Ein wunderlicher Heiliger

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Autor: Hans Hopfen
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Titel: Ein wunderlicher Heiliger
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44–52, S. 728-731, 743-748, 762-768, 782-786, 799-803, 815-819, 833-838, 856-862, 874-879
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.

Ich staunte nicht wenig, als der lachende Mann die schwarze Halbmaske vom Gesicht nahm und mit seiner unverstellten Stimme mir zurief: „Ja, ja, Herr Doktor, ich bin es wirklich! … Grüß Gott! und wie unterhalten Sie sich in diesem Getriebe?“

Mir blieb bei dieser Erkennungsscene nun zwar nicht der Verstand stehen, aber mir blieb doch das Wort in der Kehle stecken. Und das ist begreiflich genug.

„Wie kommen denn Euere Hochwü –“

Nein, das ging doch nicht. Ich konnt’ ihn hier, von Dominos aller Farben und Klassen, von Bajazzos und Karikaturen umschwärmt, doch unmöglich als hochwürdigen Herrn anreden!

Nicht, daß ich ihm den Ausflug in die volle Weltlichkeit verargt hätte. Bewahre! Aber es wäre doch gegen alle Maskenfreiheit gegangen. Brauchten die verlarvten Maulaffen da rund herum, die uns mit Ohren und Ellenbogen nahe genug kamen, zu wissen, daß dies lachende Haupt einem regulirten Chorherrn, dem leibhaftigen, längst mit allen sieben heiligen Weihen und anderen Würden ausgerüsteten Pater Bibliothekar des Stiftes …

Nun ja, den Namen werd ich Euch nennen! Sollte mir einfallen! …

Also irgend eines hochangesehenen altberühmten Stiftes im Erzherzogthum Oesterreich ob oder unter der Enns angehörte. Das brauchte Niemand zu wissen, außer uns alten Freunden, die wir hier eben selbfünft oder -sechst bei einander standen und uns herzlich begrüßend die Hände schüttelten.

Von uns fiel es keinem ein, eine Bemerkung über das Hiersein des Paters zu machen. Und beim ersten Wort, das sich doch etwa wie Verwunderung deuten ließ, brach er in sein herzhaftes, in sein entwaffnendes Lachen aus, das mit einem heftigen: Nil humanum a me alienum puto so viel sagen wollte als: ich thue was mich freut, meine Heiligkeit ficht das nicht an, und ich bin es gewöhnt dem Teufel auf den Buckel zu springen, wenn ich ihm zwischen die Hörner spucken will.

Wir nahmen den kostbaren Mann in unsere Mitte, und ich bot ihm meinen Arm. So ruderten wir gemeinsam, langsam durchs lustige Gedränge, nicht ohne daß ich ihn ermahnt hätte, doch wieder die Larve vors Gesicht zu nehmen; denn er pflegte in wissenschaftlichen und wirthschaftlichen Angelegenheiten seines Klosters des Oefteren nach Wien zu kommen, und es mochte doch dieser oder jene sein Gesicht kennen und daran ein Aergerniß nehmen oder geben. Die Welt ist ja so dumm.

Er aber lachte nur wieder, ließ sein Angesicht leuchten vor dem Schwarme der Sünder, und wir gewöhntens in der nächsten Minute. Was gings auch uns weiter an! Es war ja sein Gesicht und nicht das unsere, das er zu Markte trug. Und überdies wurden die Gedanken hier bald genug abgezogen.

Da stoben ein Paar Bekannte heran mit wichtigen Mienen, als gält’ es den Staat und die Gesellschaft zu retten.

„Haben Sie die Wolter gesprochen? Sie soll da sein! Und die Baudius auch!“

„Nein, aber die Geistinger.“

„Ja, dort! Und da die Gallmeyer! Sehen Sie?“

„Fesche Pepi, grüß Dich Gott tausendmal!“

„Ach, geh weiter, ich bins ja gar nicht!“ …

„Sehen Sie doch dort den Riesendomino, schwarz mit gelb verbrämt! Waschechte Loyalitätsfarben bis in die Mummerei! Wie wird Ihnen?“

„Um Gottes willen! Das ist doch nicht die Baronin Y.?“

„Sie selber mit ihrem Leibhusaren, der bissigen Frau X., an der einen und dem Marineminister an der andern Seite. Rette sich wer kann!“

Wir stoben in wilder Flucht nach der entgegengesezten Seite. Die Menschenwoge schloß sich hinter uns. Wir neckten und wurden geneckt, erkannten jene Maske auf den ersten Blick und zerbrachen uns umsonst den Kopf, welcher allwissende Kobold etwa hinter dieser versteckt sein mochte.

Da versperrte der hübsche Baron Sperber den Weg, der nicht ohne Aerger und Ungeduld an einen schlanken Domino, welchen er Philomen nannte, wiederholte Aufforderung ergehen ließ, sich anständig zu betragen, er werde sonst andere Saiten aufziehen.

Dort schob mit fechtenden Armen der junge Hofrath Ixzet durchs Gedränge, um jeden Preis eine tiefverhüllte Frauengestalt verfolgend, die so auffällig und energisch vor ihm floh, daß er nicht umhin konnte, in ihr seine höchsteigene Gattin zu vermuthen.

Und wir lachten über den einen und lachten über den andern.

Ach, es war eine lustige Zeit! Ich möchte mich nicht als Lobredner der Vergangenheit aufspielen. Man kommt sich gar so alt dabei vor. Aber Gott verzeih mirs, es will mir wirklich scheinen, als unterhielten sich die jungen Leute von heutzutage nicht mehr so wie wir damals.

Das mag Sinnestäuschung sein. Es liegt wohl an einem selber. Aber Eins ist gewiß: Maskenbälle, wie wir sie damals im Theater an der Wien erlebten, die giebt es nicht wieder. Ich habe nirgend anderswo ihres Gleichen oder auch nur annähernd Aehnliches gefunden.

Von allem norddeutschen Mummenschanz gleich von vorn herein zu geschweigen, selbst die berühmten Pariser Opernbälle hab’ ich langweilig und gemein gefunden gegen jene heiteren Feste. Und was ich sonst in großer Herren Ländern Vergleichbares sah, durfte sich mit jenen Maskenbällen im klassischen Theater an der Wien erst recht nicht messen.

Da sah man im Schwarm, was gut und theuer war und was im Dienste der neun Musen sich berühmt gemacht hatte, da sah man auch alte und junge Staatsmänner, Börsengrößen und andere Narren, Frauen aus bevorzugten Ständen und Künstlerinnen, bei deren Namensnennung schon jedem Wiener das Herz höher schlug, und dazwischen Philomena und ihres Gleichen und schöne Frauen, die ihre eigenen Männer wider deren Willen beobachteten oder aber ihnen durchgingen, Reich und Arm, Hoch und Gering, Minister und Ballettänzer und selbst einen leibhaftigen regulirten Chorherrn, wie Figura dicht an meiner Linken zeigte.

Wir waren alte Bekannte, Pater Otto und ich – oder hieß er Pater Odilo? Ich weiß es heute nicht mehr recht; denn wir nannten ihn nicht anders als Pater Odysseus oder auch Pater Fuchs, weil er gar so schlau, durchtrieben und listig war und doch immer ein unbesorgtes, in Gott vergnügtes Wesen zur Schau trug.

Wir Beide hatten uns schon vor Jahren im lieben München, in Sybel’s historischem Seminar getroffen, woselbst der junge Kleriker auf einer Studienreise für längere Zeit einsprach. Zu unserem Befremden, denn Meister Sybel stand nicht eben in gutem Geruch bei der katholischen Klerisei. Aber dem Pater Odysseus war schon damals nichts Menschliches fremd, er nahm es mit der Wissenschaft ernst, war dabei in seinem Glauben und seinen Ueberzeugungen so sicher, daß er in einer ketzerischen, kleindeutschen Gelehrtenstube so wenig für sein Seelenheil zu fürchten brauchte, wie auf einem Maskenball im Theater an der Wien, und zudem mußten ihm schon damaliger Zeit seine Oberen mehr Freiheit und Zutrauen als Anderen gewähren, denen selten oder nie ein kurzer Sprung über die Klausur gestattet werden kann.

Pater Odysseus machte damals ganz unverfroren die historischen Uebungen und anderen gelehrten Zeitvertreib mit, war von dem Meister und den Kommilitonen gern gesehen, kein Kopfhänger und kein Spielverderber, dabei in allen Principienfragen unverhohlen ein starrer unangreifbarer Fanatiker mit lächelnder Miene. Und also lächelnd, starr und frohgemuth war er eines Tages auch wieder gegangen, wie er gekommen war.

Als vielbeschäftigten Bibliothekar des Stiftes Dingsda hatt’ ich ihn unverhofft wiedergefunden, wo ich die Erlaubniß um Einsicht in die Schätze der berühmten Bücherei an einen Wildfremden zu richten gedacht hatte.

Also knüpften sich im kühlen Bücherschatzhause des reichen waldumfriedeten Klosters alte Fäden aufs Erfreulichste wieder an. Wie schon gesagt, Pater Odysseus sprach auch manchmal in der Hauptstadt ein und gab die Besuche zurück, die ich ihm in seiner Zurückgezogenheit machte. Es kam auch vor, daß er die Nacht über in Wien blieb und dann an unseren fröhlichen Gelagen in der „Goldenen Ente“ Theil nahm, ein nicht sehr gesprächiger, mäßiger, aber immer heiterer Tischgenosse, der sich nur alle politischen Gespräche ein- für allemal verbat. Er trug in der Stadt nicht das mönchische Gewand, sondern die Kleidung [730] eines Weltgeistlichen, einen schlichten schwarzen Gehrock und die weißeingefaßte violette Halsbinde. Es fehlte nichts, aber man mußte doch genau zusehen, um den geistlichen Herrn zu erkennen. Bei Anderen springt’s oft in die Augen. An ihm war eben nichts Auffallendes, aber auch nichts in seiner Kleidung, was dem Stande zuwiderlief.

Ju der lezten Zeit kam Pater Odysseus um vieles häufiger in die Stadt als im verwichenen Jahre. Wir merkten es, obwohl er es keineswegs angezeigt fand, sich jedesmal bei uns einzufinden, ja, wenn ich richtig beobachtete, von uns lieber gar nicht gesehen wurde.

Indessen hatt’ er auf Befragen kein Hehl daraus, daß ihn Klosterangelegenheiten jede Woche drei- bis viermal hierherführten und daß er, weil dies mit solcher Regelmäßigkeit sich wiederholen müsse, die Gelegenheit benutze, um einer kleinen Muhme, die heranreise, Stunden in der Geschichte, Litteratur und schriftlichen Ausarbeitungen deutscher und französischer Sprache zu ertheilen.

Das Mädchen sei sehr begabt und mache ganz erstaunliche Fortschritte, so daß ihm diese regelmäßigen Unterrichtsstunden die größte Freude bereiteten.

An die Freude glaubt’ ich nun gerne, denn ich kannte dieses himmlische Mühmchen mit dem musterhaften Gretchengesicht und den großen blauen Madonnenaugen. Es ist niemalen ein zierlicheres, verführerisches Geschöpfchen auf so winzigen Füßen über die Welt gelaufen.

Es war ausgemacht, daß Bianca sich der Bühne widmen sollte. Denn die verschwenderisch liebende Natur hatte diesem Wunderding von Menschenkind nicht nur alle Schönheit und Anmuth des Leibes mit auf den Weg gegeben, es hatte auch die Stimme einer Nachtigall in diese jungfräuliche Kehle gezaubert, so daß sie häßlich wie der unscheinbare Singvogel hätte sein können und doch die Herzen aller, die sie hörten, erobert hätte.

Auch der geistliche Herr Vetter hatte gar nichts gegen diese weltliche Bestimmung seiner Kousine. Er hoffte durch seinen Unterricht viel zu ihrer künstlerischen Entwickelung beizutragen. Er hatte ihr sogar einen Theaternamen zurechtgedrechselt. Denn mit ihrem gewiß sehr ehrbaren Vatersnamen Latschenberger war in künstlerischer Karrière nichts anzufangen. Man denke sich: Zerline ... oder Susanne ... Fräulein Latschenberger ... Blanche Latschenberger! Unmöglich! ... Scandrini sollte sie sich nennen. Bianca Scandrini, das klang, das sang schon von selber und nahm sich auf einem Theaterzettel vielversprechend und mustergültig aus.

Bianca Scandrini war gar nicht weit mehr von ihrem ersten Auftreten entfernt. Sie war nur noch zu jung. Siebzehn Jahre! Und sie erschien noch jünger, weil sie so klein war. Klein und niedlich und zierlich, aber doch voll und rund. Eva, wie sie im Buche steht!

Sachverständige weissagten ihr ganz ernsthaft eine große Zukunft. Wenn mein guter Freund, der berühmte Gesangsprofessor, von ihr sprach, zog er die Augenbrauen ganz hoch in die Stirn und schloß die Augenlider und ließ den Mund ein Weilchen halb offen stehen, sowie er etwa über dem feinsten Rheinwein und der theuersten Havannazigarre sich zu verhalten pflegte, und nach einer Weile dieses nur in einem leisen unartikulirten Tone geleisteten Lobes ihrer Kunstfertigkeit fügte er die Versicherung hinzu, daß Bianca Scandrini schon jetzt Alles an sich habe, was sonst noch zu einer Primadonna gehöre, die reüssiren wolle. Er habe allerhand Sterne aus seiner Opernschule aufsteigen sehen, aber solch ein Konsum von Blumen und Bonbons, wie er diesem Kinde schon in den ersten Klassen ermöglicht worden und von demselben mit eleganter Selbstverständlichkeit tagtäglich vollzogen werde, sei ihm noch nie vorgekommen.

Der schlaue Vetter hörte das lachend mit an und fuhr fort, ihr gute Lehren und erbauliche Stunden zu geben. Ihr Lob in seinem Munde klang maßvoll und zurückhaltend. Er bewunderte nichts und gab über Allem Gott die Ehre. Aber daß er in Gottes Geschöpf verliebt sein konnte, wie ein anderer Sterblicher auch, stand mir fest, wenn ich auch keinem hätte rathen mögen, den hochwürdigen Herrn darum zu fragen.

Darum aber durft’ ich ihn fragen, ob seine schöne Kousine Bianca Scandrini am Ende auch mehr oder weniger sorgfältig vermummt hier auf dem Maskenballe sei.

Und da ich ihn also fragte, lachte er, wie es sein Brauch war, und sagte dann: „Deßwegen bin ich ja hier. Ich lasse sie nicht lang aus den Augen.“

Nicht? Also war sie gar nicht weit! Und ich strengte all meine Schkraft an, in diesem Menschengewimmel trotz alles Mummenschanzes jenes entzückende Wesen zu entdecken, das mir, sobald mir seine Anwesenheit verrathen war, das wichtigste von allen war, wie viel ihrer auch sich hier herumtrieben.

Richtig, das mußte sie sein! Das war sie! Ihre Kleinheit verrieth sie und die auszeichnende Eleganz ihrer holdseligen Erscheinung, holdselig auch in dieser schwarzen Verkleidung, und mir verrieth sie auch noch eine Strähne des lichtblonden Haares, die sich zwischen Maske und Kapuze fürwitzig in die Welt drängte. Jenes eigenthümliche Wiener Blond, wie es anders in dieser Nuance kaum vorkommt, weizenblond mit einem sanften Hauch von Schatten darüber.

Auch ihre Begleitung stimmte. Der Vater, wohlgemuth, ein Kaufmann aus der Josephstadt, klein und breitschulterig, mit einem Schmeerbauch, der seines faltenreichen Dominos spottete. Er ging herum, den Anderen voraus, als wollt’ er ihnen den Weg frei beißen. Man sah’s ihm an, er hätte weit lieber in Lerchenfeld bei der „blauen Flasche“ gesessen, als hier herumzutrollen. Aber Bianca hatte alle Welt und auch den Vater unter dem Pantöffelchen. Da sie sich in den Kopf gesetzt, wie andere berühmte Künstlerinnen einen Maskenball im Theater an der Wien mitzumachen, und da sie sich königlich dabei in drei Sprachen, französisch, italienisch und deutsch, mit aller Welt unterhielt, so hieß es ausharren ohne Widerrede.

Die beiden Tugenddrachen von Schwestern nebenher dachten auch nicht an Widerrede. Sie waren nicht schön, diese beiden älteren Schwestern, nein, sie waren sogar abscheulich, feist, schleppfüßig, unelegant in des Wortes verwegenster Bedeutung und ohne jegliche Begabung als die, den Kochlöffel und die Nähnadel zu schwingen und ihrem Kleinod von Schwesterchen zu Willen und zu Diensten zu sein alle Stunden des Tages und der Nacht.

Die Natur hatte die ganze Familie stiefmütterlich behandelt, um auf den einen Liebling der Musen und der Menschen alle Gaben zu häufen, die ein sterbliches Wesen ob der Menge hoch emporheben.

Mir graute vor diesen Schwestern, die gar nicht wie Schwestern aussahen, sondern wie Tanten, oder richtiger, wie der Berliner sagt, wie Tunten, „olle Tunten“, womit eben Alles gesagt ist.

Aber Bianca gehörte zu den wenigen weiblichen Wesen, die zwingenden Zauber auf mich ausübten. Ich gefiel ihr nicht. Ich schob es auf die Tunten. Aber daß ich ihr nicht gefiel, war mein Glück. Denn ich hätte im andern Falle die größten Thorheiten meines Lebens für sie begangen, und zwar mit unsagbarem Vergnügen.

Ich erwähne das nur, um die Wirkung begreiflicher zu machen, die sie auf Andere, die sie auf Jeden ausübte.

Ich gefiel ihr nicht, aber wir waren ganz gute Freunde und unterhielten uns auch jetzt auf dem Maskenballe vortrefflich mit einander, während Pater Odysseus, der sofort, als er in die Nähe seiner Muhme gelangt war, die Maske wieder vors Gesicht gebunden, gravitätisch und stumm neben uns herschritt, einem Erzengel Michael im Domino vergleichbar, der sich nicht ganz à son aise fühlt, weil er sein flammendes Schwert in der Garderobe hat abgeben müssen.

Wie wir nun so, eine ganze mehr oder weniger vermummte Karawane von lustigen Freunden, durchs Menschengewühle ruderten, kam uns wieder der hübsche Baron Sperber in die Quere. Er erschien mir erschöpft und athemlos, und keineswegs durch freudige Veranlassung, denn er machte ein Gesicht, welches mit der allgemeinen Stimmung und der unsrigen wenig übereinstimmte. Es hatte offenbar Mühe gekostet, seine alte Geliebte Philomen abzuschütteln, die es vielleicht auf eine Ueberrumpelung des ausgeflogenen Vogels unter Maskenfreiheit abgesehen hatte, es hatte Mühe gekostet, sich vor ihren ferneren Vorwürfen, Zumuthungen und Bitten, vor der ganzen unliebsamen Scene zu uns zu retten.

Als er nun so aufathmend vor uns dastand und sich die hohe Stirn mit seidenem Tuche trocknete – denn auf seiner Stirn lichtete sich bereits das Ringelhaar, obwohl er noch in den [731] zwanziger Jahren war und sonst ein sehr gesundes wohlgenährtes Aussehen hatte – wie er so dastand, mußten wir unwillkürlich über den drolligen Gesellen lachen.

Da lachte er denn mit. Und recht von Herzen.

Edgar von Sperber war ein lebenslustiger, behaglicher und dazu bildhübscher Geselle, mit dem angenehm zu verkehren. Er stammte aus einer angesehenen Familie von Kaufleuten, die seit Jahrhunderten in Hamburg saßen, dort zu solider Wohlhabenheit gelangt und bei guter Gelegenheit einmal – es war noch nicht gar lange her – vom Kaiser von Oesterreich geadelt worden waren. Seinen Großoheim James Edward Sperber nannte man einen der Könige der Südsee, weil die Leute seines Hauses dort Niederlassungen von Bedeutung gegründet hatten und seine Schiffe gewaltigen Handelsverkehr mit jenen Gegenden unterhielten. Edgar berühmte sich nie des Reichthums seiner Familie. Daß aber die hohe Gestalt des mächtigen Kaufherrn James Edward Sperber häufig in seinen Gesprächen auftauchte, war eine Familiengewohnheit, die man ihm um so weniger übelzudeuten brauchte, als er sie von Kindesbeinen an üben gehört und dem entsprechend selbst geübt hatte. Wer freut sich nicht guter Altvordern! Edgar, reich und lebenslustig, stand im Begriff, sich die Welt zu betrachten, um sich da ein Heim zu gründen, wo es sich nach seinem Geschmack am besten leben ließ. Er schwankte noch zwischen Paris und Wien und schien sich während dieses Schwankens am letztgenannten Orte so ausnehmend zu gefallen, daß er vor der Hand an ein Weiterziehen nicht dachte.

Manche nannten ihn den Dicken, obwohl seine Leibesfülle keine übermäßige war und zu seiner Größe nicht im Mißverhältniß stand. Er hatte lichte lachende Augen, lichtbraunes Haar, das er wie auch den Bart ganz kurzgeschoren trug, und pflegte beim Gehen sich nach jedem Schritte ein wenig auf dem Ballen zu heben, was seinem Wandel trotz seiner Größe etwas anmuthig elastisch Behagliches verlieh. Er war immer elegant, wenn auch manchmal mit einer gewissen absichtlichen Nachlässigkeit gekleidet. Sein Wesen und Gebahren schien, wie das so mancher guten Hamburger, schon von Weitem andeuten zu wollen, daß der liebe Gott, ohne ein Versehen zu begehen, ihn ebenso gut auf der andern Seite des Kanals, unter richtigen Engländern hätte auf die Welt setzen können. Er war von hohem Wuchs, von anheimelnder Rede und von jener natürlichen Ungezwungenheit des Gehabens, die unbesorgt an Uebermuth, an Keckheit streift und zumeist auf dem sicheren Grunde eines zuverlässigen väterlichen Vermögens fußt. Aber er war gut und gutmüthig sowohl aus Klugheit wie von Natur.

Einer jener gescheiten, starken, großen, wohlbeleibten Männer, die aussehen wie die Enkel Simsons und die wie dieser nur allzu geneigt und geeignet sind, sich von einer Delila, wenn sie schön und geschickt ist, um den kleinen Finger wickeln zu lassen.

Wie er sich zu uns gesellte, mußt’ ich denken, das wär’ eigentlich ein Mann für Bianca Scandrini, wie geschaffen dafür, daß er sich in sie und auch sie sich in ihn – soweit ihr das überhaupt möglich war – verliebte.

Und da Gedanken manchmal auch unausgesprochen sich von einem auf den andern elektrisch übertragen oder, wenn das besser klingt, in der Luft liegen, so bin ich überzeugt, daß in demselben Augenblick Bianca, wie ihre beiden schrecklichen Schwestern, der leibliche Vater wie der leibliche Vetter, ja selbst der junge Baron denselben Gedanken hegten wie ich, wenn auch Jeder auf andere, Jeder auf seine Weise, wobei es denn freilich nicht zu leugnen sein wird, daß der nämliche Gedanke sich in Edgar von Sperber’s fürwitzigem und leichtlebigem Kopfe ganz anders in Wunsch und Absicht umsetzte, als unter der geweihten und graduirten Stirn des Paters Bibliothekars und Vetters der schönen Sängerin.

Bei Keinem von uns gewann dieser Gedanke noch Worte. Einstweilen herrschte nur harmlose Lustigkeit und gleichgültiges leichtes Geplauder, bis endlich auch der schweigsame Vater sich an der allgemeinen Unterhaltung betheiligte, indem er mit vollendeter Sicherheit die Behauptung aufstellte, daß er von diesem Vergnügen nun übergenug habe und daß es Zeit sei, nach Hause zu gehen.

Edgar, der nun eben erst warm werden wollte, war von diesem jähen Abbruche vergnüglicher Beziehungen sichtlich betroffen. Er kleidete diese Betroffenheit in eine sehr artige Einladung zum Souper. Edgar war eine von den glücklichen Naturen, die zu jeder Tages- oder Nachtzeit aus beliebigem Anlasse und unter allen Umständen zu soupiren bereit sind.

Anders Vater Latschenberger, der die Einladung eines ihm nur oberflächlich bekannten Kavaliers zu so vorgerückter Stunde mit sittlicher Entrüstung ablehnte und kurzangebunden den Seinigen den nächsten Weg zur Garderobe deutete.

Edgar sah betrübt hinter jenen drein. Er hätte so gern noch ein Stündchen mit Blanche verplaudert. Sie war ihm schon früher als schön aufgefallen. Aber noch nie erschien sie ihm so lustig, so geistreich, so entzückend wie heute, da sie eine Viertelstunde, ach, höchstens zehn Minuten an seinem Arme hinwandelte und ihre wunderbaren Augen durch die Löcher ihrer Maske leuchten ließ, das es einem das Herz im Leibe verbrannte. Edgar fing allen Ernstes den alten Latschenberger zu verfluchen an, der harmloser Freundlichkeit mit der Trutzmiene eines beleidigten Dämons begegnete.

Allein Edgar von Sperber war zum Fluchen nicht gemacht. Er ging lieber mit gutmüthigem Gesicht den Abziehenden in die Garderobe nach, um wenigstens noch ein Abschiedswort an Bianca zu richten und vielleicht ihr Gesicht zu sehen.

Die Familie mühte sich in verschiedenen Winkeln in ihre Mäntel und Hüllen zu kriechen. Alles war hier noch streng vermummt und verlarvt, denn die Stube war voll von Leuten, die zum Aufbruche rüsteten, und man war darauf bedacht, sein Inkognito bis ans Ende festzuhalten.

Edgar fand, die er suchte, abgewandt, mit dem Rücken gegen die Ballgäste, das Gesicht der Wand zugekehrt, in einer Ecke, wo sie sich viele Mühe gab, mit Hilfe einer ihrer Schwestern ein Paar lange knappe graue Wollgamaschen über Ballschuhe und seidene Strümpfe zu ziehen.

Es war nur ein verstohlener Augenblick, aber Edgar wollte darauf schwören, er hätte sein Tag noch nichts Reizenderes gesehen, als diese wunderbar gefesselten Feenpfötchen von grauen Filetmaschen halb verkappt.

Doch da stand schon die kleine Maske vor ihm und sagte: „Sie wieder da, Baron? . . . Das ist hübsch von Ihnen, daß Sie mir ordentlich gute Nacht sagen!“ Damit reichte sie ihm eine ganz kleine schwarze Hand in einem tadellosen französischen Handschuh hin.

So klein sie war, diese schwarze Hand, sie faßte fest zu. Edgar beugte seinen Mund auf sie nieder und bewunderte in diesen Händen das würdige Geschwisterpaar der beiden grauverkappten Füßchen, die es ihm gerade vorher angethan hatten.

Es stand in derselben Sekunde bei ihm fest, daß diese Füßchen heut Abend in keinen gemeinen Miethwagen steigen sollten, und er beeilte sich, den Damen und dem Vater seine Equipage zum Nachhausefahren anzubieten.

Das war etwas Anderes! Zum Soupiren war es zu spät, aber je früher desto besser heimzurollen, in einem bequemen Wagen, einem unnumerirten, kavaliermäßigen – dieser Versuchung kann ein Wiener Herz nicht widerstehen. Der Alte gewährte dem jungen Mann die Gnade, darum er gebeten wurde, und ließ es sich gefallen, das Edgar den Theaterportier nach seinem Kutscher rufen hieß. Am Arm das süße Geschöpf, das sich wie ein Kätzchen in der Nachtkühle schaudernd an seine Seite schmiegte, stand er einige Minuten harrend im Hofe, darin die Wagen einrollten.

„Wenn ich nur Einmal Ihr Gesicht gesehen hätte!“ sagte er leise zu ihr. Es that ihm in diesem Augenblick wunderlich wohl, mit der Verhüllten, nur einen Schritt von der ohrenspitzenden Sippschaft entfernt, im Geheimen zu flüstern.

Bianca schien es nicht eben anders zu gehen. Neckend antwortete sie: „Ich bin zu eitel, Ihnen heut mein Gesicht zu zeigen, das stundenlang unter der Maske gelitten hat. Aber Sie kennen es ja schon, es ist ein recht alltägliches Gesicht, und man kann es auch alle Tage sehen.“

„Könnt’ ich es doch alle Tage sehen!“ antwortete der Baron hastig und mit einem Seufzer, der aus ehrlichem Herzen kam.

Bianca lachte laut auf.

„Warum lachen Sie mich aus?“ rief Edgar.

„Ich denke nicht daran. Aber es muthet mich komisch an, daß Sie sich ungeschickter stellen, als Sie sind. Mein Vater wird sich ein Vergnügen daraus machen, Ihren Besuch zu empfangen – wenn auch nicht just alle Tage.“

Edgar wußte offenbar nicht gleich, was er auf so viel Freundlichkeit sagen sollte, er war stumm, aber da rollte schon sein Gefährt vors Portal.

[743] Im Lichte der Gaslaternen tauchten ein Paar schnaubende ungarische Jucker auf, von denen der Rauch in die Nachtluft aufstieg, als kochte das Blut in ihren Adern, und vom Kutschbock herab bot ein Urbild von Wiener Fiaker, den flotten Cylinder auf dem einen Ohr, hinter dem anderen den langen Strohhalm einer Virginiacigarre, dem Herrn Baron ehrbar vertraulich seinen dienstwilligen Gruß. Die Pferde standen auf einen Ruck wie mit acht Beinen in den Boden gewurzelt.

Edgar hob Bianca in den Wagen, die andere Familie kroch nach. Eine männliche Maske schwang sich auf den Bock neben den rothnasigen Rosselenker, während Edgar sich bemühte, die Sängerin in die weite englische Decke zu wickeln, damit die grauverkappten Feenpfötchen nicht frören und die Nachtigallenstimme keinen Schaden litte.

Ein rascher Händedruck dankte ihm für seine Sorgfalt. Aber wie wenn ein plötzlicher Einfall sie erschrecken machte, zuckte das Mädchen zusammen und fragte, die Hand Edgar’s in der ihrigen behaltend, als könnte sie dadurch verhindern, daß die Pferde früher anzögen, als sie genügende Antwort erhalten haben würde:

„Wo ist denn Otto?“

„Hier!“ erklang es in wohllautendem Bariton vom Bock herunter, und wer hinauf sah, mochte im schwankenden Schimmer der Laternen und Fackeln ein schmunzelndes glattrasirtes Gesicht unter tief in die Stirn gedrücktem Cylinder erblicken, welches aber nur ich als das meines geistlichen Freundes erkannte.

„Gute Nacht!“ Ein leiser Pfiff vom Bock. Die Räder knirschten. Noch einmal „Gute Nacht!“ und „schönen Dank, Herr Baron!“ und „Auf Wiedersehen! auf Wiedersehen!“ Und Edgar stand allein im viereckigen Hofe des Theaters an der Wien. Allein, wie er sich nie im Leben gefühlt hatte. Allein, obschon eine Menschenwoge nach der anderen um ihn herumschlug und ihn wider seinen Willen vom Platze drängte. Derweilen er also, halb entzückt, halb betroffen, den Zauber auskostete, der aus so kurzer Begegnung und Unterredung über ihn erging, streckte sich Bianca nachdenklich schweigend in den Kissen des bequemen Wagens aus. Er war doch noch nicht recht sicher, ob er das gefährliche Mädchen wirklich morgen wieder sehen oder ob die ganze Sehnsucht und Bangigkeit, von der er sich glühen fühlte, nicht länger funkeln werde, als die Cigarre, die er sich eben ansteckte, brauchte, um zu eitel Asche verraucht zu sein.

Bianca gehörte zu denjenigen Naturen, die ein erhöhtes Lebensgefühl in sich verspüren, sobald vier Räder unter ihnen ins Rollen gerathen. Und wie rollten diese! Hurraxdaxdax! wie der Wind ging’s über das schallende Pflaster! Und dabei ward man so sanft gewiegt, wie ein Schmetterling in einer Blume! … Wie bequem, wie gut haben es die reichen Leute! …

Sie schmunzelte in ihren Gedanken vor sich hin. Niemand störte sie in ihrem Sinnen. Der Vater schnarchte neben ihr in der anderen Ecke. Die Schwestern ihr gegenüber erwachten nur auf Sekunden, wenn sie einmal mit den wackelnden Köpfen einander zu nahe kamen. Der Vetter … ja, der Vetter, was der wohl dachte? … aber er plauderte draußen mit dem Kutscher auf dem Bock. Sie wollte ihn morgen fragen, was er dachte. Heute nicht. Heute wollte sie träumen, daß der Wagen ihr gehörte, daß sie reich wäre, ach so reich! … so reich, wie Edgar von Sperber zum Beispiel.

… Er sollte sehr reich sein, dieser Edgar. Wirklich sehr reich. Und es war ein guter, liebenswürdiger, hübscher Mensch. Und er liebte sie … So schien’s wenigstens und er sagte so …

Freilich! Was sagen die Männer nicht alles in kleine Mädchenohren hinein!

Aber einen Mann toll zu machen, war das so schwer? Sie konnte es nicht recht glauben. Sie mochte es nicht glauben.

Sie mochte reich werden. Sehr reich … Sie konnt’ es. O gewiß, das fühlte sie … Aber um welchen Preis? …

Auch das stand bei ihr … Vielleicht … vielleicht auch nicht. „Otto!“ rief sie unwillkürlich, als könnte sie sofort sich bei ihm Raths erholen. Träumte sie mit offenen Augen?

Da standen die Pferde, die Sippe raffte sich aus dem Schlaf empor und der Wagenschlag flog auf. Bianca hüllte sich ganz fest in ihr knappes Mäntelchen ein und hielt es mit beiden Händen über der Brust zusammen, als könnte sie all ihr Denken und Wünschen damit an ihr Herz drücken und vor den Ihrigen verbergen.

„Gute Nacht, Kousin!“ rief sie aus dem Wagen springend und sich eng ans verschlossene Hausthor drängend, aber ohne ihm eine Hand aus dem Mantel zu reichen, ja ohne ihm gerad ins Gesicht zu sehen. „Komm morgen! Ich hab Dir was zu erzählen.“

Dann sagte sie nichts mehr, obwohl es nach angenehmer Wiener Sitte ziemlich zehn Minuten dauerte, bis der Hausmeister [744] durch wiederholtes Ziehen an der Klingel aus dem Schlummer geweckt war und endlich mit einem offenen, einem geschlossenen Auge, kaum wach, kaum bekleidet, einen brüchigen uralten Schlafrockpelz ungenügend übergeworfen, die nackten Füße in vorweltlichen Schlappschuhen, die Hausthür mit der einen Hand aufschloß und die andere schon mechanisch ausstreckte, um sein pflichtmäßiges Sperrgeld zu empfangen.

Auch der lustige Mönch sagte nichts mehr, und während die drei anderen Verwandten mit gesenkten Lidern an der Thür oder an der Wand lehnten, betrachtete er nur sein schönes Mühmchen und fragte sich dabei im Stillen, ob es ihm morgen wohl viel mehr erzählen werde, als er, der Menschenkenner, ohnehin schon wußte.

„Gute Nacht, Bianca!“ rief er nun, da einer nach dem andern ihm den hochgezogenen Buckel zudrehte und im Zwielicht des Treppenhauses verschwand. Dann schlug der ungeduldige Hausmeister knallend das Thor vor ihm zu. Und Pater Odysseus wandelte stillvergnügt nach seiner Herberge, das Schicksal eines Mädchens, das ihm lieb war, ernsthaft und, wie er glaubte, uneigennützig überlegend.


Edgar von Sperber hatte seit jenem Maskenball schon etliche hundert Cigarren verraucht und ein paar Dutzend Besuche im Hause Latschenberger gemacht, aber die Neigung zur schönen Bianca stand erst recht in voller Blüthe. Er achtete nicht mehr, wie gut seine Cigarren schmeckten, er achtete der kleinen Unannehmlichkeiten nicht, mit denen Besuche bei Bianca verbunden waren – er hatte für nichts mehr Sinn als für das kleine Mädel mit den großen Augen und der großen Stimme, er war glücklich, wenn er ihr einen Wunsch, wenn er ihre Launen erfüllen durfte, und jeder Tag, an dem es ihm ganz unmöglich gemacht worden, sie zu sehen und zu sprechen, galt ihm als ein verlorener.

Auch Bianca gewöhnte sich so sehr an Edgar’s Kommen und Verweilen, daß ihr etwas empfindlich fehlte, wenn er nicht erscheinen, ja schon wenn er nicht zur bestimmten Zeit erscheinen konnte. Ob sie ihn liebte, wußte sie nicht, fragte sie sich nicht einmal. Aber sie sagte sich, daß er der beste, bequemste und liebenswürdigste Anbeter war, den sie je gesehen. Mit ihm durfte sich keiner der schmachtenden Laffen in der Opernschule messen. Ihn sich so lang als möglich zu erhalten, gebot die Klugheit wie das Herz.

Ja, das Herz! Denn wär’ er nichts als ihr guter Freund und würde ihr nie mehr … man hat so wenig Freunde im Leben, sagte Pater Otto.

Ja, so sagte er. Und es hatte allen Anschein, als habe auch er den braven Edgar in sein Herz geschlossen. Denn dieser konnte selten bei Latschenberger eintreten, ohne den Chorherrn in derselben Stube wie Bianca zu finden.

Das hatte sein Mißliches, meinte der Baron. Man bespricht sich doch auch einmal gern zu Zweien. Indessen das war im Hause Latschenberger noch nicht zu erreichen, oder doch nur auf kurze ängstliche Minuten. Und lieber als die Gesellschaft der langweiligen häßlichen Schwestern, welche seiner Bianca wie Karikaturen einem schönen Urbild ähnlich sahen, oder gar die des mürrischen, mißtrauischen und eigentlich bei aller nothdürftigen Höflichkeit ungezogenen Vaters war ihm die Anwesenheit des gescheiten Priesters, so aufrichtig er auch diese verwünschte.

Sein Glück war, daß auch Bianca das Bedürfniß empfand, ihn wenigstens ab und zu, und war es nur für eine verstohlene Viertelstunde, unter vier Augen zu sprechen. Dazu bedurft’ es einiger List, um etwas früher, als eine ihrer Schwestern sie abzuholen kam, aus der Singstunde zu verschwinden und einen Umweg zu machen, wo sie eben so sicher war, dem sehnsüchtigen Edgar zu begegnen als ihrem schwesterlichen Drachen auszuweichen.

Sie waren keineswegs bequem diese Schwestern. Seit dem Tode der Mutter bildeten sie sich ein, Bianca nach Belieben und Laune dirigiren zu können. Sie war aber nicht darnach geartet, sich vor Anderer Grillen zu ducken. Und wäre nicht Pater Otto und sein weises begütigendes Zureden gewesen, weiß Gott, sie hätte aus Zorn und Trotz und Ungeduld am Ende gar einen dummen Streich gemacht.

Ja, zu irgend etwas war Pater Otto’s Anwesenheit schon gut.

Das fand manchmal selbst Edgar. Am meisten und dankbarsten, wenn er es durchsetzte, daß Bianca seinen Wagen benutzte.

Der Mai stand vor der Thür. Die Bäume schlugen aus, und die Kaleschen mehrten sich in den Prateralleen. Bianca hüpfte das Herz, als Edgar sie wie ein Verbrecher, der um Gnade bittet, darum ansprach, doch zuweilen in seinem Wagen ins Freie zu fahren.

Aber der Vater fand dies kompromittirend. Die Schwestern lehnten es bissiger Weise ab, weil ihre Toiletten zu schlicht wären, um in solch einem Wagen ausgelegt zu werden. Da half der kluge Chorherr dem zuckenden Herzchen seiner Muhme aus der Klemme.

An der Seite eines geistlichen Herrn in den Prater zu fahren, mochte die Kutsche wem immer gehören, das konnte kein Fräulein in übles Gerede bringen.

Ein überlegenes Schmunzeln strahlte von dem schweigsamen Gesichte des Paters Bibliothekar, wenn er also ferne von Zelle und Bücherei an der Seite seiner schönen Kousine durch die grünüberhauchten Alleen hinrollte wie ein Fürst und mit dem übermüthigen Mädchen von ihrer Kunst und ihrer Zukunft sprach.

Von Edgar von Sperber redeten Beide wenig oder gar nichts, bis dieser über kurz oder lang wie auf stillschweigende Verabredung in eigener Person erschien, über den Rasenstreif, der den Fußweg von der Fahrstraße trennte, lustig hinübersprang und an den Wagenschlag freundlich grüßend herantrat.

Dann lehnte er wohl in irgend einer bequemen Stellung an seinem rastenden Gefährt und verplauderte ein Viertelstündchen mit der Angebeteten, wobei der geistliche Vetter meist wohlwollend schwieg und nur selten und nur ehrenhalber ab und zu ein Wörtchen in die Unterhaltung fallen ließ, die ihn nur als Thatsache, nicht in ihrem Gehalt interessirte. Denn dieser war für einen Dritten ziemlich werthlos, wie bei den meisten Gesprächen Verliebter.

Es wäre gegen Edgar’s Gewohnheit und Ueberzeugung gewesen, seinem Idol mit leeren Händen zu nahen. Obwohl die Jahreszeit im Freien noch keine Blumen gedeihen ließ, glich Bianca’s Stube doch einem Treibhäuschen mit den schönsten Blüthen angefüllt, wie sie annoch allein aus dem warmen Süden zu beschaffen waren. Und nie hatten die weißen Zähne der jungen Sängerin an so köstlichen Bonbons geknabbert wie jetzt.

An den Bonbons fanden auch die Schwestern Gefallen; dagegen Pater Otto vor den frischen Blumen oft nachdenklich stehen blieb, mit der rechten Hand sein glattrasirtes Kinn reibend, mit den Nasenlöchern den süßen Duft einschnobernd, und dann halb warnend, halb mitleidig zu Bianca sagte: „Kind, Kind, Du solltest Dich nicht so verwöhnen! Was wird aus Dir, wenn diese kleine Narrheit zu Ende geht?“

„Ich will gar nicht, daß sie zu Ende gehe!“ rief dann die Sängerin, stampfte auch zuweilen einmal mit dem Füßchen den Boden, wenn der Vetter sie bei seiner Rede mit gar zu großen Augen ansah.

Wenn er aber weiter nicht viel sagte oder nur noch einen Seufzer ausstieß, drehte sie sich auf den Hacken um und ließ ihre Läufer und Triller, deren sie niemals müde wurde, durchs Haus schallen.

In der Regel sagte er nichts weiter. Er predigte nicht gern tauben Ohren, und daß die kleinen Ohren seiner Kousine für alles gegen Edgar zu Aeußernde taub sein wollten, dessen war er überzeugt. Manchmal hielt er’s nur für nöthig, sie zu warnen, von dem Baron nichts Anderes als Blumen und Konfekt anzunehmen, nichts was zu sehr verpflichte.

„Was verpflichtet denn?“ fragte sie, das Näschen in die Höhe reckend.

„Alles einigermaßen Werthvolle.“

Sie hielt ihm mit beiden Händen einen Haufen italischer Rosen dicht vor die Augen, wie sie sie grade vom nächsten Tisch griff. „Und glaubst Du, diese Blumen, diese wundervollen Blumen kosten nichts? in dieser Jahreszeit? Glaubst Du, man kriegt sie beim ersten besten Blumengreißler zu kaufen, zehn Kreuzer das Stück?“

„Das glaub’ ich nicht,“ entgegnete gelassen der Chorherr. „Aber Blumen erlaubt die Sitte jedem galanten Mann jeder Dame zu schenken. Blumen verpflichten nicht den Empfänger.“

„Und Bonbons auch nicht. Gelt, nein?“ sagte Bianca, den Kopf auf die Schulter gesenkt, die Augen halb geschlossen, die Lippen hochgezogen, auf eine verzuckerte Mandel beißend, daß sie knackte.

[746] Der Geistliche wiederholte mit dem Haupte nickend: „Blumen und Bonbons.“

„Und was weiter?“

„Nichts weiter!“

„Oho!“ lachte die Ungeduldige. „Das wäre schon aus? Sonst darf ein galanter Kavalier seiner Dame gar nichts verehren?“

„Wenn diese Dame nicht seine Verwandte oder die Frau eines alten intimen Freundes ist. Nein!“

„Na, aber es giebt doch Fälle …“

„Weihnachten.“

„Ach, geh weiter! so mein’ ich’s nicht.“

„Wie denn? Es giebt Intimitäten, die ... ja wohl ... aber das soll doch zwischen Dir und Sperber nicht der Fall sein, hoff’ ich.“

„Na nein! … Aber sag’, was schenkt man sich denn nach Blumen und Bonbons, wenn … wenn man intimer wird mit einander?“

Der regulirte Chorherr besann sich, die Augen an die Decke heftend, das Kinn wieder in der Hand, und sagte dann, als läs er das Wort von der graugewordenen Wand ab: „Parfüms!“

„Pfui, das ist aus der Mode! Die Wohlgerüche überspringen wir, es wären denn solche wie die da!“

Sie steckte das Näschen tief in die gelben Rosen. Und wieder aufblickend fragte sie: „Und was nachher?“

„Handschuhe, glaub’ ich,“ sagte der Priester wie vorhin.

„Ah, Du glaubst! Mhm! So schöne lange zehnknöpfige Pariser Handschuhe? bis hierher … Ça m’ irait bien!“

„Aber mit den Handschuhen wird gleichsam der Rubicon der Intimität überschritten!“ rief Pater Otto mit bedächtig erhobenem Zeigefinger drohend. „Mach keine Dummheiten und sei vorsichtig!“

„Keine Sorge! Und was kommt nachher? Sag!“

„Wenn man …?“

„Wenn man schon eine Zeitlang die längsten Handschuhe mit den meisten Knöpfen geschenkt hat ...“

Pater Otto zuckte die Achseln, als wüßt’ er’s nicht genau. Dann ließ er das Wort fallen: „Goldene Ketten!“

Das fürwitzige Mädchen lachte laut auf. Der weltweise Vetter beeilte sich hinzuzufügen: „Wenn man übrigens erst dabei angelangt ist, dann kann man sich getrost auch alles Uebrige verehren, was einem sonst gefällt, und der Andere muß es dulden. Also ...!“

Bianca fiel ihm in die Rede mit abwinkender Hand: „Ich werde es bei den Handschuhen bewenden lassen! Sei ganz ruhig!“

Und sie lachten beide, die zärtlichen Verwandten, bis Bianca wieder zu singen anhub, was nie lang auf sich warten ließ.

Manchmal, wenn sie sich ernsthaft und anhaltend im Gesang übte, durfte Edgar zuhören – natürlich in Gesellschaft des geistlichen Herrn.

Dann saßen die beiden Männer schweigsam in ihren Ecken, der eine andächtig wie in seinem Chorstuhl, der andere verzückt wie im siebenten Himmel.

Waren dann die Solfeggien, die Arien, die Lieder zu Ende, oder hielt es der vorsorgliche Vetter für gerathen, den Flügel zu schließen, damit Bianca ihrer Stimme, die er ihr zukünftiges Vermögen nannte, nicht zuviel zumuthe, so pflegte der reiche Mann den armen Mönch wohl um alle die schönen Stunden zu beneiden, in welchen derselbe schon früher dem Zauber dieser Nachtigall hatte lauschen dürfen, und ehrlichen Staunens voll rief er aus:

„Hochwürden, ich begreif’ es nicht, wie Sie diese Sirenenstimme so lang und in nächster Nähe hören können, ohne des Teufels zu werden, wie wir Andern alle!“

Mild lächelnd die Hände faltend versetzte dann der Priester: „Ich habe dafür gesorgt, daß ich, wie weiland Odysseus auf der Meerfahrt, dem Sirenengesange horchen kann, ohne darüber Leib und Seele zu verlieren. Ich bin mit unzerreißbaren Banden fest an den Segelmast gebunden jenes mächtigen Schiffes, das unsere heilige Kirche ist. Ungefährdet, ungefährbar streicht dies Schiff durch die brausenden Wogen der Welt, und mir ist darauf gestattet, unverführt dem herrlichen Gesang der Sirenen … Ach nein! … (damit ergriff er in wechselnder Rührung beide Hände seiner lächelnden Muhme und schüttelte sie herzhaft). Was sag ich der Sirenen! der lieben Engel … auf Erden zu horchen.“

Edgar von Sperber, obwohl ein waschechter Ketzer von Geburt und Ueberzeugung, war von solchen Beweisen der Bewunderung und Ergebenheit, mit welchen Pater Otto gerade nicht kargte, jedesmal sehr erbaut. Und diesem hinwiederum war es mit beiden Versicherungen gewiß heiliger Ernst, mit der der Verehrung seiner schönen und kunstreichen Kousine gleicherweise wie mit seiner in salbungsvoller Sanftmuth trotzenden Sicherheit vor den Anfechtungen der Welt.

Allein, wie es schon geht, der Hochmuth kommt immer vor dem Fall. Und etwas Hochmuth, wenn auch ein rein geistlicher, war eben doch in der gewaltigen Sicherheit, in welcher der Chorherr sich wiegte.

Nichts liegt mir ferner, als von dem trefflichen Freunde was Schlimmes zu behaupten oder ihm eine Schwäche, die mir nur allzu begreiflich bleiben wird, übel zu deuten! Wahrlich nicht!

Wer hätte mit Bianca des Genaueren verkehren können, ohne sich in sie einmal zu verlieben? Und so erging es auch dem sonst so regulirten Chorherrn, wenn er auch lange selber nichts davon merkte, daß ihn die Liebe bei allen noch so kurz geschorenen Haaren hielt.

Bianca kam eher dahinter als er selber, daß die unzerreißbaren Bande, mit welchen dieser neue Odysseus an den unerschütterlichen Mast der Kirche geknüpft war, sich denn doch nach und nach etwas gelockert haben mußten und jedenfalls seinem Herzen überraschenden Spielraum gestatteten.

Je öfter Edgar ins Haus kam, je länger dieser dem Gesange Bianca’s lauschen durfte, je mehr diese sich an den Besuch des flotten Anbeters gewöhnte und je vertraulicher und neckischer sie dann Wort und Gesang an diesen richtete, desto mürrischer, einsilbiger und seltsamer erschien der sonst so heitere, klare, redemächtige Mann.

Nach und nach ward er geradezu unausstehlich. Und wenn er in diesem schier krankhaften Zustande, der sich von Tag zu Tag verschlimmerte, des Wortes wieder mächtig wurde, so geschah es nur, um dem langweiligen Sperber, der ihm am liebsten jedesmal Recht gegeben hätte, mit boshaften oder gar heftigen Worten zu widersprechen und ihn, wenn irgend eine Gelegenheit dazu sich bei den Haaren herbeiziehen ließ, herunterzukanzeln wie einen Schuljungen oder geringzuschätzen wie einen Barbaren.

Edgar von Sperber war zu gut erzogen, um auf Heftigkeiten und gar eines Geistlichen heftig zu erwidern. Auch nahm er sich wohl in Acht, es mit dem gebietenden Vetter im Hause Latschenberger zu verderben, auch wenn dieser ihn reizte. Schien er es doch just darauf abgesehen zu haben.

Ein und anderes Mal, da derselbe es ihm doch gar zu bunt trieb, nahm er in der Sorge, daß der verhaltene Groll ihm auf die Zunge schlüpfen möchte, lieber in aller Eile Stock und Hut, küßte Bianca’s mollige Händchen und verließ mit ehrerbietigem Gruße gegen den Chorherrn den Kampfplatz, worauf er doch nur zu dulden, nicht zu streiten verurtheilt war.

Es schien Edgar tief zu gehen. Die Verstimmung wirkte so nachhaltig, daß er sich einen und anderen Tag aus Bianca’s Nähe selbst verbannte, bis seine männliche Seele die Ruhe wiedergewann, mit der er dem Geistlichen, auch wenn dieser ihn angriff, immer arglos begegnen und über dem Anblick der Geliebten die Ausfälle des Geduldeten überhören mochte.

Die Ausfälle des Paters schienen aber dem Baron in Bianca’s Werthschätzung durchaus nicht zu schaden. Jedesmal, wenn er nach solch einer freiwilligen Verbannung wieder im Hause Latschenberger eintrat, empfing ihn das Mühmchen des streitbaren Mönchs um ein weniges freundlicher, blickte ihm herzlicher in die Augen und ließ ihm die Hand zum Kusse ein klein wenig länger als früher, so daß nach und nach selbst Pater Otto diese kleinen, aber unleugbaren Fortschritte merkte. Darüber ward er seinerseits nicht artiger, nicht vergnügter, nicht nachgiebiger.

So kam es, nachdem Sperber eines schönen Juni-Abends sich wieder, nicht ohne Grund, verletzt zurückgezogen hatte, zwischen geistlichem Vetter und weltlicher Muhme zu einer heftigen Scene, beinahe zum Bruch.

„Sag mir doch einmal, Otto, was in Dich gefahren ist seit einiger Zeit? Du bist wie ausgewechselt, wie verhert! … Nimm mir’s nicht übel, aber ich leid’s nicht, daß Du Dich also selbst in Mißachtung setzest!“

[747] „Oho! oho!“ rief Pater Otto und lachte dann so in seiner Weise, wie er sich all Anfechtung und Bedenken vom Herzen wegzulachen pflegte.

Aber Bianca war es durchaus nicht zum Lachen, wie sie so in kaum zu meisternder Erregung auf ihren hohen Pantöffelchen in ihrer Stube hin und wider schritt und mit der langen lichtblauen Schleppe ihres spitzenbesetzten Künstlerinnenschlafrocks – das annoch kostbarste Stück ihrer ganzen Garderobe – bald am Pfeilerschränkchen hängen blieb, bald sich in ein Stuhlbein verwickelte. Das Weinen stand ihr nahe bei den Augen, und die Thräne der Wuth zitterte bereits in ihren höheren Tonen.

„So führt man sich im Salon einer Künstlerin nicht auf, und wenn man zehnmal der Vetter und der beste Freund ist! Nein, das thut man nicht! Das darf man nicht, als gebildeter Mann!“ Und dazu stampfte sie mit ihren Söhlchen einen langen Triller auf dem Teppich.

Pater Otto lachte zu Allem, zum gebildeten Menschen, zum besten Freunde, zum leiblichen Vetter und am allerunverschämtesten zu Bianca’s Prätension, eine Künstlerin zu sein. Zur Künstlerin werde höchstens er und sein rastloses Bemühen sie machen.

„Auf diese Art nicht!“ schrie ihn das Mühmchen an und kehrte ihm hastig den Rücken, da ihr die Thränen nun wirklich über beide Backen liefen. Und dann trommelte sie nervös mit den Fingerknöcheln einen Marsch auf dem Klavierdeckel – ob um ihren Zorn an dem unschuldigen Palisanderholz auszulassen oder um ein allenfallsiges Schluchzen zu übertönen, das bleibe dahingestellt.

„Du wirst Dir wehe thun mit diesem Zapfenstreich!“ rief Pater Otto ihr noch höhnisch zu. Bald aber merkte er, daß Bianca’s Aufregung nicht nur ihr selbst wehe that, sondern auch ihm.

Otto Fuchs war ein so großer Freund der Schönheit und der Musen, daß er ein junges Weib nicht weinen hören konnte, ohne daß es ihm ans Herz griff – und schon gar nicht, wenn diese Thränen mit einer Stimme schluchzten, wie Gott sie seiner Bianca in die Kehle gelegt hatte.

Das Mädchen, von ihrem Verdruß überwältigt, ließ ihre Thränen fließen. Sie hatte sich in einen ihrer kleinen Fauteuils geworfen, den linken Arm über der Lehne, das liebe Gesicht auf beiden Händen verborgen, dem Störenfried den Rücken zugewandt.

Pater Otto sprang auf die Füße. Er trat ihr näher. Er wollte nun erst recht aufbrausen. Aber er vergaß es, wie er ihre Schultern vom Weinen zucken sah.

Er legte einen Finger auf ihre Achsel und rief sie beim Namen.

Ohne sich umzuwenden, machte sie mit demselben Arm eine so heftige Bewegung, als wollte sie nach dem Vetter schlagen.

Er trat einen Schritt zurück. „Blanche, mach doch keine Dummheiten! Hör’ zu flennen auf! ... Verstehst?!“

„Geh doch weg, wenn Dich mein Flennen genirt! . . . Adio!“

„Bianca!“

Es war mit einem eigenthümlichen Ton gesprochen, dieses Bianca! Es hallte langhin, wunderseltsam durchs Gemach. Eine Welt von Sehnen und Verlangen schien in diesem Rufe auszuklagen und nachzuklingen.

Das Mädchen horchte betroffen auf, gesenkten Hauptes sah sie den Vetter, der mitten im Zimmer stand, mit den großen rathlosen blauen Augen starr an. „Otto, bist Du verrückt geworden?“ fragte sie leise.

Sie wußte nicht, sollte sie lachen oder weinen. Aber als er nun die Augen aufhob und sie mit brennenden Blicken, die ihr immer näher und näher zu kommen schienen, betrachtete, da zuckte sie unwillkürlich zusammen und es war ihr, als lief ihr ein eiskalter Tropfen zwischen den Schultern hindurch.

Vor einem Geheimniß, das Beiden unbewußt weiß Gott wie lange mit ihnen gelebt hatte, war der Schleier zerrissen. Es erschreckte Bianca. Sie wollt’ es aus der Welt haben, um wieder frei athmen zu können. Sie wollte mit sehenden Augen nicht daran glauben müssen.

Derweilen rang Pater Otto nach Worten, die Alles erklären und Alles gewinnen sollten. Aber der sonst so redegewandte Meister brachte nichts hervor, als ein zwischen Vorwurf und Bitte schwankendes: „Du hast mich doch sonst immer lieb gehabt!“

„Ich habe Dich noch lieb!“ beeilte sich Bianca zu versichern.

„Aber wie?“ klang es bitter von spöttisch verzogenen Lippen zurück.

„Narr, der Du bist! So lieb, wie keinen anderen Menschen auf der Welt!“

„Aber . . .?“ fragte der Priester hastig.

„Aber,“ fuhr das Mädchen mit der Ruhe, die es wiedergewonnen hatte, fort, „ich kann mir denken, daß ich einen Anderen noch lieber haben könnte, als ich Dich lieb habe.“

„Herrn Edgar von Sperber vielleicht?“ rief der Mönch, und man sah dabei die blanken Reihen seiner Zähne.

„Das weiß ich nicht.“

„Wirklich nicht?“

„Meiner Seel’, nein! Vielleicht, vielleicht auch nicht! . . . Du kennst mich. Ich bin nicht verliebter Natur. Ich habe nichts im Kopf als meine Kunst und mein Singen. Daran hängt mein Herz mit aller Leidenschaft. Die Menschen sind mir mehr oder weniger gleichgültig, meine Verwandten und etliche Musikanten vielleicht ausgenommen. An Baron Edgar hab’ ich mich gewöhnt. Er ist so ein guter, braver, artiger Mensch. Ich mag’s gern, wenn er andächtig vor mir dasitzt und jeden Ton von mir nur gerade so auffangen möcht’ mit Ohren und Augen. Und ich ärgere mich, wenn Du ihn ohne Grund verjagst. Mir fehlt was, wenn er nicht da ist.“

„Möchtest Du ihn heirathen?“ rief jetzt Pater Otto laut und bestimmt, nachdem er hastig an sie herangetreten war und sie beim Handgelenk ergriffen hatte, just als fürchtete er, sie möchte ihm entschlüpfen, ohne diese Frage zu beantworten.

Bianca erschrak, aber gleich darauf fing sie herzlich an zu lachen, sie wand sich an seiner Hand und bog sich vor- und rückwärts, so überwältigend komisch klang ihr diese Frage.

„Ich heirathen? . . . und Den?! . . . Unsinn! Wer denkt an so was! Aufs Theater will ich. singen will ich, gefallen will ich, sehr gefallen, wie die Lucca, wie die Patti gefallen haben, berühmt und reich will ich werden, eine große Sängerin werden ! . . . aber heirathen? jetzt schon? eh’ ich nur einmal aufgetreten bin? Und das glaubst Du von mir? Ich hab’s ja gesagt, Du bist übergeschnappt! Ahaha! Mir thut das Herz weh vor lauter Lachen.“

Sie mußte sich niedersetzen und hielt die Hand an die linke Seite.

Pater Otto ergriff einen Stuhl und stellte ihn hart neben den ihrigen. Er war im Tiefsten erschüttert, und doch war ihm, als hätt’ ihm Jemand einen Mühlstein von der Brust genommen. Er war darauf gefaßt gewesen, daß ihm Bianca nicht mehr von der Wahrheit in ihrem Herzen bekennen würde, als ihr zuzugestehen räthlich schiene. Allein dies Erstaunen ob seiner von Eifersucht eingegebenen Zumuthung, dies Gelächter und diese Worte kamen von Herzen, sie sprachen Bianca’s seelische Ueberzeugung aus und bliesen den quälenden Argwohn, daß die geliebte Muhme daran dächte, sich dem Baron hinzugeben, in alle Winde.

Der kleinen Scandrini war in der That noch nie der Einfall gekommen, ob sie den reichen jungen Mann, der sie so sehr verehrte, heirathen könnte. Daß eine große Sängerin – und sie hielt sich bereits in ihrem Sinnen und Denken für eine solche – Anbeter hatte, die ihr Blumen und Bonbons und, trotz Pater Otto’s kurzgezogenem Register, noch andere und kostbarere Dinge in Hülle und Fülle zu Füßen legen durften, das verstand sich bei ihr von selbst; das gehörte zu einer richtigen Primadonna. Daß aber solch eine Primadonna noch irgend etwas Anderes dafür zu gewähren oder zu leisten hätte, als jeden Abend auf den Brettern vor den Lampen schön zu singen und vielleicht etwa noch schön auszusehen, das stand nicht in ihrem Codex, das war ihr rein zum Lachen. Wenn sie sich eine Huldigung gefallen ließ, wenn sie ein Geschenk aus den Händen eines Verehrers anzunehmen geruhte, wenn sie vollends beim Singen Jemand in ihrer nächsten Nähe duldete, war das nicht hohe Auszeichnung und Gnade genug? Sie hatte eine gewaltige Meinung von ihrer Kunst und dem Adel der Kunst.

Da ihr der Vetter den verrückten Vorschlag ins Gesicht warf, ob sie den Baron heirathen möchte, klang ihr das nicht viel besser, als wenn er ihr zugemuthet hätte, drei Stock hoch zum Fenster hinaus zu springen.

[748] Und wie sie dann anfing, ein wenig darüber nachzudenken – nicht etwa geflissentlich, es schössen ihr nur so unwillkürlich die Gedanken durchs Köpfchen – da war sie überzeugt, daß auch Edgar von Sperber an derlei nicht dachte. Und auch darin hatte sie Recht.

In Otto’s Brust ging es dabei seltsam zu. Durch Bianca’s Gehaben überzeugt, daß sie in ihrem Herzen noch keine Geheimnisse barg, aber doch voll Angst, ihr Herz möchte eines Tages zu Gunsten eines Anderen sprechen, ließ er sich mehr und mehr von seiner Sehnsucht überwältigen. Der Mann, welcher sich selbstgefällig den Unnamen eines anderen Odysseus gefallen ließ, verlor sein Vorbild ganz und gar aus den Augen, und zeigte sich so thöricht, wie es andere Verliebte zu sein pflegen.

Da saß er nun, dicht an der Seite seiner horchenden Muhme, hielt ihre Hand in der seinen und meinte, seine ganze Ruhe wieder gefunden zu haben, und meinte, mit dieser Ruhe einen ganz annehmbaren Lebensplan zu entwickeln, der jedem Dritten so einleuchten müßte, wie das Einmaleins.

Von Bianca’s Lippen schwand allmählich jede Spur von Lächeln, und von ihren Wangen die lustige Röthe. Ihr Angesicht ward blaß und starr. Sie schwieg und nagte nur manchmal sachte die Lippen und horchte, horchte, ohne den Vetter nur ein einziges Mal zu unterbrechen, ohne ihn anzusehen, ohne durch eine Bewegung die Ungeduld ihres Herzens, den ganzen Schauder, der sie faßte, anzudeuten.

Sie wollte ihn ganz ausreden lassen, er sollte Alles, Alles heraussagen, was er auf dem Herzen hatte. Vieles Reden mußte ihn erleichtern; der sündige Wahn, der sich in seinem Innern wie eine Krankheit angehäuft und eingenistet hatte, sollte verdampfen in den heillosen Worten und seine Seele sich also ernüchtern.

Und der hingerissene Vetter erzählte einleuchtend und ausführlich von Josefinischer Zeit und wachsender Aufklärung, und wie schon damals eine Menge Mönche die Kutten ins Feld geworfen hätten und lieber nützliche Bürger und ganze Menschen geworden wären, was sie vordem doch nicht gewesen. Und wie es doch nur ein wahres Glück auf Erden gäbe: Liebe, Ehe, Familie und nutzbringendes Wirken, nutzbringend für die Seinen und fürs Allgemeine …

Warum, ja warum sollte er nicht glücklich sein?

Er fragte es laut und seine Augen füllten sich mit Thränen.

Und er ballte die Faust und sagte, daß er glücklich werden wollte – glücklich mit Bianca!

Die Welt würde ihn mit offenen Armen aufnehmen. Er konnte was leisten. Er konnte die Kanzel auf einem Lehrstuhl verschmerzen. Bibliotheken gab es überall, und er hatte persönliche Verbindungen, soweit auf dem Erdboden Gelehrte wohnten.

Sie Beide waren vertraut mit einander, so lange Bianca auf der Welt war, er hatte sie das Schöne lieben und das Erhabene begreifen gelehrt. Und er wußte, was er wollte. Er konnte nicht leben ohne Bianca. Konnte Bianca leben ohne ihn?

Sie antwortete nicht. Er hatte zu Ende, er hatte sich müde geredet. Er lechzte nach einem Wörtchcn Antwort. Er wollte die Antwort ihr vom Gesicht ablesen ... Aber über dem vielen Reden war unvermerkt die Dämmerung ins Zimmer geschlichen; als er sich zur Seite wandte, um der Geliebten Züge zu befragen, vermochte er diese kaum mehr zu unterscheiden. Ein fahles, blasses, räthselhaft undeutliches Gesicht fand er sich gegenüber, das ihn ansah mit unheimlich ins Dunkel glänzenden Augen.

Sie erhob sich jetzt. Es war so düster, daß er ihre Bewegungen im Zimmer nur ungewiß verfolgen konnte.

Da blinkte ein Flämmchen auf, das ihre rosigen Fingerspitzen beleuchtete. Gleich darauf warf eine Lampe ihre Strahlen über ihn und sie und durch das ganze Zimmer.

„Es werde Licht!“ sagte Bianca dabei, und dann sah sie sanft, aber ernsthaft auf den dunklen Mann, der sich nicht rühren wollte, eh’ ihm Antwort würde, und der wie gelähmt vor Aufregung und Erwartung dasaß, die Hand auf dem leeren Stuhle, den sie verlassen hatte, die Augen wie Einer, der sein Urtheil erwartet, auf seinen Richter, auf sie geheftet.

[762] Bianca kam langsam auf ihren Vetter zu, kreuzte die Arme über der Brust und sprach: „Glaubst Du jetzt wirklich ein Wort von alledem, was Du mir und Dir da vorgeredet hast? ... Ich glaub’s nicht! Nicht so viel!“ Dabei hielt sie ihm das mit dem Nagel des Daumens am letzten Ende markirte Spitzchen ihres kleinen Fingers vor die Augen.

Er wollte was Heftiges einwerfen. Sie aber schnitt ihm gebieterisch jedes weitere Wort ab. „Laß jetzunder mich reden!“ rief sie. „Ich habe Dir lang genug zugehört. Was, Du willst mir im Ernst weißmachen, daß Du, der Pater Otto, der von Kindesbeinen an keinen höheren Gedanken gehabt hat, als geistlicher Herr zu werden, daß Du, der Du auf Deine heiligen Weihen stolz bist wie kein zweiter in der Erzdiöcese, daß Du, der überzeugte Katholik, Alles, was zu Deinem Beruf und zu Deiner Ueberzeugung gehört, auf einmal liegen und stehn lassen und mit mir weiß Gott wohin gehen willst, wo sich Hund und Katze Gute Nacht sagen?! Du?! und mit mir?! Du, der gescheite Vetter Otto?! der nüchterne, der überlegene, der ironische?! Du bist ganz für so etwas gemacht!

Schau, ich muß lachen! Ich kann mir Dich halt nicht als lyrischen Tenor vorstellen. Es geht nicht. Das Duett sing ich nicht mit Dir.

Geh’ und sei wieder gescheit! Sei mir, was Du mir immer warst, so lang ich mich erinnern kann, mein lieber, mein einziger [763] Freund! Bring’ mich nicht um meinen einzigen Freund! Ja, der bist Du! Wen hab’ ich denn, seit meine arme Mutter draußen liegt, auf dem Währinger Friedhof? Wer sagt mir was, wer giebt mir guten Rath und rechte Lehren? Wer hält was auf mich und sorgt, daß was Rechtes aus mir werde? Niemand! Mein Vater denkt nicht viel an uns Mädeln. Ich bin ihm nur eine, die immer Geld kostet und nicht einmal in der Wirthschaft was nütz ist. Er schaut noch so zu eine Weil, und wenn dann nicht ganz was Besondres aus mir geworden ist, dann wird es heißen: Marsch hintern Herd, Blankerl, und ans Waschfaß! man wird Dir weiter keine Extrawurst braten! Ein rechtes Herz hat er zu keiner von uns. Ja, wenn wir Buben wären und mit in die ‚Blaue Flasche‘ gehen könnten und in den Bezirksverein und in den Gemeindevorstand! Aber so, was fangt er mit dem vielen Weibsvolk an! Und für meine Kunst hat er schon gar keinen Sinn, als etwa den, daß er hofft, sie wird einmal viel Geld tragen. Ich wollt’, wir wären schon so weit!

Die Schwestern … Na, Du kennst sie ja selber. Sind gut und brav und hausbacken über die Möglichkeit. Eine Zeit lang, und derweil die Mutter am Leben war, haben sie mich verzogen und als Wunderkind herumgezeigt; nachher ist ihnen das zu langweilig worden. Ich soll um Gotteswillen ihnen nicht den ganzen Tag die Ohren vollschreien, heißt es jetzt, und nimmt eine von ihnen einen Kochlöffel oder eine Nähnadel in die Hand, so geschieht’s nicht ohne daß ein saueres Wort über die Achsel geworfen wird, die Jüngste könnt sich auch endlich ein wenig in der Wirthschaft rühren.

Ja, schau, sie haben vielleicht nicht Unrecht, aber ich bin halt so ein unnütz Ding, was nichts Andres kann und nichts Andres mag, als singen und Musik machen. Und mit so einem Hanswursten von Frauenzimmer willst Du unter die Protestanten gehn und ein sogenanntes neues Leben ohne Chorrock und Altar anfangen? Es wäre kein besseres, Otto, glaub mir’s! Die Leute thäten uns auslachen. Ich voran. Und Du selber, Otto; es verginge keine Woche, so lachtest Du Dich selber aus. Ich glaub’ aber nicht, daß Dir das wohlthät’.

Geh weiter! Geh in Dich! faß Dich fest ins Auge, wie Du bist, nicht wie Dich ein Rausch von Eitelkeit und Eifersucht verzaubert hat.

Da schau hinein! in den Spiegel da! … Ja, Sapperlot, sperr’ Dich nicht! Hab die Kourage, fest in dem Spiegel da Dein Gesicht anzuschauen! Wenn Du erst wieder weißt, wer der Pater Otto ist und wie er aussieht, dann wirst auch wieder wissen, wie der Pater Otto handeln soll!

So! siehst ihn jetzt? Na, also! … Und siehst die kleine blonde Person da neben ihm? Das ist diejenige, welche die Freundschaft des guten lieben Paters Otto nicht verlieren will, denn sie braucht seine Freundschaft! Und jetzt mehr denn je!

Also, Vetter, auf gute Freundschaft! Fürs ganze Leben! Und die Narrheiten, die Dir durch den Kopf gegangen sind, die schickst heim! Auch fürs ganze Leben! So ists recht!“

Sie streckte dem Manne, der, vor ihr verstummt, einen schrecklichen Kampf mit sich selber kämpfte, beide Hände entgegen und erwartete mit der Sicherheit des Herzens den unfehlbaren Erfolg ihrer Worte.

Pater Otto’s Züge zuckten schmerzhaft durcheinander wie die eines Kindes, das sich des Weinens zu erwehren trachtet. Er war kein Kind und er weinte nicht. Er sah aus tiefen Augen auf das schöne Gesicht vor ihm und fand darin Bestätigung alles dessen, was er eben von diesen Lippen vernommen hatte.

Ja, sie war stark und fest und klug und sie wußte, was sie wollte. Sie liebte keinen Mann, weder ihn noch den guten Edgar. Sie gehörte der Kunst und wollte Niemand Anderem gehören. Wahnsinn, frevelhafter Wahnsinn war es gewesen, auf ihrem frommen weihevollen Weg sich und die Sünde zwischen ihr reines Streben und ihr erhabenes Ideal zu werfen. Versuchung des Teufels! Anfechtung eines Augenblicks!

Ja, nur eines Augenblicks! Pater Otto hatte sich wieder! Aber er war zu bewegt, um irgend etwas sagen zu können. Nicht die Bitten um Verzeihung, nicht die Versicherung treuer Freundschaft, kein Wort, keine Silbe vermochte er zu stammeln. Er beugte sich auf Bianca’s Hände nieder, faßte sie beide und bedeckte sie mit Küssen.

Dann sah er ihr noch einmal in die großen klugen blauen Augen, schüttelte ihre Hände heftig, als gelobte er also mit eindringlicher Gebärde, was er mit Worten auszusprechen noch nicht im Stande war, und wandte sich und stürzte davon.

Bianca schloß hinter ihm die Stubenthür ab. Nicht, weil sie seine Wiederkehr und ein neues Schwanken seiner Entschlüsse fürchtete. Aber sie wollte, sie konnte jetzt mit Niemand Anderem sprechen. Auch mit ihren Schwestern nicht! Was sollte sie diesen antworten, wenn sie sie ausfragten, warum sie so blaß, so aufgeregt aussehe? und was es mit dem Vetter, der wie ein Rasender davon gestürzt war, für eine Scene gegeben habe?

Am Lügen hatte sie keine Freude. Und die Wahrheit, die nicht ihr, sondern Otto’s Geheimniß war und für ewig bleiben sollte, durfte keine Menschenseele von ihr erfahren!

Sie wusch sich Augen, Gesicht und Hände. Sie athmete auf. Und ihr Athmen ward Gesang.

Sie saß am Flügel und sang und spielte sich die Aufregung von der Seele weg und suchte die tausend Gedanken, die um ihr blondes Haupt wie im Wirbelwind, der einen Blumengarten geplündert hat, herumflogen, zu ordnen oder zu scheuchen mit ihren Tönen.

Sie sang stundenlang. Hohes und Tiefes, wie es der merkwürdige Umfang ihrer Stimme gestattete. Arien der Donna Elvira, der Susanne, der Rosina, der Nachtwandlerin, Lieder von Schubert, von Schumann, von Franz ... Sie hatte einen unstillbaren Durst nach Musik. Die Stimmbänder thaten ihr weh, aber ihre Ohren, ihre ganze Seele lechzte nach quellenden Tönen, die ihre Traurigkeit, ihre Bangigkeit überströmen und reinigen und heiligen sollten.

Warum war ihr so bang? warum war sie so traurig? ...

Sie fragte sich selbst und seufzte tief … da klopften ihre Schwestern mit hastigen Fingern an ihre Kammerthür.

„Bianca! Blanche! hörst nit?! … Mach doch um Gotteswillen einmal ein Ende mit dem Geplärr’! Die Nachbarschaft wird schon rebellisch. Die Kinder im ersten und der alte Herr im zweiten Stock können nicht einschlafen.“

„Jawohl, und Du wirst Dir noch heilig und wahrhaftig die Stimme verschreien, wenn Du immer fort Alles durch einander singst vom hohen C bis ins tiefe A. Und stundenlang ohne Aufhören! Es ist ja sündhaft, so auf das Glück loszustürmen, das einem der liebe Gott für sich und die Seinigen anvertraut hat!“

„Ja, und zum Abendessen wär’s endlich auch Zeit. Es wird ja Alles kalt!“

„Bianca! hörst nit?!“

Und sie hämmerten erst recht wider die Thür.

„Ich kann nichts essen!“ sagte jetzt die jüngste Schwester klar und bestimmt. „Vielleicht später! Hebt mir nur was auf!“

„Halt’s wie Du willst!“ rief die Aelteste vor der Thür. „Aber kommst nit herüber?“

„Ich dank schön. Ich will noch studiren für morgen!“

„Aber ganz in der Stille! Gelt ja!“ sprach die jüngere Schwester durchs Schlüsselloch, sonst sagt uns der Hausherr morgen früh die Wohnung auf! Sei so gut, und mach dem Vater die Freud’.“

„Gute Nacht!“ rief Bianca. Und die beiden Andern, die mit den Launen der Jüngsten wieder einmal Geduld haben wollten, gingen zu Tisch. Der Vater war des Abends nie daheim.

Bianca schwieg, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Augen auf das Notenblatt über dem Klavier gerichtet.

Aber sie sah nicht, was da geschrieben stand. Ihre Gedanken waren weit weg. Manchmal griff sie leise einen Accord, daß es sanft durch die Stille hallte, wie wenn Elfen sich riefen, die im Mondschein zum Tanze fliegen wollen. Die letzten Blumen, mit denen Edgar sie beschenkt hatte, dufteten stärker und stärker, als wollten sie ihr etwas Dringendes sagen und hätten doch keine Worte zu Gebot, nur den Duft, mit dem sie ihr Dasein verhauchten und den doch die Menschen nicht verstanden, wenn sie nicht guten Willens dazu waren.

Die Sängerin öffnete beide Fenster, so weit es ging. Es war ihr auf einmal so heiß und die Nachtluft wehte wohlig um ihre Stirn. Drunten auf der Straße kam selten Jemand zu solcher Zeit vorüber; ab und an schattenhafte Gestalten, die’s eilig hatten, um noch vor Thorschluß heim zu gelangen und vor dem Hausmeister den Sperrsechser zu ersparen.

Wann er wohl wieder die Straße kommen wird?

Wer? er? … Otto? ...

Bianca schüttelte sich unwillkürlich, aber ihr graute vor Otto. Ihr natürlicher Beschützer hatte sich ihr verdächtig gemacht. [764] Sie konnte gegen dies unheimliche Gefühl nicht an – es war nicht ihre Schuld - wenn sie sich auch mit nüchternem Verstande sagte, dies Gefühl werde vorübergehen, diese Bangigkeit werde schwinden und der Vetter wieder nach wie vor der unsinnigen Viertelstunde ihr treuer zuverlässiger Freund und Berather sein.

Ja, das wußte sie gewiß. Aber sie wollte ihn doch etliche Tage nicht wiedersehen. Durchaus nicht! Und sie war auch sicher, daß Otto sich sobald nicht wieder sehen lassen werde. Nicht eher, als bis in beiden jungen Seelen dieser Auftritt tiefer in den Hintergrund geschoben und in der Erinnerung die grellsten Farben etwas abgeblaßt sein würden.

Also nicht nach Otto’s Wiederkehr hatte sie die Nacht gefragt?

Nach Edgar’s?

Er hatte was schönes angerichtet mit seinen dummen Fragen, dieser überweise Vetter Otto! Da saß sie nun, die noch vor wenigen Stunden ein argloser Wildfang gewesen war, und zerbrach sich den Kopf darüber, ob es möglich wäre, daß ein Mann wie Baron Sperber, ein reicher, munterer verwöhnter Lebemann, dem alle Thüren und alle Herzen offen standen, daran dächte, sie zu heirathen.

Nicht als ob sie sich für zu gering erachtet hätte, obwohl sie ganz genau wußte, daß ihr Herr Papa mit keinem Esterhazy oder Schwarzenberg im Entferntesten verwandt war. Aber der beste, der reichste, der schönste, der vornehmste Mann war für sie grade gut genug, denn sie war eine Künstlerin, eine große Künstlerin, und Höheres gab es nicht auf Erden.

Aber ob er, der verwöhnte Springinsfeld, an so etwas dachte, das hätte sie gern den verhüllten Sternen droben abgefragt.

Eigentlich konnt’ es ihr gleichgültig sein, denn sie selber dachte doch nicht ans Heirathen. Nein, gewiß nicht! Noch lange nicht! … Aber wenn er sie ernsthaft lieb hatte, mußte er doch solch ernsthafte Gedanken hegen. Nicht?

Ach, daß er sie lieb hatte, recht sehr lieb, und mit innigem, ganz ergebenem Herzen an ihr hing, daran zweifelte sie nicht. Daran wollte sie nicht zweifeln. Heut Abend nicht! Es hätte sie noch trauriger gemacht –

Wirklich? Ja, warum war sie denn traurig? Die Narren waren traurig, die Verliebten ...!

Um Gotteswillen, war sie in Edgar verliebt?!

Sie blieb mit stockendem Athem mitten im Zimmer zwischen Fenster und Piano stehen und streckte beide Hände aus, als müßte sie sich irgendwo anhalten, um nicht zu schwanken.

Wenn dem so war, so war nur der verdrehte Pater Otto daran schuld, der ihr den lästigen Floh ins Ohr gesetzt hatte! Es war zum Tollwerden. Sie wollte nicht, nein, sie wollte nicht verliebt sein und bekräftigte sich das mit stampfenden Füßchen. Was würde dann aus der Kunst?

„Du holde Kunst! …“ Sie trat hastig ans Klavier und griff sich leise das kurze Vorspiel in D-dur-Accorden.

Aber das Lied sang sie nicht. Sie legte die Finger auf den Mund, bis die Melodie in ihrem Innern verklang. Sie wollte heute Niemand Aergerniß geben. Sie wollte heut an Niemand Aergerniß nehmen.

Hätte sie einen Sternkundigen gekannt, sie würde ihn gefragt haben, was denn heute für eine verwirrende Konstellation am Himmel herrschte, die alle Leute verrückt machte. Denn mit rechten Dingen ging das nicht zu, daß nun auch sie sich den sonst so klugen Kopf darüber zerbrach, ob ein Hamburger Banquierssohn sie heirathen wolle.

Zwar man hatte Beispiele, daß es auch verheirathete Primadonnen gegeben … Indessen sie fingen doch nicht gleich so an. War eine Sängerin berühmt geworden, als sie schön den Ehering am Finger trug? ... Also weg, ihr dummen Gedanken!

Aber Edgar war ein lieber Mensch ...! Und wenn sie nie berühmt wurde ... nie, obwohl sie Alles ihrer Theaterschwärmerei geopfert hätte, was dann?!

So sann und seufzte sie lange, lange … bis es draußen von allen Thürmen Zwölfe schlug. Da erschrak sie und blies die Lampe aus.

Aber sie blieb auch noch im Dunkeln vor dem Klavier sitzen und grübelte – sie wußte endlich selber nicht mehr recht warum und worüber – bis sie das Hausthor unten aufschließen hörte.

Das war der Herr Papa, der von Lerchenfeld heimkam und nun schweren Schrittes und laut sich räuspernd die Treppen hinaufstieg.

Mit dem war nicht zu spaßen. Sie warf eilig ihre Kleider bei Seite und war ins Bett ehe der „Herr von Latschenberger“ mit dem barschen Ausruf: „Noch nicht Feierabend hier?“ die entriegelte Thür aufstieß und sich wunderte, daß er Alles still und dunkel fand, wo er doch eben von der Straße herauf noch Licht zu bemerken vermeint hatte. Brummend zog er sich in seine Kammer zurück, während Bianca auch in ihren Kissen noch lange keinen rechten Schlaf fand über der Frage: Giebt es verheirathete Primadonnen auf der Welt? und wenn ja, hat ihnen die Ehe mehr genützt oder mehr geschadet? In diesem holdseligen Kinde war das Weib noch nicht recht wach geworden, wenn es auch Pater Otto’s unzeitige Frage nahezu munter gerufen hatte. Bianca wog ab, wofür ihr Gewicht und Wage fehlte. Darüber ward sie denn doch müde und schlief endlich ein, wie die Kinder und die Glücklichen einschlafen, mit einem Seufzer mitten im Vaterunser.


Edgar kam wieder und ward gut empfangen. Pater Otto blieb aus und ward nicht vermißt.

Bianca war es recht eigenthümlich zu Muthe. Sie bezog unwillkürlich Alles, was sie Süßes und Zierliches zu singen hatte, auf Baron Sperber. Sie hätte sich darüber ärgern mögen, aber sie zog es vor, sich über den abwesenden Vetter zu ärgern, der allein die Schuld trug, daß ihre sonst so harmlosen Gedanken nun [766] diese Richtung nahmen. Manchmal, das heißt nur wenn Sperber nicht dabei war, sang sie ihn mit einer Innigkeit und Wonne an, daß der Gesangsprofessor überrascht aufhorchte und sich fragte, was denn über seine Schülerin gekommen wäre. Hatte wirklich die Liebe dem Geschöpf die Zunge gelöst, oder war es reine Begabung, die unbewußt so herzergreifende Töne fand?

Bianca hütete sich wohl, Sperbern, der nach dem letzten Wortwechsel mit dem gebietenden Vetter artiger und zuvorkommender denn je war, irgend etwas davon merken zu lassen, was sie selber noch nicht als die Liebe in ihrem Herzen anerkennen wollte. Aber es war doch so eigenthümliche Luft um Bianca herum, in der es sich wonniger und freier und hoffnungsfreudiger athmete als vordem.

Edgar von Sperber vermochte sich keine Rechenschaft darüber zu geben, allein er empfand es und war sehr glücklich darüber. Sein täglicher Wunsch auf dem Wege nach der Florianigasse war nur, daß jetzt nicht wieder zur Unzeit der perfide Pater Otto im Hause Latschenberger auftauchte und sich mit seinem salbungsvollen Humor ins Mittel legte!

Der Undankbare ahnte nicht, wie viel, ahnte nicht, daß er Alles, was ihn jetzt so glücklich machte, dem Verwünschten schuldig war!

Ach, es war jetzt so behaglich bei Bianca! Sie sang so schön wie nie ... so kam es wenigstens Sperbern vor. Und sie duldete, daß er sie ab und zu bei der Hand nahm und ihr in die Augen sah, die gar so wunderschön waren. Und sie unterbrach ihn nicht mehr wie sonst mit trillerndem Gelächter, wenn er ihr verliebtes Zeug vorplauderte.

In ihrer Stimme war ein Schmelz, in ihren Blicken eine Feuchtigkeit, über ihrem ganzen Wesen ein Hauch wonniger Schwärmerei, daß Edgar sich streng zusammennehmen mußte, um nicht vollends den Kopf zu verlieren und in einem unbewachten Augenblicke mehr zu sagen oder zu thun, als annoch hätte hingehen dürfen.

Ein ganz anderes Gesicht als die liebe Bianca machte jetzt freilich ihr Vater dem allzu oft vorsprechenden Besuch, wenn Edgar das Unglück hatte, früher in die Florianigasse zu gerathen, als der „Herr von Latschenberger“ sich auf den Weg nach der „Blauen Flasche“ oder nach der „Pfeife“ begeben hatte.

Genau in derselben Progression, in welcher Bianca sich liebenswürdiger und weiblicher bewies, neigte jetzt ihr Vater mehr und mehr zu schwarzgalligem Mißtrauen und bärbeißiger Grobheit.

Was er nur hatte? fragte Bianca. Die Schwestern zuckten höhnisch-ärgerlich mit Mundwinkeln und Schultern. Aber Gewisses wußten sie auch nicht und ahnten nur etwas, aber es war ihnen nicht klar was. Sollte sich Pater Otto hinter den Alten gesteckt haben? Aber das war nicht seine Art, auf Bianca zu wirken.

Nein, der Vater hatte den gelehrten Herrn Cousin ebenso wenig gesehen seit jener hitzigen Abendstunde, als die Tochter. Otto war gewiß all die Wochen nicht aus seinem Kloster in die Stadt gekommen und hatte wohl eben viel zu thun.

Nun wollte sie manchmal, daß er wieder vorspräche, so in der alten klugen überlegenen Weise. Sie hätte gern mit ihm geredet ... worüber denn? … war es denn schon spruchreif in ihr? … Das eben wußte sie nicht und hätte den Erfahrenen, der viel gesehen und gelernt hat, gern darum gefragt ... wenn er’s hören konnte. Und daß er wieder Alles, was sein Mühmchen betraf, mit Geduld und Klugheit hören konnte, das glaubte sie. Und mit Recht.

Inzwischen ereignete sich etwas, das „Herrn von Latschenberger“ in die höchste Aufregung und Entrüstung versetzte und auch seine Töchter nicht wenig bewegte.

Den üblichen Bemühungen eines Theateragenten war es gelungen, für das schöne Mädchen, dessen umfangreiche Stimme und immerhin belangreiche Ausbildung schon bei den öffentlichen Prüfungen, die ihr Gesangsprofessor veranstaltet, freundliches Aufsehen erregt hatten, ein Engagement auszufinden.

Die Aufnahme dieses Vorschlages war bei den Mitgliedern der Familie Latschenberger eine sehr verschiedene. Während Bianca vor Freude in die Höhe hüpfte und mit den Händen klatschte, platzte der Papa mit schallendem Schimpfen los, wie man einem Stern erster Größe (er sprach nie anders von seiner Tochter, wenn er gut von ihr sprach), ja wohl einem Stern erster Größe, der die Lucca und die Patti, wie die Krauß und die Nilsson in Schatten zu stellen Glanz genug hätte, ein solches Lumpenengagement da hinten in der Schubiakei anzubieten auch nur wagen dürfte!

Unter Schubiakei verstand er eine der ehrenwerthesten alten Provinzen des Königreichs Preußen, denn es handelte sich um ein Engagement beim Stadttheater in Königsherg.

Als das die beiden älteren Schwestern begriffen hatten, fingen sie schrecklich an zu weinen, denn Preußen galt ihnen als der Inbegriff alles Oeden, Langweiligen und Ungastlichen auf der Welt. Vor ihren thränenden Augen ging das arme Blankerl einer schauerlichen Zukunft auf diesem Weg entgegen.

Der Vater hieß sie schweigen und nicht so dumm sein und wetterte ferner gegen die schamlose Niedertracht, seinem Kinde, solch einem Stern erster Größe, eine Anstellung bei einem Stadttheater zuzumuthen. Gab es nicht kaiserliche, königliche und in Gottes Namen auch andere Hoftheater genug, daß sich etliche derselben um die Ehre rissen, Bianca zu gewinnen? An ein gemeines Stadttheater durfte sie ihre Kraft nie wegwerfen! N..i..e! Nie!

Die schluchzende Einwendung der unglücklichen Tochter, daß an den Stadttheatern zu Frankfurt, Hamburg, Leipzig die schönsten Opernkräfte wirkten, ward mit hallendem Hohn überschrieen. Für einen richtigen Bezirksdemokraten, wie Papa Latschenberger einer war, gab es ohne Hofgunst keine Kunst! Unmöglich!

„Und kurz und gut, ich als Vater habe auch noch ein Wort dreinzureden, was aus Dir wird und wohin Du gehst oder nicht gehst. Und ich sage Dir, aus diesem Engagement wird nichts! Ich leid’s nicht, daß Du in die Schubiakei, ich verbiet’s, daß Du nach diesem Nest gehst, wo nichts zu holen ist, als alle Wochen ein frischer Katarrh. Dixi! Punktum!“

Damit schloß er seine Rede, schlug die Thür hinter sich zu und verfügte sich, um seine Gesundheit nicht länger unter ungelöschtem Aerger leiden zu lassen, spornstreichs nach der „Blauen Flasche“.

Nun der gestrenge Herr Vater das Feld als Sieger geräumt hatte, brachen die beiden Schwestern ungestört in neues Weinen, Klagen und Schelten aus, rangen auch ein wenig die Hände dabei.

Allein Bianca hörte gar nicht auf sie hin. Sie saß stumm da, die Ellenbogen auf den Knieen, die Hände verflochten und ließ vom vornüber gebeugten Angesicht die Thränen auf den Fußboden fallen.

Sollte ihre Bühnenlaufbahn enden, noch ehe sie begonnen hatte? bildete sich der Vater ein, daß die Patti gleich in Her Majesty’s Theater angefangen hatte? war die Lucca nicht unter den Choristinnen entdeckt worden? Sollte sie hier in ihrem Stübchen in der Florianigasse die Ohren der großen Welt und den Wettlauf geldgieriger Impresarii auf sich lenken? Heilloser Unsinn!

Sie wollte nicht unter väterlichem Unverstand leiden! Aber wie war ihm zu begegnen? wie war einer Erklärung des Vaters zuvorzukommen, ehe dieselbe den wackeren Agenten kopfscheu machte? Es waren Zwanzig da, welche sich um das Engagement in Königsberg rissen, und Hunderte, welche sie darum beneideten. Griff sie nicht zu, so war die Stelle morgen besetzt. Sagte man dem Vermittler für seine guten Dienste Grobheiten, so wird er sich hüten, sich ein zweites Mal für so närrische, so undankbare Leute zu bemühen. Dann hatte Bianca das Nachsehen, und sie konnte lange warten, bis ihr wieder einmal gute Gelegenheit so nahe gebracht wurde.

Aber nur wer sich selbst aufgiebt, ist verloren. Sie war der Musikant, sie war die Künstlerin, sie, nicht der Papa! Sie mußte auch wissen, was sie thun oder lassen durfte. Und sie wollte nicht ihre Zukunft freventlich aufs Spiel setzen lassen und die Hände im Schoß dabei zusehen und eitle Thränen weinen.

Sie fuhr sich mit den Fäustchen über die nassen Augen, sprang auf die Füße und riß ihren Hut aus der Schachtel.

„Mädel, wohin willst Du?!“

Keine Antwort.

„Bianca, Du wirst doch nicht?!“

„Laßt mich zufrieden! Ich bin nicht verrückt, aber Ihr vielleicht!“

Damit war sie auf dem Wege zum Agenten, dessen sie sich auch für den Fall sichern wollte, wenn der Papa käme, einen Strich durch die Rechnung, will sagen durch den angebotenen, in [767] der That für ein erstes Engagement recht vortheilhaften Kontrakt zu machen.

Kaum aus dem Hause, stieß sie auf Edgar von Sperber, der sich nicht wenig auf die Abendstunde vor Bianca’s Klavier gefreut hatte und nun um so mehr erstaunt war, sie zur ungewohnten Zeit außer dem Hause und in der Verfassung einer Verzweifelnden anzutreffen.

Er erkundigte sich mit ungeheuchelter Theilnahme, was geschehen sei und wohin sie wolle.

Sie säumte nicht, ihr schweres Herz auszuschütten, und bat ihn, sie zu begleiten; es wäre ihr eine rechte Gefälligkeit.

Es gab keine Gefälligkeit, die Edgar seiner Angebeteten nicht mit Freuden erwiesen hätte, und nun gar eine so angenehme, sie den weiten Weg in die Schleifmühlgasse zu geleiten.

Ein recht bitterer Tropfen war freilich in dem Becher dieser bescheidenen Freude. Bianca setzte ihren Kopf darauf, die Königsberger Bühne zu beschreiten und dortselbst Alles zu singen, was nur Theaterdirektor und Kapellmeister von ihr verlangten. Papa mochte dazu sagen was er wollte, sie ging doch!

Sie war in ihrer Entschlossenheit und Entschiedenheit noch schöner als sonst; Edgar staunte sie bewundernd an von der Seite; aber was sollte der lebenslustige Herr von Sperber in Königsberg in Preußen! Die Stadt der reinen Vernunft in allen Ehren, aber für ihn, dessen Wahl einzig zwischen Paris und Wien schwankte, gab es kein Drittes, und jenes Dritte schon ganz gewiß nicht!

Wenn aber Bianca in Königsberg in Preußen lebte und webte, dann gab es für Edgar wieder anderswo keinen menschenwürdigen Aufenthalt.

Verzwicktes Dilemma! Doch vor der Hand war sie ja noch in Wien und ging an seiner Seite! Der Augenblick war zu schön, um durch grämliches Erwägen getrübt zu werden.

Die Augenblicke waren so schön, daß nicht nur Sperber, sondern manchmal sogar die werdende Künstlerin ihrer Sorge vergaß; sie lächelten einander an wie die Glücklichen, wenn sie sich in die Augen sahen, und jeder von beiden freute sich über das, was der andere zu ihm sagte, wenn auch dieser andere selber nicht immer wußte, was er in seinem verliebten Kauderwälsch daherplauderte.

So kamen sie endlich vor des Agenten Thür. Aber sie hatten sich noch so viel zu sagen, daß sie nothwendigerweise die Straße erst zwei, dreimal auf und ab wandeln mußten, ehe Bianca dem Freunde die Hand reichte und ihn bat, auf ihr Zurückkommen zu warten. Sie werde so bald als möglich wieder bei ihm sein und ihm erzählen, was der kundige Geschäftsfreund ihr zu thun anrathen werde.

Wie strahlte der Blick aus den blauen Augen ihn an, da sie sich noch einmal auf der Treppe nach ihm umwandte! Ja, er mußte nun doch etwas sein in ihrem Leben, wenn seine Liebe sie also tröstete selbst in bitterer Betrübniß.

Es währte jedoch verwünscht lange, bis Bianca wieder aus dem Hause kam. Edgar hatte die Straße einige zwanzigmal auf und ab gemessen, er war vor jedem Schaufenster geduldig stehen geblieben und hatte die Photographien an der Ecke mit einer Langmuth studirt, als gält’ es eine zu beerbende Verwandtschaft in dieser Sammlung der gleichgültigsten Leute von der Welt ausfindig zu machen.

Endlich erschien Bianca, zögernd, niedergeschlagen und sehr verändert in Blick und Haltung. Sie hatte sich droben sehr ereifert. Aber es hatte ihr nichts geholfen. Der gesetzeskundige Mann hatte sie versichert, daß ihr Kontrakt, da sie annoch minderjährig sei, von ihrem Vater unterschrieben werden müsse, und daß sein Widerspruch den gültigen Abschluß unmöglich mache.

Er hatte noch allerhand geredet, angedeutet, zu verstehen gegeben. An der Thatsache sowie am Wortlaut des Gesetzes änderte das nichts. Ihr war nichts übrig geblieben, als den klugen Herrn zu bitten, ihr den Kontrakt noch einige Tage offen zu lassen. Und er hatte ihr das in die Hand versprochen.

Wenn sie nur erst in Königsberg wäre, wenn sie nur erst gesungen und gefallen hätte, der Papa würde dann schon mit sich reden lassen und klein beigeben! Aber wie das erreichen?

Vielleicht, daß ihn Pater Otto bestimmen könnte!

Sie waren Beide zur selben Minute, wie in einem Athemzug, auf diesen Einfall gerathen. Und über das Zeichen der Sympathie freuten sie sich, obschon sie lange den Namen des Chorherrn nicht mehr vor einander genannt hatten.

Immerhin erhellte dieser Trostesschimmer das Gemüth der Jungfrau ein wenig, wenn sie auch auf dem ganzen Wege die Heiterkeit oder gar den Uebermuth früherer Tage nicht mehr fand.

Sie schwieg lange Strecken weit, in ihre Gedanken verloren. Einmal – es war schon nahe der väterlichen Wohnung – blieb sie plötzlich stehn, warf einen Blick auf ihren Begleiter, einen anderen gegen Himmel und sagte dann hastig: „Helf mir Gott, wenn sie mir den Weg aufs Theater verlegen wollen, so geh’ ich durch! … Und Sie, Baron Sperber, müssen mir dabei behilflich sein!“

Edgar erschrak nicht bei diesen Worten, weil er sie nicht für ernsthaft gemeint erachtete. Doch säumte er nicht, ihr zu versichern, daß er heut und jederzeit ihr ergebenster Diener und bereit sei, sie bis ans Ende der Welt zu bringen, wenn sie es wünsche.

Bianca Scandrini schüttelte ihm derb die Hand, wie ein zum Aeußersten Entschlossener seinen Spießgesellen in Pflicht nimmt, und setzte nachdenklich schweigend ihren Weg fort.

Unfern des Hauses aber bat sie Edgar, sie allein zu lassen. In ihrem Heim säh’ es heut nicht behaglich aus, und singen könnte sie mit dieser Aufregung in Hirn und Herzen doch keinen rechtschaffenen Ton. Aber morgen sollt’ er wiederkommen. Wer weiß, wie weit die Dinge morgen schon gereift sein würden! Auf alle Fälle wisse sie, daß Sperber ihr guter, treuer Freund sei. Nicht wahr?

„Fürs Leben und die Ewigkeit!“ war seine Antwort, und gehoben in allem Denken und Empfinden verließ er sie, noch elastischer als sonst auf wiegendem Gange schwebend, in einer Zukunft schwelgend, die ihn, so unklar sie sich ansah, doch vor Freude schwindeln machte. –

Wen fand die ahnungsvolle Seele daheim in ihrem Salon sitzen? Den regulirten Chorherrn, der schon seit geraumer Weile auf das bedrängte Mühmchen wartete, sich aber nicht, ohne sie gesehen zu haben, entfernen wollte, weil er nur für einen Tag vom Kloster in die Stadt entlassen war, ohne Aussicht, daß sich in Bälde solche Gunst zum andern Male finden werde.

„Cugino del mio cuore, Du kommst wie gerufen! Gott sei Dank! Setz’ Dich nur gleich wieder und hör’ mir zu! Habe Geduld und rathe mir gut.“

Vetter und Muhme saßen einträchtig bei einander wie in alten Zeiten. Pater Otto hatte sich, seine Herzensruhe und seinen fröhlichen Verstand wiedergefunden. Das war klar auf den ersten Blick, und Beide waren froh darum.

Das Kinn in der Hand, das Haupt ein wenig seitwärts geneigt, horchte der geistliche Herr so ernsthaft wie im Beichtstuhl auf die sprudelnden Worte des leidenschaftlichen Mädchens.

Auch er schien von dem Kontrakt, den sie ihm vorlegte, nicht gerade sehr erbaut; doch versprach er, sich des Genaueren über dortige Verhältnisse erkundigen zu wollen und dann mit dem Onkel ein ernstes und eindringliches Wort zu reden. Aber nicht vor Ende der Woche! Denn so bald ließ der selbstherrliche Latschenberger sich sein einmal gefaßtes Vorurtheil nicht verleiden. Auch von verwandtem Blut und geistlichem Beistand nicht. Auch stand Pater Otto früher keine Gelegenheit zu Gebot, nach Wien zu kommen.

Obwohl Bianca ihr Zünglein streng hütete, um dem Vetter nicht zu verrathen, wie es seit seinen letzten Besuchen in ihrem Herzen aussah, so merkte der geriebene Menschenkenner doch an der Lust, mit der sie den Namen des Hamburger Kaufherrnsohnes in ihren Bericht verflocht, und an der Wichtigkeit, die sie jeder seiner Aeußerungen beilegte, am Ton ihrer Stimme, am Blitzen ihrer Augen, an der Veränderung ihres ganzen Wesens, daß Gott Amor die Zeit seiner Abwesenheit benutzt habe, den schönen Wildfang Empfindung zu lehren.

Um ganz sicher zu gehen, bat er sie, etwas zu singen. Was sie wählte und wie sie es vortrug, bestätigte seine Vermuthung.

Sie hatte begriffen, was man ihr früher nicht zu erklären vermocht, das Herz ergänzte den Verstand, und sie sang nun mit vollem Herzen.

Er schritt lauschend mit der Hand am Kinn im Zimmer auf und nieder, während sie sich unbewußt in ihren quellenden Tönen verrieth. Manchmal blieb er stehen und schaute hinüber zu ihr, ob sie nicht um einen Zoll gewachsen, ob sie überhaupt noch dieselbe sei.

[768] Und als sie eben nach einem neuen Notenheft griff, schritt er auf sie zu, legte die Hand ihr auf die Schulter und sagte, da sich das schöne Gesicht nach ihm umwandte: „Bianca, wenn ich Dich heute fragte, was ich Dich neulich gefragt habe, würdest Du auch heut’ antworten: ich weiß es nicht?“

Sie wurde feuerroth und wandte langsam den Kopf zu den Noten zurück. „Was meinst Du denn, Otto?“

„Ob Du Frau von Sperber werden möchtest.“

Sie sah ihn wieder an. Der Schalk blizte aus ihren Augen und „Meinst Du, daß … er daran denkt?“ war ihre ganze Antwort.

„Du bist darüber also noch nicht im Klaren, Bianca?“

„Er hat es noch nicht gewagt, mich zu fragen.“

„So wage Du’s!“

„Ah!“

Ehrliches Erstaunen über solche Zumuthung ließ sie den seltsamen Vetter anstarren, der, nachdem er selber vor kurzen Wochen ihr seine ganz tolle freventliche Liebe gestanden, diese heute bereits so sicher überwunden hatte, daß er sie an einen Andern verheirathen wollte. Doch fand sie sich noch nicht in seine Gedanken, und unschlüssig flüsterte sie: „Ich weiß nicht, ob es das Rechte wäre.“

„Dann laß ihn laufen!“

„Nein! nein!“ schrie sie laut und hastig und hob wie bittend beide Hände.

„Siehst Du!“ lächelte der Chorherr. Aber eines oder ’s andere mußt Du wählen. Sonst läufst Du mir Gefahr. Und ich selber laufe sie mit. Ich muß Dich versorgt wissen, oder der Teufel ficht mich wieder an. Und das willst Du doch nicht? … Nun also!“

„Aber wie fängt man’s an?“

„Soll ich dafür sorgen, Mädel? Soll Dich der Vetter Otto unter die sogenannte Haube bringen?“

Sie nickte mit lächelndem Haupt und faltete die Hände.

„Gut!“ sagte jener. „Aber machen wir die Rechnung nicht ohne den Wirth! Diese jungen Herren von heute, sie stören sich bei ihren Courschneidereien nicht gern mit ernsthaften Gedanken … Wer weiß … doch das müssen wir eben ausproben. Und ist Dein Sperber ein Windbeutel … na, Blankerl, dann mußt Du Dich eben auch trösten, wie ... wie sich ein Anderer, den ich hier nicht nennen will, in Gottes Namen getröstet hat … Amen!“

Er tüßte bei den lezten Worten ihre Fingerspitzen und ging dann hastig zur Thür hinaus, noch ehe sie in der Dämmerung beobachten konnte, was er für ein Gesicht dazu machte.

[782] Es ist manchmal verblüffend, wie zwei Menschen in derselben Zeit, ja fast in derselben Stunde, ohne daß einer dem andern ein Sterbenswort mittheilt oder zielende Anregung zugehen läßt, auf denselben Gedanken, auf den nämlichen Entschluß verfallen. Gewisse Ideen liegen in der Luft, und greift sie der Eine heraus, hat sie der Andere schon in der Hand.

Pater Otto hatte sicher kein Wort mit Vater Latschenberger in der Sache gewechselt, die seiner Freundin heilig war. Ja, sie wußte gewiß, daß Einer den Andern seit Wochen nicht gesehen, und daß der Vater über seines Neffen Ausbleiben sich ärgerte. Und doch, wie kam er nur auf denselben Einfall?

Er hatte sich schon einige Tage mürrischer gezeigt, als gewöhnlich. Plötzlich fing er bald nach Otto’s letztem Besuch einmal beim Fleischtranchiren an – er hatte so die Art menschenfreundlicher Hausväter, alles Unangenehme, was ausgesprochen werden mußte, bei Tisch abzumachen; seine Verdauung schien durch Verdruß und Kummer der übrigen Familienmitglieder nicht empfindlich beeinträchtigt zu werden – „Hörst einmal, Blankerl,“ rief er und wetzte gar derb das Messer dabei, „die dumme Geschicht’ mit dem Herrn von Sperber muß ein Ende nehmen! So oder so! Will er Dich heirathen, mir kann’s recht sein, obschon mir ein Schwiegersohn lieber wär’, der kein Norddeutscher und kein Protestant wär! … Meint er aber nur so sein G’spusi mit Dir zu treiben und Dich womöglich ins Gerede zu bringen, da werd’ ich ihm das nächste Mal zeigen, wo der Zimmermann das Loch für ihn gemacht hat. Und das fix! Eins, zwei, drei! … Und Du wirst Dich halt darnach richten! Schreib Dir das hinter die Ohren! Dixi! Punktum!“

[783] Dixi! Punktum! war das Siegel auf unerschütterlichen Entschlüssen, gegen welche jede Widerrede ausgeschlossen war. Gegengründe verfingen so wenig als Thränen und Bitten, wenn Papa Latschenberger gesprochen und seinen fatalen Punkt unter seine Meinung gesetzt hatte.

Seine Mädchen wußten das. Auch sein jüngstes. Allein so sehr es wünschte, mit dem Manne, den es herzlich liebte, in Freud und Leid vereinigt zu werden, so wenig traute es dem rauhhaarigen Vater die Art zu, so heikle Angelegenheit glückbringend in die Hand zu nehmen. Er war der Mann nicht, Baron Sperber zu einem Entschluß zu bewegen, den dieser vielleicht noch gar nicht ins Auge gefaßt hatte, und der ihm aus der Pistole geschossen auch schwerlich einleuchten würde.

Pater Otto, das war der Mann dazu! Aber hätte Bianca dem Papa bekannt, daß sie den Vetter schon mit der heiklen Aufgabe betraut habe, dem lieben Baron auf den Zahn zu fühlen, so würde sie bei Jenem Alles auf einmal verdorben haben. Denn Ehren-Latschenberger hielt was auf seine Würden als Vater und Bürgersmann. Ein Anderer hatte keineswegs da vorzugreifen. Er brauchte noch keinen Vormund, weder geistlichen noch weltlichen. Er war der Vater seiner Kinder. Und er wußte besser, als irgend Jemand, was sich schickte und wie man für die Seinigen einstand.

Der Erfolg war auch darnach. Bianca gab sich in den folgenden Tagen die größte Mühe, ihren Edgar, den sie auf dem Wege nach und von der Opernschule sprach, von Besuchen im Hause fern zu halten. Sie klagte ihm die liebe Noth, die sie jetzt mit den Launen des Vaters habe, dem irgend etwas im Geschäft wider den Strich gelaufen sein müsse, denn er sei zänkisch und ungerecht gegen alle Welt, und am ungerechtesten gegen sein jüngstes Kind.

Der Liebhaber hörte dem Mädchen wohl mit Rührung zu; aber gerade Bianca’s getrübtes Wesen regte seine Sorgen auf. Und eines schönen Sonnabends, wo er es vor Sehnsucht nach der behaglichen Stube voll Musik und Blumenduft und dem süßen Mädchen mitten darin gar nicht mehr aushalten konnte, sah er es auf einmal klar als seine Pflicht ein, dem alten Latschenberger den struppigen Kopf zurecht zu setzen und ihm das Unrecht ins Gewissen zu reden, seinem Kinde, solch einem Kinde das Dasein ohne Noth zu vergällen.

Die Gelegenheit hierzu war recht günstig.

Als er mit einem Riesenblumenstrauß in der einen, den kurzen Schnurrbart in der andern Hand, geschniegelt und gebügelt und schönster Erwartungen voll, vor der Thür der Latschenbergerischen Wohnung wartete, bis diese auf sein wiederholtes Klingeln hin geöffnet werde, hörte er drinnen die fette Stimme des Familienvaters, der da eine seiner Töchter anherrschte: „Im Zimmer bleibst! Ich werd’ schon selber aufmachen. Punktum!“

Und das besorgt’ er auch. Aber, nachdem die Thür geöffnet war, hieß er den freundlich Grüßenden durchaus nicht willkommen, sondern blieb vierschrötig, breitgegrätscht auf der Schwelle stehn und sagte, während er über dem Spizbauch die schwankenden Quasten seines Schlafrocks durch einander schlang: „Mein lieber Herr Baron, nix für ungut! Aber ich kann nicht umhin zu finden, daß Ihre Besuche für anständige Mädel zu häufig erscheinen. Ich bin der Vater. Ich habe für den guten Ruf meiner Töchter zu sorgen. Und damit nix für ungut, wie schon gesagt, und ich wünsch’ Ihnen anderstwo einen recht vergnügten Abend, Herr Baron, und bleiben S’ fein gesund!“

Die Pforte des Latschenberger’schen Paradieses war darauf so rasch vor Sperber’s kreidebleicher Nase geschlossen worden, daß er sich fragte, ob er den ganzen Auftritt nicht geträumt habe, und unwillkürlich die Hand noch einmal nach dem Klingelzug erhob.

Aber im nächsten Augenblick besann er sich auf die Wirklichkeit und, statt noch einmal Einlaß zu verlangen, nahm er den großen schönen Strauß in zornige Hand und warf ihn so heftig auf die so oft glückseligen Herzens überschrittene Schwelle, daß die Papierhülle nur so klatschte und die bunten Kelche, die jäh geknickten, sich kläglich an die harten Bretter schmiegten, als hauchten sie sterbend: warum öffnet ihr euch nicht diesem guten Mann?

Es war der lezte Strauß, den Fräulein Latschenberger von Edgar von Sperber erhielt. Und es braucht nicht gesagt zu werden, daß sie seine Blumen mit Küssen bedeckte, nachdem sie den Theueren erst die Treppe hinuntergehen gehört und ihm dann verstohlen nachgespäht hatte, bis er um die Ecke der Florianigasse ohne sich umzusehen verschwunden war.

Sie stürzte hinaus, raffte den Strauß, der fast so rauh mißhandelt worden war, wie ihr liebendes Herz, mit beiden Händchen vom Boden auf, und euch Blumen, die ihr just noch euer Geschick beklagen durftet, euch ward ein schönes Los kurz vor dem Tode!

Dem Vater Trotz! dem Gekränkten ewige Liebe! Scene und Arie, begleitender Chor und Brummbaß! … Angeblich schlaflose Nacht bei sämmtlichen Mitwirkenden.

Ob sich Edgar und Bianca den nächsten Tag auf dem Wege zur Opernschule gesprochen haben? … Wie Ihr nur so fragen mögt! Eine Unterredung von einer Länge, von einer Herzlichkeit, von einer Bangigkeit, wie noch keine dagewesen in den Annalen aller Sperber’schen Liebschaften. Alle möglichen Gründe, welche den Alten zu so grobem Vorgehen bewogen haben mochten, wurden erörtert. Verleumdungen, geschäftlicher Aerger, Mißtrauen etc. Aber, ob es Edgar ehrlich meine, das fragte Bianca nicht.

Das war Pater Otto’s Sache! Und überdies, des Mädchens Sinnen und Trachten stand heute nicht auf also bänglichen Erörterungen. Die Frage, ob sie Beide sich ohne Beschwer wiedersehen und weiterlieben könnten, lag ja weit näher und ging Jedem von Beiden so dringend ans Herz, daß andere Fragen dagegen gar nicht aufkamen.

Wenn Bianca jetzt Edgar betrachtete, meinte sie ihn früher nie recht ins Auge gefaßt zu haben, denn dann hätt’ es ihr schon früher einleuchten müssen, wie hübsch und wie vornehm er aussah, und wie ihm die Liebe zu ihr aus allen Blicken leuchtete. Wenn sie ihn jetzt betrachtete, fiel ihr immer ein, was jüngst ihr Gesangsprofessor gesagt hatte, daß ihr nun erst das Licht der Kunst im Herzen aufgegangen sei, daß sie erst vor Kurzem die Sprache des Herzens reden gelernt habe …

Sie dankte dem lieben Edgar also auch einen merklichen Fortschritt auf ihrer Künstlerlaufbahn! Das entschied über Alles. Und so meinte sie nachgerade vollen Ernstes, ohne diesen Edgar fernerhin nicht mehr leben zu können.

Diese vielleicht etwas voreilige Ueberzeugung wirkte nun weder beruhigend noch klärend auf die stürmische Gemüthsverfassung der leidenschaftlichen Sängerin. Im Gegentheil ward ihre Stimmung immer kriegerischer. Sie meinte sich erzwingen und ertrotzen zu sollen, was der Vater so voreilig und jähzornig verweigerte.

Sie konnte sich zwar vorhersagen, daß der Mann, welcher einmal sein Dixi! und Punktum! erlassen hatte, sich so bald keines Besseren belehren lassen werde, und auf diese Weise schon gar nicht; allein es war ihr ganz recht, ihn noch mehr ins Unrecht zu setzen, wenn er nicht nur den Mann, welchen sie liebte, von seines Hauses Schwelle grob verjagte, sondern auch ihrem Künstlerlauf sein Veto in den Weg legte. So war’s ja klar, daß er ihr Alles verleiden und verwehren wollte, was ihr das Leben überhaupt werth machte, die heilige Kunst und die süße Liebe, und daß sie sich selbst helfen mußte, rücksichtslos, entscheidend, rasch!

In dieser ungeduldigen Laune faßte sie getrosten Muthes die Sache beim verkehrten Ende an.

Sie wartete Pater Otto’s Vermittlung gar nicht ab, sondern riß jede Gelegenheit vom Zaune, dem Vater begreiflich zu machen, daß er nichts Eiligeres zu thun habe, wenn er es anders gut mit seiner Bianca meine, als Herrn Baron Sperber wieder höflich in sein Haus einzuladen und den Kontrakt mit Königsberg zu unterzeichnen.

Der Alte verlor alle Fassung ob solcher Frechheit, Unvernunft und Verstocktheit. Er tobte, wetterte, fluchte. Die Mädchen weinten und klagten laut. Auf der Tagesordnung des sonst von Musik und Wohlklang durchzogenen Hauses Latschenberger stand häßlich schallender Verdruß, Zank und Bekümmerniß die ganze Woche hindurch.

Bianca lief mit rothgeweinten Augen herum und ergab sich einer Verbitterung, die Schlimmes befürchten ließ.

Als nun am Samstag Pater Otto mit seinen menschenfreundlichen Vorsätzen angerückt kam, fand er es freilich unmöglich, bei dem über alle Maßen entrüsteten Spießbürger auch nur das Geringste auszurichten. Sämmtliche Latschenbergerischen Herzen flammten in Wuth, und der Rauch, der von diesen wüthenden Herzen aufstieg, umnebelte ihre Häupter so dicht, daß kein Licht der Vernunft und Milde mehr hindurchdrang.

[784] Immerhin befremdete den freundlichen Priester der unsinnige Zorn des Alten weit weniger als das scheue, wortkarge, seitabblickende Wesen seines Mühmchens, das dann mit Eins ins helle Gegentheil, in ein lachendes, tändelndes, zuthunliches Plaudern umschlug, welches ihm die reine Komödie, welches ihm wie eine heitere Maske vorgenommen schien, um finstere Gedanken und Pläne vor seinem hellen Blick zu verbergen. Der kluge Mönch ließ sich davon nicht beirren, er faßte sein Mühmchen nur um so fester ins Auge und sagte es ihm bald auf den Kopf zu, daß es einen Entschluß gefaßt habe, und einen, welcher den Vater wenig erfreuen werde.

Bianca zuckte nur die Achseln dabei, aber sie antwortete weder ja noch nein.

„Kann ich Dir bei Deinem Vorhaben in nichts nütze sein?“ fragte Pater Otto.

„Bei was für einem Vorhaben?“ entgegnete Bianca, ohne daß ihre Harmlosigkeit überzeugend klang. Der Verdacht, daß am Ende doch der Vetter es gewesen sei, welcher den Vater gegen Edgar in solchen Harnisch gebracht habe, drängte sich ihr wieder auf und hieß sie vorsichtig sein und ihr Geheimniß Niemand preisgeben.

Pater Otto mochte wohl ahnen, was in ihrer unschuldigen Kinderseele sich für ein Wetter zusammenbraute; aber auch er hielt es nicht für nöthig seine Gedanken zu verrathen, er hob nur sachte drohend den Zeigefinger und sagte sanft: „Mädel, mach mir keine Dummheiten!“

„Mußt Du mich auch quälen?!“ rief Bianca. „Es thut mir leid, daß Du es diesmal bei uns so schlecht getroffen hast. Aber komm nur recht bald wieder!“

„Na, gar so bald wohl nicht!“ entgegnete lauernd der Priester. „Ich habe viel Arbeit in meiner Bücherei und werde schwerlich vor vierzehn Tagen wieder nach Wien herein kommen.“

Ein seltsam Feuer leuchtete bei dieser Versicherung in des Mühmchens Augen auf. Ei, die verrätherischen Augen! dachte Pater Otto still bei sich.

Bianca kehrte die Blicke derweilen ausweichend gegen Himmel und sagte so nebenhin – es klang nicht laut: „Wie schade! In vierzehn Tagen kann sich Allerhand ereignen!“

„Ja, ja!“ sagte der Vetter wie ein argloser Mann, der gar nichts merkt, und dann hieß er seine Muhme fein sanft und verträglich sein und nichts übers Knie brechen. Es werde schon Alles gut werden, mit Gottes Hilfe.

Ja wohl, wird es werden! sagte Bianca hinter ihm drein, da er fort war. Es wird! aber anders, als Ihr denkt!

Hierauf stürzte sie an ihr Schreibtischchen und stellte mit fliegender Feder an Edgar die Frage, ob er sie wirklich liebe.

Ein Dienstmann, den sie von der Straße heraufrief, brachte das Billet an den bezeichneten Ort. Und der Tag hatte sich kaum verfärbt, und Vater Latschenberger hatte kaum den Weg nach der „Blauen Flasche“ eingeschlagen, als auch schon Antwort in Bianca’s Händen war. Sie möchte getrost über Edgar verfügen und seine Liebe auf jede Probe stellen. Er habe keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr nützlich zu sein.

Er wußte wohl nicht recht, was er versprach. Aber Bianca zweifelte keinen Augenblick daran, daß es ihm heiliger Ernst mit seiner Betheuerung sei, und daß sie mit ihm machen könne, was sie wolle.

Der andere Tag brachte etwas Klarheit in die Sache. Auf einem ihrer verstohlenen Spaziergänge, die sie, seitdem der Argwohn des Vaters in Verfolgungswuth ausartete, nur mit größter Vorsicht veranstalten durften, schüttete Bianca dem Geliebten ihr ganzes Herz aus. Sie wollte so bald wie möglich auf die Bühne, so bald wie möglich sich eine selbständige Stellung verschaffen und darum das Engagement in Königsberg um jeden Preis antreten. Der Vater wollte das um jeden Preis verhindern. Allein um ihr Probegastspiel zu absolviren, dazu brauchte sie die Erlaubniß des Vaters nicht. Hatte sie aber erst auf der Bühne gefallen, so konnte der gestrenge Herr seine Einwilligung nicht mehr versagen, zumal sie schon vorher eine Probe unabhängigen und unbeugsamen Willens gegeben haben werde, die ihn schon zur Einsicht und Nachgiebigkeit bewegen sollte. Aber eben dazu brauchte sie Edgar’s freundschaftliche Hilfe.

Dieser sah sie fragend an, wie Einer, der noch nicht begreift, was eigentlich von ihm verlangt wird.

Also mußte sie’s noch deutlicher sagen. Sie nahm ihn vertrauensvoll bei der Hand und raunte ihm zu: „Edgar, wir müssen fliehen, wenn wir glücklich werden wollen!“

„Fliehen?! Ausgezeichnet!“ rief Sperber. So etwas hatt’ er sich schon lange gewünscht; aber in seinen kühnsten Träumen hätte sein Muth sich nicht zu solch einer lauten Andeutung verstiegen.

Er küßte von Freude ganz hingerissen seiner himmlischen Bianca beide Hände. Recht erstaunt sah das Mädchen auf ihn herab. Was doch ihr Vorschlag für eine seltsame Wirkung auf den jungen Mann hervorbrachte! Es war doch eine recht schauerliche, gar nicht ungefährliche Sache, ein trauriger Nothbehelf, wo keine andere Hilfe mehr ersichtlich; aber daß er sich über diesen fatalen Vorschlag freute wie ein Kind, dem man den Weihnachtsbaum voller Herrlichkeiten und Süßigkeiten zeigt, das verstand sic nicht recht und fragte sich jählings, ob sie nicht groß Unrecht anstellte.

Allein Zeit und Umstände waren langem Besinnen und Erwägen so abhold, daß sie noch in derselbigen Stunde Alles verabredeten, was vorbereitet, was unterlassen werden mußte, wenn ihre Flucht aus Wien gelingen sollte.

Am dritten Tag darauf, ziemlich früh am Morgen, hatte sich Bianca von ihrem Vater verabschiedet, um, wie sie vorgab, zu einer Tante zu fahren, die in Gumpoldskirchen einen Weingarten hatte und sich ab und zu im Sommer eine ihrer Nichten zu längerem oder kürzerem Besuch ausbat.

An der Sache war nichts Auffallendes. Die Einladung der Tante war schon vorige Woche gekommen; ob man ihr folgen sollte, war gestern ausführlich verhandelt worden. Der alte Latschenberger erklärte, daß er froh sein wolle, wenn ihm das verweinte Gesicht seiner bockbeinigen Jüngsten für eine Woche aus den Augen geräumt werde.

Der Gefallen sollte ihm schon erwiesen werden, und zwar für länger, als er meinte! dachte Bianca dabei; aber sie hütete sich wohl, zu sagen was sie dachte.

Mit leichtem Gepäck, was sie zur Noth in der Hand fortzutragen vermochte, so wie man’s eben für eine Woche aufs Land mitnimmt, wenn man ein bescheidenes Bürgermädel ist, trat Bianca auf die Gasse.

Daß Eins von den Ihrigen sie auf die Bahn brächte, hatte sie trotz des Verdrusses, den sie bis zum Abschied rege gehalten, nicht hindern können. Aber die Schwester war’s zufrieden, daß sie, an der Südbahn angekommen, in demselben Komfortabel, der Beide herausgebracht hatte, wieder zurückfuhr, ohne die Schmollende bis auf den Perron zu geleiten und zu warten, bis der Zug abdampfte. Sie hatten sich Beide nichts mehr zu sagen als Lebewohl!

Bianca betrat aber den Perron gar nicht, wartete nur in der Vorhalle so lang, bis der Einspänner mit ihrer Schwester hinter der Linie verschwunden war, und schritt aus einem anderen Thor des Bahnhofs auf einen anderen wohlbekannten Wagen zu, dessen Kutscher, hinter dem rechten Ohr den Strohhalm einer Virginiacigarre, im Knopfloch eine großaufgeblühte rothe Rose, fast von der gleichen Farbe seiner Nasenspite, gar ehrerbietig das gnädige Fräulein begrüßte. Er glaubte, sie sei wohl eben mit der Bahn angekommen und sein Herr habe ihr, galant wie immer, seinen Fiaker zur Verfügung gestellt.

Der Schlag klappte zu. Die feurigen Rosse zogen an. Bianca’s Entschluß war That geworden.

Sie hatte nichts Eiligeres zu thun, als die Vorhänge zu beiden Seiten des Wagens herabzuziehen.

Sie war allein in dem bläulich überschimmerten Gelaß, das mit rasender Eile über das glatte Pflaster dahinstob. Sie preßte die Hand aufs Herz und sah sich rund um. Ein kleiner Korb, eine große Decke, ein Reisenecessaire, das war Alles, was sie Außergewöhnliches bemerkte. Die drei Stücke nahmen wenig Raum ein. Es sollte jede auffällige Zurüstung vermieden werden. Edgar hatte solche auch für hinderlich oder gar schädlich erklärt. Was der Mensch auf Reisen braucht, kriegt man für Geld zu kaufen. Und Geld wollt’ er mitnehmen, daß er genugsam einkaufen konnte was Bianca’s Herz begehrte.

Sie verstand nichts vom Reisen. Sie hatte sich in jeden Vorschlag gefügt, den er gemacht. Sie wollte nur fort, um auf irgend einem Umweg zur rechten Zeit ihr Engagement zu erreichen. Dazu waren freilich noch ein paar Monate Zeit. Aber die würden schon herumgehen, angenehm oder nicht, in irgend einem schönen verborgenen Erdenwinkel in Italien, in Frankreich … [786] sie machte sich keine Gedanken darüber. Sie hatte nur den einen Gedanken: sie wollte fort von Wien, fort von dem grausamen Vater und den quälerischeu Schwestern, fort, weit fort, und wollte, um in diesem Vorhaben nicht gehindert zu werden, jetzt von Niemand gesehen und erkannt werden.

Darum hatten sie verabredet, auf keinem Wiener Bahnhofe, wo die Begegnung von Bekannten ja überall zu gewärtigen war, abzureisen, sondern mit Edgar’s verlässigem Unnumerirten irgend eine der ferneren Stationen zu erreichen, wo sie zur Nachtzeit ziemlich sicher waren, unerkannt in ein vorherbestelltes Koupé zu steigen. Einmal auf der Eisenbahn eingeschifft, wollte Bianca nicht, ehe sie in anderen Landen war, den Kopf aus dem Fenster stecken, geschweige den Fuß noch einmal auf österreichische Erde setzen. Die Ihrigen fragten sobald nicht nach ihr. Für diese war sie im Hause der Tante gut aufgehoben. Bei der herrschenden Verstimmung erwarteten diese auch keine Briefe. Daß ihnen morgen ein Telegramm zuging, welches ihre Ankunft in Gumpoldskirchen meldete, dafür wollte Sperber sorgen.

All das fuhr wie in einem Wirbel zusammengeballt an Bianca’s Denken vorüber. Es haftete nicht. Sie hatte nur für ein Gefühl Raum: jetzt roll’ ich davon! Eine wilde Schadenfreude beherrschte sie. Sie ballte die Fäustchen und stemmte sie auf die Wagenkissen und horchte, wie die Räder rasselten, und guckte, wie der Sonnenschein sich mühte, das dichte blaue Gewebe der Vorhänge zu durchdringen.

Wie wird’s werden? wird’s gelingen? wird sie Schaden nehmen dabei?

Sie schüttelte das Haupt und lächelte. Sie war ihrer selbst sicher, und Sperber war ein braver Mann.

Aber sollte er nicht bereits bei ihr sein? Wenn er sie, wenn sie ihn verfehlte! … Ihr Herz schlug bang. Doch das war ja nicht denkbar, daß Edgar nicht Wort halten, nicht auf die Sekunde gewärtig sein sollte … Wie lange fuhr sie bereits? … sie wußt’ es nicht. Wo war sie jetzt? … sie konnt’ es nicht sagen. Wo hatten sie sich zu treffen verabredet? … sie hatt’ es vergessen.

Aber als ob er auf den Ruf ihres Gedankens erschiene … ein Pfiff, der Wagen hielt, und Edgar sprang herein, die Thür behutsam hinter sich zuziehend, und weiter sausten die hurtigen Räder.

[799] Wie der Wagenschlag so jählings aufgerissen worden war, hatte Bianca mit flüchtigem Blick nur grünes Gesträuch und blinkenden Sonnenschein wahrgenommen. War’s ein Stückchen Prater? Gleichviel! Erst morgen um diese Zeit wollte sie sich erkundigen, wo sie sich befänden.

Edgar bestürmte sie mit Fragen, die sie nicht recht hörte; er bedeckte ihre Handschuhe mit Küssen, die sie nicht recht fühlte.

Erst, als er sich in Stimmung zeigte, nach und nach etwas mehr als die Handschuhe zu küssen, munterte sie sich auf und sah ihn so vorwurfsvoll bittend an, daß er nur noch einmal heftig ihre Fingerspitzen drückte und dann so weit als möglich von ihr abrückte.

Also in die Ecke des Wagens gedrückt, sah er sie nachdenklich an, wie schön sie war! Schöner als je in der Verwirrung und Erregung des unwiederbringlichen Augenblicks! Und sie war sein! Die Entscheidung war gefallen, früher, vollkommener, rückhaltloser, als er je zu hoffen gewagt hatte. Nun konnt’ er leicht Geduld haben, sie wird ja doch seine Sehnsucht krönen. Die Zurückhaltung, die Verzögerung verlieh dem sicheren Besitz, der ihm bevorstand, nur höheren Reiz.

Wie berauschend fühlten sich diese Minuten voll erhöhten Lebensgefühls, voll verdreifachter Glückseligkeit!

Sie sprachen mit einander. Erst recht verliebtes Zeug; sie dankte ihm für seine opferbereite Freundschaft; er dankte ihr für ihr rückhaltloses Vertrauen, für die Wonne, mit ihr in die weite Welt rollen zu dürfen, für das ganze beseligende Abenteuer; jeder in seiner Art sich das Thun des Anderen zurechtlegend und in der Zukunft nur das sehend, was er sich wünschte.

Mitten in dieser Gefühlsschwelgerei wurden sie durch ein plotzliches Stillstehen des Wagens erschreckt.

„Was bedeutet das? Werden wir angehalten?“ rief Bianca todtenblaß. Sie machte Miene, aus dem Wagen zu springen. Aber noch ehe sie die Hand auf den Drücker gelegt, hatte sich Edgar schon beruhigt und bedeutete leise die Geängstigte: „Wir fahren wohl durch die Linie.“

[800] Hier beim Passiren der vor den äußersten Vorstädten gezogenen Befestigung erleiden Fuhrwerke der städtischen Mauth halber manchmal Verzögerungen.

Und richtig, kaum daß Edgar seine Erklärung laut werden ließ, rollte der Wagen schon wieder weiter, anfangs noch etwas langsamer, dann in der üblichen „husarischen“ Weise, darin der Stolz eines echten Wiener „Zeugels“ liegt. Und das des Herrn von Sperber war eines von den echtesten.

„Gott sei Dank!“ sagte Bianca, die Hand auf dem Herzen und tief Athem holend. „Ich dachte schon, wir wären verrathen!“

Edgar tröstete sie nun mit reichlichen Worten und berichtete, wie er alle Vorsorge getroffen, daß sie nicht gestört werden würden. An ein Einholen war ja nicht zu denken. Denn wer sollte Verdacht schöpfen, da alle, denen daran lag, Bianca’s Flucht zu verhindern, sie auf dem Wege nach Gumpoldskirchen, ja bald schon dort angelangt wähnen mußten?

Niemand, nicht seine vertrautesten Freunde, nicht sein Diener wußten, wohin er den Weg genommen. Allen sei eine andere Richtung, ein anderes Ziel angegeben. Der Kutscher ließe sich lieber von seinen eigenen Pferden zerreißen, eh’ er ein Wort verriethe. Das würde ihm auch die ganze elegante Kundschaft kosten. Darum sollte sie nur ganz beruhigt sein und die Reise fortsetzen, ohne sich trübe Gedanken zu machen.

„Aber die Pferde könnten doch nicht bis in die späte Sommernacht hinein so fortrasen,“ meinte Bianca.

Das brauchten sie auch nicht. Und das wäre nicht nur für die Pferde, sondern auch für die Insassen zu anstrengend, die doch noch die ganze Nacht und den kommenden Vormittag auf der Eisenbahn zubringen müßten. Der erste Lauf werde nur bis zu einem kleinen waldsicheren Ort gehen, wo Edgar bereits gestern alles in Person geordnet hatte, damit sie ungesehen, unbelauscht, unbelästigt ein gutes Mittagsmahl, dessen Hauptbestandtheile ebenfalls gestern aus Wien mitgebracht worden waren, einnehmen und dann seine Freundin einige Stunden der Ruhe pflegen könnte, bis die Pferde sich erholt hätten, die ärgste Hitze sich gemildert hätte und beide Durchgänger getrost die Weiterfahrt bis zu der bewußten Bahnhofsstation fortsetzen möchten.

Bianca ließ sich des Genaueren die Lage des Ortes schildern, vergaß aber alsbald den Namen, ohne dafür eine bestimmte Vorstellung seiner Beschaffenheit und seiner Entfernung von der Hauptstadt zu behalten. Was sie nicht vergaß und worauf es ihr vor Allem ankam, war, daß man dort sicher und allein und vor jeder Störung, vor jedem Späher geborgen war.

Daß dem so sei, schwur ihr Edgar hoch und theuer. Und darüber ward sie froh und immer froher bis zum Uebermuth. Es ging ja Alles vortrefflich!

Und wenn sich doch an ihre Freude eine gewisse nagende Bangigkeit herandrängte, so schmetterte sie jetzt einige helle Läufer und Triller los, die ihre Brust erleichtern und die Luft im Wagen mit guten Geistern bevölkern sollten.

Es ward ihr wirklich immer wohler und vertraulicher zu Sinn.

Auf einmal meinte sie, nun wären sie doch meilenweit genug von der Stadt entfernt, daß sie unbekümmert ein Fenster zur Seite öffnen dürfte.

Edgar, dem schon das laute Singen der Freundin heute nicht so geheuer als sonst klang, gestand es zögernd zu, vorausgesetzt, daß sie sich ruhig verhalten wollte, und ließ eigenhändig, ohne den blauen Vorhang zu erheben, das Glas herab.

Aber der Vorhang, gegen den nun der Wind anstand, zitterte so heftig und tobte so unangenehm hin und her, daß er die Schnüre zu zerreißen drohte, wenn man ihn nicht löste.

„Ach, hier hat’s wohl keine Gefahr!“ sagte der sorgliche Liebhaber, nachdem er sich auslugend überzeugt hatte, wo sie wären, und raschelnd rollte sich die blaue Seide um ihren Stab auf. Der schöne grüne Wald grüßte und duftete herein in den kleinen Wagen.

Bianca patschte wie ein Kind die Hände zusammen, so entzückte sie der Anblick der wundervollen Waldeinsamkeit, die wie ein Wandelbild durch den schwarzen Rahmen des Wagenfensters sie anmuthete. Sie hatte, ganz ihrer Kunst als Städterin beflissen, dergleichen lange nicht gesehen.

Und die Welt war so stille hier draußen, fern dem sausenden, brausenden, betäubenden Lärmen der Großstadt. Auch Bianca verstummte hier und sog nur mit gleichmäßigen, mit andächtigen Athemzügen die würzige Luft ein.

Sachte, sanft und fromm legte Edgar seine rechte Hand auf ihre linke. Sie duldete es, ohne sich zu ihm zu kehren, und ein dankbarer Druck ihrer kleinen Finger sagte mehr als Worte, was sie jetzt empfand.

Aber auch Worte wurden dann wieder gewechselt. Manchmal, wenn ein Lastkarren, mit einem langen, am schmalen Ende schwankenden Baumstamme befrachtet, an ihnen vorüberknarrte, flog Bianca’s Köpfchen hastig in die Ecke zurück und sie regte sich nicht, bis der Bauernknecht weit vorüber war, obschon sie dazu lachte, denn der Tagelöhner im Walde kannte sie nicht.

Einmal kamen ein paar fahrende Handwerksburschen vorbei und hielten ihre Mützen gegen den Wagen. Unbedenklich warf sie diesen ihr Kleingeld zu. Die armen Teufel sollten sich auch freuen an dem schönen Tage.

Und dann stapfte eine Herde Kühe mit triefenden wiederkäuenden Mäulern und klingelnden Schellen auf langsam schleppenden Füßen daher. Bianca lachte laut, so oft eins dieser breitstirnigen Häupter den Wagen anbrüllte und dazu mit langem Schweif über den Rücken schlug.

Und wieder eine Herde Kühe und noch eine und eine vierte – und dann war die Straße wieder leer und sie sahen nichts als die vorüberhuschenden Bäume, Sträucher und Pfähle und hörten nichts als das Rollen ihrer Wagenräder.

Aller guten Dinge froh und von Edgar vergewissert, daß sie nun bald anlangen und ihren rechtschaffenen Hunger stillen würden, wurde Bianca muthiger. Sie wollte nun auch die sämmtlichen anderen Vorhänge hoch ziehen

Jedoch das widerrieth Edgar. Man konnte doch nicht wissen! ...

„Na, aber doch noch einen!“

„Meinethalben, aber nicht den zur andern Seite!“

„Nein, den da nur, um etwas voraus auf den Weg blicken zu können.“

„Der Kutschbock und der Rücken Schani’s decken ja doch die beste Aussicht zu!“

„Um so ungefährlicher darf man’s wagen!“ versetzte das muthwillige Mädchen, und brrr! da war das blaue Vorhängelchen vor ihr schon in die Höhe gerasselt.

„Baron Edgar!“ rief sie, und es klang befremdlich, fast ängstlich, während sie die blaue Seide mit vorsichtigen Fingern langsam wieder über die Scheibe herunterzog.

„Was haben Sie, Bianca ?“ fragte der Ueberraschte lachend.

Seine Freundin lüpfte seitwärts den Vorhang ein klein wenig, kaum fingerbreit. „Sehen Sie doch selbst!“ sagte sie leise. „Mir scheint, auf unserem Kutschbock sizen Zwei, nicht Einer.“

„Warum nicht gar!“ rief Sperber, rückte ganz nahe mit der Nase an das Fensterglas heran und lugte durch den Spalt. Dann fuhr er geruhig fort: „Es sitzt in der That ein Kerl mit einem riesigen Schlapphut neben Schani. Nach dem schäbigen Sommerüberzieher zu schließen, der seinen Buckel ziert, scheint’s ein armer Teufel zu sein, den der Fiaker aus Mitleid hat aufsitzen lassen. Schani ist aus der Gegend. Wahrscheinlich ist’s ein Verwandter von ihm, vielleicht sein Bruder, jedenfalls ein ganz gleichgültiger und ganz unbekannter Sterblicher. Er hat ihn wohl beim Aufenthalt an der Linie aufgenommen.“

Bianca nickte wie beruhigt, denn sie hatte sich darein ergeben, Edgarn Alles zu glauben, was er sagte, und auf ihn alle Last der Verantwortung und jede Sorge der Reise abzuladen. Sonst wäre ihr das ganze Wagstück, je länger es währte, desto unerträglicher geworden.

Indessen hatte die unverhoffte Erscheinung auf dem Bock doch so viel Eindruck in ihren Gemüthern hinterlassen, daß die Beiden sich unwillkürlich leiser unterhielten als zuvor.

Nicht zum Schaden Edgar’s. Denn mit den leisen Reden wuchs die Vertraulichkeit. Und als nun in so traulicher Nähe nach stundenlangem Alleinsein in begreiflicher Aufregung Sperber versicherte, daß sie gleich ankommen würden, und er so herzlich und doch so demüthig um einen Kuß, um einen einzigen Kuß, um den allerersten Fuß bat, da sagte Bianca nicht nein und wehrte sich wenig, als sie Edgar’s Hand hinter ihrer Schulter fühlte.

Schöner als der Kuß war der innige Blick aus blauen Augen, der ihm vorherging. Es war Edgarn, als küßte sie ihn [802] mehr mit den Augen als mit den Lippen, die nun rasch und flüchtig und doch entzückend die seinigen streiften.

Er wollte sie schon besser unterrichten, aber Bianca wich eilig zurück, und beide Hände zwischen ihm und ihr ausstreckend sagte sie bestimmt. „Nur diesen einen! Und noch lange keinen zweiten! Nicht vermessen sein, theurer Freund, und Freundschaft und Vertrauen bewahren, wie versprochen!“

Annoch wollt’ er gute Miene machen und sich bescheiden. Die nächste Zukunft war ja doch des Glücklichen! dacht’ er, und überdies fuhren sie im Augenblick vor dem stillen Waldwirthshause vor, das zwischen dichten Laubbäumen versteckt so traulich und behaglich ihnen entgegenwinkte.

Gackernd und flügelschlagend stoben etliche Hühner mit weitausgreifenden Schritten vor den rollenden Rädern zur Seite. Ein kleiner zottiger Spitz kam wedelnd herangetrippelt. Und nun standen die Pferde, und der Wagenschlag hielt dicht vor einer braunen Hausthür, in welcher Bianca ein artig Bauernweib sah, das eben die aufgesteckten Schürzenzipfel abnestelte und über der Hüfte glattstrich.

Im nächsten Augenblick flog ein breiter Schatten über den Vorhang des Vorderfensters – der Mann neben Schani war heruntergesprungen – und zwischen der knixenden Wirthin und dem sich öffnenden Wagenschlag erschien, nickenden lächelnden Hauptes und den Hut in der Hand – die beiden Flüchtlinge meinten durch sieben Himmel herab in den Erdboden einzusinken – Pater Otto.


Alle guten Geister loben Gott den Herrn! Der Mönch kam Beiden wie ein Gespenst vor. Der Athem stockte und die Rede versagte ihnen. Bianca war einer Ohnmacht nahe und lehnte sich fast bewußtlos auf den Arm des lächelnden Priesters, vor dem ihr’s nur erst durch alle Nerven schauderte.

Pater Otto dagegen, der heute unter dem schäbigen Sommerüberzieher nicht den Gehrock des Weltgeistlichen, sondern die lange schwarze schlichte Sommerkutte des Benediktiners trug, schien in der leutseligsten Stimmung von der Welt. Er plauderte wie ein Buch, äußerte sich ganz entzückt über die Fahrt, über den Tag, über das Wetter und äußerte die lebhafteften Vorsätze in Bezug auf das Mittagessen.

„Es wird ja wohl für unser drei ausreichen!“ setzte er leiser, den verblüfften Sperber verständnißinnig anblinzelnd, hinzu.

„O gewiß . . . Ah . . . Hochwürden . . . größte Freude . . . bitte einzutreten . . .“ antwortete dieser, ohne recht zu wissen, ob er von langer Hand betrogen oder in dieser Minute verrückt geworden sei.

Bianca redete gar nichts. Leichenblaß wankte sie ins Wirthszimmer, das für ihr ländliches Mahl reserviert worden war, und sank neben dem weißgedeckten mit Sperber’schem Silber, Glas und Porzellan anmuthend gedeckten Tisch auf einen Stuhl, mehr todt als lebendig.

Es ward ihr zu Muth, als sei mit Vetter Otto’s Erscheinen ein Vorhang zerrissen, den sie mit Willen vor das wahre Gesicht ihrer That gezogen und eigensinnig fest gehalten habe, und sehe diese sie nun in ihrer wahren Gestalt an: thöricht, häßlich, unverzeihlich.

Und dann dachte sie auch wieder mit aufwallendem Verdruß, daß ihr Vorhaben für immer vereitelt, alle Anstrengung, Aufregung und Willenskraft vergeudet sei für nichts, und daß sie nun gesenkten Hauptes und gebrochenen Muthes, beschämt und unterwürfig heimkehren und auf Künstlerruhm und Liebe verzichten müsse ... vielleicht für immer verzichten, denn in ihr zuckte ein jäher Schmerz, als wären die Organe zerrissen, mit denen man an Wunder glaubt und Wunder wirkt.

Sperber war ehrlich besorgt um sie, obschon er sich trotz ihres blassen Gesichtes und ihrer sichtlichen Schwäche des Argwohns nicht erwehren konnte, daß er das Opfer einer heimlichen Verabredung zweier sich in die Hände spielenden schlauen Verwandten und schändlich gefoppt sei.

Der Mönch verlor seine gute Laune nicht. Er schob das Uebelbefinden seiner lieben Nichte auf die lange Fahrt, auf die verzögerte Mahlzeit, auf allzuknappe Taille, auf Gott weiß was, und versicherte gemüthsruhig, es werde sich geben, sobald sie einen guten Löffel Suppe gegessen haben werde.

Edgar sagte, daß er nur gleich selber nachsehen werde, ob sich das Auftragen der Suppe beschleunigen lasse. Aber so hastig er aus der Stube stürzte, er ging zunächst doch nicht zur Frau Wirthin in die Küche, sondern in den Stall zu Schani, der im ganzen Gesicht so roth, wie sonst nur seine Nase war, sich emsig mit seinen „Rössern“ zu schaffen machte.

„Malefizfiaker, was ist denn das für eine Bescheerung, daß Du mir den Pfaffen mit ins Grüne bringst?“ stieß Sperber, blaß vor Wuth, zwischen den Zähnen hervor.

Der Kutscher sah ihn betroffen an, Augen und Mund weitaufgerissen. „Ja mein, gnädiger Herr, ich hab gemeint, der hochwürdige Herr gehört zur Partie. Er hat auch so gesagt . . .“

„Wo, wann, was hat er gesagt?“

„No, bei der Linie, wie’s wegen der vielen Wägen etwas stad gangen ist mit dem Zeugel, da war er neben den Pferden und ‚ich weiß Alles!‘ hat er gerufen, ‚und ich gehör’ auch dazu.‘ Mir hat kein Mensch das Gegentheil nicht gesagt, und eins, zwei, drei, hat er die Kutten beim Zipfel gehabt und oben war er auf dem Bock. Jetzt aber bitt’ ich einen Menschen, ein geistlicher Herr wird mich doch nicht anlügen! das ist ja nicht zum glauben, und vom Herrn Pater Otto schon ganz gewiß nicht. Besinnen Sie sich einmal, gnädiger Herr, es wird Ihnen gewiß einfallen, daß Sie den Hochwürdigen eingeladen gehabt haben, und nachher haben Sie’s halt vergessen. Ja, wie’s halt geht!“

Sperber sah den Kutscher überrascht an, der ihm in seiner leutseligen Schlauheit offenbar eine Handhabe bot, sich aus der Verlegenheit zu ziehen. Es war wohl das Gerathenste sie anzufassen.

„Ja ja,“ sprach er leise, „mir scheint, Du hast Recht. Ich besinne mich . . .“

„Na, da sehen Sie’s, gnädiger Herr! Und ich bin froh darüber.“

„Was, froh? wieso?“

„No, ich mein’ nur, es war recht fidel auf unserm Bock. Der Hochwürdige hat so seine Geschichten erzählt und war so gut aufgelegt . . . noch besser, als damals, wissens, wo ich ihn zum ersten Mal neben mir auf dem Bock gehabt hab, selbigs Mal im Winter nach dem letzten Maskenball im Theater an der Wien.“

„Ihr seid seitdem wohl gute Freunde?“ fragte Sperber.

„Na, mit Unterschied, gnädiger Herr, und mit allem schuldigen Respekt. Aber wahr ist’s, der Pater Otto hat mir seitdem viel Guts erwiesen. Er hat meinem Bruder, den kein Mensch mehr hat haben wollen, weil ihm einmal was durch’s Gewissen gefallen ist und er fünf Monat dafür im Kriminal hat sitzen müssen . . . ja, dem hat er eine Stelle verschafft als Kutscher in der Stiftskellerei. Viel hat er da gerad’ nit, aber er kann davon leben und braucht nit zu stehlen, was ihm sonst wohl kaum erspart worden wär. Und meine Frau Mahm hat der Pater Otto auf dem Sterbebett getröstet, obwohl sie keine schöne Krankheit gehabt und sich lang hat quälen müssen. Ich darf ihm das nicht vergessen.“

Edgar trat ganz nahe auf den Fiaker zu, unwillkürlich ballten sich seine Fäuste und er sah ihm Aug in Auge, als wollt’ er ihm an die Gurgel springen.

Schani stellte den Eimer bei Seite, richtete sich auf, krempelte die Hemdärmel über die haarigen Unterarme herab und den wüthenden Blick des Barons aushaltend, seinen Verdacht aus seinen Augen herauslesend, sprach er: „Der gnädige Herr thun mir Unrecht. Ich hab’ den Pater Otto von Herzen gern, aber verrathen hab’ ich nix! Ich nix! Das wär’ mir nicht zugestanden . . . und wär auch nicht nöthig gewesen. Der Hochwürdige merkt so was ganz allein!“

Edgar hatte genug von dieser Unterredung. Er wandte sich jach ab und ging davon. Nur an der Stallthür kehrt’ er sich auf der Schwelle noch einmal rasch um, weil er das Gesicht des Fiakers sehen wollte, ob dieser sich nicht hämisch verriethe.

Aber Schani, der sich gelassen den Rock anzog, verbeugte sich nur noch einmal und recht ehrerbietig und: „Seien Sie nicht bös, Herr Baron!“ sprach er treuherztg. „Glauben Sie mir altem Esel, es ist so besser. Auch für Sie, Herr Baron! Es wär’ doch schad’ um das Madel gewesen, um so ein Prachtmadel! Meiner Seel’!“

Und er wandte sich rasch um, als hätt’ er hinter den Pferden was vergessen. Edgar war schon zum Stall draußen und eilte nach der Küche.

[803] Strahlenden Angesichts vor der lohenden Flamme empfing ihn die Frau Wirthin. Ohne sich in emsiger Hantirung des Kochlöffels dabei zu unterbrechen, bedankte sie sich ein übers andere Mal für die Freud und Ehre, die ihr unverhofft erwiesen wurde.

Das Hereinplatzen Pater Otto’s in die mißrathene Landpartie hatte also zum Mindesten Eine Menschenseele glückselig gemacht.

Denn, daß sie einen geistlichen Herrn vom Stifte (na ja, der Name thut nichts zur Sache), daß sie gar den Herrn Pater Bibliothekar, der auch so manche weltliche Angelegenheit fürs Kloster zu regeln hatte und in der Gegend wohl bekannt schien, daß sie den bewirthen durfte, das brachte sie vor Freuden außer sich.

An der Wirthin lag’s wahrlich nicht, wenn Edgar von Sperber mit diesem Mittagsmahl nicht zufrieden war. Das Huhn, das sie jetzt für ihn an den Spieß steckte, wär’ ihm ohne des Paters Tischgenossenschaft niemals aufgetragen worden.

Er aber schritt ungerührten Herzens aus der glühenden Werkstatt gastronomischer Meisterwerke, denn sein Kopf war allzu sehr von der einen Frage eingenommen, ob ihn die Geliebte oder der Kutscher betrogen habe? Daß Pater Otto selbst hinter ihre Schliche gekommen sei, ohne andere Hilfe als die unbewußten Zeichen, die ein erregtes Mädchen ihm gewiesen, und seinen geschulten Spürsinn, das wollte dem Ketzer Edgar nicht einleuchten.

Und doch war es so. In seiner Herzensqual und unter dem Eindruck eines abscheulichem Argwohns, erschien ihm Fahrt und Mahlzeit, Leben und Lieben, das schöne Wien und die geliebte Bianca selbst verleidet.

Er wollte, da er in die Wirthsstube trat und des blassen Mädchens fragende Augen auf sich gerichtet sah, dem Geistlichen gleich jetzt das Messer auf die Brust setzen.

Aber eh’ es zum Aussprechen kam, wies Pater Otto auf die dampfende Suppenschüssel, die hinter dem Baron herein getragen und triumphirend mitten auf den Tisch gepflanzt wurde, und er rief glänzenden Angesichts: „Siehe, da nahet Speise für den Gerechten wie für den Sünder! Greifen wir dankbar zu und lassen es uns recht gut schmecken! Nachher reden wir in Gottes Namen weiter, so viel Ihr Beide begehrt!“

Damit bekreuzte er sich und sprach stehend mit tonlos sich regenden Lippen sein Tischgebet.

[815] Pater Otto ließ sich jeden Gang wohl schmecken, redete auch seiner Muhme fleißig zu, so daß sie nach und nach sich bald von dieser, bald von jener Speise vorlegen ließ, ohne freilich recht zu wissen, ob und was sie aß, und er stieß mit Edgar wiederholt an und trank ihm zu „auf Erfüllung guter Wünsche!“ und allen Beiden „auf eine glückliche Zukunft!“

Der Priester zeigte sich in so unbefangener und guter Laune, als ob er bei einem richtigen Hochzeitsmahl säße, so daß die anderen Beiden, je länger die Tafel währte, desto weniger aus dem wunderlichen Heiligen klug wurden. Sie sahen sich einander erst fragend, dann wieder liebevoll an. Edgar’s Zweifel an der Geliebten schwanden, und Bianca konnte sich des Einfalles nicht erwehren, daß der Vetter am Ende gar ihre Flucht begünstigen möchte.

So kam es, daß die zweite Hälfte der Sitzung sich in der That nicht so unbehaglich wie die erste gestaltete, daß ab und zu das Mädchen und ihr Baron ein Wort in die Unterhaltung warfen, deren Kosten bisher nur Pater Otto ganz allein bestritten hatte, und daß nach und nach ein munterer Geist über der Verhandlung [816] schwebte, in welchem den Hühnern der Frau Wirthin und den besseren Weinen Edgar’s mehr zugesprochen wurde, als ihren Vorgängern auf demselben Tisch.

Die ganze Situation erschien den beiden Liebesleuten wie ein seltsames Räthsel. Aber sie schickten sich darein in Erwartung baldiger Auflösung desselben und hofften schon nicht mehr Zerstörung, sondern Förderung ihres kecken Planes durch den verwandten Gottesmann, welchem nichts Menschliches fremd war.

Es hörte sich auch anfangs ganz so hoffnungsvoll an, wenn Pater Otto, nachdem die Tafel aufgehoben worden, den Vorschlag machte, den Kaffee draußen auf einer Bank unter den Nußbäumen einzunehmen, wo man vom Wirthshause fern und vor jedem neugierigen Ohr sicher war. „Denn, meine lieben Leut’,“ fügte er hinzu, „wir haben jetzt ernsthaft mit einander zu reden und was nur wir Drei allein hören und erwägen sollen.“

Er ging voraus durchs Gras, nicht anders, als wollt’ er den beiden Verliebten Zeit gönnen, sich ihre Verwunderung über so merkwürdiges Eingreifen in eigenste Absichten auszudrücken und ihre Gedanken an einander zu sammeln.

Sie huschten auch alsbald zu einander, und ein Kreuzfeuer von leisen Fragen trug doch etwas zur Erleichterung ihrer verblüfften Seelen bei.

„Hatten Sie eine Ahnung, Bianea, daß er wußte . . .“

„Baron, wie mögen Sie so etwas nur denken . . .“

„Ich gestehe, daß ich Arges und Aergeres dachte . . .“

„Aber Edgar!“

„Was er nur vorhat?“

„Ich weiß es nicht!“

„Wie wär’s, wenn wir rasch einspannen ließen und ihm vor der Nase davonführen?“ sagte Sperber, dem die Lage der Dinge wieder gar nicht geheuer schien. Der Schwarzrock hatte wieder eine verdammt ernsthafte Miene aufgesetzt, wie er nunmehr dort drüben im Schatten der Nußbäume ein kleines Brevier, zwischen dessen Blätter er den rechten Zeigefinger gesteckt, ab und zu vor die Augen brachte, und also betend im grünen Grase auf- und niederwandelte, als wär’ er allein.

Sie hätten ihm jetzt vielleicht wirklich entwischen können.

Aber Bianca schüttelte zu dem leisen Vorschlage hastig den Kopf. Der Einfluß, den Pater Otto als Vetter, Freund und Lehrer von Kindheit an auf sie geübt, war viel zu groß, als daß sie nicht empfunden hätte, was er in dieser Stunde sagen werde, sei von entscheidender Wichtigkeit für ihr ganzes Leben und müsse gehört werden, wenn sie vor sich selber nicht feig und erbärmlich erscheinen wolle.

Der Entschluß stand ja nach wie vor noch bei ihnen allein! Und sie sah trotz ihrer Weigerung, sich der Unterredung mit dem Mönche zu entziehen, den Geliebten aus ihren blauen Augen so innig an, daß er keinen anderen Willen mehr hatte, als den ihrigen.

„Kinder, der Kaffee ist da!“ rief nun der Chorherr von den Bäumen her, wo eine Magd das Tuch über den Tisch breitete und Tassen und Kanne zierlich genug aufstellte.

Die Beiden traten langsam näher.

Sperber suchte nach Bianca’s Hand, und die Sorge seines Herzens ließ ihn noch einmal das Bedenken aussprechen: „Er wird Sie überreden?“

„Nein, Edgar!“ antwortete das schöne Mädchen. „Verlassen Sie sich auf mich! Ich bin nicht von denen, die ihr Wort zurücknehmen!“

So schritten sie Hand in Hand auf den Nußbaum zu, wo Pater Otto die zierlichen Schalen mit der duftigen braunen Moccabrühe vollgoß und, als ob er hier der Hausherr wäre, sie den Ankommenden kredenzte.

Schweigend schlürften alle drei, und als sie fertig waren und die Tassen wieder auf den Tisch setzten, sahen sie einander fragend, erwartungsvoll, schier feierlich an.

Der Priester nahm eine Cigarre aus Edgar’s verbindlich dargereichtem großen Reise-Etui, dankte, machte sich Feuer, warf das Schwefelhölzchen auf den Boden, trat das Flämmchen aus, that einen langen Zug und hub dann, während er den ersten Rauch der Havanna von sich blies, also an:

„Was Ihr nun wollt, meine lieben theueren Freunde, das ist klar. Ihr wollet einander angehören fürs Leben, und selbander in die schöne weite Welt ziehen ...“

„Und mein Engagement in Königsberg antreten!“ warf Bianca festen Tones dazwischen, als Pater Otto seiner Cigarre noch einmal eine lange duftige Rauchwolke entsog.

„So ist es!“ fuhr er fort. „Ihr habt es beide vielleicht nicht richtig angefangen. Aber Geschehenes tadeln hätte hier keinen Zweck. Baron Sperber war vielleicht nicht offenherzig genug mit sich selbst und gegen den Onkel nicht klar genug. Aber Dein Vater ist ein Grobian. Ich weiß Alles. Passons là-dessus.

Weniger klar dürfte nun aber Euch, meine lieben verehrten Freunde, sein, was ich will.

Vor Allem Eins: ich will Euch in Euerem Vorhaben nicht hindern! Glaubt, daß ich von Herzen Euer guter, treuer, redlicher Freund bin!“

O und ah! schollen jetzt von Rührung halb unterdrückt durch einander. Von beiden Seiten rückte eines der Verliebten an den trefflichen Otto heran. Bianca, deren Augenwimpern feucht waren und zuckten, faßte mit beiden Händen zutraulich seinen Arm und Edgar legte seine männliche Rechte auf die schlanken blassen Finger des gelehrten Mönchs.

Dieser redete weiter unentwegt. „Ja, ich bin Euer wahrer Freund und werd’ es Euch beweisen, mit Hintansetzung meiner Person, ich werde gerne Tadel und Strafen auf mich nehmen, um Euch zu Willen und Eurem Lebensglück förderlich zu sein.

Denn,“ und er seufzte tief auf dabei, „ohne harten Tadel und ohne schwere Strafen für mich wird es nicht hingehen! Mag es darum sein!

Ihr seht mich fragend an? Ihr versteht mich nicht? Nun denn, so machet Euch auf und folget mir und Ihr werdet Alles begreifen!

Ich habe drüben im Dorf in jener Kirche, deren spitzes Thürmchen Ihr aus dem Thalgrunde hervorstechen seht – es ist keine halbe Stunde hinüber – ich habe dort Alles vorbereitet, um Euch Beide vor des Herrn heiligem Altar als rechte und gerechte Brautleute zusammenzugeben und den Bund fürs Leben nach den Satzungen der Kirche zu segnen.

Ihr mögt Euch denken, daß es nicht ganz einfach zugegangen sein kann, meinen verehrten Amtsbruder in Christo, den dortigen Herrn Pfarrer, in solch eine abnorme Bestimmung einwilligen zu machen. Aber ich habe Alles auf mich genommen, ich werde jede Verantwortung vor der bürgerlichen Behörde, wie vor dem Herrn Erzbischof tragen. Es muß sein, daß ich darum leide. Aber ich will es mit Freuden thun, um Sünde zu verhindern und Euch glücklich zu wissen.“

Die Cigarre war nun doch ausgegangen. Bianca lehnte mit dem Angesicht auf Otto’s Arm, und ihre leisen Thränen rannen langsam an dem schwarzen glänzenden Stoff seines Kuttenärmels hinab. Edgar aber hatte die Hand des Redenden losgelassen, er starrte betroffen in die Tischplatte hinein, kaute die Lippe und bewegte kaum hörbar in verhaltener Ungeduld die Fingerspitzen auf dem Kaffeetuch.

Otto achtete dessen gar nicht und sprach weiter in gleichmäßigem Fluß und leidenschaftsloser Betonung.

„Euch glücklich und vereint zu wissen, wird mein Trost im Leiden sein. Und Ihr werdet mir ein treues Gedenken bewahren, wie ich jetzt Eueren Herzenswunsch erkannt habe und mich beeile ihn zu erfüllen.

Denn daß das Euer Herzenswunsch ist, nicht wie die Wahnsinnigen und die Verächtlichen in die weite Welt hinauszurasen, sondern wie ehrliche christliche Eheleute überall Gottes Wege zu wallen, das nehm’ ich als sicher an, Jedes andere Vermuthen wäre eine Schmach.

Ich ermögliche Euch nur hier und sofort, was Ihr mühsam und langsam im fremden Lande hättet suchen müssen.

Besser und klüger wär’s ja, Ihr kehrtet um und machtet Alles nach der Regel und nach gutem Gebrauch in Ordnung.

Aber ferne sei es von mir, Euch zu drängen! Ich kenne Deinen abenteuerlustigen, romantischen Sinn, liebe Bianca. Ich weiß, daß Dein Vater Euch Beide nicht sehr freundlich aufnehmen und jedenfalls sich lange Bedenkzeit ausbitten würde. Fahret denn aus in Gottes Namen! Aber nicht ohne den Ring am Finger! nicht ohne den Segen der heiligen Kirche!“

Pater Otto griff bei diesen Worten in die Westentasche und zog ein Bällchen Seidenpapier hervor, darin zwei Ringlein eingewickelt waren.

[818] Er nahm sie heraus, erhob sie zwischen zwei Fingerspitzen und sagte: „Ich habe auch dafür schon gesorgt!“

Dabei sah er die beiden jungen Leute jetzt erst des Genaueren an, einen nach dem andern, als wollt’ er die Wirkung seiner Worte an ihren Gesichtern erkennen.

Er sah in seines Mühmchens nassen Augen, auf ihren nassen zuckenden Wangen, daß er zu ihr nicht umsonst geredet hatte; er sah, daß diese nassen Augen jetzt in ihr Vorhaben wie in einen Abgrund blickten, dessen Tiefe, dessen Grausen sie jetzt erst ahnte. Er sah an der weltmännischen Verlegenheit Edgar’s, daß dieser ihn zu allen Teufeln wünschte und annoch nicht im Entferntesten dazu gestimmt war, den Weg nach der Dorfkirche einzuschlagen.

Darum zog er gleich herbere Saiten auf und sprach etwas rascher, etwas bewegter, die Uhr in der Hand und ihre Zeiger betrachtend:

„Der Weg ist, wie gesagt, kaum ein halb Stündchen weit. Ihr könnt den Wagen nachkommen lassen. Er wird uns leicht einholen und jedenfalls nach der Ceremonie bereit stehen, Euch sofort ins Weite zu bringen. Die heilige Handlung wird kurz sein. Etwas Predigt hab’ ich Euch ja jetzt schon vorab gehalten. Der bessere Rest ist bald gesprochen. In anderthalb Stunden vielleicht, jedenfalls in zwei Stunden, mögt Ihr Euere Hochzeitsreise mit Gott antreten, ohne sonstige Verzögerung von irgend einer Seite zu befürchten.

Was weiter hier darauf folgen muß, werd’ ich besorgen und werd’ ich dulden! – Was ich aber niemals dulden würde (dabei hob er das Haupt hoch und sprach mit einschneidendem Ton), das wäre, wenn Du Bianca Dein ganzes Lebensglück auf eine Laune, Deine Ehre auf einen hirnwüthigen Einfall verwetten, Dich zu Grunde richten, Deinen Vater unglücklich machen und das Andenken Deiner seligen Mutter im Grabe schänden möchtest. Für die lustige Woche eines Verführers bist Du mir zu schade! – Ferne sei es von mir, solch einen Argwohn gegen Sie zu hegen, lieber Herr Baron von Sperber! Entschuldigen Sie gütigst, daß ich nur die Möglichkeit einer solchen Spitzbüberei in Rede stellte! Verzeih mir das auch Du, Bianca! Aber Du wirst mir zugeben, daß ich in jenem Fall das Recht und die Pflicht hätte, Dich einfach am Arm zu nehmen, Dich, kost’ es was es wolle, in Deines Vaters Haus zurückzuführen und allen weiteren Anfechtungen einen oder mehrere Riegel vorzuschieben, die vollkommene Sicherheit böten.“

„Ja, ja!“ schluchzte Bianca, der die ganze Scene ungemein gefiel und die, ohne Sperber darum minder gut zu sein, ihren Vetter jetzt als den Retter ihres Lebens, ihrer Tugend und ihrer Ehre bewunderte und bedankte.

Finster blickte Sperber auf all diese höchst überraschende, nach seiner Meinung höchst unmotivirte Rührung.

„Nun, Herr Baron?“ nahm jetzt Pater Otto wieder das Wort. „Wollen wir aufbrechen? Es ist Zeit.“

In unserem guten Sperber war bei all diesen Reden des Priesters und Angesichts des Verhaltens, welches Bianca dabei an den Tag legte, der kaum entlassene Verdacht von Neuem und mit erhöhter Macht wiedergekehrt. Er glaubte in der ganzen Geschichte ein von langer Hand abgekartetes Spiel zu erkennen, wodurch er, der ahnungslose, blind vertrauende Fremdling, ins Garn gelockt und, eh’ er sich’s versah, mit einer Frau beglückt werden sollte, mit einer Frau, die ihm in der That bis zu dieser Minute in jedem Sinne begehrenswerth erschienen war, die ihm aber die Nothwendigkeit, sie auch in aller Form Rechtens ehelichen zu müssen, noch niemals weder in Gesprächen noch in Andeutungen nahe gelegt hatte. Unter andern Umständen und wenn ihm die Familie Latschenberger nur einigermaßen besser behagt hätte, wäre er gewiß selber zu dieser Idee gediehen. Ja, auch trotzdem vielleicht, denn er liebte Bianca von Herzen und mehr sogar, als er wußte. Aber sich in so brutaler Weise von einem hinterlistigen Pfaffen übertölpeln zu lassen und ein Mädel, das sich mit solch einem Pfaffen, ihn zu übertölpeln, verschworen hatte, in das alte Patrizierhaus an der Alster als seine Gemahlin heimzuführen, das ging ihm doch gegen den Strich, und er hatte Mühe, seinen aufkochenden Groll zurückzuhalten und jenen nicht gleich jetzt ins Gesicht zu sagen, daß sie ihn in ganz unwürdiger Weise zum Narren gehalten hätten, daß er aber doch kein solcher Gimpel sei, um sich durch das Pfeifen des impertinenten Mönchs auf die von Fräulein Scandrini so glatt gestrichene und so zierlich dargereichte Leimruthe locken zu lassen. Nein, auf also lächerliche Weise wollte Sperber trotz seiner großen Gutmüthigkcit und seiner noch größeren Verliebtheit nicht kleben bleiben.

Er war nicht der Mann der lauten Grobheit. Er wollte Bianca, die Hinterlistige, obwohl er sie in diesem Augenblick unbedenklich mit dem nächsten besten Tischmesser hätte erdolchen mögen, nicht beleidigen. So hielt er noch mit Worten an sich. Aber sein Angesicht verrieth deutlich genug, daß er nicht gesonnen sei, die Opfer, welche der Chorherr für seine Gewissensruhe zu bringen dürstete, sofort anzunehmen. Abwechselnd seine wohlgepflegten Fingernagel und die beiden gegenübersitzenden Menschen betrachtend, sprach er endlich:

„Euere Hochwürden werden es begreiflich finden, wenn mich dero Vorschlag überrascht hat, wenn ich mich nicht sogleich in denselben finden kann …“

Bianca blickte den Redenden da mit weit offenen Augen erschreckt an. Ihrem theatralisch bewegten Gemüthe war der Vorschlag des Vetters himmlisch schön und alle Sorgen und Zweifel mit einem Schlage lösend erschienen. Diese Trauung in der waldverborgenen Dorfkirche, mit dem jungen Priester auf der einen Seite, der sie einst geliebt hatte und der nun, um sie glücklich zu wissen, geistlichen und weltlichen Strafen entgegenging, mit dem gepackten Reisewagen, der sie gleich nach dem Amen in die ferne Fremde führen sollte, auf der anderen Seite, das war ja ein Aktschluß, wie man ihn rührender weder in der Oper noch in der Burg sehen konnte. Sie hörte ordentlich die Musik des vollen Orchesters dazu. Nach ihrem Sinn mußten jetzt Edgar und sie dem hilfreichen Priester zu Füßen stürzen oder ihm doch um den Hals fallen und ihm unisono für diesen glorreichen Einfall danken, um sofort die nächste Scene vorzubereiten und ihr Glück zu beschleunigen.

Wie Edgar sie jetzt in seinen Gedanken mit kränkendem Verdacht überhäufte und aus seinem Herzen zu schieben suchte, so schien er ihr mit jedem Worte, das er sprach, kleiner zu werden, zu einer ganz gewöhnlichen Dandygestalt einzuschrumpfen und jeden lyrischen Zauber zu verlieren.

Er fuhr fort: „Vor Allem muß ich Sie bitten, hochwürdiger Herr, mir kein Unrecht zu thun. Ich bin kein Don Juan: mein Sinn steht weder auf Verführen noch auf Entführen. Wenn ich in diese, allerdings ein wenig abenteuerliche Ausfahrt willigte, so geschah es, weil Fräulein Bianca es so haben wollte und weil ich sie so herzlich liebte, daß ich jeden ihrer Wünsche zu erfüllen bereit war. Im Uebrigen glauben Sie mir, ich bin ein Freund von geregelten Verhältnissen. Aber meine Verhältnisse sind zum Heirathen nicht geregelt genug. Ich denke eben darin vielleicht etwas prosaisch, etwas beschränkt, etwas kleinstädtisch. Ich denke darin, wie ich es in meiner Familie gelernt habe von Kleinauf und wie ich weiß, daß meine Familie solch einen Schritt, wie Sie ihn mir zumuthen, beurtheilen, wie sie eine Frau, die ich unter solchen Umständen, ohne Einwilligung der Eltern, unterwegs, ex improviso, gefreit, aufnehmen würde.

Verstehen Sie mich um Gottes Willen nicht falsch! Niemand ist inniger als ich von der Ueberzeugung durchdrungen, daß Fräulein Bianca aller Ehren und jeder und der angesehensten Familie werth ist. Ich würde mir’s als höchstes Glück auslegen, sie in meine Familie einzuführen. Allein, dazu sind andere Vorbereitungen erforderlich, als Sie mir jetzt in Kürze vorschlagen. Ich darf gegen geltende Sitte nicht verstoßen. Ich will es auch nicht.

Mein Großonkel, James Edward Sperber, hat einen seiner Söhne wegen weit geringerer Verstöße gegen die Sitten des Hauses, als Sie mir zumuthen, enterbt.

Ich will nicht enterbt werden. Was würde dann aus meiner Frau? Und ich wünsche meine Frau in jedem Sinne glücklich zu wissen.

Ich wiederhole, daß ich glücklich sein würde, wenn Bianca meine Frau würde. Ich bin auch bereit, bei meiner Familie vorbereitende Schritte zu thun. Aber auch von Bianca’s Seite müßten da Vorbereitungen getroffen werden und ganz entschiedener Art. Ich habe schon angedeutet, daß meine Familie etwas kleinstädtisch in gewisser Beziehung denkt. Fräulein Scandrini müßte von vornherein auf ihre Karriere als Bühnenkünstlerin definitiv verzichten ...“

„Niemals!“ klang es jetzt mit schallender Entrüstung von Bianca’s Lippen. Und dann sah einer den anderen schweigend an. [819] Bianca hatte mit wachsender Entrüstung die Auseinandersetzungen Sperber’s angehört. Sie erschienen ihr bis zur Unausstehlichkeit verständig oder vielmehr bis zum Ekel einfältig. Sie selber hatte in ihrer kindischen opernhaften Lebensanschauung bisher nicht ans Heirathen ernstlich gedacht. Sie wollte einen Strich ziehen unter ihr bisheriges Leben und das Weitere Gott und der Kunst anheimgeben. Von dem Augenblick an aber, da Pater Otto die Verehelichung so leicht, so bequem, so nahe und, wohl bemerkt, in so romantische Beleuchtung gerückt hatte, war es ihr, als hätte einer eine Binde von ihren Augen abgenommen und zeigte ihren überraschten Blicken Glück und Glanz und Glorie zum Handgreifen bereit vor ihr. Sie wollte auch freudig und sogleich mit Händen darnach greifen. Und wie mit Messern stach’s ihr ins Herz, als sie gewahrte, daß der sonst so verliebte, so widerspruchslos ergebene Freund Edgar es gar nicht so eilig hatte. In dieser Minute sank er thurmhoch von dem Piedestal herunter, auf das ihn ihre Schwärmerei gestellt hatte.

Mit unglaublicher Raschheit vollzog sich die Wandlung in ihren Anschauungen, und obwohl der Gedanke der Flucht doch in ihrem Köpfchen gewachsen und ausschließlich von ihr diktirt worden war, so meinte sie doch aus der bisherigen Einleitung zu derselben die klare Pflicht Edgar’s folgern zu müssen, einem Mädchen, das er entführt habe, vor dem ersten besten Priester am Wege die Ehre wiederzugeben.

Sperber faßte den bisher so harmlosen Spaziergang minder folgenschwer auf. Hatte er schon den Schluß seiner Rede, der die Absicht aussprach, Bianca als seine Frau zu gewinnen, nicht so sehr mit hinreißender Ueberzeugungskraft ausgestattet, sondern mehr wie eine oratorische Figur, um seinen Rückzug nicht ungedeckt auszuführen, und etwas kleinlaut von sich gegeben, so schwieg er nun vollends auf das entschiedene Niemals der Sängerin.

Pater Otto verlor die Ruhe durchaus nicht. Er brach zuerst die peinliche Stille, die über den halbgeleerten Kaffeetassen schwebte, indem er sagte: „Ich nehme gern als Blutsverwandter meiner Muhme Kenntniß von Ihren ehrenwerthen, nur etwas weit ausblickenden Vorsätzen, Herr von Sperber, kann aber nicht umhin, mein Bedauern darüber auszusprechen, daß Sie bei den großen Rücksichten, die Sie auf die Sitten und Anschauungen Ihrer werthen Familie nehmen, auf die Ehre unserer Familie so wenig Rücksichten zu nehmen beliebten, wie . . .“

Edgar wollte hier ärgerlich auffahren. Aber der Chorherr wehrte mit lächelnder Miene der Unterbrechung und vollendete, mit den Händen auf den Tisch und dessen Zurüstung deutend, seinen Satz mit den Worten. „wie unser ganzes Hiersein doch wohl beweist.“

Dann zu seiner Muhme sich wendend fuhr er leiser fort: „Du siehst, liebe Bianca, das dritte Gedeck war nicht vom Ueberfluß.“

Sie sank. schluchzend an seinen Hals.

„Du bist doch einverstanden, daß ich Dich nunmehr ins Haus Deines Vaters zurückbegleite?“

Bianca war keines Wortes mächtig und schüttelte nur bejahend das blonde Haupt, ohne das Angesicht zu zeigen, denn sie weinte nicht nur um Sperber’s Kleinmuth und Verrath, sondern auch um den Zusammenbruch all der guten Gedanken, welche sie seit Wochen hoch über die dumme wirkliche Welt erhoben hatten.

„Dann bleibt mir weiter nichts übrig, Herr von Sperber,“ sagte Pater Otto, nun ganz in den Ton weltmännischer Freundlichkeit einlenkend, „als Ihnen für den gelungenen Ausflug und das vortreffliche ländliche Mahl, mit dem Sie uns erfreut haben, vielmals zu danken und Sie zu bitten, nunmehr den Wagen befehlen zu wollen, damit er uns nach der nächsten Bahnstation bringe, von wo aus ich meiner Muhme das Geleite nach Wien geben will. Es möchte die Stimme Bianca’s unter der Abendluft leiden, die hier im Gebirge doch manchmal auch im Sommer recht bedenklich wirken kann.“

Edgar, blaß bis in die Lippen, verbeugte sich und sagte: „Ich werde sofort selbst Auftrag geben!“ Und er ging mit langen, weniger als sonst schwebenden Schritten dem Hause zu.

Aber der sorgsame Schani mußte schon ohnehin die Stunde zum Aufbruch reif erachtet und darum die Pferde eingeschirrt haben, denn kaum, daß der Baron verschwunden war, rollte der Unnumerirte schon um die Ecke, und das flotte Gefährt stand zur Abfahrt bereit. Bianca hatte kaum Zeit gehabt, den Zipfel ihres Taschentuchs mit Wasser zu begießen, um die brennenden Augen zu kühlen und die Spuren ihrer Thränen von den Wangen zu wischen.

„Komm!“ sagte Pater Otto und reichte ihr den Arm. Ihr war zum Umsinken elend. Der jähe Wechsel in Allem, was sie empfand und dachte, diese ganze Umkehr ihrer Hoffnungen und Wünsche wollte ihr das Herz abdrücken. Sie entwand sich dem Priesterarm, es schien, als wollte sie laut auf gen Himmel schreien.

„Laß Dir vor den fremden Leuten nichts anmerken!“ raunte Pater Otto dem Mädchen zu. „Fassung! Stolz! Da kommt die Frau Wirthin schon herangestürzt zum Abschiede. Willst Du eine Künstlerin sein, so spiele nur gleich hier etwas Komödie und lächle, wenn Dir auch das Weinen näher ist.“

Sie hob das Haupt, und richtig, sie lächelte das grüßende Bauernweib huldreich an, das der „gnädigen Frau“ noch einen bunten Feldblumenstrauß in den Wagen reichte und dem Hochwürdigen demüthig die Hand küßte.

Edgar ward von diesem Lächeln Bianca’s nach all dem, was eben hier vorgegangen, nicht wenig erbost. Eine herzlose Kokette voll gemeiner Absichtlichkeit sah er nunmehr in diesem blonden Frauenzimmer und weiter nichts, während dieses mit aller Gewalt den Aufschrei bittersten Grams in ihrem sterbensbangen Busen niederkämpfte.

Laut sagte Sperber nichts weiter, als daß nun auch er mit vollendeter Höflichkeit den Priester neben Bianca zu sitzen, für sich selber aber um Erlaubniß bat, hier zurückbleiben zu dürfen, wo er noch Einiges zu ordnen habe.

„Wohin befehlen Hochwürden?“ fragte Schani, sich vom Bocke rückwärts wendend und den lichtgrauen Hut hoch über dem zinnoberrothen Gesichte lüftend.

Pater Otto nannte den Namen der Bahnstation, und der Sand knirschte unter den kreisenden Rädern. Edgar verbeugte sich noch einmal und tief, Pater Otto bedankte sich noch einmal, Bianca sah noch einmal in des Einstgeliebten blasses boshaftes Gesicht – und schon lag das kleine Gasthaus hinter ihnen. Lautschluchzend weinte das Mädchen, das vor wenigen Stunden mit ganz anderen Gefühlen in denselben Kissen ausgefahren war.

Anf einmal fuhr sie empor. „Warum lässest Du gleich nach dem Bahnhofe fahren?“ fragte sie. „Du mußt doch vorher in die Kirche dort drüben und Alles abbestellen, was Du für die Trauung angeordnet hast. Nicht?“

Der Priester schüttelte gelassen das Haupt. „Das thut nicht noth!“ antwortete er. „Der Vorbereitungen waren nicht so viele.“

Dann schwieg er, ohne Bianca weiter anzusehen. Diese jedoch betrachtete ihn mit brennenden Augen, als wollte sie Beantwortung der Fragen, die jetzt in ihrem Inneren auftauchten, aus seinen stillen Zügen lesen.

Vielleicht hatte Pater Otto gar keine Vorbereitungen in jener Kirche treffen lassen, vielleicht hatte er mit dem dortigen Herrn Pfarrer niemals ein Sterbenswörtlein über ein matrimonio segreto seiner Nichte gewechselt, und zwar aus dem guten Grunde, weil er die Menschen besser kannte und von vornherein seiner Sache sicher war, sicher, daß dieser Herr von Sperber, der sich einen Hauptspaß daraus machte, mit einer angehenden Sängerin ins Blaue hinein zu suitisiren, nie daran denken würde, sich mit einem kleinen Bürgermädel aus der Josefstadt, mit einem leichtgläubigen, überspannten, ehrgeizigen Ding ohne Namen, ohne Geld wirklich und endgültig zu verheirathen. Zu einem Scherz, auch wenn’s ein recht kostspieliger war, wie so eine mehrmonatliche Hochzeitsreise nach Italien oder Paris, war er jederzeit geneigt – heirathen aber, das ging über den Spaß!

War es nicht abscheulich von Pater Otto, sich mit solchen Gedanken getragen zu haben? O gewiß! Aber war es nicht noch viel abscheulicher von Edgar, daß Jener mit diesen abscheulichen Gedanken Recht behielt?

Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie haßte Pater Otto, sie haßte Edgar von Sperber, sie haßte sich selbst und das Leben, das ihr bevorstand. Der Ekel schüttelte sie. Nie vordem hatte sie sich mit Seel’ und Leib in einem so entsetzlichen Zustande befunden wie nun. Zum ersten Male dachte sie, daß ein jäher Tod gar kein so übles Geschick wäre.

[833] Bianca konnte sich nicht besinnen, wie sie aus dem Fiaker, wie sie in den Eisenbahnwagen gekommen war, durch dessen Fenster jetzt ein schwüler Windstoß ihr ins Gesicht blies.

Ein bleiernes Grau wälzte sich über den weiten Himmel herauf und schien immer näher und tiefer zu rücken und zu drücken, als solle die ganze Welt in einen Sack gesteckt werden. Mit eigenthümlich hell klingendem Rasseln und Keuchen hasteten Lokomotive und Zug diesem fahlen farblosen Zwielicht entgegen. Bianca, die doch oft genug auf Eisenbahn gefahren war, meinte nur in bangem Traume je solche garstigen Töne gehört zu haben. Der Waggon stieß hin und her auf den schütternden Geleisen. Jeder Baum, jeder Strauch am Wege, daran sie vorüberflogen, schüttelte und krümmte sich, als jammerte er ihnen zu: Nehmt mich mit, ich fürchte mich hier, denn es giebt ein Unglück! Die Steine auf dem Schotter neben den Schienen waren bei der Schnelligkeit des Zuges nicht mehr wahrzunehmen, sie sahen sich an, wie eine zerfließende graue Masse, wie ein schwindender Boden, den unsichtbare Gewalt den Menschen unter den Füßen wegzieht. Ueber Allem ein schwüler Hauch, der menschliches Empfinden niederdrückte. Und doch war Einem bei dem stoßweisen Anhauche schaurig zu Muth, als frör’ es Einen in den Haarwurzeln. Eine unaussprechliche Angst löste auf Minuten die Empfindung des Ekels in Bianca’s Bewußtsein ab. Sie sah dann Pater Otto in der anderen Wagenecke auf derselben Reihe sitzen. Er hatte den schwarzen Arm in die Wandhalfter gehenkt, die wie eine Schleife der Bequemlichkeit oberhalb des Sitzpolsters angebracht war, und er las ruhig in seinem Brevier, dem kleinen schwarz eingebundenen rothbeschnittenen Büchlein, das er nach mönchischer Weise immer und überall bei sich trug.

Ihr starres Anblicken mocht’ ihn auf einmal im Lesen stören. Er sah auf und sah sie an und sah durch das Fenster hinter ihr.

„Es wird regnen!“ sprach er, „der schöne Tag klingt wild und trübselig aus!“

Es gab Bianca einen Stich, daß der Vetter diesen Tag einen schönen nannte. Stumm brütete sie weiter vor sich hin.

„Otto!“ rief sie plötzlich.

„Was willst Du?“

„Bring’ mich jetzt nicht zum Vater heim! Hörst? Ich könnt’s nicht ertragen. Bring’ mich zur Tant’ nach Gumpoltskirchen. Sie erwartet mich ohnehin!“

Pater Otto sah die Redende mit großen Augen an. „Das hast Du mir ja schon gesagt. Wir fahren ja bereits auf der Südbahn. Was hast Du?“

Bianca lief ein Schaudern über den Rücken. Was ging mit ihr vor? Sie war nicht ohnmächtig gewesen, sie hatte nicht geschlafen, und doch erinnerte sie sich an nichts mehr, weder an das, was in den letzten Stunden mit ihr geschehen war, noch an das, was sie selbst gesprochen hatte. Sie sah nur immer noch das braune Häuschen im Grünen und davor Edgar, der sich tief verbeugt vor dem im Halbkreis wendenden Wagen, dann sah sie nichts mehr als ihre rinnenden Thränen, und jetzt den bleigrauen erdrückenden Himmel und auf dem Gewitterwolkengrunde einen schwarzen Mann mit einem schwarzen Buch in der Hand.

Sie merkte erst jetzt, daß es später Abend sein mußte. Was von Tageslicht noch übrig war, drohte die graue Fläche, die zwischen Himmel und Erde niederwuchs, in der nächsten Minute einzuschlucken.

Da zog ein jäher Blitzstrahl eine rothe Furche quer durch den öden Himmel, und als der Donnerschlag, der ihm folgte, verhallt war, warf es etliche klatschende Tropfen an die geschlossene Fensterscheibe des Wagens, dann noch eine derbere Handvoll, und endlich prasselte der Regen in Strömen gegen das triefende Glas. In das immer gleichmäßig fort sich wiederholende Fauchen der Lokomotive und das Schüttern und Klirren der Schienen dröhnte bald jetzt, bald später, bald mit grauenhaften Schlägen, bald mit dumpfem Rollen die Musik des Orkans. Mit Riesenschritten von den Fackeln der Blitze geleitet, vom pfeifenden Sturm gefolgt, kam die Nacht herauf.

Sie fuhren das Gewitter mitten hindurch und in einen gleichmäßig fadendicht schüttenden Landregen hinein, der alle Weinberge dieses gesegneten Landstriches unter Wasser zu setzen drohte.

Bianca hatte sich schlecht versorgt für solchen Wetterumschlag. Ein dünnes Mäntelchen, das sie vom Handkoffer abschnallte, gewährte nur zum Spott Schutz gegen solchen Wind und Regen. Und es war kaum zu hoffen, daß sich der Himmel aufhellen werde, ehe sie das Ziel ihrer Fahrt erreichten.

Es war doch just so schwül hier innen gewesen. Jetzt fror sie’s auf einmal, wie wenn ein eiskalter Wind durch die Wände pfiff. Durch ein Nebenfenster, das schlecht geschlossen worden, sprühte jäh der Regen über sie hin, und Pater Otto hatte Mühe, weiteren Schaden durch rasches Zugreifen zu verhindern.

Unwillkürlich sah sie, die Regentropfen aus Haar und Gewand streifend, sich nach der guten Wagendecke um, die Edgar zur Vorsicht in seinen Fiaker gelegt hatte. Ach so, die war weit weg! …

Für einen Augenblick trat da ein holdes Bildchen vor ihre Seele. In einem wohlverschlossenen behaglichen Koupé erster [834] Klasse fuhren zwei verliebte Leutchen in die blitzdurchsprühte Nacht hinaus. Der Regen klatschte wohl an die Fenster, der Wind rüttelte wohl an den Thüren, aber drinnen hatten Liebe und Vertrauen alles wohl bereitet. Zwei gute Menschen hielten sich bei den Händen, versprachen sich ewige Treue, und die sich fürs Leben gefunden hatten, gingen nun vereint ihr Glück zu suchen in die weite Welt . . .

So wär’ es gekommen und wie anders war es!

Bianca fror, sie starrte hinaus in die Regennacht und zerrte mit blutlosen Fingern an dem Mäntelchen, das ihr nothdürftig den Rücken deckte.

Ihre Hoffnungen, ihre Träume, ihre einst so stolzen Gedanken sahen aus wie die Gärten an den Stationshäusern, darin jetzt die Beete in schmutzigen Wasserlachen schwammen und alle Blumen geknickt die Köpfe hängen ließen, als wären sie erwürgt.

Wieder schnob und pfiff und klingelte es, und Pater Otto stand auf, mahnte Bianca zur Vorsicht beim Aussteigen und ergriff ihr bischen Habseligkeit.

Also bei stockfinsterer Nacht und strömendem Regen suchten sie lange das Haus der Tante und fanden es endlich, nachdem sie naß bis auf die Knochen mit klebenden Kleidern und triefendem Schuhzeug einem Nachtwächter im Dienst begegnet waren, der sie nach einigen Mißverständnissen auf den rechten Weg ein paar Kilometer weit vor den Flecken hinaus brachte.

Die alte Frau war wegen des verspätete Eintreffens der erwarteten Nichte zwar nicht besorgt gewesen, denn es war nicht das erste Mal, daß sich eine von den Latschenbergerischen Mädeln angekündigt hatte und dann doch ausgeblieben war, als sie aber Bianca nun dennoch mitten in der Nacht und in so durchweichtem Zustand ankommen sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen, jammerte, daß es im Hause schallte, und war nur durch das ernsthafte Zureden des verwandten Priesters dazu zu bringen, mit ihrer Nichte, die sich bei dem schändlichen Wetter leicht eine böse Erkältung zugezogen haben mochte, nicht zu zanken, sondern für heute lieber rücksichtsvoll zu schweigen und sie so eilig als möglich zu Bette zu schicken.

Die Tante, die trotz ihres argen Mundwerks eigentlich doch eine gute Frau war, blies selber noch einmal Feuer an und braute warmen Wein. Bianca mußte ihn im Bette schlürfen, derweilen der Vetter ihn noch in seinen nassen Kleidern trank.

Endlich fand auch dieser in irgend einem Kämmerlein des Hauses eine trockene Lagerstatt, während alles, was er am Leibe gehabt, am Küchenherde trocknen mußte, wenn es bis morgen in menschenmöglichen Zustand gebracht werden sollte.

Draußen schüttete sich der Regen in Strömen nieder, fernab zuckten immer schwächer und schwächer die falbgewordenen Blitze.

So endete der ereignißreichste Tag im Leben der schönen Bianca Scandrini.


„Du verlangst nicht, daß ich mich bei Dir bedanke, obwohl ich zu schätzen weiß, was Du für mich gethan hast. Aber mir ist nach Deiner Rettung so jämmerlich zu Muthe wie nie vorher. Ich glaub’, ich werde recht krank,“ sagte Bianca, da sie am anderen Mittag im Freien stand und all die Strömchen und Flüßchen übersah, die im Weingarten der Tante hastig durch alle Furchen und Erdrisse sich schlängelten und Pater Otto ihr wie zum Troste mit der flachen Hand über den blonden welligen Scheitel fuhr.

Die Sonne stand im Mittag, der Himmel war blau und weiß, und über die frisch gewaschenen Weinberge kam die geläuterte Luft wonnig und erquickend gestrichen.

Aber Bianca sah nicht erquickt, nicht erquicklich aus. Der wohlmeinende Priester selber konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß ihr düsteres Wort Recht behalten und der Sturm, der über ihr Gemüthsleben fegte, nicht ohne schmerzliche Nachwehen werde zu überwinden sein.

Manchmal that es ihm leid, sie aus ihrem seligen Traume gestört zu haben. Dann aber, sagte er sich, wäre das Erwachen einst noch viel verderblicher geworden, wenn er sie hätte ziehen lassen wie eine Nachtwandlerin, die über einen Abgrund zu tänzeln sich anschickt!

Ja, sie that ihm herzlich leid, und er sagte es ihr, und daß er keinen Dank verlange, und daß ja doch noch Alles gut werden könne, wenn anders Master Edgar sie wirklich und mit ganzem, mit redlichem Herzen geliebt hätte.

Es zuckte häßlich über ihre Züge, da er jenen Namen nannte, und sie kehrte sich ab, wie Jemand, der davon nichts mehr hören will. Er folgte der Unwilligen, die, in ein altes Shawltuch ihrer Tante eingewickelt, dem Hause zuschritt.

„Bianca!“ rief er, „willst Du mir nicht die Hand zum Abschied geben? Ich kann Dich so bald nicht wieder heimsuchen, und Du mußt mir doch in die Hand versprechen, keine Dummheiten weiter zu machen!“

Sie zog die Brauen hoch, legte ihre Fingerspitzen in seine dunklere Rechte und sagte achselzuckend: „Was sind Dummheiten!“

„Versprich mir, auf Dich zu achten, auf Deine Mädchenwürde wie auf Deine Gesundheit! Versprich mir, Dich nicht selber fallen zu lassen und am Boden hinzulottern, wie eine verhagelte Rebe, die keine Stütze mehr hat! Versprich mir, nichts zu thun, was Dir Schaden bringt, und nichts zu unterlassen, was Dich aufrichten, was Dich kräftigen kann!“

Sie sah ihn aus redlichen blauen Augen herzergreifend an. „Otto,“ sagte sie, „ich glaub’, ich hab schon was weg. Die schauderhafte Aufregung, von der Du Dir wohl keinen Begriff machst, dann das Gewitter, die Nässe, die Kälte bis auf die Knochen – ich halte sonst schon einen guten Puff aus, aber das war zu viel auf einmal. Mir ist, als wär’ mir etwas in der Kehle. Da! Ich glaub’, ich könnte keinen lauten Ton hervorbringen. Und ich mag’s auch gar nicht versuchen, aus Angst, es könnte so sein, wie ich fürchte. Dabei schüttelt mich der Frost alle drei Minuten.“

„Du fieberst ein wenig. Das ist natürlich nach dem Erlebniß,“ sagte Pater Otto.

Und sie fuhr fort: „Doch empfind’ ich’s wie ein Glück, daß ich, wenn es schon sein muß, hier auf dem Lande krank werde. Nicht in der Florianigasse, wo mich Alles an ihn erinnert, wo mir der Vater, wo mir die Schwestern keinen Vorwurf ersparen. Hier werd’ ich mit Gottes Hilfe auch rascher wieder genesen. Drum sag’ ihnen nichts, denen in der Stadt, ich bitt’ Dich darum, sonst holen sie mich noch hinein. Und schau Dich nach mir um, sobald Du kannst. Und ... Nein, das nicht! Und behüt’ Dich Gott!“

Sie wollte sagen: erkundige Dich auch darnach, wie es ihm geht! Aber sie bracht’ es nicht über die Lippen. Sie wollt’ es nicht sagen, wollt’ es nicht ahnen lassen, daß sie das noch hatte denken können. Sie sah dem Vetter, der ihr freundlich zunickte, mit starren Augen ins Gesicht, bis er sich wandte, und blieb an derselben Stelle stehen, bis er aus ihrer Sehweite war.

„Es wird schon wieder gut werden!“ war das letzte Wort bei seinem Adschiednehmen gewesen. Sie dachte nicht darüber nach, was er meinte, sie war zu müde dazu. Was war aus dem Alles entzückenden Kobold geworden! Das blendende, schon vor dem Auftreten auf der Bühne berühmte Wunderkind Scandrini, das Jedem in der einzigen Kaiserstadt den Kopf verdrehte, wenn es wollte, stand ein armes, fröstelndes, in ein Bauerntuch gehülltes Mamsellerl Latschenberger in einem verregneten Weingarten im Gebirge und wünschte nichts mehr als von einer Krankheit zu genesen, die, wie gestern das Gewitter über die Gegend, so bleiern, so drückend, so beängstigend über das arme Geschöpf heraufzog.

Sie war wirklich krank, recht krank, obgleich sie wenig das Bett hütete und meist auf der Bank vor dem Hause schweigend an der Wand lehnte und sich von der Sonne wärmen ließ. Und sie litt am meisten an dem Theil ihres Körpers, der ihr der kostbarste war, in ihrer Kehle.

Als sie, nach Tagen des Schmerzes und der Sorge wieder einigermaßen erholt, in der würzigen Luft zwischen den Rebstöcken endlich wieder einmal mit einem klingenden Schrei ihre Brust erleichtern wollte, da kannte sie ihre Stimme nicht wieder. Es tönte wohl so hin, hell und laut, aber der Schmelz und der Zauber war weg, mit dem sie sonst alle Herzen im Nu erobert und lachen und weinen gemacht hatte, wie ihr selber ums Herz gewesen war. Die Nachtigallen waren verflogen und verscheucht, die sonst aus ihrer Brust geschluchzt und geschmettert hatten. Kahl, rauh und brüchig klang die Stimme, wie wenn der Schlag, der ihr durchs Herz gegangen, das Gefäß verwundet hätte, das Wohllaut getönt, wann immer man daran gerührt hatte, und das jetzt Zeugniß gab von nichtverwundenem Leide.

[835] Sie suchte schweigend ganz zu genesen. Aber als nach einiger Zeit Pater Otto wieder einmal in den umgeackerten Weingarten nach Gumpoldskirchen kam, sagte Bianca zu ihm: „Denk Dir, ich hab’ meine Stimme verloren! Das ist ein großes Unglück! Ich hab’ meine Dummheiten, meine Landpartie theuer bezahlt! Mit dem Kapital meines ganzen Lebens.“

Pater Otto sagte zwar, sie sollte sich doch so etwas nicht in den Kopf setzen. Das werde sich Alles wieder geben und die Stimme werde sicher und gewiß in alter Schönheit wiederkommen, wenn sie sich nur erst vollends erholt haben werde. Allein in Wahrheit war er doch auf den Tod erschrocken, und Bianca merkte es wohl.

Hätt’ er sie jetzt mit irgend einem schweren Opfer, das in seiner Macht stünde, nach Italien an Edgar’s Seite versetzen können, aber mit der Pracht und Fülle der ihr sonst eigenen Stimme, wer weiß, ob er nicht unbedenklich seine Rettung ungeschehen gemacht hätte.

Aber er sagte wohlweislich nichts davon, mahnte sie nur, ja die Stimme nicht vor der Zeit zu forciren, und nahm sich die Geschichte sehr zu Herzen, weßhalb er ihr nicht nur bald wiederzukommen versprach, sondern dies Versprechen auch, so oft es anging, treulich erfüllte, ihr auch allerhand von Büchern, Noten, Naschwerk und Stadtklatsch aufs Land hinaustrug, damit ihr die Zeit nicht gar zu öde verging, bis das Weinlaub roth ward und man die Trauben las, der kältere Herbstwind übers Gelände pfiff, der Regen gar nicht mehr aufhörte und von den Städtern keiner, der es nicht mußte, länger draußen blieb.

Diese Witterung bei ländlicher Unterkunft und Winzergewohnheiten konnte auch Bianca’s Stimme nicht nützen.

Und so zog sie eines Tages zwischen Herbst und Winter mit ziemlich rothen Wangen und klaren Augen wieder in der Florianigasse ein, die sie seit dem denkwürdigen Verlassen im August nicht wieder betreten hatte.

Das Engagement in Königsberg war bereits versäumt. Eine minder begabte Mitschülerin, deren Nebenbuhlerschaft sie früher niemals ernst genommen hatte, war hingegangen sie zu ersetzen und mußte nach den Berichten in Zeitungen über Erwarten gefallen haben. Bianca lächelte bitter, als sie das las. Was hätte das gute Publikum erst mit ihr angegeben, wenn sie ihre alten Pläne ausgeführt und ihre Stimme vor ihm hätte ertönen lassen! ... Du lieber Gott, wo waren ihre alten Pläne hin! Und ach, wo war ihre Stimme hin!

Von Zeit zu Zeit meinte sie zwar, alle Nachtigallen wären wiedergekehrt, mit alter Kraft und Frische quöllen die Töne aus ihrer Kehle. Dem war auch so. Die Schwestern bekräftigten ihr diese Wahrnehmung, und Pater Otto desgleichen. Und nicht etwa bloß aus Mitleid! Nein! Sie war sich selber ja die strengste Richterin. Glaubte es zu sein.

Aber Kraft und Frische ihrer Stimme hielten nicht mehr vor. Sie konnte nicht wie sonst über sie gebieten. Sie versagten gerade da, wo sie ihrer bedurfte.

In der ersten Freude wiedergewonnener Fähigkeiten war sie feurigen Muthes zu dem Theateragenten gefahren, und dieser hatte ihr, eingedenk des gewaltigen Rufes, der ihr aus der Opernschule voraufgegangen, gleich ein anderes und besseres Engagement angetragen, trotzdem er ein wenig mit ihr schmollte, weil sie das Königsberger Debüt, wie er sagte, hochmüthig ausgeschlagen habe.

Als es aber zum Probesingen kam, merkte Bianca selber gleich nach den ersten Takten, daß ihre Kehle ihren Absichten nicht mehr wie vordem gehorchte, und daß eine solche Stimme, wie sie sie jetzt besaß, den Ansprüchen jener, die sie beurtheilten, nicht genügte.

Geschäftsleute sind nicht allzu rücksichtsvoll, wenn sie sich in hochgespannten Erwartungen auffallend enttäuscht finden. Bianca verschwor sich, nie wieder diesen Mann aufzusuchen, der sich jetzt vielleicht in der Stille beglückwünschte, daß sie sich für Königsberg zu gut gehalten hatte.

Still und betrübt kehrte sie heim und wunderte sich doch, daß sie nicht noch betrübter war über den Zusammenbruch ihrer stolzen künstlerischen Hoffnungen. Aber sie hatte sie nicht erst heute zusammenbrechen sehen, sondern an jenem bösen Tage, da nicht nur diese Hoffnungen in Trümmer gegangen waren. Und ihre liebe Seele war schon so voll von Kümmerniß, daß diese Enttäuschung mehr sie nicht noch viel unglücklicher machen konnte, als sie sich ohnehin schon fühlte.

Manchmal wunderte sie sich zwar darüber und schaute lange forschend in ihr Herz hinein. Hatte sie denn diesen Edgar so sehr geliebt?

Es mußte wohl so sein! Es hatte so leise, hatte so unmerklich begonnen, wie eine kleine Schwäche für den arg verliebten, treu anhänglichen Menschen; mehr aus Eitelkeit und Gutmüthigkeit, aus Modesucht, weil eine bedeutende Sängerin, wie der Komet einen Schweif, eine wimmelnde Bande von schwärmenden Verehrern hinter sich haben mußte. Aber nie hätte sie gezweifelt, daß sie nach Laune, nach Belieben, dies Gefolge, Sperber voran, ablegen und beiseite werfen könnte wie eine Theaterschleppe, die sie im nächsten Akte nicht mehr brauchte, ohne bei dieser Trennung viel mehr zu empfinden, als etwas Dankbarkeit oder höchstens etwas Mitleid mit so einem armen abgedankten Cavalierchen.

Und nun der eine sie verlassen, sie enttäuscht und verlassen hatte, gerade der, an den sich ihr Herz gewöhnt hatte, war sie tief unglücklich, und die Gedanken an ihn verließen sie weder bei Tage noch bei Nacht. Sie verzehrte sich in verschwiegener Leidenschaft, und wie es in ihrem Inneren aussah, das sollte Niemand erfahren!

Eine Zeitlang, draußen auf dem Lande, hatte sie sich eingebildet, er würde doch wiederkommen eines Tages, früher oder später, er würde hören, daß es ihr übel erging, und da würde es ihn treiben nach ihr zu sehen, und sie würden sich aussprechen und wieder verstehen und wieder lieb haben, wie vordem, ach, und noch ein gut Theil mehr!

Er hatte sie ja so innig lieb gehabt. Konnte solche Liebe verrauschen und, eh’ man’s denkt, verblaßt, verflüchtigt sein, wie ein ausgetobtes Gewitter vor dem Wind am Morgen? Er mußte ja nicht weniger nach ihr bangen als sie nach ihm! ... Aber er kam doch nicht und ließ nichts von sich hören. Und er war noch in Wien und machte genug von sich reden. Ja wohl, und es klang nicht gut!

Manchmal dachte sie, wenn sie nun doch eine große Sängerin würde, und ihr gefeierter Name stünde in allen Zeitungen, und die Leute drängten sich, sie zu hören und zu sehen, dann käme wohl auch Edgar ins Theater, und wenn er sie wieder hörte, wieder sähe, dann wolle sie’s ihm schon wieder anthun in seinem Herzen. Das wußte sie gewiß ... Aber die Aussicht, einmal als eine große Sängerin vor allem horchenden Volk zu glänzen, war so kläglich zu Schanden geworden, daß sie selbst die Hoffnung auf Besserung ihres innewohnenden Instruments in eine fernere Zukunft hinausschob, in der sich mit Sperber soviel ereignet haben mochte, daß eine Wiederkehr zu ihr nicht mehr möglich, vielleicht nicht einmal mehr wünschenswerth erschien.

Er trieb’s toll. Sie fragte Niemand nach ihm. Sie schämte sich, und sie wollte ihre närrische Liebe nicht verrathen. Aber man trug ihr auch ungefragt genug zu. Der freilich, der gewiß am meisten von ihm wußte, schwieg. Pater Otto wollt’ ihr nicht wehe thun. Aber dafür fanden beide Schwestern eine eigenthümliche Genugthuung darin, ihr jedes Hörensagen, jede wahre oder falsche Anekdote, die man sich von dem reichen Hamburger Patrizierssohn erzählte, brühheiß vorzusetzen, unverzüglich, sowie sie sie aus den Mäulern der Leute bekommen hatten. Und wie sie sich über alles Böse freuten, was sie wußten oder auch hinzuthaten aus eigener anmuthiger Erfindung!

War das Alles wahr, was die Leute sich erzählten?

Edgar sollte schon vor Monaten, also wohl gleich nach dem Bruch mit Bianca, sich an eine alte Freundin angeschlossen haben, an eine gewisse Philomena, eine sehr auffallende Dame, die keineswegs im allerbesten Rufe stand. Und das intime Verhältniß mit diesem tollen Persönchen, das er rücksichtslos zur Schau stellte, trug nicht dazu bei, ihren oder auch seinen Ruf in besseres Licht zu setzen.

Alle Welt war seiner Streiche voll, und man nannte gewaltige Summen Geldes, die er in kurzer Zeit mit Hilfe seiner neuen alten Freundin anmuthig und brutal zum Fenster hinauswarf.

Bianca weinte bitterlich, so oft ihr derlei zu Ohren kam. Wie lange sollte denn dieser unsinnige Hexensabbat dauern? Edgar war von Haus aus doch eine so vornehme, so saubere Natur. Sie konnte sich diesen wohlerzogenen feinen Menschen, [836] der immer zu ihr wie mit gebundenen Händen, fromm und hingebend, wie zu einem Heiligenbild aufgeblickt hatte, in solcher Gesellschaft nicht vorstellen.

Er hielt es auch nicht lang in dieser Gesellschaft aus. Aber wozu er sich nachher gesellte, war nicht viel mehr Werth. Es war nur ein Wechsel im Gleichen. Er schaffte sich bald diese, bald jene Geliebte an, lauter Leutchen, die ziemlich sichtbar im Vordergrund des öffentlichen Lebens standen. Es war, als könnt’ er mit einer gar nicht soviel verschwenden, als er Willens war, draufgehen zu lassen, und müßte sich ein paar neue Hände zu Hilfe nehmen, wenn die anderen müde wurden, sein Geld auszugeben. Gefallen und Behagen schien er bei Keiner zu finden. Aber zu Bianca kehrte er nicht zurück.

Selbst den lieben Wienern, die es gerne sehen, wenn ein reicher Mann sein Geld mit vollen Händen ausgiebt, und das für standesgemäß erachten, war diese Weise doch zu toll.

Bianca weinte sich aus in der Nacht, wenn sie am Tage widerspruchslos diese Dinge mitangehört hatte, die ihr im Innersten weh thaten. Und doch war bei allem, was sie beklagte, ein Etwas, das ihr zu sagen schien, wo immer Edgar Geld und Zeit und vielleicht Gefühl verzettelte, es sei doch nur auf dem Umwege zu ihr zurück.

Als aber einmal Papa Latschenberger, wie immer zwischen Suppe und Käse, das Neueste auftischte, was sich ganz Wien erzählte, daß nämlich der gewisse Herr von Sperber sich mit einer jungen Opernsängerin zusammengethan habe, die Bianca von ihrer Gesangsschule her gut kannte, ein unreifes keckes Ding, das wenig Talent und wenig Kunstsinn, aber um so mehr das Bedürfniß empfand, auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege übers Theater zum Geld anderer Leute zu gelangen, da warf Bianca von heftiger Bewegung übermannt doch den Stuhl um, auf welchem sie bei Tisch gesessen, und lief in ihre Stube, wo der Flügel offen stand, an dem er so oft gelehnt und ihr gehorcht hatte, und sie ließ ihre Thränen rinnen.

Daß er ihr das anthat, mit einer Bekannten von ihr anzubinden, die nicht werth war, ihr die Stiefeletten auszuziehen, und die nun doch jeden Augenblick sich über sie lustig machen konnte, o, das war schlecht! Daß er mit einer Sängerin, mit einer so untergeordneten Sängerin anzubinden übers Herz gebracht, wo jeder Ton, jedes Gespräch ihn an die erinnern mußte, die er verloren, das ging gegen Zartgefühl und Ehre, das hätte sie nimmer von ihm geglaubt.

Nun kam der Vater ihr nach in seiner breitspurigen Weise, um das Versehen wieder wettzumachen, mit dem er seine Jüngste vom Mittagessen vertrieben. Aber darauf verstand er sich schlecht. Und er wußte nichts Besseres zu sagen, als daß er früher als Andere erkannt habe, was für ein Windbeutel dieser Baron Sperber sei, und daß ihn wenig im Leben mit so hoher Zufriedenheit erfülle, als daß er diesem Kerl die Thür gewiesen zur rechten Zeit.

Bianca dachte ganz anders über diese Leistung väterlichen Scharfsinns und hätte ihn über Wirkungen derselben aufklären können, die nahezu verwirklicht worden wären, wenn nicht der gute Hausgeist Pater Otto –

Aber ehe sich das abgehärmte Mädchen hinreißen ließ, dem Alten Dinge zu sagen, die ihn zur Wuth gebracht hätten, kam zum Glück Pater Otto in leibhaftiger Person zu Besuch und schlichtete den Streit zwischen Vater und Kind, noch ehe dieser zu Wort gediehen war.

Er bat den Onkel, ihm die Mühe zu überlassen, Bianca’s blondes Köpfchen zurecht zu setzen. Mit etlichen Kernsprüchen über die Narrheit der jüngeren Generation und dem gewöhnlichen Fluch über das für die Ausbildung einer so unsicheren Stimme, wie die seiner Bianca geworden, umsonst ausgegebene Geld trollte sich Papa Latschenberger zur verlassenen Mahlzeit zurück und ließ sich schmecken, was er Anderen verleidet hatte.

Bianca, aus Rand und Band, hielt sich heute nicht zurück. Sie sagte mit sprudelnden heißen Worten Alles, was sie von Sperber’s jetzigem Leben gehört hatte und was sie von seiner neuesten Verirrung dachte.

Otto hielt wieder wie sonst, wenn er aufmerksam horchte, das Kinn in der Hand, und als sie fertig war, nickte er nur mit dem Haupt ein wenig und sagte nichts als: „Ja, ja, er muß Dich wahnsinnig lieb haben. Denn die ganze Hatz beweist doch nichts, als daß er Dich über Keiner und ganz und gar nicht vergessen kann. Er betäubt sich wie ein Narr und thut sich selber so weh, als er nur vermag, und weher, als Du verstehst.“

Bianca verstand ihn wirklich nicht gleich. Sie wollte nicht glauben, was sie so gern geglaubt hätte, sie wollte es unter so häßlichen Umständen nicht glauben. Nachdem sie den klugen Priester aber ein Weilchen stumm angeblickt, fragte sie leise: „Hast Du je wieder mit ihm gesprochen?“

„Nein!“ antwortete Pater Otto. „Und es würde das auch weder sich ziemen, noch würd’ es anitzt was helfen. Ein scheu gewordenes Roß, das durchgeht mit solcher Gewalt wie der da, das rennt Dich übern Haufen, wenn Du’s aufhalten willst. Es muß sich überkollern oder zusammengerissen werden, sonst kommt’s nicht zur Ruh. Gott helf, daß es nicht zu viel Schaden dabei nimmt und nachher noch so viel Werth ist wie zuvor … Das kann man vorher nicht wissen. Aber mir scheint, es kommt der Tag noch, da ich mit ihm reden werde. Wart’s ab in Geduld, und tröst’ Dich Gott dabei!“

Der liebe Gott hatte bei Bianca viel zu thun mit Trösten, denn das arme Mädel grämte sich halb zu Schanden, und das Abwarten dauerte lange, lange!

Eines Tages im anderen Jahr brachte der geistliche Herr ihr eine Nachricht, die ihn selbst sehr überrascht, als er sie gehört, obschon er sich etwas dergleichen hatte vorausdenken können. Die Familie in Hamburg mußte denn doch nachgerade finden, daß ein Gebahren, wie das ihres Edgar’s, auch dem tiefsten Faß den Boden auszuschlagen drohte. Es war ganz in der Ordnung, daß ein Erbe James Edward Sperber’s in der Fremde freigebig, ja großartig auftrat, allein zu viel ist überall vom Uebel, und die sich als Narren gebärden, läßt man nicht länger frei in der Welt herumlaufen, wenn sie ihre schöne Zukunft und das stolze Vermögen ihres Hauses ernstlich gefährden. Man bat Edgar in der bestimmtesten Weise, sich unverzüglich in den Schatten des väterlichen Daches zurückziehen zu wollen, und unterstützte seinen guten Willen mit der gemeinverständlichen Maßregel, ihm jede Geldzufuhr abzusperren.

Es hätte solcher Strenge gar nicht bedurft, denn Edgar selber hatte dies Leben satt bis an den Hals und wartete nur irgend eines Anstoßes, der ihn abberiefe von Wien, das ihm unter solchen Umständen durchaus verleidet war.

Er packte sogleich seine Koffer, gab seinen guten Freunden und seiner schlechten Gesellschaft ein Abschiedsdiner und fuhr davon.

Wie es in einer Großstadt Gepflogenheit, redete man acht Tage noch ziemlich viel von ihm, vierzehn Tage noch dann und wann, und einen Monat nachher mußten sich die kundigsten Leute immer erst ein wenig besinnen, wie denn der lebenslustige Hamburger geheißen, der eine Zeit lang mit der Dings und dann mit der Chose und nachher mit der Jsö ziemlich viel habe draufgehen lassen und eine fidele Haut gewesen sei, ja ja.

Nur drei Menschen in Wien bewahrten ihm ein treues Gedenken und redeten viel von ihm: ein unnumerirter Fiaker, ein regulirter Chorherr und ein kleines Mädel, das einen Theil seiner Stimme und sein ganzes Herz verloren hatte.

Daheim ward weder von seiner Rückkunft noch von deren Veranlassung viel Aufhebens gemacht. Es war ja gerade nichts Außerordentliches, daß ein Haussohn ein paar Jahr in der Fremde etwas mehr Geld ausgab, als recht war. Demgemäß ward er auch weniger mit Vorwürfen als mit einer würdevollen Freundlichkeit empfangen. Und da ihn selber davor ekelte, den fruchtlosen Versuch, sich die alte Liebe zu Bianca Scandrini aus dem Sinn zu jagen, in der eben schlecht erprobten Manier auch in der Vaterstadt fortzusetzen, so versuchte er sich in entgegengesetzter Art zu trösten und fing an, sich emsig um die Geschäfte seines Hauses zu bekümmern und sein Leben so streng und ernsthaft zu führen, daß sich James Edward Sperber seinetwegen nicht weiter im Grabe umzudrehen brauchte.

Edgar’s wegen allerdings nicht. Ob aber der Leichnam des gewaltigen Handelsherrn in dieser selben Zeit gerade sehr ruhig gelegen, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist leider, daß gerade damals an der großen Schöpfung, die jener ins Leben gerufen und zum Ruhme seines Namens hinterlassen hatte, schwere Wunden aufbrachen. Es war keineswegs die Schuld seiner allzeit ehrgeizigen und gewissenhaften Nachfolger in der Leitung des [838] Welthauses, sondern der natürlichen Umstände, der Veränderungen der Weltlage und der allmählichen Entwickelung neuer Handelsbeziehungen, daß sein Königthum in der Südsee bedenklich ins Wanken gerieth und alles, was er gegründet und geschaffen, den Wohlstand und die Bedeutung des alten Hamburger Hauses dazu, mit sich zu Grunde zu richten drohte.

Ein Halbsahr nach seiner Heimkehr hatte der verlorene Sohn ganz andere und tausend Mal größere Sorgen, als er je Einem der Seinen durch seine Wienerischen Abenteuer bereitet hatte.

Kurzlebig sind die Größen in der Handelswelt. Eine glückliche Woge wirft sie in königliche Höhen, ein einziger Sturm versenkt sie in unrettbare Tiefe.

Man versuchte dies, man versuchte das, es wurden gewaltige Anstrengungen gemacht, um ein solches Haus nicht fallen zu lassen, es vergingen weitere neun Monate voll Aufregung, Hoffnung und Enttäuschung, und dann war es Edgar doch kaum mehr zweifelhaft, daß das Verlorene nicht wieder zu gewinnen war.

Sie waren gesunken mit allen Ehren, aber sie waren von einer gewaltigen Höhe sehr empfindlich herabgesunken. Sie waren noch immer sehr anständige, leidlich wohlhabende Handelsleute, aber das Prädikat der königlichen Kaufherren war verwirkt. Was galten diese emsig wieder aufgebürstete Ehrbarkeit und diese fadenscheinige Wohlhabenheit, die jeden in seinen Ausgaben zu peinlicher Sorgfalt verpflichtete, gegen jene fürstliche Macht ihres einstigen Vermögens und den Stolz ihres altbegründeten Bürgerthums, vor welchen jeder echte Sohn Hammonias sich freiwillig beugte, welche die Flaggen ihrer Schiffe über alle Meere wehen ließen und ihnen jeden Wunsch erfüllten, ohne sie viel fragen zu lassen, ob seine Kosten auch zu erschwingen wären.

Es war ein Sommer und Winter ganz anderer Art, den Edgar jetzt im heimathlichen Hamburg durchmachte, als jener, den er im lustigen Wien geliebt und gelebt hatte, recht und schlecht.

Er pflag unter diesen Umständen wenig des Verkehrs. Aus der Kaste der Reichsten geschieden, hatte er diejenige Gesellschaftsabstufung, für welche er nach seinen jetzigen Verhältnissen geeignet erschien, noch nicht gefunden oder sich nicht in sie finden wollen. War ihm doch die Zeit vordem nur allzu gesellig vergangen. Jetzt bedurft’ er der Ruhe, der Einsamkeit, des stillen Gewöhnens an ein neues Leben.

Und weiter bedurft’ er nichts?

Ach, wie so oft saß er im abgeschlossenen Komptoir über den mächtigen Büchern und über Haufen von Briefen aus allen Himmelsgegenden und vergrub das Gesicht in beide flachen Hände und sah nichts von Buchstaben, nichts von Ziffern, sondern nur ein fernes Stübchen in der Florianigasse, darin ein wunderbares blondes Mädchen wohnte, ein Mädchen, das sang und weinte und seiner nicht mehr achtete.

Wie oft sagte er sich da, daß er der Liebe bedurfte, mehr denn je, der echten heiligen Liebe eines braven holdseligen Weibes, das Kummer und Sorgen mit ihm trug, jeden Hoffnungsschimmer auf sein bedrücktes Haupt lenkte und ihm das Herz leichter machte, mit gutem Wort und frohem Lied und süßem Kuß.

Er hätte es haben können, noch im letzten Augenblick, aber der Trotz des Mannes, der Stolz des königlichen Kaufherrn, der Argwohn, verrathen und überlistet zu sein, wo er vertraut und vergöttert hatte, ließen ihn seinem Glück den Rücken kehren und es hinterher verlästern und es in sündhaftem, aberwitzigem Gebahren kränken und sich jeder Rückkehr unwürdig erweisen.

Nun war’s geschehen, und er war weit weg und er saß, ein einsamer, trostbedürftiger, liebesarmer Mann da und suchte seine Thorheiten und den rastlosen Schmerz um den Verlust der Geliebten zu verwinden. Und wenn er die Hände wieder von den Augen nahm und wieder Ziffern und Buchstaben vor sich sah, suchte er auch wieder emsig zu retten, was noch zu retten war, und aus den verkümmerten Bruchtheilen der eingestürzten Herrlichkeit sich mit aller Anstrengung ein bescheidenes Dasein zu zimmern darüber der alte Name, zwar nicht mehr in alter Bedeutung, aber doch ohne Schande sichtbar werden durfte.

Das letztere Bestreben gelang ihm besser als jenes. Denn auch, nachdem die großen Verluste verwunden waren und er sich in sein neues Dasein, in seine reducirte Stellung eingelebt hatte, dachte er in stillen Feierabendstunden mit sehnender Seele an Bianca Scandrini und an das verscherzte Glück in der Josefstadt.

[856] Zwischen den feierlichen gewaltigen weithinhallenden Schlägen sonntäglichen Glockengeläutes hört man das Zwitschern der Schwalben, die in wonniger Hast über den Minoritenplatz hin und her schießen. Der alterthümlich schöne Platz ist sonst wohl der stillste in der geräuschvollen Altstadt Wiens; aber kurz vor dem Hochamt rollt da eine Herrschaftskutsche nach der anderen herbei, und die Leute drängen sich vor dem prächtigen Ostportal der italienischen Kirche.

Es sieht nun zwar so ziemlich jeden Sonn- und Feiertag hier um diese Zeit also aus; denn erstens gilt es für vornehm, [858] die Messe in der Minoritenkirche zu hören, und zweitens hört man hier die beste Kirchenmusik und in der wunderbarsten sorgfältigsten Ausführung. Allein der Fremde, der gerade hier vorüberkommt, wundert sich doch über das außergewöhnliche Getriebe und wendet sich wohl an einen, der vorübereilt: „Entschuldigen Sie die Frage, was ist denn hier Besonderes los?“

Und der Angeredete, im Vollgefühl seines Besserwissens, antwortet mit der höflichsten Bereitwilligkeit: „Die Scandrini singt das Gloria von Palestrina in der nächsten Messe!“ Er sagt es mit einer Wichtigkeit, als wenn er mitzutheilen hätte, daß der Papst in allerhöchsteigener Person das Hochamt celebriren und der Kaiser von dessen Händen das heilige Abendmahl empfangen würde, denn musikalische Ereignisse gelten in dieser Stadt, wo das Viergestirn Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert gewirkt hat, für höchst wichtig und allgemein beachtenswerth.

Da aber der gute Wiener merkt, daß seine Mittheilung auf den Fremdling gar keinen so tiefen Eindruck hervorbringt, als er erwartet hat, so läßt er den Barbaren stehen, um nicht zu spät zu kommen, denn schon nimmt das Gedränge unter der schönen Wölbung von alten Steinarabesken bedenklich zu, und die Ellenbogen müssen ihre Schuldigkeit thun, wenn die Ohren zu künstlerischem Genuß und das Herz dadurch zu frommer Auferbauung gelangen soll.

Nach zwei Schritten kehrt jener sich aber doch noch einmal um, kurz bevor er in den Menschenknäuel sich einreiht, und sagt zu dem blonden Fremdling, der ihm auf wiegeuden Schritten folgt: „Wenn Sie sie sehen wollen, das ist die Scandrini! . . . Die dort über den Platz herüberkommt, die Blondine neben dem geistlichen Herrn! . . . ? . . . Ja, die!“

Wer Bianca dritthalb Jahre nicht gesehen hatte, der mochte sie wohl verändert finden. Aber wohl schwerlich minder hübsch.

Sie war um eine Fausthöhe noch gewachsen, ihre Miene war etwas länglicher geworden, ihr ganzer Ausdruck ernsthafter, und in Augen und Mund lag etwas wie ein schwärmerischer Schmerz, der ihren Liebreiz nur erhöhte. Aus dem singenden springenden Wildfang, halb Kind, halb musikalisches Ungethüm, war ein sinniges, wunderholdes Frauenzimmer geworden, ihr Gretchenangesicht hatte einen madonnenhaften Zug. Wenn der Wiener jener Zeit die schönsten Mädchen in der Stadt aufzählte, wurde Bianca Scandrini, oder wie sich die Bekannten der Familie ausdrückten, Blanche Latschenberger nicht vergessen.

Auch ihre Stimme hatte sich verändert. Es war nicht mehr jenes umfangreiche phänomenale Instrument, worüber sich Jeder, der es hörte, höchlich erstaunte. Die Wunden, die ihm ein herber Sommerabend und viel Herzeleid geschlagen, waren nicht alle vernarbt, und die Narben gaben ihm keinen schöneren Klang. Aber doch hatte sich die Stimme aus der Krankheit, die sie so sehr geschädigt, zum Theil gerettet. Nicht mehr so umfangreich, ohne Höhe, hatte sie sich in der Mittellage und in der Tiefe eine seltene Innigkeit des Tones bewahrt, und die Geläufigkeit ihres Organs ließ nie die hinreichende Wirkung vermissen.

Dennoch ward Bianca ein Gefühl der Unsicherheit, der Bangigkeit nicht mehr los, wenn sie ihre eigene Stimme klingen hörte. Sie meinte deutliche Zeichen krankhafter Schwäche zu vernehmen, die Andere aus Schonung, aus Höflichkeit nicht hören wollten. Eine Kraft, die ihr einmal und auf so lange Zeit versagt hatte, konnte wieder und im entscheidenden Augenblick versagen. Sie unterschätzte nicht, was ihr geblieben, aber sie fürchtete, es zu überschätzen. Die Tage kühnen sorglosen Vertrauens in sich waren eben vorüber. Kein Mensch hätte sie überreden können, sich mit diesem unsicheren Rest von Klanggewalt in der Kehle auf eine Bühne zu stellen und das Urtheil eines verwöhnten Publikums herauszufordern.

Und doch hätte sie Jahre ihres Lebens hingegeben, wär’ es ihr nur einmal im Leben geglückt, einen vollen Erfolg auf einem großen Theater zu erringen.

Pater Otto, der wohl wußte, was im Gemüthe seiner Muhme vorging, war der Einzige, der in den Tagen tiefster Betrübniß und ehrlicher Verzweiflung am eigenen Können sie aufzurichten suchte und sie wieder auf künstlerische Gedanken, wieder zu künstlerischen Vorsätzen brachte.

Da ihr Sinnen nur auf ernste Dinge gestellt war, lag es ihm, dem musikalisch gebildeten Geistlichen, ja nahe, die Sängerin auf die ungeahnten Schätze kirchlichen Gesanges aufmerksam zu machen. Wie er früher sie in Sprachen, in Litteratur, in Geschichte unterrichtet hatte, so fing er jetzt an, ernsthafte musikgeschichtliche Studien mit ihr zu treiben. Und sie, die im Herzen so verarmt war, wußte es ihm Dank, daß er nicht müde ward, ihre Gedanken zu festigen und in eine herrliche Welt za bannen, für die sie bald packendes Verständniß bewies.

Und nicht bloß Verständniß. Mit allmählicher Genesung stellte sich auch die Lust zu schaffen allmählich wieder ein. Erst brachte Pater Otto sie nur mühsam dazu, daß sie beispielsweise, mit halber Samme, nur um sich selber die Dinge, von denen sie lernend hörte, die musikalischen Thaten der Vorzeit, klar zu machen, vor ihm sang. Aber sicherer und sicherer sich fühlend, an den veränderten Klang ihrer Kehle, der sie erst entsetzt, sich gewöhnend, und endlich hingerissen von der Schönheit unsterblicher hoher Werke, ward sie zum zweiten Mal Sängerin, wenn auch ohne den brennenden Ehrgeiz, in aller Kunstsinnigen Mund zu sein und ihren italienischen Kriegsnamen an allen Straßenecken von den Theaterzetteln zu lesen.

Pater Otto wachte treu über ihr und beobachtete sie mit einer Sorgsamkeit, wie ein Meister sein eigenstes Werk, wie ein uneigennütziger Freund seine liebste Seele. Trübsal und Verzweiflung an innewohnender gottergebener Kraft galten ihm als zwei böse Teufel. Und er wollte diesen Teufeln die Seele Bianca’s nicht lassen.

Er wußte, daß der Ehrgeiz ihr heilsame Arzenei sein werde, drum gab er ihr, als sie soweit erstarkt war, sich zu fassen und zu halten, die Absicht ein, was sie nun gelernt, auch zur Freude eines kunstverständigen und zur Auferbauung eines frommen Publikums, ohne Flitter und Kram der Eitelkeit, ohne Schaustellung der eigenen Person, zu zeigen.

Es kostete einen langen Kampf und bedurfte nimmermüden Zuspruchs, aber an einem hohen Festtage betheiligte sich Bianca denn doch am kirchlichen Gesang, dessen hohe Pflege eines der schönsten Ruhmesblätter im künstlerischen Ehrenkranze der leichtlebigsten Millionenstadt ist.

Erst ließen Bianca’s Versuche sich nur in der Lerchenfelder Vorstadtkirche und ziemlich befangen hören. Aber mit der Aufgabe wuchs ihr der Muth, mit der Wiederholung das Vertrauen, mit dem Beifall solcher, die sie schätzte, die beseligende Freude, doch wieder ein thätiges Glied im fröhlichen Heere der göttlichen Frau Musika zu sein.

Wo es an Kennern wimmelt, sorgen auch die Kenner dafür, daß Können nicht im Verborgenen bleibt, in dieser ersten aller musikalischen Städte der Welt blieben Bianca’s Leistungen auf dem neuen Felde nicht lange unbeachtet. Sie hatte sich in dieser Sphäre einen Namen gemacht, eh’ sie es selber wußte. Ihre eigene Bangigkeit und Pater Otto’s Vorsicht sorgten dafür, daß sie nie zu viel und nie anders sang, als ihrer nunmehrigen Stimmlage durchaus entsprach. Was sie von Glück sich bewahrt hatte, galt ihr selber als so gebrechlich, daß sie es nie mehr auf ein leichtfertiges Spiel setzen wollte. So trat sie nie fehl in der fromm und dankbar betretenen Laufbahn. Die Maßgebenden, auf die ja Pater Otto nicht ohne Einfluß war, freuten sich, über ein Talent zur höheren Ehre Gottes verfügen zu dürfen. Bei allen Denen, die an guter Kirchenmusik, sei’s aus künstlerischem, sei’s aus religiösem Bedürfniß, Antheil nahmen, genoß Bianca einer gewissen kleinen, aber soliden und ungemein ehrenwerthen Berühmtheit. Und wenn sie an der Seite des stattlichen Chorherrn, ihres Vetters, daherkam, ihren verborgenen Platz neben der großen Orgel einzunehmen, da stießen sich die Kirchenbesucher mit den Ellenbogen an und sagten: „Schau, das ist das Mädel mit der herzbewegenden Stimme, und wie bildhübsch sie ist!“

Nicht auf jeden Fremdling aus jenen Gegenden, auf die der Satz angewendet wird: Frisia non cantat, machte freilich die Erscheinung Bianca’s solchen Eindruck wie auf den, welcher unbemerkt in der Menge seine wassergrauen Augen auf sie heftete und blaß und roth und wieder blaß wurde, da er das Bild seiner Träume mit der Wirklichkeit, der noch viel schöneren Wirklichkeit verglich, die jetzt an ihm vorüberschwebte, ohne seiner, ohne irgend Jemands in der Menge zu achten.

Ach, wie unsagbar glücklich hätte er sein können in diesen drei unwiderruflich verlorenen Jahren! Und wer so engelgut, so seelenverklärt aussah, der konnte kein hinterlistig Spiel mit ihm getrieben haben, das einer Dirne zu schlecht gewesen wäre!

[859] Das waren die beiden Gedanken, die sich jetzt immer wieder ablösten, während er von der einen Seite geschoben und von der anderen gepufft wurde, ohne es recht zu merken.

Und als er drinnen stand im hochgewölbten altersgrauen, weihrauchdurchwehten Raume und in der vielköpfigen Menge sich ein Plätzchen suchte, wo er ungestört weilen und horchen durfte, da gesellte sich noch ein dritter Gedanke zu jenen beiden; er fragte sich: hat dein Betragen Schuld an dem traurigen Ernste, welcher jetzt aus diesen schönen Zügen spricht, die ihn früher nicht kannten?

Da klang die Orgel in weithin gellenden Akkorden, und die Menge rückte sich andächtig zurecht. Die Lichter glänzten am Hochaltar, die Glöcklein klangen, die Priester psalmodirten, und der Weihrauch quoll dichter und immer dichter gegen die Bogen des Querschiffes ansteigend.

Mit einer Spannung, die sich wie herzbeklemmende Angst fühlte, wartete Edgar darauf, aus dem Chore der Sänger eine Stimme auftauchen zu hören, die ihn wie keine sonst in der Welt im Innersten zu rühren verstand.

Tenor und Baß wechselten mit ihren Einzelvorträgen ab. Es dauerte lange, bis ein weibliches Organ sich aus den Chören loslöste.

Edgar stand rechter Hand vom Eingang. Er lehnte sich ans Grabmal Metastasio’s, des fruchtbaren Librettisten der alten kaiserlichen italienischen Oper. Als er den Namen des Dichters vom Steine las, wollte er keinen besseren Winkel sich suchen; er meinte so etwas wie: der Mann, der so viele Opern geschrieben, werde ihm ein Protektor sein, wenn er dies Mädchen, das so viele Opern sang, mit sehnendem Herzen belauschte. Er wußte nicht, daß Bianca längst auf eine Bühnenlaufbahn verzichtet hatte, die ihr einst als der Gipfel aller Wünsche gegolten.

Da, horch! da klang eine weibliche, eine Mezzosopranstimme! Die Leute schienen besser auf diese Stimme zu hören als auf die vorigen. Die Hälse reckten sich, die Köpfe drehten sich, und mehr als ein niedergeschlagenes Auge hob sich jetzt vom Gebetbuch aufwärts gegen den Chor, wo doch keine Menschengestalt frei zu sehen war.

Edgar preßte die Hände fest in einander, als wollt’ er sich an sich selber halten. War das Bianca’s Stimme oder war sie es nicht? Und wenn sie es war, was hatte sie so verändert? Es war ihm, als sähe er einen verdünnten, in hunderttausend goldigen Stäubchen glänzenden Sonnenstrahl, einen von denen, aus welchen die Glorien der Heiligen gebildet werden, gegen den höchsten Himmel schweben, und der wäre es, der so klänge, so wundersam und doch so traurig, so gottbegehrend und doch so gottesvoll. Und es war ihm, als würde dies Emporschweben, dies Gegenhimmelleuchten Ton, als hörte er, was er sähe, und sähe, was er hörte.

Aber unfaßbar blieb ihm, von wem diese Stimme herrührte, die ihn, je länger sie klang, desto ängstlicher ums Herz werden ließ. War das Bianca’s Stimme? Nein, sie war es nicht! Er hatte diese Stimme nie gehört, und er meinte doch, den Klang der alten, wie er die Zimmer der Florianigasse durchschallt hatte, so sicher in treuem Gedächtniß bewahrt zu haben.

Seine Unruhe ward peinlich. Er konnte es nicht lassen, den Ersten Besten, der neben ihm am Monumente lehnte, mit leichter Höflichkeit zu fragen, wer das wäre, der jetzt sänge.

Und der Angeredete, seinen Unwillen über die Störung während der großen Arie … oder über die Störung seiner gottesdienstlichen Andacht kaum verhehlend, antwortete kurz, ohne ihn eines Blickes zu würdigen: „Die Scandrini!“

Es war Edgar wie ein Schlag aufs Herz. Also doch sie!

Und seine Augen wurden feucht. Arme liebe Seele, sprach er im Stillen, wie viel mußt du geduldet und geweint haben! Und vielleicht um mich!

Die Arie wär aus. Die Kenner im Volke sahen sich einander an und drückten die Augen halb zu und nickten kaum merklich mit den Köpfen, wie wenn sie eben einen großen Genuß gehabt hätten. Es war eine Art Applaus mit den Augenwimpern, der der Frömmigkeit nicht den geringsten Abbruch that.

Der Einzelgesang war schon verhallt. Die Orgel schmetterte nun durch den Raum, als sollte die Gewalt ihrer Töne das Gewölbe sprengen. Das war so etwas ganz anderes als die menschliche Stimme, es war, als hätte man den Donner singen gelehrt, und diese Töne der Orgel thaten Edgar weh, als schnitten sie ihm mit Messern durch die Ohren.

Da nun die Pfeifen schwiegen und von der anderen Seite her, wo der Weihrauch immer wieder emporquoll, die zitternde näselnde Stimme eines priesterlichen Greises unverständliche Worte nach uralter Melodie halb sagte, halb sang, war’s Edgar, als spräch’ ihm Jemand in einer unverständlichen Sprache ein hartes, wohlverdientes, unwiderrufliches Urtheil.

Er fühlte sich unpaß, er meinte, es käme wohl von der allzu hastigen Reise, die ihn kopfüber in Geschäftsangelegenheiten nach Wien geführt, oder auch von dem Menschengedränge hier, das ihm den Athem beklemmte.

Er wollte hinaus ins Freie, er machte zwei Schritte nach links, aber er kam an dem Monument nicht vorüber. Es war ihm, als sagte Metastasio zu ihm: Verweile nur, dann hörst du sie noch einmal singen. Ach, nur einmal noch im Leben! Aber das ist doch ein bischen Unbehagen und schmerzhafte Noth werth, die du übrigens redlich verdient hast.

Und richtig, da hub im Credo die durchgeistigte Stimme wieder an, und sie schwoll und schwoll zu einem hinreißenden Strom heiliger Ueberzeugung, als gält’ es Welten zu bekehren und einer Hölle Trotz zu bieten mit Gesang.

Ja, ja, das war sie doch, die Stimme, seine Stimme, die ihn empfinden, tief empfinden gelehrt, die ihn bekehrt hatte von der Eitelkeit der Welt zu inniger Verehrung! Und war doch wieder die Stimme nicht. Es war die Stimme eines gehobenen Wesens, das zu ihm sagen würde: hebe dich von hinnen, Versucher, ich kenne dich nicht!

Ein Theil der Leute schien da der Andacht genug gepflogen zu haben. Sie rückten ab und zogen langsam ehrerbietigen Schrittes dem Portale zu, weil sie entweder das Gedränge nach Ende des Hochamtes fürchteten, oder weil die Scandrini heute nicht mehr singen würde. Vielleicht aus beiden Gründen, wo einer nicht stark genug war.

Gleichviel, die Kirche leerte sich um ein gut Theil ihrer Besucher, und wer wollte, konnte nun unbehindert an den Bänken und unter den Seitenschiffen hinauf- oder hinabgehen.

Aber Edgar mochte sich doch nicht rühren, obwohl der Stein hinter ihm sich recht kalt anfühlte und nichts mehr zu ihm sagte. Aber vielleicht sang Bianca doch noch einmal, und wären es nur ein paar Töne, sie verlohnten des Ausharrens. Er fühlte sich im Willen wie gelähmt. Und wie er so dalehnte, richtete er unwillkürlich die Augen auf einen Jeden, der vorüberging.

Da kam Einer, den er schon von Weitem erkannte, am Schritt, an der Haltung des Kopfes, an seinem klugen, so viele Gedanken verbergenden Gesicht. Hatt’ er ihn doch auch kurz vor Beginn des Gottesdienstes wieder gesehen, seinen alten Widersacher und Freund, den erfindungsreichen Pater Odysseus, Otto Fuchs.

War’s frohe Ahnung, die ihn jählings überkam, war’s Nur ein unbezähmbarer Herzenswunsch, der ihn trieb, er konnt’ es nicht unterlassen, sich bemerkbar zu machen und leise mit dem Haupte nickend zu grüßen.

„Alle guten Geister! Baron Sperber! Sind Sie es wirklich?“ rief der Mönch, und es ging dabei ein Leuchten über seine Züge, das keinerlei Unmuth verrieth, wie er seine Hand so mit beiden Händen packte und ihn mit sanfter Gewalt gegen die Thür und hinaus ins Freie drängte, wo sie besser reden konnten als hier im Gewühl des ins Fluthen gerathenen Menschenstromes.

Aber Pater Otto ließ den Baron auch auf dem Minoritenplatze nicht verweilen, wo es, wie er sagte, der vielen Equipagen wegen nicht geheuer zu stehen war. Edgar fühlte wohl, wie ihn Jener gegen die Herrengasse zog, daß er ihn verhindern wollte, Bianca jetzt zu begegnen. Und Edgar wollt’ ihr auch nicht begegnen, jetzt nicht, in dieser Aufregung nicht, nachdem er sie also wieder singen gehört hatte, nicht; … und wer weiß, wer sie auf dem Heimweg begleitete! und diesen Unbekannten, den er haßte, wollt’ er jetzt auch nicht sehen. Er war seiner selbst nicht sicher genug.

So folgt’ er gutwillig einverstanden, wohin der Pater ihn zog, derweil dieser es an ausdrücklicher Freude nicht fehlen ließ, den guten alten Bekannten so unverhoffter Weise auf Wiener Pflaster zu finden.

Da aber in den engen Straßen um diese Sonntagszeit ein solcher Lärm herrschte, daß man sich seinem Nebenmanne nicht [860] leicht verständlich machen und unmöglich ein behagliches Gespräch pflegen konnte, so führte Pater Otto den Hamburger in irgend ein Gasthaus nächst dem Schottenthor, setzte sich ihm gegenüber und sah ihm prüfend ins Gesicht.

Eine Frage gab die andere. Edgar verhehlte gerade nicht, daß er, seit Beide sich zum letzten Mal gesehen, allerhand Wechsel des Schicksals erfahren hatte, doch verweilte er nicht lange bei eigenen Erlebnissen, sondern erkundigte sich lieber um des Paters und auch um Bianca’s Befinden.

Der Chorherr berichtete, ohne irgend Jemand Schuld daran beizumessen, daß seine Verwandte eines gewitterschweren Sommerabends an ihrer Gesundheit Schaden genommen, in Folge dessen an ihrer Stimme merkliche Einbuße erlitten und darum den einst so glänzenden Hoffnungen, auf der Bühne Glück zu machen, entsagt habe. Was sie trotzdem noch als Künstlerin leiste, dessen sei er ja eben gerührter Zeuge gewesen.

Edgar schwieg traurig vor sich hin und mochte wohl mehr auf die Anklagen, die in seinem eigenen Busen dabei laut wurden, als auf den vorsichtigen Priester hören, der, um sein Gegenüber nicht allzu tief in Verlegenheit zu bringen, nun von allerhand gleichgültigen Dingen, die jenen vielleicht früher interessirt hatten, plauderte.

Dabei konnte dieser die Beobachtung nicht unterlassen, daß der einst so elegante Herr nunmehr zwar ein viel gesetzteres, aber auch ein merklich gedrücktes Wesen angenommen habe und daß seine Kleidung zwar ganz anständig, aber weder ganz neu noch nach der letzten Mode sei.

Pater Otto hatte wohl von dem Sinken des Hauses Sperber etwas läuten, aber nicht genau schlagen hören und sich dabei gedacht, wenn die Katzen vom Dach fallen, so fallen sie auf die Füße und laufen wie vordem.

Aber je mehr er Edgar betrachtete, desto deutlicher drängte sich ihm die Wahrnehmung auf, daß eine große Veränderung mit dem Menschen vorgegangen sei, und er sagte das auch in freundschaftlich theilnehmender Weise, die nicht verletzen konnte.

Der Andere bedankte sich für so guten Zuspruch und bestätigte, daß er kein reicher Mann mehr sei, ganz und gar seinen Geschäften lebe und in diesen auch sich jählings zu einer Reise nach Wien entschlossen habe, wo er noch Einiges zu retten hoffe. Er habe sich gern auf diese Reise begeben, fügt’ er hinzu, und allerdings nicht ohne Hoffnung, Fräulein Scandrini wieder zu sehn. Daß er sie gleich heute habe singen hören, sei allerdings nur durch einen unverhofften Zufall geschehen.

„Oder durch Gottes Fürsorge!“ erlaubte sich der Priester zu bemerken.

Das klang Sperbern wie ein Zeichen der Versöhnung, und dadurch rasch ermuthigt, fragte er geradezu: „Glauben Hochwürden, daß Fräulein Bianca, die ich gern wieder einmal in der Nähe sehen möchte, meinen Besuch annehmen würde?“

„Offen gestanden,“. antwortete der Priester, „ich glaub’ es nicht, daß sie Ihren Besuch annehmen würde. Sie hat Sie einst sehr lieb gehabt; aber Sie haben sie schwer gekränkt. Meine Kousine hat das tiefer empfunden als ich es ihr zugetraut hätte. Sehr tief! Ihr Lebenszweck, ihre ganze Lebensanschauung hat sich darnach geändert. Und sie denkt auch über manche Menschen anders, als dazumal.“

„Ja, ja!“ sagte Sperber und sah nachdenklich in sein Glas hinein. Was hätt’ er viel anders sagen sollen in dieser Lage! Da er ein Kaufmann war und einer, der Unglück gehabt hatte noch dazu, dacht’ er vielleicht auch: nicht nur ihr Lebenszweck, sondern auch der meinige hat sich geändert, und da ich keine beneidenswerthe Partie mehr bin, macht der Pfaffe gleich lieber schon von Weitem vor mir die Thür zu.

Pater Otto jedoch überraschte den Argwöhnischen mit dem Vorschlag: „Wissen Sie was, lieber Baron? Ich will mit Bianca reden, ob sie Sie wiedersehen mag. Willigt sie ein, und an mir soll’s nicht liegen, wenn sie es weigert, so send’ ich Ihnen Botschaft in Ihr Hôtel.“

„Heute noch?“

„Ja, heute noch! Verlassen Sie sich darauf, Herr Baron. Wie lange bleiben Sie noch in Wien?“

„Wenn ich keine Nachricht von Ihnen erhalte, Hochwürden, dann denke ich morgen Abend wieder abzureisen.“ –

Nun denn, der gute Herr von Sperber reiste in der That am andern Tage von Wien wieder ab, ohne Bianca wiedergesehen zu haben, denn, so gespannt er auch auf den Boten des Mönches gewartet hatte, es war keiner gekommen. Bianca hatte sich nicht überwinden können, den einst Geliebten wiederzusehen und alte Wunden aufzureißen, die auch im Vernarben noch so heftig schmerzten. Sie war zu stolz und hatte zu viel gelitten, um dem Manne, dem sie zur Frau nicht gut genug gewesen war und der sich über ihren Verlust mit unwürdigen Geschöpfen getröstet hatte, mit offenen Armen und lachenden Lippen entgegenzugehen. Und sie fühlte sich nicht stark genug im Herzen, um ihn, wenn er kam und bat, mit verschränkten Armen und trotzigem Munde wie einen Fremden zu empfangen.

Da ihr Gefühl also entschied, drängte der Pater nicht weiter in sie und ließ Edgar ungegrüßt seiner Wege ziehen, obwohl er kein Hehl daraus machte, daß ihm ein anderer Entschluß lieber gewesen wäre. Denn schon als guter Christ mahnte er, Denen Gutes zu thun, die Einem Uebles gethan hatten.

Sie kamen aber nun des Oefteren als bisher wieder auf den Mann in Hamburg zu sprechen, der sich nun so bald nicht wieder bei ihnen melden würde. Pater Otto brauchte seinen Scharfsinn nicht über die Maßen anzustrengen, um zu merken, daß Bianca in der Stille ihres Herzens noch immer an Edgar hing, wie er an ihr, wenn sie das auch nicht Wort haben wollte. Gerade weil Schmerz und Kränkung ihr noch so nahe gingen, überzeugte sich Pater Otto, daß auch die alte Liebe noch unter der Asche glühte. Wäre dieser Sperber ihr gleichgültig geworden, sie hätte ihn gefaßt empfangen und sich mit dem abgedankten Kourmacher ganz leidlich unterhalten.

Darum dacht’ er, daß noch nicht aller Tage Abend sei, und zog derweilen von dort und da, wie’s eben ging, Erkundigungen über Edgar’s dermalige Lage und dessen Aussichten in die Zukunft ein, was ihm, dem weltläufigen Manne, der mit allerhand Geschäften seines Klosters zu schaffen hatte, nicht schwer wurde.

War es nun, daß ihm die Dinge in Hamburg von Anderen schwieriger geschildert wurden, als sie in der That waren, oder daß er bewußtermaßen übertrieb, er machte seinem Mühmchen, als er wieder einmal gemüthlich bei ihr saß, die Mittheilung, daß sich mit ihrem Sperber nicht nur viel geändert habe, sondern daß er, genau betrachtet, ein armer Mann geworden sei.

„Ein armer Mann!„ Bianca ließ es sich noch einmal wiederholen und spießte dabei scheinbar ganz gelassen eine Stahlperle nach der andern mit ihrer Nähnadel aus einem Schächtelchen und stickte damit an einem Kragen herum, der solchen Werth für sie zu haben schien, daß sie nicht einen Blick nach dem Vetter hinüberwandte, obwohl sich dieser einige Mühe gab, ihr aus einander zu legen, was arm sein für einen Menschen bedeute, der in fürstlichem Ueberfluß geboren sich mit vollem Rechte als der Erbe von Millionen betrachten und als solcher gebärden durfte, und der nun darauf angewiesen sei, als reicher, als verwöhnter Mann ein dürftiges Leben von vorn anzufangen und seines Lebens Unterhalt mühsam und kleinweis zu verdienen wie einer, der nie was Besseres gekannt hat und an die liebe Noth gewöhnt ist von Kindesbeinen an.

Pater Otto redete sich ordentlich in Hitze, denn ihn ärgerte der Gleichmuth, mit welchem seine Base die kleinen Perlen aufzuspießen nicht müde ward. War sie wirklich aus Stolz unversöhnlich? Hatten die Jahre sie kalt und gefühlsarm werden lassen? oder that sie nur so dergleichen?

„Master Edgar hat ja Strafe verdient an Dir!“ rief er laut. „Aber, mein Kind, diese Strafe ist hart. Du kannst es glauben! Und Du hättest Dir nichts vergeben, wenn Du dem armen Kerl, der danach verlangte, auch die Erlaubniß ertheilt hättest, Dich persönlich um Verzeihung des Geschehenen zu bitten!“

„Er hat ja andere Bekannte genug im lustigen Wien!“ warf Bianca über ihre Nadel hin.

„Schäme Dich!“ sagte der Chorherr. „Er hat nur aus Liebe zu Dir gefehlt und weil ihm die Liebe, wie das so gemeiniglich geschieht, den Verstand genommen hatte. Diesmal hat er sich um Niemand von seinen alten Bekannten gekümmert –“

„Weißt Du das so gewiß?“ frage Bianca rasch und sah den Pater endlich und etwas überlegen lächelnd an.

Der aber rief, obwohl ein wenig darüber erröthend, daß er sich verrathen hatte, in aller Stille genauere Erkundigungen über Edgar eingezogen zu haben. „Ja, ich weiß es! Ich hab ihn ein wenig beobachten lassen. Er interessirt mich. Er saß im [862] Hôtel und wartete auf meine Botschaft. Und dann fuhr er betrübt ab, der doch gern geblieben wäre. Mit seinem früheren Leben hat er gebrochen. Aber die Sehnsucht nach Dir leuchtete dem armen Teufel nur so aus den treuen Augen …“

„Jetzt,“ sagte Bianca, das Angesicht tief auf ihre Stickerei beugend, „weil der Teufel arm geworden ist.“

„Na, eben weil er arm geworden ist, hättest Du ihn ohne Bangen empfangen können, da so doch nichts mehr aus Euch werden kann, wenn er kein Geld hat und Du auch keins!“

„Ah!“ sagte Bianca und ihr Blick haftete nun im Gesichte Pater Otto’s, das spöttisch lächelte, weil er dem verschmitzten Mädchen eins gegeben hatte, das traf.

Aber dieses sagte kein Wort weiter, weil sie dem Vetter noch nicht verrathen wollte, was sie dachte, und die Gedanken sich selbst doch wie ein Wirbel in ihrem schönen blonden Köpfchen drehten.

Als der Priester sie allein gelassen, sprang sie jäh vom Sitz auf, warf Nadel und Perlen bei Seite und kniete vor den ersten besten Stuhl am Boden, die Ellenbogen auf den Sitz gestemmt, das schwindelnde Haupt in beiden Händen, und weinte jämmerlich – Thränen des Mitleids und Thränen der Freude in Eins.

Freute sie sich, weil den Geliebten Schaden getroffen hatte? Nicht doch! Das leicht erregbare Künstlerblut spiegelte ihr ein phantastisches Bild naher Zukunft vor, das sie ganz glückselig machte und allen Kummer und Gram der Vergangenheit von ihr zu nehmen versprach.

Wochen und Monate beherrschte fortan ein und derselbe Entschluß ihr Denken, Thun und Lassen.

Wenn sich in letzten Zeiten die deutlichen Beweise mehrten, daß Bianca’s Gesang in der Kirche die Menschen entzückt und erquickt habe, wenn Freunde des Hauses ihr das Lob der andächtigen Hörer zutrugen, wenn sie in Zeitungen ihren Namen ehrenvoll erwähnt fand, dann klopfte jedesmal und immer eindringlicher die Frage bei ihr an: solltest Du’s nicht doch wieder mit dem Theater versuchen?

Im Anfang hörte sie gar nicht auf den sanften Reiz. Als aber einmal selbst ein berufener Kritiker bei Gelegenheit einer ihrer kirchlichen Leistungen sein Bedauern darüber aussprach, daß solch eine schöne und geschulte Stimme nicht für die Oper gewonnen würde, wo man statt dessen so oft mit altgewordenem Material vorlieb nehmen müßte, da hatt’ es schon mehr Noth, die Versuchung zu bekämpfen. Allein ihr Verstand lieh ihr noch tüchtige Wehr und Waffen dagegen.

Sie sagte sich, daß ihre Stimme nicht wieder zur alten Kraft gelangt sei, auch wohl nie wieder zur alten Kraft gelangen werde, daß sie nicht hoffen dürfe, anstrengende Opernrollen glorreich zu Ende zu führen, tadellos vom ersten bis zum letzten Ton, und daß ihre jetzigen Stimmmittel den Geboten fortlaufender Thätigkeit in einem anspruchsvollen Opernrepertoire über kurz oder lang erliegen müßten.

Nach und nach versuchte sie dann in Stunden antreibender Hoffnung wieder jeden dieser Gegengründe sich selbst zu widerlegen, denn die Lust, mit Leib und Seele zur aufgegebenen Bühnenkunst zurückzukehren, wuchs mit jedem neuen Erfolg, mit jedem neuen Sonntag.

Da aber Erkenntniß und Besorgniß doch nicht ganz vor der Lust und Liebe zum Beruf sich ergeben wollten, setzte sie die Entscheidung außer sich und vermaß sich, auf ein Zeichen zu harren, welches ihr das Schicksal geben werde, wenn sie so, wie sie war, den gefährlichen Weg auf die Bretter mit Entschiedenheit betreten sollte.

Nun, meinte sie, war die Entscheidung gefallen, nun war das Zeichen von ihrem Schicksal gegeben worden! Und mit inniger Wonne malte sie sich aus, wie ihr Weg sie in die Höhe tragen werde zu Ruhm und Glück, und wie sie dann zu dem geliebten Manne sagen werde: Ich weiß, daß du bereust, ich weiß, daß du mich noch liebst! Komm und theile mit mir, was Gott und mein Talent mir beschieden haben, denn du nur fehlst mir noch, um ganz glücklich zu sein!

Sie prüfte sich selbst, erst maßvoll, dann in gesteigerter Anstrengung ihrer Stimme. Sie ging wieder zu ihrem alten Lehrer und forderte sein Urtheil heraus. Es war das einstige schwärmerische, verheißende nicht mehr, aber es war immerhin ein gutes, sofern ihre Stimme sich ausdauernd beweisen würde. Doch das sei Sache der Zukunft und müsse erprobt werden. Ihr Herz gab heftig pochend die Versicherung dazu, sie werde die Probe bestehen. Und als sie ganz mit sich im Reinen war, trug sie endlich auch Pater Otto ihren Entschluß vor, den sie bereits einen unabänderlichen nannte.

Wenn es ein unabänderlicher wäre, meinte Pater Otto die Achseln hochziehend, dann wollt’ er sich bei einem so hartköpfigen Frauenzimmer nicht der fruchtlosen Mühe unterziehen, denselben zu erschüttern. Er wünsche ihr Glück dazu und werde in Gottes Namen dazu helfen, soweit es in seinen Kräften liege.

Nun hockten die Zweie wieder oft beisammen und schmiedeten Pläne und brüteten über Anerbietungen, wie solche mit Hilfe eines neuen Agenten, der für Bianca’s Kirchengesang schwärmte, eingingen. Otto machte gute Miene zum bösen Spiel und machte sich auch seine eigenen Gedanken, die er aber nicht alle laut werden ließ.

Er ging manchmal ganz allein zum Agenten und überraschte eines Abends seine Kousine mit einer Nachricht, die er ihr aus Vorsicht nur langsam und wohlvorbereitet beibringen mochte. Es war nämlich ein Antrag eingegangen, der Bianca, wenn sie wollte, die Aussicht eröffnete, an einem der angesehensten Opernhäuser Deutschlands ein Probegastspiel auf Engagement zu absolviren.

[874] Das Engagement war in einer schönen Stadt abgeschlossen, in der es viele, viele Mönche giebt und wo der Einfluß geistlicher Würdenträger sich manchmal auch auf die Anstalten weltlicher Kunstübung erstreckt. Es mag übrigens dahingestellt bleiben, ob der findige rührige Pater Otto irgend welche Beziehungen, die ihm geläufig waren, in dieser Richtung zu Gunsten seiner Muhme habe spielen lassen. Thatsache ist, daß er kurz vorher in Angelegenheiten der Klosterbibliothek in eben jener Stadt wieder einmal gewesen war und daß er mit der Nachricht, jenes berühmte Hoftheater erkläre sich zu einem Probegastspiel Bianca’s bereit, diese in größte Freude versetzte.

Flugs ging es an ein Vorbereiten und Zurüsten. Bianca ließ es an sich nicht fehlen, setzte dabei aber die Feder Pater Otto’s und die Nadeln ihrer beiden Schwestern in tüchtige Bewegung. Der lustige Geist vergangener Tage mit seiner Kühnheit, seiner göttlichen Zuversicht schien wieder über das Mädchen gekommen zu sein. Nur manchmal mahnten die gerötheten Augendeckel an still und verborgen geweinte Thränen, und die nervöse Hast, die ihre Bewegung manchmal mehr hemmte als förderte, ließ doch auch auf innere Unruhe und gewaltsam niedergedrückte Sorge schließen.

Wenn Bianca denn doch inmitten all der freudigen Vorbereitungen Zweifel am Gelingen ihres Planes packten und sie im Glauben an ihre künstlerische Zukunft erlahmen wollte: dann dachte sie daran, daß Edgar ein armer Mann geworden sei, daß er vordem in seinem Bürgerstolz ein Mädchen, das der Kunst ihr Leben weihte, für unwürdig erachtet habe, seine Gattin zu werden, und daß sie nun berufen sei, ihn eines Besseren zu belehren durch die That. Sie wollte berühmt durch die Kunst und durch den Ruhm reich und durch den Reichthum glücklich werden und ihn wieder glücklich machen!

Pater Otto stand daneben und sah all dem aufgeregten und aufregenden Treiben zu. Er dachte sich: Wie’s nun ausgehen mag, sie hat doch ihren Willen gebüßt und ihrem Herzen ein Opfer auferlegt, und ist’s vorüber, wird’s zum Guten, sie wird im Glück nicht stolz und im Unglück nicht untröstlich sein, denn sie liebt!

Und weil er besten sicher war, daß die Liebe sie beseelte und zu ihrem Thun begeisterte, so hatte er auch, nicht allzulange Zeit nach jener Begegnung in der Minoritenkirche, sich mit Edgar von Sperber in briefliche Beziehungen gesetzt. Es waren anfangs nur geschäftliche Angelegenheiten, die er im Auftrag und Interesse seines Klosters dem Hamburger Hause zu besorgen auftrug. Wenn auch gerade keine großartigen Geschäfte, doch solche, die der Mühe werth waren. Und ihre Bedeutung wuchs allmählich. Bald handelte es sich darum, jenseit des Oceans gefährdete Kapitalien sicher zu stellen, bald galt es, Ordensbrüdern, welche weite, oft auch gefährliche Reisen in überseeische Länder unternahmen, mit Rath, Empfehlung oder Unterstützung an die Hand zu gehen. Das Vertrauen, welches Edgar also zu rechtfertigen beflissen war, trug ihm aber nach und nach allerlei Beziehungen ein, die er sich ohne Pater Otto’s zuvorkommenden Einfluß nie hätte träumen lassen. Unter den Briefen, die Edgar nunmehr empfing, befanden sich manchmal bischöfliche und sogar erzbischöfliche Anfragen und Antworten. Manche recht diskreter Natur, manche von hoher Wichtigkeit. Das Hamburger Haus besorgte das Alles, dank seiner alten weitreichenden Beziehungen und wegen des Interesses, das einer der jungen Chefs an dem besonderen Auftraggeber nahm, so gewissenhaft und gut, daß der Erfolg nie ausblieb, die geistliche Clientel sehr zufrieden war und die Gelegenheit zu neuem Briefwechsel für Pater Otto nicht ausblieb.

Nun es mit dem Sommer zu Ende ging und die Abreise Bianca’s immer näher rückte, schrieb Pater Otto einmal als Nachtrag zu einem trockenen Geschäftsbrief an Edgar von Sperber: „Ich wollte, daß es Ihnen Ihre Zeit erlaubte, Anfang Oktober nach der Stadt der Mönche zu kommen, wär’s auch nur auf wenige Tage. Wir könnten uns da wieder einmal mündlich aussprechen, was mir sehr angenehm wäre. Und dann würd’ es Ihnen vielleicht nicht gleichgültig sein, Fräulein Scandrini’s erstem Auftreten auf einer Opernbühne beizuwohnen. Sie singt auf Engagement. Die Bedingungen sind vortrefflich. Ihre erste Rolle wird wahrscheinlich ,Margarethe‘ sein. Sie weiß nicht, daß ich Ihnen davon etwas mittheile. Sie könnten’s ja ebenso gut aus dem ersten besten Blatte lesen. Aber ich thu’ es, um Sie zu bitten, falls Sie sich zu der Reise entschließen, sich keinesfalls vor der Vorstellung bemerklich zu machen. Es wird der Aufregung vorher auch so schon genug sein. Künstlerköpfe sind unberechenbar. Und nicht nur ihre Köpfe. Ihre Kehlen erst recht! Man kann nicht wissen, wie eine Ueberraschung wirken möchte. Doch hoff’ ich und wünsch’ ich das Beste. Wo Sie mich dort finden werden, wissen Sie u. s. w.“


Als Edgar über hundert anderen Angelegenheiten diesen Brief empfing, ward es ihm doch nicht leicht, mit seinem Denken ausschließlich in trockenen Geschäftsfragen befangen zu bleiben. Wie einem geplagten Schulknaben, dem plötzlich die goldene Ferienzeit in unerwartet nächste Nähe gerückt wird, stand all sein Sinnen ins Weite. Sein Hoffen hatte ihn nicht betrogen. Pater Otto hatte ihm Wort gehalten, obschon dieser ihm nie ein Wort gegeben. Aber die Beiden hatten sich doch auch ohne Worte verstanden. Und wenn der kluge Mönch ihm jetzt also schrieb, so hieß das: hoffe getrost, denn die Prüfungszeit ist zu Ende! Und wenn er ihm jetzt schrieb: Komme ja, so hieß dies: Du wirst dich nicht nur freuen, sie zu hören; sie wird sich auch freuen, Dich wiederzusehen!

Ob Fräulein Scandrini nun die Bühnenlaufbahn ernstlich betrat oder nicht, das änderte nichts mehr an seinem Hoffen und Begehren. Was lag daran! Er scheute doch selbst vor Arbeiten längst nicht mehr zurück, die man dem Sohn und Enkel königlicher Kaufleute vordem nicht hätte aufbürden dürfen. Der Hochmuth des Reichthums war mit dem Reichthum dahingangen. [875] Und Bettelstolz zu treiben, war er zu klug. Er freute sich wie ein Kind auf die Stunde, da er das liebe Wesen, dem er so oft im Zimmer gelauscht, dessen veränderte Stimme jüngst noch in der Kirche sein Herz ergriffen, nun auch auf dem zauberumflossenen Gerüste der Schaubühne bewundern sollte.

Ob es ihm seine Geschäfte erlanben würden, die Reise zu machen? . . . Zum Teufel auch, wofür arbeitete er denn! Doch nicht bloß für des nackten Lebens Nothdurft; auch für ein menschenwürdiges Dasein und ein bischen Glück! Daß die Stunde des Wiedersehens Glück für ihn sein würde, das wußte er, und er hoffte dazu, daß diese Stunde nicht nur für ihn Glück bringen und ferneres Glück verheißen werde.

So froh, so aufgeräumt, so leutselig hatten ihn die Herren auf seinem Komptoir lange nicht gesehen. „Ja, ja!“ sagten sie untereinander, „es geht wieder in die Höhe mit den Sperbern. Langsam und bedächtig, aber in die Höhe geht’s. Es war eine gute Idee von unserem Baron Edgar, sich mit den Pfaffen in Geschäftsverbindungen zu setzen. Die Schwarzen bringen immer Glück! d. h. wenn sie Einem wohlwollen. Die Welt gehorcht ihnen doch, wissend oder nicht. Und auch in Handel und Wandel rühren sie ihre Hände und kennen ihren und ihrer Freunde Vortheil. Na, uns kann’s ja nur recht sein. Wenn die Principale lachen, brauchen die Commis nicht zu weinen.“

In der That, das, was man auf der Hamburger Börse und auf dem Jungfernstieg einen reichen Mann nennt, war Edgar von Sperber noch lange nicht wieder; aber was man sich in der Josefstadt unter einem armen Teufel vorstellt, war er noch viel weniger, und wenn es nun, da die schlimmsten Monate der rastlosen Anstrengung überstanden waren, ihn gelüstete, eine Woche lang anderswo seinem Herzen eine Freude zu machen, so durfte er sich diesen Luxus bereits gestatten.

Rasch vergingen die letzten Wochen, und eines schönen Oktobertages las man in der Stadt der Mönche einen neuen Namen auf dem Theaterzettel, der die Oper „Faust“ von Gounod ankündigte.

Die Oper hatte eine Weile geruht, weil der geniale Liebling des Publikums, welcher ein Jahrzehnt lang die Rolle der Margarethe verkörpert, der Bühne entsagt hatte und es seitdem für ein Wagstück galt, sich mit Erinnerungen an jenen Stern in einen Wettkampf einzulassen. Und nun kam aus Wien so eine Anfängerin daher, ei, ei, das mußte ein keckes Talent sein! Sie wird einen schweren Stand haben! Freilich, man kann die beliebte Oper nicht ewig ruhen lassen. Aber einen schweren Stand wird sie haben, diese Scandrini oder wie sie sonst heißen mag.

Das riesige Haus war gedrängt voll. Die Erwartungen waren hoch gespannt. Das große Publikam brachte dem Neuling nichts weniger als ein günstiges Vorurtheil entgegen. Bianca hatte im ganzen Zuschauerraum keinen persönlichen Bekannten als ihren Vetter, Edgar von Sperber und mich, welchen Pater Otto als alten Seminarkollegen aufzusuchen für gut befunden. Ihre älteste Schwester, die sie bemutterte, hielt ihr hinter den Koulissen die Daumen. Schon die Proben hatten sie halbtodt geängstigt.

Und drinnen war es, als wehte ein eiskalter Hauch über die vielköpfige Menge, als käme die Kirmeß auf der Bühne nicht in Fluß, als klebten die Füße der Tänzer wie geleimt auf den Brettern, und als hätte unser alter Faust seinen Verjüngungstrank ohne jede Wirkung eingenommen. Ich sah, wie ein paar flotte Gewohnheitsbesucher sich schadenfroh zuzwinkerten, als wollten sie sagen: das ist ja heute die rechte Stimmung, um es dem naseweisen Eindringling zu schmecken zu geben, wie wir unseren alten Lieblingen dankbares Gedächtniß bewahren. Na, paß mal auf! Du sollst was erleben!

Ich kannte die stumme Sprache dieser Edlen. Ich kannte diese Stille, die dem Sturme voraufgeht. Und mir ward bang um Bianca Scandrini.

Als aber dies liebliche Wesen, so recht sittsam und fromm, wie ein deutsches Bürgermädchen einer mittelalterlichen Reichsstadt, aber mit allem natürlichen Geschick einer klugen Wienerin gekleidet und mit diesem himmlischen, blondumschimmerten Gesicht, so ganz, wie man sich Goethe’s Gretchen in glücklichen Träumen ausmalt, auf die Bühne trat, da flogen in fröhlichem Erstaunen ihm alle Herzen zu.

Und als diese wohlgeschulte Stimme, bebend vor Schüchternheit und Erregung, so ganz im Tone des Augenblicks, die Worte gesungen hatte: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn!“ da zuckte eine Freude durch die pochenden Herzen, und die Kenner sahen sich bedeutsam an, und beifällig nickten die kahlen und die struppigen Köpfe.

Noch nicht die Schlacht, aber das Vorpostengefecht war glänzend gewonnen. Das Publikum wußte nun, daß es mit einer Künstlerin zu thun hatte, die ernsthaft genommen werden wollte. Das mißgünstige Vorurtheil, das, aus alten Erinnerungen an frühere Großen und aus landläufigem Argwohn gegen Fremde gewoben, zwischen den Zuhörern und der Bühne brütete, war zerrissen und verjagt. Bianca hatte freie Bahn, zu siegen, wie sie’s aus eigener Kraft vermochte.

In den großen Liebesscenen des folgenden Aktes überraschte Bianca’s Gretchen auch uns Drei, die wir von ihr Anerkennenswerthes erwarteten, aber auf dies süße Feuer in Spiel und Gesang denn doch nicht vorbereitet waren. Kein Mensch im Hause wollte glauben, daß man es mit einer Anfängerin zu thun habe, und meine guten Freunde lachten mir ins Gesicht, als ich versicherte, ganz bestimmt zu wissen, daß dies Mädchen heute zum ersten Mal auf der Bühne stünde.

Jede Bewegung war von einer Sicherheit, von einer Ungezwungenheit, die auf Alle überzeugend wirkte. Solcher Nachahmung der Natur, mit solch künstlerischem Maß gepaart, hielt man einen Neuling nicht für fähig. Der Triumph der Schauspielerin war vollendet.

Aber auch die Sängerin riß das Publikum sammt den Kennern darin zu rauschendem Beifall hin. Der natürliche Wohlklang bewegte Jeden im „König von Thule“ und in den folgenden Scenen, ihrer Geläufigkeit im Schmuckwalzer waren wir ja sicher, aber wenn nun in den folgenden Scenen die Stimme hier und da auch heiliger zitterte, als die Sängerin wollte und die Darstellerin beabsichtigte, wenn sich die Stimme im Duett mit Faust etwas verschleierte und in den Augenblicken hingebenden Entzückens sogar einige Töne selbst von mir nicht mehr gehört wurden, so legten die Leute, die nun einmal im Zuge des Wohlwollens waren, das Eine als Zeichen der Erregung aus, die bei einem ersten Auftreten doch so begreiflich sei, das Andere als Mangel an Kenntniß der akustischen Verhältnisse des großen Hauses, in das man sich erst eingewöhnen müsse. Und der Beifall, mit dem man schon nach den einzelnen Nummern und Scenen nicht gekargt hatte, wuchs nach dem Aktschluß zu einem wahren Sturm. Bianca mußte sechs Mal vor den Lampen erscheinen. Das Publikum freute sich, wieder eine Sängerin zu besitzen, die mon mit Recht lieb haben, verehren und verhätscheln durfte. Und die Loge des Intendanten ward in dem Zwischenakt nicht leer von redlichen Leuten, die ihm zu dieser neuen Erwerbung für unser altes Theater ihre Glückwünsche ausdrückten.

Eigenthümlich berührte mich die Wirkung der Kirchenscene im nächsten Akt. Es schien mir, als wenn Dekoration und Umgebung von ungemeinem Einfluß auf die Scandrini wären. Der Kirchensängerin mochte die Erinnerung an den geweihten Ort, wo sie sich von langem Druck äußerer und innerer Hemmnisse befreit und als Künstlerin wiedergefunden hatte, unerwartete Hilfe geben. Sie war wieder weit mehr Herrin ihrer Mittel, als am Ende des vorigen Aktes. Die Leistung durfte vollkommen genannt werden und sie riß das Publikum hin.

Damit aber war die schon überreizte Kraft erschöpft. In der Kerkerscene des letzten Aufzuges mochte man immerhin die Kunst der Darstellung anerkennen, der Gesang war matt, das Organ schwankte, die hohen Tone gellten, die Mittellage klang gepreßt, der Wohlklang war wie weggewischt, und wer Bianca nicht zum ersten Mal hörte, konnte wohl merken, wie im Entsetzen über das Verlassen der Kraft und in der steigenden Angst davor die ganze Auffassung und Wiedergabe ins Unsichere gerieth und der Mensch immer deutlicher hinter seiner Rolle heraustrat.

Der verliebte Sperber gewahrte davon natürlich nichts. Er saß da wie etwa ein Kind vor einem Weihnachtsbaume, der eine Singstimme gekriegt hätte. Auch im Publikum fehlte es nicht an solchen, welche in den Fehlern Bianca’s nur ein übertriebenes Raffinement der Auffassung sahen. Eine Wahnsinnige sänge eben anders als eine Gesunde. Darüber ließe sich streiten. Die allgemeine Meinung ging dahin, daß die Scandrini, von einigen [876] Unbehilflichkeiten abgesehen, die noch die Anfängerin verriethen, in den vorigen Auftritten selbst jenen alten Stern und Liebling übertroffen habe; den letzten Akt aber singe dieser eben Niemand nach. Das war Erfolgs genug.

Wie sehr sich die Ansichten widersprachen, jedenfalls hatte Bianca bereits den ganzen Abend hindurch so sehr gefallen, daß ihr die Ermattung im letzten Akt wenig oder gar keinen Schaden mehr that. Sie hatte das Publikum bereits so sicher erobert, daß auch der schwächere Theil ihrer Leistung günstig aufgenommen und sie am Schluß der Oper lebhaft gerufen wurde.

Ihre Anstellung konnte schon nach diesem ersten Probegastspiel für entschieden gelten. Und der Intendant, der auf die Bühne kam, ihr seine Freude über den großen Triumph auszusprechen, gab ihr auch ziemlich unverblümt zu verstehen, daß er sie von dieser Leistung ab getrost zu den Seinigen zähle.

Bianca, noch im Gewände der verurtheilten Verbrecherin und mit der schweißdurchfurchtcn Schminke auf den Wangen, verbeugte sich stumm. Sie war zu erregt, zu erschöpft, um zu sprechen.

In der Garderobe angelangt, schob sie hastig den Riegel vor, sank auf den Stuhl und weinte lange bitterlich.

Die Ankleidefrau gab sich endlich Mühe, sie zu beruhigen, obwohl sie den Zustand für einen Weinkrampf hielt und einen solchen nach so heftiger Aufregung und nach der ersten solcher Aufregungen, die fürs Leben entschied, nur allzubegreiflich fand.

Jawohl! Die Summe, welche Bianca jetzt unter Thränen zog, entschied für ihr Leben. Aber anders, als es die gute alte Garderobière glaubte, die eine Reihe von Triumphen, alle mit reichlichen Trinkgeldspenden für sie verziert, vor Augen sah und darum der schönen Debütantin aufrichtigen Herzens das größte Glück und den vollsten Ruhm wünschte.

Pater Otto und ich, die wir die neue Diva vor dem Thor ihres Hotels erwarteten, mußten lang auf der Straße hin- und wiederschildern, bis endlich der Thespiskarren erschien. Edgar durfte nicht der Dritte im Bunde sein. Noch nicht. Der Chorherr hatte schon im letzten Akte Zeichen stummer Aufregung gegeben und mich, wenn die Stimme ihm bedenklich erschienen war, mit geheimen Andeutungen, wie da waren hastige Händedrücke, Stoßen mit dem Beine oder auch nur großer Augenaufschlag, von seiner leidenschaftlichen Theilnahme hinreichend überzeugt. Er machte auch jetzt seine verlorenen Schritte auf dem gasbeleuchteten Straßenpflaster wie einer, der voll Erwartung, Bedenken und Besorgniß ist.

Als wir aber der Sängerin aus dem Wagen halfen und mit ihr uns zum späten Mahle setzten, war jede trübe Stimmung aus seinem Gesichte weggewischt. Er hatte seine Züge vollkommen in Gewalt.

Die ältere Schwester hatte sich sehr ungern und nur auf ein mehrfaches Dixi! Punktum! des Vaters entschlossen, als Opernmutter zu fungiren. Sie fand an all dem unruhigen Treiben und der nothwendig damit verbundenen Aufregung keinerlei Vergnügen. An der Kunst hegte sie kein Interesse und vom glänzenden Schauspiel kriegte sie nur die ranzige Kehrseite zu sehen. Zudem gab es nach ihrer Ueberzeugung außerhalb der Linien Wiens kein menschenwürdiges Dasein; demgemäß verlangte sie überall Wiener Gerichte, Wiener Getränke und Wiener Gebräuche und fand alles am Ort Gebotene, auch das Theater, das Orchester und – sie ahnte nicht, wie schauderhaft sie frevelte – auch das liebe Bier unter aller Kritik.

Im Gasthof vermißte sie die Gemüthlichkeit und schützte gegen jede Zumuthung, aufgeräumt und gesellig zu sein, die heftigsten Kopfschmerzen vor. So hatte dies würdige Kind des „Herrn von Latschenberger“ sich auch heute sofort nach dem Ende der Oper ins Bett begeben, und wir saßen nur zu Dreien um den geselligen runden Tisch; das vierte Gedeck, welches für Bianca’s Schwester aufgelegt worden, blieb leer.

Die ersten Begrüßungen und Beglückwünschungen waren an den Mann oder vielmehr an das Fräulein gebracht. Bianca, die von Anstrengung und Aufregung ganz erschöpft war, bat nur, rasch die Speisen aufzutragen. Sie nippte vom Rheinwein und legte dann doch die Gabel mit dem ersten Bissen wieder unberührt auf den Teller und sagte, das süße Gesicht in die Hand gebeugt: „Weißt Du, Otto, was mir den ganzen Abend in Freud und Leid abgegangen ist und was mich schier wundert, so wenig es zum Verwundern ist?“

„O ja,“ versetzte der Chorherr, ohne sich in der rüstigen Arbeit mit Messer, Gabel und Kinnbacken im Geringsten stören zu lassen, denn auch dieser Vetter hatte den ganzen Tag über vor lauter Aufregung und Erwartung nicht viel Nahrhaftes über die Lippen gebracht und stürzte sich jetzt nach Erleichterung des Gemüths mit klösterlichem Wolfshunger auf das erste Gericht. „Ich kann mir’s denken. Aber ich werde mich wohl hüten, es zu sagen.“

„Ich sag’s! und warum nicht!“ antwortete Bianca, und aus ihren blauen Augen blitzte die Liebe: „Ich hätte darauf geschworen, Edgar müßte heut’ im Theater sein.“

„Er war auch da!“ sagte Pater Otto trocken.

Bianca schrie auf. „Was?! und das sagst Du mir jetzt erst? und wartest erst noch auf meine Fragen?! Geh, schäm’ Dich! Wo, wo ist er?!“

„Bei Deiner nachtragenden Art konnte man nicht wissen, ob Du ihn im Theater sehen wolltest … Jetzt iß etwas vor allen Dingen, und was den armen Kerl, den Edgar betrifft, der zappelt vor Ungeduld nicht weit von hier. Wirst ihn gleich sehen! …“ Er klingelte mit seinem Siegelring am Weinglase und rief: „Kellner, wollen Sie dem Herrn von Nr. 15 sagen, daß wir ihn hier erwarten und daß für ihn bereits gedeckt ist.“

Bianca stand auf und warf die Serviette über den Stuhl. Aber noch ehe sie die Thür erreichte, stand Edgar vor ihr. Er mußte nebenan auf den Ruf geharrt haben.

Die Sängerin streckte dem Freunde beide Hände entgegen. Er versäumte keines dieser Wunderwerke des Schöpfers andächtig und wiederholt zu küssen. Er überschüttete Bianca mit seinem Lob und seiner Begeisterung, aber unter all den berauschten Worten klang ein Grundbaß von Traurigkeit, der nicht erlosch, wenn er auch freudig die Melodien des Entzückens trug.

Edgar kam sich gerade heute nach diesem Triumph seiner Angebeteten so unbedeutend, so unwürdig vor. Was hatte er einer solchen Künstlerin zu bieten! Was für eine Rolle sollte er, der heruntergekommene, sich erst mühsam wieder emporarbeitende Kaufmann, neben diesem strahlenden Mädchen spielen, welches die Bahn des Erfolges mit dem ersten Schritte schon so siegreich betrat!

Er sprach es nicht aus. Aber wer vorhin Pater Otto beobachtete, wie er in widerstreitenden Gefühlen kämpfend unter den Gaslaternen auf- und abmarschirte, der besaß für die unausgesprochenen Gedanken Edgar’s schon Verständniß.

Bianca war ganz in Glück und Freude getaucht. Eine wunderbare Klarheit strahlte aus ihren blauen Augen, aus dem ganzen schönen Gesicht. Sie hatte den schweren Entschluß bereits hinter sich. Jede Trübniß war abgeworfen. Sie sah die Wahrheit der Dinge vor sich, wo wir Anderen noch zweifelten, wähnten und sorgten.

Das Mahl verlief in eifrigen Gesprächen über das jüngst Erlebte. Schüchtern streifte zuerst Edgar die nächste Zukunft. Bianca ließ uns Andere darauf antworten und blickte nur stumm mit ihren großen Augen von dem zu jenem, der gerade das Wort nahm.

Endlich machte sich die Müdigkeit auch bei ihr geltend und wir schieden rasch auf baldiges Wiedersehen. –

Edgar hatte um die Erlaubniß gebeten, ihr gleich am andern Morgen nach dem Frühstück seinen Besuch machen zu dürfen, weil seine Geschäfte kein längeres Fernbleiben von Hause duldeten.

Als er eintrat, fand er Bianca allein. Selbst Pater Otto hatte noch nicht vorgesprochen. Befangen blieb er an der Thür stehen, da ein Zimmerkellner, der gleichzeitig eingetreten war, einen Brief überreichte und Bianca das Siegel erbrechend überrascht ausrief: „Von der Intendanz!“

Sie nöthigte den Freund nach kurzem Gruß zum Niedersetzen und hat um die Erlaubniß, lesen zu dürfen.

Nachdem dies rasch geschehen war, sah sie strahlenden Blickes auf und sagte: „Der Intendant schreibt mir in sehr liebenswürdigen Worten, daß er nach dem gestrigen Erfolg schon heute bereit sei, mit mir abzuschließen. Lesen Sie selbst!’“

Edgar guckte wohl in den Brief, aber es tanzten ihm die Buchstaben einen so häßlichen Reigen vor, daß er es alsbald für Zeitverlust erachtete, hier etwas Anderes anzuschauen als Bianca Scandrini, die er vielleicht heute schon für immer wieder verlieren sollte.

[878] „In dem Briefe steht etwas von fünf Jahren, wenn ich recht lese,“ sprach er. „Werden Sie sich auf so lange hier binden, Fräulein?“

„Ich weiß es noch nicht.“

Kleine Pause, dann hob Edgar wieder an:

„Gefällt es Ihnen hier?“

„Wunderbar!“ Und sie lachte herzlich, da sie merken mußte, wie Sperber kleinlaut vor ihr saß und das rechte Wort nicht fand, an alte Zeiten zu erinnern und an ein Herz zu klopfen, das er besser kennen sollte.

Das übermüthige Lachen, wo ihm so bitterbang zu Muthe war, erregte seinen Zorn. Er sprang vom Stuhl auf und ging mit sich selber ringend in dem kleinen Salon auf und nieder.

Plötzlich blieb er mitten im Zimmer stehen, streckte nach Bianca beide Arme hin und sagte, noch den Groll in seinen Augen und Brauen, aber schon ein Lächeln in seinen Mundwinkeln: „Ich habe einst wie ein Narr an Ihnen gefrevelt, Bianca, ich habe Sie wie ein dummer Junge verloren. Könnten Sie mir wieder so gut werden, wie Sie mir schon einmal gewesen sind? … Mit einem Wort, könnten Sie sich entschließen, vor Gott und den Menschen, meine liebe Frau zu werden?“

Bianca zog die Brauen hoch und sagte: „Sie vergessen die Rücksichten, welche Sie Ihrer Familie schuldig sind, Herr von Sperber. Sie würden sich doch nie entschließen, eine Opernsängerin heimzuführen.“

„Ach, Bianca, rächen Sie sich nicht unedel! Unser Stolz ist klein geworden. Wenn Sie jetzt die Frau eines bescheidenen Kaufmanns werden, so geben Sie mir von Ihrem Glanz und Stolz was ab, nicht ich Ihnen von dem meinigen. Sie sind jetzt die bessere Partie, nicht ich!“

„Wer weiß!“

„Nach dem gestrigen Erfolg?! Kostet es mich doch Ueberwindung, um Sie zu freien, nun, nachdem ich verarmt bin und Sie einer glänzenden Zukunft mit Riesenschritten entgegengehen … Aber ich mag und kann ohne Sie nicht leben und würde um Ihre Hand werben, auch wenn Sie die Patti oder die Tochter des Kaisers von China wären!“

„Auch, wenn ich nichts wäre als ein armes Mädel aus der Josefstadt?“

„Herr Gott im Himmel! wären Sie doch nur das! ich wollte Gott auf den Knieen dafür danken! … Sehen Sie mich nicht so zornig an! Ihr Künstlerthum, Ihren Erfolg, Ihre Zukunft in allen Ehren … aber der Gedanke, daß fortan Sie im Süden, ich im Norden weiterleben werde, daß die ganze Länge Deutschlands mich tagtäglich von Ihnen trennen soll, und daß Sie über Ihrem Beruf und was so damit zusammenhängt, mich recht bald vergessen werden, das könnte mich hier auf dieser Stelle rasend machen.“

„Gott bewahre!“ rief Bianca, und dann winkte sie Sperbern, der wieder auf und nieder zu laufen begann, näher heran und sagte: „Edgar!.. knieen Sie einmal gleich hier nieder!“

„Vor Ihnen ?“

„Nein, vor Gott! Um ihm auf den Knieen, wie Sie gewünscht, zu danken, weil ich nichts bin, als ein armes Mädel aus einer Wiener Vorstadt!“

„Bianca!“ rief Sperber, der schon zu ihren Füßen lag und beide Hände vor Verwunderung und Wonne zusammenschlug, derweilen sie den liebenswürdigen Brief des königlichen Intendanten in vier gleiche Theile zerriß. „Um Gotteswillen, ist das Ihr Ernst?“

„Ja, mein Freund, mein voller Ernst, und ich setze hinzu: mein bitterer Ernst! Denn ich hab’ es anders im Sinn gehabt, stolzer, vielleicht auch schöner. Mit Schmerz entsag’ ich einer Laufbahn, für die ich mein Leben gegeben hätte und auf der ich mich an Ihrem Uebermuth zu rächen hoffen durfte. Aber ich muß ihr entsagen.“

„Was, Sie müssen?“ rief Sperber und sprang heftig auf die Füße. „Nach einem Erfolg wie der gestrige, der ohne Beispiel ist?!“

„Ja! Mag dieser Erfolg für Diejenigen gelten, die mich nicht kannten. Wer das ausgestanden hat, was ich gestern, während das weite Haus vom Beifall erdröhnte, der hat sich erkannt, der hat sich gerichtet. Was ist der äußere Erfolg, wenn der innere im eigenen Busen fehlt! … Während ich gestern die tausend Hände klatschend zu mir aufgehoben sah, fragt ich mit Todesangst, ob ich denn die Kraft haben würde, die Partie zu Ende zu singen? und die Antwort hieß immer: nein! nein! nein! … Als ich in der gemalten Kirche auf den Knieen lag, verzweifelte ich wirklich und nicht nur im Spiel, eine an sich selbst Verzweifelnde rang ich an der Erde, und während ich die Worte des Dichters sang, gelobt’ ich mit ganz anderen Worten meinem Schutzheiligen, daß ich nie wieder eine Bühne betreten würde, wenn er mich diesmal gnädig bis ans Ende führte und nur dies eine Mal mit Ehren bestehen ließe.“

„Sie haben mit Ehren bestanden. Mit kolossalen Ehren!“ rief Sperber, und die Rührung, die er niederkämpfte, brach seine Stimme.

„Gott sei Dank! Und damit genug! Und wenn Sie wollen, Edgar, so will ich allem Prunk und Ruhm der Bühne entsagen … der Bühne, nicht der Kunst! … und mit Ihnen an die Alster ziehen und ein stilles bescheidenes Frauchen werden, mit dem Sie zufrieden sein sollen und das auch dem hohen Hause Sperber keine Schande machen wird.“

„O Bianca, der Stern und Stolz des Hauses werden Sie sein!“ Er konnte nicht weiterreden, denn nun übermannte ihn die Rührung doch, und wieder lag er auf den Knieen, aber dicht an ihres Kleides Falten, und schloß sich selbst den Mund mit ihren Händen.

Derweilen fuhr Bianca fort. „Es wird ja auch bei Euch eine katholische Kirche geben, und Du wirst mir schon erlauben, mein Licht leuchten zu lassen vor dem Herrn in der Gemeinde. Vielleicht trägt die Kunst auch einen Groschen und einen Thaler ein, und, da Schmalhans Küchenmeister bei uns sein wird, darf auch das willkommen sein.“

Edgar von Sperber richtete sich da etwas befremdet auf und sagte halblächelnden Mundes: „Liebe Bianca, so schlimm steht’s denn doch nicht mehr. Es gab eine harte Zeit. Aber sie ist vorbei, und der Sturm ist beschworen. Es geht mit den Sperbern wieder in die Höhe. Langsam, aber es geht. Du wirst nichts entbehren. Und in etlichen Jahren hoff’ ich Dir jeden Vorzug und jede Bequemlichkeit gewähren zu können, die Frauen unseres Hauses zukommen.“

„Was?!“ rief das staunende Mädchen. „Du bist also gar kein armer Mann mehr?! O weh! das ändert die Sache, und die bösen Worte der alten Zeit leben wieder auf. Da möge mir Gott verzeihen, ich breche mein Gelübde ... die Ehre über Alles! … und nehme den Antrag des guten Intendanten an, geh’s wie’s wolle!“

Sie bückte sich nach rechts und nach links, nahm die vier Fetzen des Briefes vom Boden auf und legte sie sorgsam wieder zusammen. Ueber dieser Thätigkeit war Pater Otto eingetreten und sah verwundert auf das Thun seiner Muhme.

Da schritt Edgar auf ihn zu und führte ihn an der Hand vor Bianca hin, indem er sagte: „Laß das Zerrissene zerrissen sein für immer und schäme Dich, nicht mir in mein Haus zu folgen, wenn es auch nicht das Haus eines Bettlers ist. Daß es mit den Sperbern wieder in die Höhe geht, dank’ ich nicht zum kleinsten Theil der freundschaftlichen Sorgfalt und Güte dieses Mannes, der Dein Vetter ist und der mir im Unglück seine freiwillige Hilfe gewährte, nicht zum geringsten wohl aus dem Grunde, weil Du seine Base bist und er wußte, daß ich Dich über Alles in der Welt liebe. Du vergiebst Dir also nichts, wenn Du an einem bescheidenen Wohlstande theil nimmst, der zum Theil das Werk Deines Vetters ist und der mir ohne Dich wohl nie geworden wäre! … Bianca, willst Du?“

Sie antwortete nicht gleich mit Worten. Die Empfindung des Glückes schnürte ihr die Kehle zu. Aber sie sank in seine Arme, sank an seine Brust, und Pater Otto legte segnend seine Hände auf die blonden Häupter seiner beiden Freunde.


Die Zeit vergeht. Sie ist auch über Edgar und Bianca nicht spurlos hingegangen. Aber obwohl ihr Aeltester demnächst sein Abiturientenexamen machen wird, ist seine Mutter noch immer eine schöne Frau. Etwas stattlicher freilich als damals, da sie zur Opernschule ging, aber bei guten Formen. Ihre Stimme klingt noch wunderschön, und alljährlich, wenn mich im Herbst [879] mein Weg über Hamburg nach Helgoland führt, versäume ich es nicht, wenigstens einen Abend im gastlichen Hause Sperber zu verbringen und um die Lieblingslieder zu bitten, die Bianca noch mit der Kunst und Innigkeit ihrer Mädchenjahre dem Freunde gern vorträgt.

Das Haus Sperber behauptet sich auf der Höhe eines festbegründeten Wohlstandes, und wenn seine Söhne auch nicht mit der breiten Bequemlichkeit in die Welt treten werden, mit welcher einst ihr Vater sich in der Kaiserstadt an der Donau eingeführt hat, so werden ihnen nach menschlicher Voraussicht wohl auch die traurigen Zeiten erspart bleiben, die jener später durchzukosten hatte.

Das letzte Mal traf ich dort auch Pater Otto bei Sperber zum Besuch. Seine Tonsur, auf die sich ehrenvoll eine schöne Kirchenwürde niedergesenkt hat, ist etwas breiter geworben, sieht fast wie eine Glatze aus, aber sonst hat er sich kaum merklich mit den Jahren verändert, äußerlich wenig, innerlich gar nicht.

Er kommt gern nach Hamburg und wird dort jedes Mal mit alter Anhänglichkeit empfangen. Auch meine Freude, den einstigen Seminarkollegen wiederzusehen, war groß. Wir speisten mit einander bei Pfordte und gingen mit einander ins Thaliatheater.

Mit seinen „katholischen Amtsbrüdern“ an der Alster hat er wenig Verkehr. Es ärgert ihn, daß sie sich, wie die Lutherischen, „Pastoren“ nennen, und er liebt auf seinen Ausflügen in die Welt mehr Freiheit zu genießen, als jene einem Klostergeistlichen für statthaft erachten möchten. Trotzdem giebt er ihnen an kirchlichem Eifer und streitbarer Überzeugung nichts nach. Als ich darüber dem wunderlichen Heiligen ungescheut meine Verwunderung aussprach, gab er mir mit alten goldenen Worten Antwort und den Schlüssel zu seinem Wesen: „In neccessariis unitas, in dubiis libertas!“ zu deutsch: in Allem, was nothwendig zum Glauben gehört, weiß ich mich eins mit ihnen; aber was ich mindestens ebenso gut verstehe wie jene, darin lass’ ich mir von Niemand was dreinreden.       Amen!