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Ein Wanderlager vor Weihnachten

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Textdaten
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Titel: Ein Wanderlager vor Weihnachten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 845, 855
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[845]

Ein Wanderlager vor Weihnachten.
Nach dem Oelgemälde von L. Bokelmann.

[855] Ein Wanderlager vor Weihnachten. (Mit Abbildung S. 845.) St. Jürgen in Hannover ist ein merkwürdiges Stück Landes, welches, dicht an der Weser gelegen, durch die regelmäßigen Herbstüberschwemmungen allwinterlich in eine Insel verwandelt wird. Hier wurde der nunmehr rühmlich bekannte Maler Ludwig Bokelmann, von dessen künstlerischen Erzeugnissen wir heute unseren Lesern eines vorführen (vergl. S. 845!), am 4. Februar 1844 geboren, und in dieser Einsamkeit, welche von dem Menschenverkehr nur selten berührt wird, wuchs er heran, indem er trotz strenger Verwarnung seines Vaters, des Hauptlehrers in dem genannten Orte, sich die Zeit mit Zeichnen und Schnitzereien vertrieb. Als fünfzehnjähriger Knabe wurde er, da er für die Wissenschaft nicht begabt genug erschien, zu einem Lüneburg’schen Kaufmann in die Lehre gegeben und ging nach absolvirter fünfjähriger Lehrzeit als Commis nach Harburg. Ein glücklicher Zufall führte hier Bokelmann mit dem Zeichenlehrer Früauff aus Hamburg zusammen, der bald die hohe künstlerische Begabung des jungen Mannes erkannte und ihn zum Eintritte in die Düsseldorfer Kunstakademie veranlaßte. In wenigen Jahren brach sich das lang unterdrückte künstlerische Genie Bokelmann’s Bahn, und nachdem er für sein erstes größeres Gemälde „Im Trauerhause“ in Wien die Medaille für Kunst erhalten hatte, war sein Ruf begründet. Von jener Zeit an schuf L. Bokelmann eine Reihe größerer Gemälde, welche seinen Ruhm weit über die Grenzen Deutschlands trugen und von denen wir das lebenswahre Bild „Im Leihhause“ erst vor Kurzem (Nr. 46) in Holzschnittreproduction unseren Lesern vorgeführt haben.

Das heutige Bokelmann’sche Bild ist gleichfalls aus dem menschlichen Leben heraus gegriffen und ragt durch die höchst charakteristische Gruppirung einzelner Personen besonders hervor. Es schildert uns, wie uns der Maler selbst mittheilt, das heute leider nur allzu sehr in Schwung gerathene Gebahren der Rammsch- und Schleuderverkäufe, bei welchen gute Waaren, die meistens aus Concursmassen stammen, neben schlechtem, beschädigtem Zeuge zu Spottpreisen losgeschlagen werden. In dem Zwielichte der Gaslampen und der Abenddämmerung blüht dieses Geschäft am besten, weil dann die Täuschung am leichtesten erzielt werden kann. Auf unserem Bilde hat in den weiten Hallen eines ehrwürdigen, nunmehr zu allen möglichen Zwecken vermieteten Patricierhauses eine derartige Handlung ihre Ladentische aufgeschlagen, und einer dieser Geschäftsleute bietet nun ein fragliches Gewebe für „echtes Bielefelder“ aus. In dem Fenster links steht eine Bauersfrau gar betroffen da; denn die kundigere Städterin erklärt ihr nach einem kurzen prüfenden Blicke, daß das, was sie soeben als Leinen gekauft hat, nur grobes Baumwollengewebe ist. In dem Fenster rechts bemerken wir dagegen einige Leute, die den „Rummel kennen“ und sich über die „Geprellten“ amüsiren oder eine günstige Gelegenheit abwarten, um ein Geschäftchen zu machen.

Vor dem Hause geht es gleichfalls lebhaft her. Zwei junge Damen überlegen sich, ob sie dort hineingehen sollen; denn sie trauen dem Frieden nicht recht, während eine andere Frau der Verlockung nicht widerstehen kann und schnell eine kleine Anleihe bei ihrer Bekannten contrahirt. Ein allgemeines Staunen und Anstehen unter den Weibern hat aber eine junge Frau erregt, die soeben für einen Spottpreis sehr hübsche Puppen gekauft hat. Das kleine Mädchen in der Mitte schaute sehnsüchtig nach diesen lieben Puppen hinüber, und ihre bittenden Blicke scheint der Weihnachtsengel rasch zu erfüllen; denn die alte Dame im Vordergrunde fragt das Kind, ob es eine solche Puppe haben möchte, und da die Antwort bejahend ausfällt, so wird die Dame – wir wollen es hoffen – dem Kinde sofort bescheren. Ihr werden bald in dichter Schaar die andern Weiber folgen, um den kleinen Mädchen daheim auch so eine schöne Puppe für den Weihnachtstisch zu besorgen, und der Ruf der billigen Puppen wird bald dem Geschäfte in dem alten Patricierhause neue Kunden aus der Stadt zuführen. Die „Rammschverkäufer“ reiben sich alsdann vergnügt die Hände; denn die aus einer Concursmasse kommenden und für einen Spottpreis verkauften Puppen bildeten ja unter Anderem den Köder, um das Publicum heranzulocken und es gelegentlich mit schlechter Waare zu bedienen.

Heute, kurz vor Weihnachten, kommt das fesselnde Bild nebst diesen wenigen Worten zu recht gelegener Zeit für unsere Leserinnen. Mögen sich unsere schönen Freundinnen dadurch zur Vorsicht bei den Weihnachtseinkäufen in derartigen billigen Rammschgeschäften mahnen lassen!