Ein ekliges Tier
[76] Ein ekliges Tier.
Es ist doch etwas herrliches um einen weichen, warmen Regen, vorzüglich, wenn er bald aufhört.
Man atmet hinterher ordentlich mit Genuß und nicht lediglich aus Gewohnheit, und die Natur im allgemeinen und im besonderen kommt einem vor, wie die vermehrte und verbesserte Auflage eines lieben Buches.
Dieser rein gewaschene Rasen, und diese neu gefirnißten Blätter, und diese frisch aufgebügelten Blumen, das alles lohnt sich schon, es noch einmal durchzustudieren, auch scheint es so, als ob Amsel, Drossel, Fink und Star inzwischen ihre Kehlen sehr sorgfältig geschmiert haben, wie denn alles rund umher noch einmal so schön ist.
Sogar die lange, dicke, schwarze hauslose Schnecke hier vor meiner linken Schuhspitze sieht aus, als hätte sie sich soeben frisch überwichsen lassen. Vorhin kroch sie matt und müde dahin, sah aus wie ein alter, staubiger Schmierstiefel und schleppte an ihrer Hinterleibspitze einen ganzen Klumpen trockener Erde mit sich herum; jetzt aber ist sie blank und sauber und so vergnügt, wie es eine Schnecke nur sein kann.
„Ii, diese ekligen Tiere!“ ruft entrüstet ein blondgezöpfter Backfisch, der dicht bei mir vorüberradelt, einem braungezöpften zu. In ihrer Weise hat die Kleine schon recht, denn angenehm ist es nicht, knallt es alle Augenblicke unter den Vorderreifen zum Zeichen, daß wieder einmal eine Schnecke nicht darauf geachtet hat, daß dieser Weg nur für Radfahrer da ist, und daß er Fußgängern bei zwei Talern Strafe, im [77] Unvermögensfalle einem Tage Haft, verboten ist, wie deutlich auf den Warnungstafeln zu lesen ist.
In dieser Beziehung sind die Nacktschnecken gräßliche Tiere; sonst aber sind sie reizend, wenigstens in meinen schönen blauen Augen. Sie haben mir zwei Jahre schweren Kummers erspart, zwei verregnete Sommer, in denen es wenig Käfer und gar keine Schmetterlinge gab, und da ich nicht Skat spiele, wäre ich übel daran gewesen, hätte es keine Nacktschnecken gegeben, denn in Ermangelung von etwas Besserem warf ich mich sozusagen auf sie, wurde ein bedeutender Malakozoologe, machte mehrere hübsche Entdeckungen und bin diesen guten Tieren deshalb auf Lebenszeit sehr verpflichtet.
Freilich, diese Art hier, die jetzt schon bei meinem linken Absatze angelangt ist und sich entrüstet und mit eingezogenen Riechern abwendet, weil ihr der Geruch des braunen Schuhcremes unangenehm ist, hat mich eine Zeit lang schwer geärgert, und mir, wenn auch nicht durch ihre eigene Schuld, einmal tiefen Kummer bereitet. Dieses handlange, hausknechtsdaumendicke, schwarze, plumpe Tier ist nämlich die gemeine Wegschnecke, gemein insofern, als sie überall zu finden ist, obschon ihr Charakter auch nicht der Tücke entbehrt. Sie heißt mit dem wissenschaftlichen Namen Arion empiricorum. Warum, das weiß nur der gute André Etienne Juste Pascal Joseph Francois d’Audebard Baron de Ferussac, der 1836 in das Land gegangen ist, wo es wahrscheinlich keine Nacktschnecken gibt. Ob er das Tierchen nun wegen seiner Kleinbahngeschwindigkeit aus Ulk nach dem mythischen Rosse Areion so nannte, auf dem sich Adrastos von Theben rettete, oder ob er es, weil es grundsätzlich nicht singt, nach dem großen Lesbier so taufte, das weiß nur er allein, desgleichen, weshalb er es mit der nüchternen Lehre der Empiriker in Verbindung brachte.
[78] Besser wäre es gewesen, er hätte das Tier politicus benamset, denn es besitzt eine ungemeine Anpassungsfähigkeit. Hier, wo wir Sandboden haben, ist es schwarz; dort weiterhin im Lehmlande wird es immer brauner, und dahinten endlich in den Bergen auf dem strengen Kalke prangt es im allerlinkesten Feuerrot. Noch bunter benimmt es sich in der Jugend; da gibt es einfarbige, gestreifte, halbgestreifte, rote, gelbe, braune, grünliche, aschgraue, eselsgraue, und so weiter und so weiter und so weiter. Drei Jahre habe ich dieses unzuverlässige Gesindel gezüchtet, unter roten, blauen, gelben, grünen, weißen und schwarzen Glasscheiben, es mit reiner Pflanzen-, Tier-, Pilz- und gemischter Kost gefüttert, es kalt und warm und heiß gehalten, es überernährt und hungern lassen, und nicht herausbekommen, warum die Jungen bald so, bald so gefärbt sind, und wenn nicht unsere neue Magd in ihrer kindlichen Einfalt eines Tages alle Zuchtkästen ein wenig geöffnet hätte, „damit die Tiere Luft kriegen“, wie sie sagte, so züchtete ich wahrscheinlich heute noch Wegeschnecken, ohne dem Gesetze der Farbengesetzlosigkeit der Jugendform dieses Schneckenchamäleons wahrscheinlich auch nur um einen Schritt näher gekommen zu sein, als an jenem Tage des Grauens, da nicht nur meine Zuchtkammer, nicht nur mein Arbeitszimmer, nicht nur meine ganze elterliche Wohnung, sondern überhaupt das gesamte Haus von jungen Arions wimmelte und ich allen Menschen alles andere eher, als ein Wohlgefallen war.
Schließlich überwand ich meinen Kummer und gab es auf, hinter die Geheimnisse der Farbenlehre der großen Wegschnecke zu kommen, bot mir dieses Geschöpf doch so noch Rätsel über Rätsel. Ich war nämlich als Studio im Nebenamte unbesoldeter Wärter im Zoologischen Garten zu Münster und widmete mich besonders den Tieren, die nach meiner Meinung nicht rationell genug gefüttert wurden, versorgte die Meerkatzen mit Spatzen, damit sie sich nicht die eigenen Schwänze [79] abknabberten, und machte mich sonst noch beliebt und angenehm. Als ich nun eines Tages dabei ging, allerlei Tiere mit Wegeschnecken zu füttern, stieß ich allseitig auf ablehnende Haltung. Sowohl der Bussard, wie die Krähe, der Storch wie der Marabu, ja sogar das Wildschwein lehnten die Wegeschnecken und zwar die schwarzen nicht minder wie die braunen und sogar die roten höflich aber bestimmt ab, und als der Strauß happig, wie er nun einmal ist, eine überschluckte, flog sie sofort im hohen Bogen wieder aus ihm heraus und der biedere Vogel benahm sich höchst entrüstet und traute mir seitdem nicht mehr über den Weg.
„Merkwürdig!“ dachte ich, und als Jünger der strengen Wissenschaft nicht gesonnen, mich durch Vorurteile abschrecken zu lassen, strich ich mit dem Zeigefinger über eine Schnecke und kostete ein wenig von dem Schleime. Der Erfolg war glänzend; erstens gebärdete ich mich ungefähr so, wie der Strauß, zweitens mußte ich einen Kognak trinken, und als auch das nichts half, einen Bitteren und dann noch einen, drittens verlor ich für drei Tage den Appetit, und viertens die Zuneigung eines sehr hübschen Mädchens, der ich in meiner unglaublichen Torheit von meinem Versuche Mitteilung machte, was zur Folge hatte, daß ich drei Wochen schwer an Dichteritis erkrankte und eine ganze Kommodenschieblade voller Lyrik Lenauscher Art anfertigte, die zum Glück der Nachwelt nicht erhalten blieb, weil besagtes Mädchen nicht das hübscheste in der Gegend war, aber das einzige, das um meine Schneckenleckerei wußte. Auch schien mir bei ruhiger Überlegung der Verlust der Zuneigung jener Jungfrau durch die Feststellung des Ekelgeruches und Übelgeschmackes vollkommen aufgewogen zu sein, und nicht minder die daraus abgeleitete Folgerung, von der ungemeinen Häufigkeit dieses schlüpfrigen Geschöpfes. Immerhin ließ ich es bei dem einen Versuche von Schneckenleckerei bewenden und als ich später las, daß im dreißigjährigen Kriege halbverhungerte Bauern diese Schnecken gegessen [80] hätten, da erst ging mir die Schauderhaftigkeit jener Zeit in ihrem vollen Umfange auf. Übrigens macht man aus diesen Tieren in manchen Gegenden ein ausgezeichnetes Hustenmittel, indem man sie mit Zucker bestreut und den auf diese einfache Art gewonnenen Syrup Kranken einflößt, worauf diese aus Angst, noch mehr davon ausstehen zu müssen, sich sofort das Husten verkneifen. Dieselbe Bewandtnis wird es auch haben, wenn Frachtkutscher, die schlecht geschmiert haben, diese Schnecken statt der Wagenschmiere gebrauchen; denn ich kann mir denken, daß selbst eine Radachse aus Angst vor einer zweiten Auflage sich fürder lautlos benimmt.
„Wozu sind nun aber diese Tiere eigentlich da?“ höre ich Sie fragen. Ja, das ist schwer zu sagen, wie bei den meisten Tieren, denn die Natur ist in dieser Beziehung sehr zurückhaltend und verweigert meist jede Auskunft. Jedenfalls, das steht fest, sind sie nicht dazu da, daß sich der Gärtner oder der Bauer über sie elend ärgert, wie über die kleine graue Ackerschnecke, die in Garten und Feld übel haust. Die große Wegeschnecke frißt nämlich, wie der brave Regenwurm, grundsätzlich keine jungen und gesunden Blätter, sondern genießt nur absterbende und faule Pflanzenteile, was doch entschieden ein netter Zug von ihr ist, wenn auch wohl ihr einziger. Der schönste Salat und der üppigste Kohl läßt sie kalt; sobald ein Blatt welk und ein Stengel faul ist, sofort ist sie da und veranlaßt das Erforderliche, damit diese unnützen Gegenstände wieder dem Kreislaufe aller Dinge zugeführt werden. Sie ist also eine Art von botanischem Aasgeier und mithin ein ganz wichtiges Tier, zumal sie es nicht so genau nimmt und auch mit zertretenen Regenwürmern und toten Mäusen und was es sonst noch an unliebsamen Gegenständen auf Wegen und Stegen gibt, gründlich aufräumt.
Sie gehört also zu dem großen Heer der Gesundheitspolizisten der Natur, und wenn sie auch nicht Anspruch auf unsere Zuneigung machen kann, unsere Achtung dürfen wir [81] ihr ebensowenig versagen, wie dem Latrinenreiniger und dem Straßenfeger, zwei ebenso wichtige, wie wenig geachtete Berufsarten.
Außerdem gewinnt sie bei nähern Betrachtung sehr. Sie hat zwar sehr langgestielte, aber um so treuer blickende Augen, und wer ihr zusieht, wenn sie an einem Stengel emporkriecht, auch wenn der Stengel schon längst zu Ende ist, der wird ihr, wenn er dabei auch lächelt, den festen Willen nicht absprechen.
Und schließlich ist die Wegeschnecke ein guter Wetterverkünder; denn wenn der Himmel auch noch so heiter ist und schon morgens kommen aus allen Erdlöchern die Schnecken angekrochen, dann kann man getrost darauf rechnen, daß es bald regnen wird, und das ist manchmal viel wert.
Also hat es auch in dieser Hinsicht seinen Zweck, das eklige Tier.