Ein weiblicher Werther
[219] Ein weiblicher Werther. Es ist bekannt, welchen seltenen Erfolg Goethes „Werther“ nicht nur in Deutschland, sondern auch bei allen europäischen Nationen hatte. Ueber Goethes „Werther“ in Frankreich berichtet Ferdinand Groß in einer interessanten Studie. Das Gespräch Napoleons und Goethes über Werther ist bekannt; weniger bekannt sind die verschiedenen Nachbildungen, welche Werther in der französischen Literatur und zwar bis in die neueste Zeit erfahren hat; darunter ist am interessantesten die „Werthérie“ von Pierre Perrin, welche in Paris im Jahre 1791 erschien, eine Verweiblichung und zugleich eine Verspottung des „Werther“, in welcher an allen Aeußerlichkeiten der goetheschen Dichtung festgehalten wird: die Heldin Augustine beginnt ihre brieflichen Bekenntnisse mit dem Zugeständniß, daß sie an der Welt, in der man sich amüsirt, Gefallen finde; sie betont die Leidenschaftlichkeit ihres Wesens und bezeichnet es als ihr Unglück, daß sie nichts schwächlich empfinden könne. In einer der künstlichen Grotten, die im Geschmack des vorigen Jahrhunderts gehalten sind, trifft sie mit ihrer Mutter ein Männerquartett; darunter ist Hertzberg, die männliche Lotte. Er ist ebenso geistreich wie gefühlvoll, und wenn Hertzberg dem Mädchen zum Abschied die Hand drückt, fühlt sich Werthérie elektrisirt. Hertzberg wohnt in Basel, doch er besucht sie in Zürich, ihre Schwärmerei ist im Zunehmen. „Er liest ihr einmal eines jener zärtlichen Bücher vor, die zur Zeit in Mode waren, er benetzt eine besonders rührende Stelle mit seinen Thränen und Küssen – sie drückt später diese Stelle tausend und tausende Male an ihre Lippen. Er betrachtet im Garten eine Rose, Werthérie findet nachts nicht eher Ruhe, als bis sie sich vom Lager erhoben und diese Rose gepflückt hat, um sie zeitlebens wie ein Heiligthum zu bewahren.“
Da kommt die Stunde einer schrecklichen Entdeckung. Werthérie erfährt, daß Hertzberg verheirathet ist; mit Frau Hertzberg ist der weibliche Albert auf den Plan getreten. Werthérie macht sich die bittersten Vorwürfe, sie sieht keinen andern Ausgang, als freiwillig aus dem Leben zu gehen: sie nimmt Opium und stirbt daran. Ihre Kammerfrau läßt ihr einen Grabstein setzen mit der Inschrift – „Werthérie – schön, tugendreich und zu gefühlvoll – ist, siebzehn Jahre alt, gestorben. Die Liebe hat sie getödtet. Wanderer, lies, weine und zittre!“
Wie das Schlußwort dieser Grabschrift und manche andere Stellen des Werkes beweisen, ist es zum Theil eine Parodie, im Ganzen eine Mischung von Ernst und Scherz. Jedenfalls zeigt diese Erzählung aber, wie volksthümlich Goethes „Werther“ damals in Frankreich war, denn auch Parodien sind nur dort möglich, wo das Publikum mit dem Original vollständig vertraut ist.