr ich lebe: es kostet Sie nur ein einziges Wort, und Sie sind wieder, was Sie damals waren: Ein Herzogssohn und mein gütiger, gnädiger Herr.“
Er hatte meine Hände, die ich auf den Tisch hatte sinken lassen, ergriffen und wollte sie an seine Lippen ziehen. Ich stieß den Versucher mit einer Heftigkeit zurück, der ich mich im nächsten Augenblick schämte. Wenn ich meiner selbst sicher war, was brauchte ich heftig zu werden?
„Sie fragen, was ich jetzt bin,“ erwiderte ich; „Sie sollen es morgen erfahren, wenn Sie mich besuchen wollen, worum ich Sie bitte. Jetzt aber sagen Sie mir erst, wovon, wie Sie leben, damit ich eher weiß und bis morgen überlege, wie ich Ihnen helfen kann.“
Der Mann blickte grollend vor sich nieder.
„Wie ich lebe?“ sagte er dumpf, „nun, wie ein Hund. Wovon ich lebe? nun, wovon die Hunde leben, die man auf die Straße gejagt hat, bevor sie der Schinder abfängt. Ich habe es auf alle Weise versucht, mich ehrlich durch die Welt zu bringen; es will mir nichts gelingen. Sie wissen ja: was Rechtes habe ich nicht gelernt und verstehe ich nicht. Als Kammerdiener nimmt mich keiner ohne Empfehlungen, die ich nicht habe; man läßt mich auch in dem Anzug schon gar nicht mehr vor. Hab’s auch mit Komödienspiel versucht – aber sobald ich auf den Brettern stehe, stolpere ich über meine eigenen Beine und die Leute pfeifen mich aus. So lebe ich denn von der Hand in den Mund, heute von Abschreiben, morgen von Teppichklopfen – was weiß ich! Und das Schlimmste ist, daß ich in all dem Elend dick und stark bleibe, als fräße ich mich aus der fettesten Herrenküche täglich dreimal dudelsatt. So mache ich sogar als Bettler Fiasko!“
„Sie sollen nicht betteln gehen,“ sagte ich, „so lange ich ein Stück Brot mit Ihnen zu theilen habe. Aber freilich, Sie müssen auch arbeiten wollen als ein ehrlicher Mann. Von dem Allen morgen. Für heute Abend –“
Und ich gab ihm das wenige Geld, das ich bei mir hatte. Er wollte es anfangs nicht nehmen, that es dann aber doch. Ich nannte ihm meine Wohnung und schärfte ihm noch einmal ein, daß er mich morgen zu einer bestimmten Stunde aufsuchen solle. Wir waren die Letzten im Lokal gewesen; der brummige Wirth, der bereits alle Gasflammen gelöscht hatte, außer der, unter welcher wir gesessen, geleitete uns hinaus. Wir standen auf der dunkeln menschenleeren Gasse. Ich reichte Weißfisch die Hand; er wandte sich der Stadt zu; ich schlug den Weg nach meiner Wohnung ein, körperlich tief ermüdet, in dem aufgeregten Geist all die sonderbaren Ereignisse wälzend, die mir dieser Tag gebracht hatte, der erste, an welchem ich das stille arbeitsfrohe Heim, das ich mir gegründet, verlassen, um sofort von dem Strudel des Lebens erfaßt zu werden. Aber ich tröstete mich der Hoffnung, daß mich der Strudel nicht fortreißen, das Leben nicht mehr von mir haben solle, als ich ihm gewähren könne, ohne mich selbst preiszugeben. Und entwarf schon meinen Plan, wie ich mich zu dem Zweck zu verhalten habe, uneingedenk des mahnenden Dichterwortes:
„Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe,
Die der Mensch, der flüchtige Sohn der Stunde,