Ein Urtheil Rudolph Gottschall’s über E. Marlitt
[460] Ein Urtheil Rudolph Gottschall’s über E. Marlitt finden wir in einem der letzten Hefte dieses Jahrgangs von „Unsere Zeit“. Wir können uns nicht versagen, dasselbe hier mitzutheilen, da es, aus einer so bedeutenden Feder stammend, den zahlreichen Marlitt-Verehrern gewiß interessant sein wird.
„E. Marlitt,“ sagt unser Literarhistoriker daselbst in der „Literarischen Revue“, „hat in letzter Zeit zwei neue Romane erscheinen lassen: ‚Das Haideprinzeßchen‘ (Leipzig 1874) und ‚Die zweite Frau‘ (Leipzig 1875). Das ,Haideprinzeßchen’ gehört in das Genre der Mignons und Fanchons; es ist wiederum ein kleines Aschenbrödel neben den Prinzessinnen und denen, die es werden wollen, und so wieder eine neue Variante auf ein von E. Marlitt oft behandeltes Thema. Bei dem Beginne des Romans scheint die Dichterin mit der Droste-Hülshoff, mit Petöfi oder auch mit E. von Dincklage wetteifern zu wollen in der poetischen Schilderung von Haidebildern, und in der That hat sie dafür auch die geeigneten Farben auf ihrer Palette. Ihr Stil ist durchaus nicht der Alltagsstil der Leihbibliothekenromane; es pulsirt in demselben eine dichterische Ader und er hat ein eigenartiges Gepräge. – –
Den Zauber, die Spannung weiß E. Marlitt wie wenige zu erregen und festzuhalten und nimmt in Bezug hierauf unter den Romanschriftstellerinnen der Gegenwart wohl den ersten Platz ein. Wenn indeß das ‚Haideprinzeßchen‘ etwas musivisch gearbeitet und aus einer zu bunten Mosaik glänzender Steinchen der Erfindung zusammengesetzt war, so ist ihr späterer Roman ‚Die zweite Frau‘ (Leipzig 1875) mehr aus Einem Gusse, von Haus aus zusammengeraffter und in Bezug auf die künstlerische Architektonik der Handlung vielleicht das beste Werk der Verfasserin. Schade, daß sie gegen den Schluß hin ein höchst überflüssiges Sensationsmotiv eingeschoben hat und die Heldin von dem sie bis zum Wahnsinne liebenden Geistlichen in den Teich stürzen läßt. Einmal bringt dies Motiv keine rechte Spannung hervor: denn daß der Roman nicht auf ein tragisches Ende angelegt ist, fühlt man ja aus der ganzen Entwickelung heraus. Dann aber hat die Handlung des Dompredigers nicht die geringsten Folgen; ein so empörender Mordversuch wird von der Criminaljustiz nicht weiter untersucht; der Geistliche verschwindet in irgend einem Kloster.
Von dieser einen gewaltsamen Wendung abgesehen, hat der Roman ein tadelloses Gefüge, eine glaubwürdige und spannende Entwickelung, und um die indische Kranke, diese im Abendlande verwelkende Lotosblume, schwebt ein echt poetischer Reiz. Die Charaktere sind scharf gezeichnet, oft bis zur Herbheit, wie der Hofmarschall, eine bis zur Widrigkeit abstoßende Figur, in der auch nicht der geringste menschlich fesselnde Zug ist; im Servilismus und in aristokratischen Schrullen verkommen, unedel in seinem ganzen Denken und Empfinden, macht er den Eindruck einer durch den Roman kriechenden Kreuzspinne, während der Schwarze als Testamentsfälscher, der außerdem aus Ehebruch und Mord ausgeht, doch etwas zu sehr in der Beleuchtung des neuen Culturkampfes steht und an das mit allen Schäden behaftete Musterbild der Thierheilkunde erinnert. Ganz vortrefflich dagegen ist der Charakter der Heldin und derjenige Mainau’s gezeichnet, und wie dieser zuletzt die Frau, die er nur geheirathet hat, um sich an der Herzogin zu rächen und um für sein Haus während seiner Abwesenheit eine wichtige Verwalterin zu haben, zu achten und zu lieben beginnt, bis er in voller Leidenschaft für sie erglüht: das ist mit feiner Psychologie, die nie um beweiskräftige Züge verlegen ist, und in lebendigen Schilderungen dargestellt. Das Schema des Aschenbrödelmärchens liegt freilich wieder zu Grunde. Diese neue Goldelse, diese rothhaarige Liane wird ja nur zu Aschenbrödeldiensten am häuslichen Herde geheirathet; wie ganz anders am strahlenden Schlusse!“