Ein Bauer als Dichter

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Autor: Dr. Rud. Hildebrand
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Titel: Ein Bauer als Dichter
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 234–236, 238
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Franz Michael Felder
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Ein Bauer als Dichter.


Durch die öffentlichen Blätter läuft seit dem Februar d. J. eine andeutende Nachricht von einem Bauer, der als Romandichter auftrete. Ein echter Bauer – als echter Dichter? unerhört! Aber die Sache ist richtig und so merkwürdig, daß sie durch das deutsche Weltblatt der deutschen Welt genauer mitgetheilt zu werden verdient. Der Unterzeichnete ist zufällig im Stande, genaue Auskunft zu geben, und freut sich es thun zu können, auf Wunsch des Herausgebers dieses Blattes, der damit meinem Wunsche entgegenkam. Mir ist, als müßte die deutsche Welt, die gerade jetzt, auch über die Meere hinweg, wohl so etwas wie das Gefühl Einer großen Familie gewinnt (oder gewinnen kann) – ein Gefühl, das keinem Volke länger abhanden gekommen war, als dem deutschen, und zu dem doch kein Volk mehr bestimmt scheint als das deutsche, falls es wahr ist, was man vom Gemüthe des Germanenstammes sagt – mir ist, als müßte die deutsche Welt daran Theil nehmen wie an einem nationalen Familienereigniß.

Die Nachricht kam von Leipzig, ich weiß nicht von wem, und von hier geht auch die Dichtung in Buchform aus, eben in diesen Tagen. Der Dichter aber, der Bauer wohnt weit von hier, fast in dem südwestlichsten Winkel des deutschen Bodens, der Linie nahe, wo die romanischen Laute und die romanische Art beginnen, in Vorarlberg. Und wirklich in einem Winkel wohnt er und ist geworden, was er ist, in einem der verstecktesten Alpenthäler, und zwar im hintersten Dorfe des Thales, in Schoppernau, bis wohin nicht einmal eine Fahrstraße führt; selbst dem 17. Jahrhundert wäre der Fahrweg nur ein schlechter Feldweg gewesen, den ich vor einigen Jahren da wanderte, als ich zufällig den Bauer-Dichter kennen lernen sollte. Er ist aus diesem Winkel eigentlich auch noch nicht herausgekommen, hat von der Welt außer seinen großartigen, aber engen Alpenthälern noch nichts gesehen als Bregenz und Lindau, von wo man über den blauen See hinausblickt in schwäbische, alemannische Land, wo im Hafen Dampfer einlaufen mit bairischer, würtembergischer, badischer, schweizerischer Flagge. Ja wie in aller Welt konnte in dieser Enge und Entlegenheit aus einem Bauer ein literarisch so weit durchgebildeter Mann werden?!

Er mag das nachher selbst erzählen, wie er mir’s in Kürze brieflich erzählt hat; es ist zugleich der denkbar glänzendste Beweis, welche – Wunder in unserer wunderbaren Zeit geschehen können durch die Druckpresse, den Buchhandel, die Eisenbahnen, welchen Samen sie säen können, wo der Boden dazu bereitet ist. Mich aber lasse der freundliche Leser zunächst von meiner erwähnten Wanderung etwas vorplaudern, die uns zu ihm führen wird.

Es war eine Erholungsreise, die mich im Juli 1863 dorthin führte. Mein Ziel war das Schoppernau nahe obere Allgäu, wo bei einer befreundeten Leipziger Familie, die sich dort eben eine Sommerfrische gegründet hatte, der eigentliche Aufenthalt sein sollte. Der Büchermensch aber wollte dabei doch auch ein Stückchen Alpenwelt mit eigenen Füßen schmecken und zwar ein möglichst leichtes; das mußte aber auch auf der Hinreise abgemacht werden, weil nachher das bevorstehende große Turnfest den Leipziger unerbittlich pünktlich zurückforderte, und so ließ mich der Zufall meinen Hinweg nicht durch die zwar anziehendern Tiroler Berge, sondern über den oberen Bodensee und durch den Bregenzer Wald legen, durch das Thal der Bregenzer Ach aufwärts, das auf der Karte zuletzt so hübsch gerade auf das äußere Walserthal im Allgäu stößt, durch das man dann nach Oberstorf niedersteigt; den großen Riegel der Allgäuer Alpenkette zwischen beiden sieht und spürt man ja auf dem Papier nicht so. Und wie der Zufall in freundlichster Gewogenheit mir den Plan machte, so schmückte er mir die Ausführung mit den angenehmsten Erlebnissen und Bekanntschaften, unterwegs vom Zaun gepflückt. So gleich von Lindau aus am schönsten Morgen den See entlang nach Bregenz (ein freundlichster Gruß nach Lindau auf diesem Wege mitgeschickt ist vielleicht verstattet vor Post und Verleger, und wenn der durchkommt, dann auch gleich einer nach Lingnau, Feldkirch, zwei nach St. Gallen).

Der erste Vorschmack von unsers Dichters Heimath kam mir in Schwarzach, durch einen Leitartikel der Feldkircher Zeitung, der das Glockenläuten bei Gewittern bekämpfte. Da war denn gleich zu empfinden, was geistig das Land bewegt, ein Kampf der neuen Zeit mit der alten, der mich im Gefühl um zwei oder mehr Jahrhunderte zurückversetzte. Ein mit Post anlangender Arzt aus dem Lande, der sich während dieser meiner Gedanken an mich anschloß, nahm, als er in mir den Norddeutschen merkte, so bald als möglich Gelegenheit zu der Erklärung, daß man sie, die Vorarlberger, und besonders die Bregenzerwälder, ja nicht mit den Tirolern verwechseln müsse. Man will eben von Tirol aus das Land geistig und geistlich umschaffen, tirolisch machen, was die maßgebenden Mächte dort unter Tirolisch verstehen – und die Natur wehrt sich tapfer dagegen, die Natur des Landes wie der Leute. Das Land neigt [235] mit seiner Gestaltung nach dem Rheinthal, dem Bodensee, der Schweiz hin und ist von Tirol durch hohe Pässe geschieden. Die Leute aber sind von ganz anderem Stamm, anderer Mundart, die Tiroler bairisch von Stammesart, die Vorarlberger alemannisch.

Doch zunächst zu meinem Arzte zurück. Wir reisten zusammen weiter, die Berge hinauf in’s Oberland; es wurden eine Reihe Grundfragen durchgesprochen in Ernst und Scherz, und aus Allem klang bei ihm eine wahre Sehnsucht nach dem geistigen Deutschland da draußen, eine jugendliche Begeisterung für das große Vaterland, das sie wie hinter einer hohen Mauer für sich liegen fühlen; „ein deutscher Bruder aus Sachsen“ stellte er mich mit ganz eigner Wärme in Alberschwende beim Abschied einem Bekannten vor.

Im ersten Nachtquartier der Wanderung, Bad Reute, saß ich Abends mit zwei Schweizern, die für morgen mit mir wandern wollten, beim Tirolerwein. Als Vierter saß bei uns der Wirth, der Arzt, selbst ein Landeskind, obwohl er mir mehr wie ein aus Norddeutschland draußen Eingewanderter vorkommen wollte (hielt er doch kurze preußische Zucht mit Zubetteschicken und Lichtauslöschen). Als er uns nach unserm Programme für morgen fragte und wir den Schrecken als Ziel nannten, machte er uns mit einer gewissen Wärme den Vorschlag, wenn wir in Schoppernau ein Viertelstündchen Zeit übrig hätten, im ersten Hause links am Wege vorzusprechen, da würden wir einen interessanten jungen Bauer finden, Namens Felder, von dem jetzt eine Dorfgeschichte gedruckt würde; ein in Wien drunten lebendes gelehrtes Landeskind nähme sich ihrer an, Dr. Jos. Bergmann, der sich die Correcturbogen zuschicken ließe. Der Arzt brachte das selber vor fast wie ein fröhliches Familienereigniß des Ländchens, und für uns war das ja ein Fund, der uns das Interesse an Land und Leuten ganz eigenthümlich vertiefte und für morgen eine hohe Freude in Aussicht stellte. Ein Bauer selbst, der aus dem Bauerleben Bilder schriebe! Das ist ja wohl noch nicht dagewesen. Der muß es ja am besten können!

Trotzdem wäre dieser Besuch morgen schwerlich zur Ausführung gekommen, da wir dann verspätet und erlebnißsatt an Schoppernau vorüber gingen; aber mein Reisefreund Zufall griff auch hier ein. Die angesammelte goldne Reisestimmung brach nämlich auf der letzten Station vorher beim Mittagsmahle zu ihrer Blüthe aus. Es war in Au, dem letzten größeren Dorfe des Thales. Wer konnte dafür, daß da die Wirthin im Rößle ein Mahl aufsetzte, wie man es hier nimmer vermuthen konnte, daß der goldige Gumpoldskirchner so trefflich dazu stimmte und die drei Geister und Gemüther tiefer aufschloß, als es daheim zu geschehen pflegt; dazu Citherspiel und Gesang aus Jungfrauenmund, die in Lust und Ernst wahrhaft ergreifend das tiefste Leben vollends in uns aufregten, das eben von der Wanderung so frisch und schön bereichert war – durchs Fenster blickte groß und ernst der Didamskopf herein ins ausgetäfelte Herrenstüble. Da war denn Naturgenuß und Culturgenuß im vollendetsten Gemisch; auch Culturhumor fehlte nicht, da z. B. der Wirth mich einmal fragte: das Leipzig läge wohl in Frankreich? Es war eben eine jener Stunden, wo sich eine „Stunde“ über drei, vier Stunden hinzieht – aber sie hätte uns ohne den guten Zufall um die Hauptsache gebracht. Als einer von uns an den Schoppernauer Dichter dachte und nach ihm fragte, da fand sich, daß er selbst schon da war, wie bestellt; es war zufällig Sonntag und er saß in der Bauernstube nebenan. Herein gebeten kam er denn, fast scheu beobachtend, mit seinem Bierglase an unsere schwelgerisch aussehende Tafel, eine schmächtige Gestalt, nicht in der echten Landestracht, ein junger Mann in der Mitte der Zwanzig, mit hoher Stirn und klar ernstem Gesichtsausdruck, die Spuren von schweren Geisteskämpfen, ja Leiden in den festen, hagern Zügen, durch die doch beim Sprechen ein eigner Humor spielte, wie auch aus der klaren, männlichen Stimme tiefer Ernst und selbstsicherer Humor zugleich herausklangen.

Was wir zusammen sprachen, was er sprach, ist mir freilich größtentheils entfallen über der Fülle von Erlebnissen, welche die Reise und das übrige Jahr brachten. Er machte gefragt Andeutungen über seine Dorfgeschichte, über seine Lectüre, wobei Gotthelf, Auerbach, Schiller genannt wurden. Auch die sociale und geistige Stellung des Bauernstandes wurde berührt. Aber der Zufall, der das so künstlich gefügt hatte, hätte wohl mit unserer Benutzung der Gelegenheit unzufrieden sein müssen; wir konnten freilich auch nicht ahnen, wer eigentlich vor uns saß in der schlichten Tracht und Haltung. Als ich dann aber von der Reise heim gekommen und das Buch erschienen war: Nümmamüllers und das Schwarzokaspale, ein Lebensbild aus dem Bregenzerwalde, von Franz Michael Felder. Lindau, Stettner 1863 – so wurde es alsbald gekauft, und als ich nach längerm Zaudern (der Titel zog mich nicht an) auch zum Lesen kam, ja da fand sich ganz etwas Anderes, als ich erwartet hatte. Nicht eine Art Nachbildung von Gotthelf’s Stil, wie mir vorschwebte, sondern etwas ganz Eigenes, Neues. Vor Allem hatte man den Eindruck, daß der Verfasser in naivster Weise schrieb (wie Schiller das Wort naiv braucht), gar nicht an Leser dachte, am wenigsten an norddeutsche oder Romanleser vom Fach, höchstens an seine Landsleute, für die beiläufige Winke darin stehen, wie sie besser leben könnten als bisher. Dabei machte das Erzählte den Eindruck der vollsten Wahrheit oder Wirklichkeit in einer Weise, daß mir immer wieder das Gefühl kam: das kann ja gar nicht erfunden sein! Das Schwarzokaspale muß der Dichter selber sein! Beschlich mich doch dabei der Gedanke, der Dichter könne eigentlich keine zweite Geschichte wieder so schreiben, weil er so wahrheitsvoll nur eine haben könne, seine eigene. Die Geschichte selbst ist von der höchsten Einfachheit, eigentliche Verwickelung fehlt gänzlich, die Erzählung geht gleichmäßig fort, fast wie ein Gebirgsbach über mäßiges Steingerölle dahin plätschert. Und doch war ich davon ganz eigenthümlich innerlich entzückt, und nicht nur ich, auch Freunde und Bekannte, bei denen ich eifrig für Lesen des hier wie sonst wenig beachteten Buches warb, allerdings doch nicht alle, es fanden’s auch welche gar zu einfach.

Da ich nun zufällig zugleich bei der Fortsetzung des Grimmschen Wörterbuchs betheiligt bin und das Buch von schönen Belegstellen zu lexicographischem Gebrauch voll war, so machte ich Auszüge für das deutsche Wörterbuch. Und als der Fall das erste Mal vorkam, daß ich Stellen brauchen konnte, zufällig gleich fünf auf einer Seite (Band 5, Spalte 490), so fügte es der Zufall weiter, daß Felder dabei dicht neben Schiller zu stehen kam. Das sollte der gute Bauer sehen! fiel mir ein, als ich das vor mir sah. Ja, laß es ihn doch sehen! antwortete es in mir. Und ich schickte ihm den Bogen unter Kreuzband, zweifelnd ob das Blatt sich wirklich dort hinter finden würde in den Thalwinkel. Es erfolgte auch lange nichts darauf, ich hatte es schon vergessen. Da auf einmal, im März vorigen Jahres, kam folgender Brief an mich, der auf einmal helles Licht brachte. Ich ändere außer einigen Weglassungen gar nichts daran, und damit das der Leser sicher fühle, auch nicht an der Orthographie; wegen der Fehler, die dadurch stehen bleiben (wenn es Setzer und Corrector übers Gewissen bringen ihre Pflicht einmal zu verletzen), kann ich wohl den Leser und Freund Feldern mit der Erklärung beruhigen, die ich als Philolog hiermit abgebe, ich möchte sagen auf Amtseid: daß diese Fehler geschichtlich genommen sämmtlich keine Fehler sind, sondern Reste älterer Schreibweisen, die in frühern Jahrhunderten einmal Mode und Regel waren, im 18., 16., ja im 14. (z. B. das k für ck).

„Verehrtester Herr H.! Schon oft gedachte das Bregenzerwälder Bäuerlein der schönen Stunde, in der es das Glück hatte Sie in Au anzutreffen. Doch würde es wol nie gewagt haben, sich brieflich an Sie zu wenden, hätte nicht Ihre gütige Zusendung vom Juli v. J. ihm Muth gemacht, ja es aufgefordert, Ihnen für diesen werthen Beweis Ihrer Theilnahme recht herzlich zu danken.

Ich arbeitete nun noch mit mehr Lust als vorher. Ich benützte jeden Augenblick, den mir die Feldarbeit frei ließ, für meine Lieblingsbeschäftigung. Ich wünschte mit meinem „Bregenzerwälder Lebens- und Charakterbild aus neuester Zeit“ recht bald fertig zu werden, um Ihnen dasselbe mit der Antwort zu übersenden.

Villeicht hab ich mich zu sehr angestrengt, habe dem von der Bauernarbeit ermüdeten Körper zu wenig Ruhe gegönnt. – Ich wurde krank und meine Feder blieb länger als ein Vierteljahr unberührt liegen.

Jetzt, während es draußen stürmt und tost, sucht sich jeder auf seine Weise die Zeit zu verkürzen. Jetzt kann ich zuweilen ganze Tage am Schreibtische sitzen, und da erwacht dann wieder der alte Wunsch, der Welt ein Wenig von meiner lieben Heimath zu erzählen.

[236] In der hiesigen Schule erhielt ich vor vierzehn Jahren erbärmlich Ohrfeigen, weil ich regelmäßig eine „Schoppernauer Schulzeitung“ schrieb, die dann zuweilen im halben Dorfe herumkam. Doch auch das hat mich nicht heilen können von meiner „wunderlichen Sucht“, jetzt, nachdem die Blätter für literarische Unterhaltung den Wunsch aussprachen, daß ich auf dem glücklich betrettenen Wege tüchtig vorwärts schreiten … möge, hab ich erst recht zu lernen, zu arbeiten und zu – leben angefangen …

Mit dem Schwarzokaspale hat dieses [das neue] Werk sehr wenig Aehnlichkeit, und doch könnte man es in gewissem Sinn eine Fortsetzung des Ersteren nennen: dort sehen wir einen armen Burschen emporkommen, hier haben wir einen Emporgekommenen, der nun Fortschritt und Freiheit predigt, einen s. g. Freimaurer, der „schlechte Grundsätze aus der bösen Welt hereinbrachte“ und sich nun bei den altgläubigen Aermeren sowohl als bei den besitzstolzen Reichern verfeindet macht.

Die Wege in unser abgeschlossenes Thal werden von Jahr zu Jahr besser; immer näher heran braust das Dampfroß und immer lauter klopft der Zeitgeist an. „Herein!“ rufen einige, „draußen bleiben!“ schreien viele. Der Geist scheint sich denn auf Augenblicke zu entfernen, der alte Friede aber kehrt nicht mehr zurük. Was einmal in der Luft ligt, findet seinen Weg auch über die Berge.

Die Hauptpersonen meiner Erzählung sind keine Dorfgeschichthelden, keine Tolpatsche … sondern es sind ganze Gemüthsmenschen oder kluge Köpfe die mit Gott und der Welt handeln und schachern. Und warum nicht? Der Pfarrer kennt seine Leute und richtet seinen Unterricht für sie zurecht, wobei es ihm denn freilich zuweilen passirt, daß er durch Belzebub den Teufel austreiben will.“

Folgt die ausgesprochene Besorgniß, dort zu Lande einen Verleger zu finden für das Werk, „welches unser Völklein nicht nur im Processionsschmuck, sondern auch in seiner Alltäglichkeit darstellt und errathen läßt, warum der so talentvolle Bregenzerwälder bei Weitem nicht das wird, wozu er das Zeug hätte. Ihre werthe Zusendung hat mir den Muth gegeben, mich vertrauensvoll an Sie zu wenden mit der Bitte: Wenn Sie glauben sollten, daß meine Arbeit es verdient, mir, dem Nahmen und Freundlosen zu rathen und zu helfen. Wohl kenne ich den Nahmen manches tüchtigen Verlegers, aber ich fürchte, daß z. B. Herr … in Leipzig u. A. die Arbeit des Bäuerleins ungeprüft zurükschiken würden. Ich lebe recht glücklich als Bauer, und nur das ärgert mich, daß wenigstens hier herum der Bauer gar keinen Theil haben soll an den Errungenschaften der Civilisation, daß er überall schon zum Voraus abgewiesen wird. Oft hat mich das so geärgert, daß ich selbst kaum begreife, warum die schrundenvolle arbeitsmüde Hand nicht schon längst Buch und Feder wegwarf. Doch das geht mir nicht so leicht als vielen meiner Landsleute! Wem sollte ich hier meine Gedanken mittheilen als meiner lieben Frau und dem Papir.

Welchen Werth mein neues Werk als Dichtung hat, können Andere besser beurtheilen, ich glaube es einen nicht ganz werthlosen Beitrag zur deutschen Völkerkunde nennen zu dürfen. … Eine Antwort von Ihnen würde mich sehr sehr glücklich machen. Auch dann, wenn Sie dem Bäuerlein zurufen sollten: Schuster bleib beim Leisten. Der von Glück und Freunden Umgebene ahnt nicht, wie gern unser Einer die Hand erfaßte, die sich ihm freundschaftlich entgegenstrekt; doch Sie werden meine Kühnheit entschuldigen und werden mir wenigstens rathen, wenn ich Ihre Hülfe nicht verdienen sollte.

Doch ich habe schon zu lange Ihre theure Zeit in Anspruch genommen! Mit den herzlichsten Grüßen an Sie – und – wage ich beizusetzen, an die vielen mir Theuren in Leipzig, die ich aus ihren Schriften kennen und schätzen lernte.

Hochachtungsvoll ergebenst               
Ihr um Antwort bittender          
Franz M. Felder
     in Schoppernau, Post Bezau, Vorarlberg.“

Ich denke, der Leser wird es nach allem Vorigen nicht unbegreiflich finden, wenn ich sage, daß mir der Brief ein Herzensfest war, wie nur einer eins erleben kann. Aber auch das war klar: dem Bäuerlein mußte Hülfe werden um jeden Preis. Alle meine Freunde und Bekannten, denen ich den Brief vorlas, bestätigten mich in meiner Empfindung, und auch die nächste Hülfe war rasch gefunden. Tags darauf konnte ich nach Schoppernau schreiben, daß der erste Verleger, zu dem ich begreiflicher Weise ging, Hr. Dr. S. Hirzel, zum Verlag sich von freien Stücken erbot, nur bewogen durch das Vorlesen des Briefes. So kommt es, daß Felders „Sonderlinge“, so heißt das neue Buch, von Leipzig aus in die deutsche Welt gehen, eine Erzählung eines unbekannten süddeutschen Bauers aus einem norddeutschen Verlag, der hauptsächlich nur der strengen Wissenschaft dient. Nur der Krieg hat den Druck um ein halbes Jahr verzögert.

Aber die Hauptfrage des Lesers ist noch übrig: wie konnte denn ein solcher Bauer in einem solchen Orte solche Bildung erwerben? Darauf giebt Felders zweiter Brief an mich einige Auskunft, den ich gleichfalls, doch mit größeren Lücken, dem Leser nicht vorenthalten darf; er zeigt den Dichter überraschend noch von einer ganz andern Seite. Er schrieb am 22. März 1866:

„Der 18. März, der Tag an dem ich Ihren so erfreulichen Brief erhielt, ist einer der schönsten meines ganzen Lebens! … Leichter jedenfalls wird mir nun Alles werden, nachdem Sie mir so freundschaftlich die Hand reichten. … Glauben Sie mir: Jubelnd reichen mit mir noch viele Vorarlberger Ihnen im Norden die Hand über alle Schlagbäume hinüber. Schon bevor das Banknotenunwesen unser Völklein, das mit dem „Ausland“ (Deutschland) lebhafter verkehrt als mit dem Kaiserstaat, arm und mißtrauisch machte, hieng der Bregenzerwälder mit Leib und Seele an Deutschland und es ist ihm fast unmöglich, gewisse Heldenthaten unserer Nachbarn der Tiroler, zu denen man uns so gerne zählt, zu begreifen.

Meine Freude über Ihren Brief haben die Meinen und einige Freunde, biedere herzgute Bregenzerwäldler Bauern und Handwerker, mit mir getheilt. Gelehrte und studirte Freunde hab ich nicht auser einem Bruder meiner Frau, einem Beamten den ich vor 5 Jahren kennen lernte. Sonst hat sich niemand um mich gekümmert als meine Gegner; niemand hat mich geleitet, nachdem ich einmal den Pfarrer auslachte, als der mich vor der Luft aus Norden warnte, „von der man so leicht den Schnupfen bekomme.“ Ich soll eben bei der Mistgabel bleiben, darüber sind unsere Studirten eins geworden. …

Ja das ist eben unser Elend, daß sie alle von Gottes und des apostolischen Stuhles Gnaden uns von einander reißen, und diese auf künstliche Weise großgezogene Selbstsucht … ists eben, was ich in den Sonderlingen darzustellen suche. Der Schauplatz meiner Darstellung ist ein ungemein enger, der Grundgedanke des Werkchens aber ein deutscher. …… Ein Einzelner kann dagegen nichts ausrichten [gegen die bevormundende Trennung von oben], vor allem muß im Bauer der Geist der Gemeinsamkeit, des deutschen Genossenschaftswesens gewekt werden. Ich darf sagen daß ich da für unser Ländchen schon manches gethan habe, was auch anerkannt wird und nicht ganz fruchtlos bleiben zu sollen scheint. Obwohl ich mich hauptsächlich mit der s. g. schönen Literatur beschäftige, so bin ich doch überzeugt, daß es in Vorarlberg wenige gibt, die die Schriften der Schulzeschen und Lassaleschen Richtung, die von Liebig, Carey so fleißig lesen als ich. Auch ist meine kleine Bibliothek von einigen hundert Bänden Gemeingut der ganzen Gegend …

Sie wünschen etwas von meinem Lebens und Bildungsgang zu erfahren. …

Das Glück und der Friede meiner ersten Lebensjahre wurde sogar dadurch nicht gestört, daß ein Artzt mich in betrunkenem Zustand um das eine Auge brachte. Da kam das Jahr 48. Ich war damals 9 Jahre alt und hörte das erste Mal von Mord und Krieg erzählen. Selbst mein Vater, ein ächter Bauer, las jetzt eine Zeitung und mir wurde bald der wöchentlich einmal kommende Bothe [der aus Bezau von der Post Briefe und Zeitungen holt] wichtiger als die Oebstlerin.[1] Der Lärm verging bald – aber ich und der Vater waren nicht mehr die Alten. Wir hatten nun erfahren, daß hinterm Berge auch Leute wären. Halbe Nächte lasen wir um die Wette. Unsere Hausbibliothek enthielt eine 300jährige Legende, Leben und Thaten Schinderhannes, Genofeva und alte Kalender, wir entlehnten daher Altes und Neues, was wir nur auftreiben konnten.

[238] Wehmuthsvoll gedenke ich dieser schönen Abende, in denen wir die alten Heldensagen aus Volksbüchern mitsammen lasen, bis die Mutter uns zu Bette schikte. Ach, sie waren bald vorüber; am 13 Februar 49 starb der Vater am Schlagfluß und wurde als Leiche heimgebracht. Nachher hab ich nie mehr mit Kindern gespielt. Ich blieb daheim, half der Mutter arbeiten, da unsere Mittel uns nicht erlaubten, einen Knecht anzustellen. Mein einziger Zeitvertreib war und blieb das Lesen. Ich habe nie eine andere Schule besucht, als die zu Schoppernau, wo der Lehrer damals jährlich 70 Gulden „Lohn“ erhielt und im Sommer als Maurer und Anstreicher im Schweise des Angesichts sein Brot verdiente.

Im Jahre 53 erhielt ich eine Nummer des Dorfbarbirs, um ein Stücklein Seife einzuwikeln. Ich las das Blatt, bestellte es und wurde dann auf die Gartenlaube verwiesen. Diese hat mir zuerst von unseren Dichtern und Denkern erzählt. Im Jahre 57 bekam ich Lust, die damahls bei Kotta erscheinenden deutschen Classiker zu bestellen. Das Geld dazu hab ich mir mit Holzziehen, Schindelnmachen und als Ziegenfellhändler verdient. Aber je mehr ich nun lernte, desto weniger paßte ich in die Welt, in der ich leben mußte. O, viel Kraft hab ich gebraucht zum Widerstand gegen die vom Pfarrer und Vorsteher wider mich gestimmte öffentliche Meinung. … Ich wurde verbittert; als ich im Jahre 58 zum erstenmal nach Lindau kam und nun wieder in die enge Heimath zurük sollte, blickte ich wehmütig über den Bodensee und suchte – mit allerlei Gedanken die Stelle, wo er am tiefsten sein mochte.

Die Liebe hat mich gerettet und mit meinem Schicksal versöhnt. Ich lernte in Au ein Mädchen kennen, das von seinem Bruder mancherlei gelernt hatte, und das wie wenige fähig war mich zu verstehen und Freude und Leid mit mir zu theilen. Das Haus dieses Mädchens, in dem noch sieben Geschwister lebten, war der Sammelplatz aller jungen Leute. Man schertzte und lachte, ich wurde ganz ein Anderer und lernte die wakern Wälder wieder schätzen und lieben. Ich fing an, unsere Sprüchwörter und Redensarten zu sammeln. Ich schrieb ein kleines Wörterbuch und staunte dabei selbst über den Reichthum unserer Mundart,[2] ich dichtete einige „Volkslieder“, die jetzt hie und da gesungen werden, und meine Heimath wurde mir immer lieber. Das Schwarzokaspale schrieb ich wie vieles andere nicht zum Zwek der Veröffentlichung, erst der Bruder meiner Frau hat mir Muth dazu gemacht.

Seitdem lese ich so viel mir Zeit und Geldmittel erlauben. Hier muß ich leider sogar die Zeitungen alle selbst anschaffen … Die Augsburger Allgemeine Zeitung halte ich mit einem Wirthe in Bezau, die Blätter für literarische Unterhaltung, Roman-Zeitung u. s. w. aber muß ich alein halten [dem ist seitdem abgeholfen]. … Jetzt beziehe ich die ausländischen Classiker (von Meyer) da ich sie leider nur in Uebersetzungen lesen kann. … Entschuldigen Sie den durch Sie so Glücklichen, daß er es schon wieder wagte u. s. w.“

Ich muß mit Gewalt abbrechen, so reizt es mich zu Mittheilungen aus seinen weiteren Briefen, die zunehmen an Gehalt und neuerdings auch an Heiterkeit. Aber es ist genug, um ungefähr sehen zu lassen, daß in dem Leben dieses Bauern ein modernstes – Heldenleben vorliegt, an dem sich staunend zu weiden das deutsche Volk ein Anrecht hat, die gelehrte Hälfte wie die nicht gelehrte. Sein ganzes Heldenthum ist freilich hier noch nicht zu übersehen, noch nicht mit welchen inneren und äußeren Kämpfen und Nöthen er sich herausarbeiten mußte aus einer Tiefe und aus Hindernissen, worin und worunter hundert Andere in gleicher Lage zu Grunde gegangen wären und gewiß Mancher schon zu Grunde gegangen ist, wie er dabei sich selbst umgeschaffen hat aus einem bloß Denkenden, Träumenden, der Welt Abgewandten in einen frischen Mann der kühnen und zähen That, der seinen ganzen reichen Geist nun einsetzt nicht für die eigene Ehre, sondern tiefbescheiden zum Besten Aller in den Aufgaben des Augenblicks und der nächsten Nähe, wie er, kaum fertig mit jenen ungeheueren Aufgaben (ein Achtundzwanzigjähriger und Einäugiger!), schon kühn und umsichtig daran geht, auch seine Landsleute heraus und herauf zu ziehen aus geistiger, sittlicher und socialer Noth, wie er dazu kämpft mit den entgegenstrebenden Gewalten über und mitten unter der Gemeinde, zu ihrer Fortbildung eine Lesebibliothek gründet gegen den Willen des Pfarrers, und sie selbst belehrt, zur Hebung ihrer Selbstständigkeit und des Ertrags ihrer Arbeit das neue Genossenschaftswesen praktisch einführt in die Erwerbszweige seines Ländchens, an einer Viehversicherungsgesellschaft arbeitet, Versammlungen abhält, Statuten verfaßt, und neben allem dem das Feld[3] und die Kühe selbst besorgt, und über allem dem als Dichter vorwärts strebt, so daß ihm jetzt schon die „Sonderlinge“ als in dem und jenem fremd geworden erscheinen. Und welcher kaum glaubliche Fortschritt erscheint dem Schwarzokaspale gegenüber in den Sonderlingen! jenes ist ein Idyll, diese ein rechtes Drama, mit entschiedenstem Hereinklingen des erhabensten Tragischen; jenes ist ein Lebensbild aus seinem Ländchen, in diesen wächst aus dem localen Charakterbilde ein deutsches Zeitbild heraus, in dem brennende geistige, sittliche, gesellschaftliche Zeitfragen mit echter Dichterhand behandelt und im tiefsten Sinne gelöst werden. Etwas heitere Lebensfülle vermißt der Leser vielleicht hie und da darin – kein Wunder nach dem furchtbar bittern Ernste, der diese Seele erzogen hat. Und doch, wie sie schon im Schwarzokaspale oft in reizender Weise anklingt, so schreibt er mir von einer tiefinneren Heiterkeit, die man dem neuen Werke, das er unter der Hand hat, schon im Entwurfe anmerken werde; von ernster, gediegener Lebensfülle aber strotzen auch die „Sonderlinge“, und echter Humor klingt auch da vielfach an.

Wie ich es dem Geschicke danke, daß es mich diesen Mann hat lassen kennen lernen, so muß es, denk ich mir, Tausende erfreuen, von ihm zu erfahren und künftig an ihn denken zu helfen. Unsere Vorfahren waren des Glaubens, aus ihrer Vorzeit her, daß schon dies Denken an einen ihm helfe und nütze; das liegt uns noch jetzt dunkel gefühlt im Hintergrunde, wenn wir beim Abschied zu einem Freunde sagen: „Denk an mich!“ Solches Denken an einen wird selten besser angewandt worden sein, als hier. Auch der Verleger der Gartenlaube hat schon an ihn gedacht und hat ihn, erwärmt von nur wenigem, das in Folge meines Redens von ihm durch Hörensagen an ihn kam, als Mitarbeiter für dies Blatt gewonnen, und Felder meldet mir darauf mit Freude – was? „Ich werde nun die meinen etwas schwachen Körper allzusehr anstrengenden sogenannten Würgerarbeiten, Holzziehen u. dergl., einen Tagwerker verrichten lassen, da solche hier für sieben Ngr. leicht zu bekommen sind. Ich selbst habe früher für diesen Lohn allerlei gethan, nur um die Classiker und die Gartenlaube zu verdienen.“ – Aber auch wenn er das lebensgefährliche Holz- und Heuziehen von den Bergen herunter über Abgründe hinweg, die nur durch Lawinen ausgefüllt sind, nicht mehr selbst besorgt - daß ein Mann, der Gestalten schaffen kann wie in den Sonderlingen Franz, der Senn, Barthle, Mariann, den Tag über mit Milch und Mist zu thun hat, das – ist nicht in der Ordnung, so gern er es auch macht. Ich kann mir keine Seele wieder denken, an die das Reale und das Ideale in so furchtbar schroffem Gegensatze herantreten, Vermittelung verlangend. Freilich hat er die Kraft zu dieser schwersten Aufgabe, die einem Menschen werden kann, das zeigt sein Thun und Dichten, – aber gewiß, die Zukunft wird ihm die Arbeit leichter machen, daß die edle Kraft freier werde für die höheren Aufgaben.

Leipzig, Ende März 1867.
Dr. Rud. Hildebrand.

  1. Es wächst gar kein Obst im Thale, auch gar kein Getreide, nur Heu und Holz; Aepfelbäume fand ich zwar in den Gärten beim Hause, aber auf Befragen ward mir die Antwort, man ziehe sie nur der Blüthe wegen.
  2. In einem andern Briefe äußert er: „Ich habe meine Freude an den Bildern, die bei unsern vielbedeutenden Witz- und Kraftworten vor mir entstehen und sich gleich zu regen und zu rühren anfangen.“
  3. Sie nennen es Feld, es ist aber nur Wiese und Wald gemeint.