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Entstehung der Arten (1876)/Viertes Capitel

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Drittes Capitel Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein (1876)
von Charles Darwin
Fünftes Capitel


[100]
Viertes Capitel.
Natürliche Zuchtwahl.
Natürliche Zuchtwahl;ihre Wirksamkeit im Vergleich zu der des Menschen;ihre Wirkung auf Eigenschaften von geringer Wichtigkeit;ihre Wirksamkeit in jedem Alter und auf beide Geschlechter.Sexuelle Zuchtwahl.Über die Allgemeinheit der Kreuzung zwischen Individuen der nämlichen Art.Günstige und ungünstige Umstände für die natürliche Zuchtwahl, insbesondere Kreuzung, Isolation und Individuenzahl.Langsame Wirkung.Aussterben durch natürliche Zuchtwahl verursacht.Divergenz der Charactere in Bezug auf die Verschiedenheit der Bewohner einer kleinen Fläche und auf Naturalisation.Wirkung der natürlichen Zuchtwahl auf die Abkömmlinge gemeinsamer Eltern durch Divergenz der Charactere und durch Aussterben.Erklärt die Gruppirung aller organischen Wesen.Fortschritt in der Organisation.Erhaltung niederer Formen.Convergenz der Charactere.Unbeschränkte Vermehrung der Arten.Zusammenfassung.

Wie mag wohl der Kampf um das Dasein, welcher im letzten Capitel kurz abgehandelt wurde, in Bezug auf Variation wirken? Kann das Princip der Auswahl für die Nachzucht, die Zuchtwahl, welche in der Hand des Menschen so viel leistet, in der Natur angewendet werden? Ich glaube, wir werden sehen, daß ihre Thätigkeit eine äußerst wirksame ist. Wir müssen die endlose Anzahl unbedeutender Abänderungen und individueller Verschiedenheiten bei den Erzeugnissen unserer Züchtung und in minderem Grade bei den Wesen im Naturzustande, ebenso auch die Stärke der Neigung zur Vererbung im Auge behalten. Im Zustande der Domestication, kann man wohl sagen, wird die ganze Organisation in gewissem Grade plastisch. Aber die Veränderlichkeit, welche wir an unseren Culturerzeugnissen fast allgemein antreffen, ist, wie Hooker und Asa Gray richtig bemerkt haben, nicht direct durch den Menschen herbeigeführt worden; er kann weder Varietäten entstehen machen, noch ihr Entstehen hindern; er kann nur die vorkommenden erhalten und häufen. Absichtslos setzt er organische Wesen neuen und sich verändernden Lebensbedingungen aus und Variabilität ist Folge hiervon. Aber ähnliche Wechsel der Lebensbedingungen können auch in der Natur vorkommen und kommen [101] wirklich vor. Wir müssen auch dessen eingedenk sein, wie unendlich verwickelt und wie eng zusammenpassend die gegenseitigen Beziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu ihren physikalischen Lebensbedingungen sind; und folglich, wie unendlich vielfältige Abänderungen der Structur einem jeden Wesen unter wechselnden Lebensbedingungen nützlich sein können. Kann man es denn, wenn man sieht, daß viele für den Menschen nützliche Abänderungen unzweifelhaft vorgekommen sind, für unwahrscheinlich halten, daß auch andere mehr und weniger einem jeden Wesen selbst in dem großen und zusammengesetzten Kampfe um’s Leben vortheilhafte Abänderungen im Laufe vieler aufeinanderfolgenden Generationen zuweilen vorkommen werden? Wenn solche aber vorkommen, bleibt dann noch zu bezweifeln, (wenn wir uns daran erinnern, daß offenbar viel mehr Individuen geboren werden, als möglicher Weise fortleben können,) daß diejenigen Individuen, welche irgend einen, wenn auch noch so geringen Vortheil vor andern voraus besitzen, die meiste Wahrscheinlichkeit haben, die andern zu überdauern und wieder ihresgleichen hervorzubringen? Andererseits können wir sicher sein, daß eine im geringsten Grade nachtheilige Abänderung unnachsichtlich zur Zerstörung der Form führt. Diese Erhaltung günstiger individueller Verschiedenheiten und Abänderungen und die Zerstörung jener, welche nachtheilig sind, ist es, was ich natürliche Zuchtwahl nenne oder Überleben des Passendsten. Abänderungen, welche weder vortheilhaft noch nachtheilig sind, werden von der natürlichen Zuchtwahl nicht berührt, und bleiben entweder ein schwankendes Element, wie wir es vielleicht in den sogenannten polymorphen Arten sehen, oder werden endlich fixirt in Folge der Natur des Organismus oder der Natur der Bedingungen.

Einige Schriftsteller haben den Ausdruck natürliche Zuchtwahl misverstanden oder unpassend gefunden. Die einen haben selbst gemeint, natürliche Zuchtwahl führe zur Veränderlichkeit, während sie doch nur die Erhaltung solcher Abänderungen einschließt, welche dem Organismus in seinen eigenthümlichen Lebensbeziehungen von Nutzen sind. Niemand macht dem Landwirth einen Vorwurf daraus, daß er von den großen Wirkungen der Zuchtwahl des Menschen spricht, und in diesem Falle müssen die von der Natur dargebotenen individuellen Verschiedenheiten, welche der Mensch in bestimmter Absicht zur Nachzucht wählt, nothwendiger Weise zuerst überhaupt vorkommen. Andere haben eingewendet, daß der Ausdruck Wahl ein bewußtes Wählen [102] in den Thieren voraussetze, welche verändert werden; ja man hat selbst eingeworfen, da doch die Pflanzen keinen Willen hätten, sei auch der Ausdruck auf sie nicht anwendbar! Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, daß buchstäblich genommen, natürliche Zuchtwahl ein falscher Ausdruck ist; wer hat aber je den Chemiker getadelt, wenn er von den Wahlverwandtschaften der verschiedenen Elemente spricht? und doch kann man nicht sagen, daß eine Säure sich die Basis auswähle, mit der sie sich vorzugsweise verbinden wolle. Man hat gesagt, ich spreche von der natürlichen Zuchtwahl wie von einer thätigen Macht oder Gottheit; wer wirft aber einem Schriftsteller vor, wenn er von der Anziehung redet, welche die Bewegung der Planeten regelt? Jedermann weiß, was damit gemeint und was unter solchen bildlichen Ausdrücken verstanden wird; sie sind ihrer Kürze wegen fast nothwendig. Eben so schwer ist es, eine Personificirung des Wortes Natur zu vermeiden; und doch verstehe ich unter Natur bloß die vereinte Thätigkeit und Leistung der mancherlei Naturgesetze, und unter Gesetzen die nachgewiesene Aufeinanderfolge der Erscheinungen. Bei ein wenig Bekanntschaft mit der Sache sind solche oberflächliche Einwände bald vergessen.

Wir werden den wahrscheinlichen Hergang bei der natürlichen Zuchtwahl am besten verstehen, wenn wir den Fall annehmen, eine Gegend erfahre irgend eine geringe physikalische Veränderung, z. B. im Clima. Das Zahlenverhältnis seiner Bewohner wird fast unmittelbar eine Veränderung erleiden, und eine oder die andere Art wird wahrscheinlich ganz erlöschen. Wir dürfen ferner aus dem, was wir von dem innigen und verwickelten Abhängigkeits-Verhältnisse der Bewohner einer Gegend von einander kennen gelernt haben, schließen, daß, unabhängig von dem Climawechsel an sich, die Änderung im Zahlenverhältnisse eines Theiles ihrer Bewohner auch sehr wesentlich auf die andern wirke. Hat diese Gegend offene Grenzen, so werden gewiß neue Formen einwandern: und auch dies wird die Beziehungen eines Theiles der alten Bewohner ernstlich stören; denn erinnern wir uns, wie folgenreich die Einführung einer einzigen Baum- oder Säugethierart in den früher mitgetheilten Beispielen gewesen ist. Handelte es sich dagegen um eine Insel oder um ein zum Theil eng eingeschlossenes Land, in welches neue und besser angepaßte Formen nicht reichlich eindringen können, so würden sich Punkte im Hausstande der Natur ergeben, welche sicherlich besser dadurch ausgefüllt würden, [103] daß einige der ursprünglichen Bewohner irgend eine Abänderung erführen; denn, wäre das Land der Einwanderung eröffnet gewesen, so würden sich wohl Eindringlinge dieser Stellen bemächtigt haben. In solchen Fällen würden daher geringe Abänderungen, welche in irgend welcher Weise Individuen einer oder der andern Species durch bessere Anpassung an die geänderten Lebensbedingungen begünstigten, erhalten zu werden neigen und die natürliche Zuchtwahl wird freien Spielraum finden, in ihrer Verbesserung thätig zu sein.

Wie in dem ersten Capitel gezeigt wurde, ist Grund zur Annahme vorhanden, daß Veränderungen in den Lebensbedingungen eine Neigung zu vermehrter Variabilität verursachen, und in den vorangehenden Fällen ist eine Änderung der Lebensbedingungen angenommen worden, und diese wird gewiß für die natürliche Zuchtwahl insofern günstig gewesen sein, als mit ihr mehr Aussicht auf das Vorkommen nützlicher Abänderungen verbunden war; kommen nützliche Abänderungen nicht vor, so kann die Natur keine Auswahl zur Züchtung treffen. Man darf nicht vergessen, daß unter dem Ausdruck „Abänderungen“ stets auch bloße individuelle Verschiedenheiten mit eingeschlossen sind. Wie der Mensch große Erfolge bei seinen domesticirten Thieren und Pflanzen durch Häufung bloß individueller Verschiedenheiten in einer und derselben gegebenen Richtung erzielen kann, so vermag es die natürliche Zuchtwahl, aber noch viel leichter, da ihr unvergleichlich längere Zeiträume für ihre Wirkungen zu Gebote stehen. Auch glaube ich nicht, daß irgend eine große physikalische Veränderung, z. B. des Clima, oder ein ungewöhnlicher Grad von Isolirung gegen die Einwanderung wirklich nöthig ist, um neue und noch unausgefüllte Stellen zu schaffen, welche die natürliche Zuchtwahl durch Abänderung und Verbesserung einiger variirender Bewohner des Landes ausfüllen könne. Denn da alle Bewohner eines jeden Landes mit gegenseitig genau abgewogenen Kräften in beständigem Kampfe mit einander liegen, so genügen oft schon äußerst geringe Modificationen in der Bildung oder Lebensweise einer Art, um ihr einen Vortheil über andere zu geben; und weitere Abänderungen in gleicher Richtung werden ihr Übergewicht oft noch vergrößern, so lange als die Art unter den nämlichen Lebensbedingungen fortbesteht und aus ähnlichen Subsistenz- und Vertheidigungsmitteln Nutzen zieht. Es läßt sich kein Land bezeichnen, in welchem alle eingebornen Bewohner bereits so vollkommen aneinander und an die äußeren Bedingungen, unter denen [104] sie leben, angepaßt wären, daß keiner unter ihnen mehr einer Veredelung oder noch bessern Anpassung fähig wäre; denn in allen Ländern sind die eingeborenen Arten so weit von naturalisirten Erzeugnissen besiegt worden, daß diese Fremdlinge im Stande gewesen sind, festen Besitz vom Lande zu nehmen, und da die Fremdlinge überall einige der Eingeborenen geschlagen haben, so darf man wohl ruhig daraus schließen, daß, wenn diese mit mehr Vortheil modificirt worden wären, sie solchen Eindringlingen mehr Widerstand geleistet haben würden.

Da nun der Mensch durch methodisch und unbewußt ausgeführte Wahl zum Zwecke der Nachzucht so große Erfolge erzielen kann und gewiß erzielt hat, was mag nicht die natürliche Zuchtwahl leisten können? Der Mensch kann nur auf äußerliche und sichtbare Charactere wirken; die Natur (wenn es gestattet ist, so die natürliche Erhaltung oder das Überleben des Passendsten zu personificiren) fragt nicht nach dem Aussehen, außer wo es irgend einem Wesen nützlich sein kann. Sie kann auf jedes innere Organ, auf jede Schattirung einer constitutionellen Verschiedenheit, auf die ganze Maschinerie des Lebens wirken. Der Mensch wählt nur zu seinem eigenen Nutzen; die Natur nur zum Nutzen des Wesens, das sie erzieht. Jeder von ihr ausgewählte Character wird daher in voller Thätigkeit erhalten, wie schon in der Thatsache seiner Auswahl liegt. Der Mensch dagegen hält die Eingeborenen aus vielerlei Climaten in derselben Gegend beisammen und läßt selten irgend einen ausgewählten Character in einer besonderen und ihm entsprechenden Weise thätig werden. Er füttert eine lang- und eine kurzschnäbelige Taube mit demselben Futter; er beschäftigt ein langrückiges oder ein langbeiniges Säugethier nicht in einer besondern Art; er setzt das lang- und das kurzwollige Schaf demselben Clima aus. Er läßt die kräftigeren Männchen nicht um ihre Weibchen kämpfen. Er zerstört nicht mit Beharrlichkeit alle unvollkommeneren Thiere, sondern schützt vielmehr alle seine Erzeugnisse, so viel in seiner Macht liegt, in jeder verschiedenen Jahreszeit. Oft beginnt er seine Auswahl mit einer halbmonströsen Form oder mindestens mit einer Abänderung, hinreichend auffallend um seine Augen zu fesseln oder ihm offenbaren Nutzen zu versprechen. In der Natur dagegen kann schon die geringste Abweichung in Bau und organischer Thätigkeit das bisherige genau abgewogene Gleichgewicht im Kampfe um’s Leben aufheben und hierdurch ihre Erhaltung bewirken. [105] Wie flüchtig sind die Wünsche und die Anstrengungen des Menschen! wie kurz ist seine Zeit! wie dürftig werden mithin seine Erzeugnisse denjenigen gegenüber sein, welche die Natur im Verlaufe ganzer geologischer Perioden angehäuft hat! Dürfen wir uns daher wundern, wenn die Naturproducte einen weit „echteren“ Character als die des Menschen haben, wenn sie den verwickeltsten Lebensbedingungen unendlich besser angepaßt sind und das Gepräge einer weit höheren Meisterschaft an sich tragen?

Man kann figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist. Still und unmerkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Gelegenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens in Bezug auf dessen organische und unorganische Lebensbedingungen beschäftigt. Wir sehen nichts von diesen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis die Hand der Zeit auf eine abgelaufene Weltperiode hindeutet, und dann ist unsere Einsicht in die längst verflossenen geologischen Zeiten so unvollkommen, daß wir nur noch das Eine wahrnehmen, daß die Lebensformen jetzt andere sind, als sie früher gewesen.

Um irgend einen beträchtlichen Grad von Modification mit der Länge der Zeit bei einer Species hervorzubringen, muß eine einmal aufgetauchte Varietät, wenn auch vielleicht erst nach einem langen Zeitraum, von neuem variiren oder individuelle Verschiedenheiten derselben günstigen Art wie früher darbieten, und diese müssen wieder erhalten werden und so Schritt für Schritt weiter. Wenn man sieht, daß individuelle Verschiedenheiten aller Art beständig vorkommen, so kann dies kaum als eine nicht zu verbürgende Vermuthung angesehen werden. Ob dies aber alles wirklich statt gefunden hat, kann nur danach beurtheilt werden, daß man zusieht, wie weit die Hypothese mit den allgemeinen Erscheinungen der Natur übereinstimmt und sie erklärt. Andererseits beruht aber auch die gewöhnlichere Meinung, daß der Betrag der möglichen Abänderung eine scharf begrenzte Größe sei, auf einer bloßen Voraussetzung.

Obwohl die natürliche Zuchtwahl nur durch und für das Gute eines jeden Wesens wirken kann, so werden doch wohl auch Eigenschaften und Bildungen dadurch berührt, denen wir nur eine untergeordnete [106] Wichtigkeit beizulegen geneigt sind. Wenn wir sehen, daß blattfressende Insecten grün, rindenfressende graugefleckt, das Alpen-Schneehuhn im Winter weiß, die schottische Art haidenfarbig sind, so müssen wir glauben, daß solche Farben den genannten Vögeln und Insecten dadurch nützlich sind, daß sie dieselben vor Gefahren schützen. Waldhühner würden sich, wenn sie nicht in irgend einer Zeit ihres Lebens der Zerstörung ausgesetzt wären, in endloser Anzahl vermehren. Man weiß, daß sie sehr von Raubvögeln leiden, und Habichte werden durch das Gesicht auf ihre Beute geführt, und zwar in einem Grade, daß man in manchen Gegenden von Europa vor dem Halten von weißen Tauben warnt, weil diese der Zerstörung am meisten ausgesetzt sind. Es dürfte daher die natürliche Zuchtwahl am entschiedensten dahin wirken, jeder Art von Waldhühnern die ihr eigenthümliche Farbe zu verleihen und, wenn solche einmal hergestellt ist, dieselbe echt und beständig zu erhalten. Auch dürfen wir nicht glauben, daß die zufällige Zerstörung eines Thieres von irgend einer besonderen Färbung nur wenig Wirkung habe; wir sollten uns daran erinnern, wie wesentlich es ist, aus einer weißen Schafheerde jedes Lämmchen zu beseitigen, das die geringste Spur von schwarz an sich hat. Wir haben oben gesehen, wie in Florida die Farbe der Schweine, welche sich von der Farbwurzel nähren, über deren Leben und Tod entscheidet. Bei den Pflanzen rechnen die Botaniker den flaumigen Überzug der Früchte und die Farbe ihres Fleisches mit zu den mindest wichtigen Merkmalen; und doch hören wir von einem ausgezeichneten Gärtner, Downing, daß in den Vereinigten Staaten nackthäutige Früchte viel mehr durch einen Käfer, einen Curculio, leiden, als die flaumigen, und daß die purpurfarbenen Pflaumen von einer gewissen Krankheit viel mehr leiden, als die gelben, während eine andere Krankheit die gelbfleischigen Pfirsiche viel mehr angreift, als die mit andersfarbigem Fleische. Wenn bei aller Hülfe der Kunst diese geringen Verschiedenheiten schon einen großen Unterschied im Anbau der verschiedenen Varietäten bedingen, so werden gewiß im Zustande der Natur, wo die Bäume mit andern Bäumen und mit einer Menge von Feinden zu kämpfen haben, derartige Verschiedenheiten äußerst wirksam entscheiden, welche Varietät erhalten bleiben soll, ob eine glatte oder eine flaumige, ob eine gelb- oder rothfleischige Frucht.

Betrachten wir eine Menge kleiner Verschiedenheiten zwischen Species welche, so weit unsere Unkenntnis zu urtheilen gestattet, ganz [107] unwesentlich zu sein scheinen, so dürfen wir nicht vergessen, daß auch Clima, Nahrung u. s. w. ohne Zweifel einigen unmittelbaren Einfluß haben mögen. Es ist aber auch nothwendig, uns daran zu erinnern, daß nach dem Gesetze der Correlation, wenn ein Theil variirt und wenn diese Modificationen durch natürliche Zuchtwahl gehäuft werden, dann wieder andere Modificationen oft der unerwartetsten Art eintreten.

Wie wir sehen, daß die Abänderungen, welche im Culturzustande zu irgend einer bestimmten Zeit des Lebens hervortreten, auch beim Nachkömmling in der gleichen Lebensperiode wieder zu erscheinen geneigt sind, – z. B. in Form, Größe und Geschmack der Samen vieler Varietäten unserer Küchen- und Ackergewächse, in den Raupen und Cocons der Seidenwurmvarietäten, in den Eiern des Hofgeflügels und in der Färbung des Dunenkleides seiner Jungen, in den Hörnern unserer Schafe und Rinder, wenn sie fast erwachsen sind, – so wird auch die natürliche Zuchtwahl im Naturzustande fähig sein, dadurch in einem jeden Alter auf die organischen Wesen zu wirken und sie zu modificiren, daß sie die für eine jede Lebenszeit nützlichen Abänderungen häuft und sie in einem entsprechenden Alter vererbt. Wenn es für eine Pflanze von Nutzen ist, ihre Samen immer weiter und weiter mit dem Winde umherzustreuen, so ist meiner Ansicht nach für die Natur die Schwierigkeit, dies Vermögen durch Zuchtwahl zu bewirken nicht größer, als es für den Baumwollenpflanzer ist, durch Züchtung die Baumwolle in den Fruchtkapseln seiner Pflanzen zu vermehren und zu verbessern. Natürliche Zuchtwahl kann die Larve eines Insectes modificiren und zu zwanzigerlei Bedürfnissen geeignet anpassen, welche ganz verschieden sind von jenen, die das reife Thier betreffen; und diese Abänderungen in der Larve mögen durch Correlation auf die Structur des reifen Insectes wirken. So können auch umgekehrt gewisse Veränderungen im reifen Insecte die Structur der Larve berühren; in allen Fällen wird aber die natürliche Zuchtwahl das Thier dagegen sicher stellen, daß die Modificationen nicht nachtheiliger Art sind, denn wären sie so, so würde die Species aussterben.

Natürliche Zuchtwahl kann auch die Structur der Jungen im Verhältnis zu den Eltern und der Eltern im Verhältnis zu den Jungen modificiren. Bei gesellig lebenden Thieren paßt sie die Structur eines jeden Individuum dem Besten der ganzen Gemeinde an, vorausgesetzt, daß die Gemeinde bei dem erzüchteten Wechsel gewinne. Was die natürliche Zuchtwahl nicht bewirken kann, das ist: Umänderung der [108] Structur einer Species ohne Vortheil für sie, zu Gunsten einer anderen Species; und obwohl in naturhistorischen Werken Beispiele hierfür angeführt werden, so kann ich doch nicht einen Fall finden, welcher eine Prüfung aushielte. Selbst ein organisches Gebilde, das nur einmal im Leben eines Thieres gebraucht wird, kann, wenn es ihm von großer Wichtigkeit ist, durch die natürliche Zuchtwahl bis zu jedem Betrage modificirt werden, wie z. B. die großen Kinnladen einiger Insecten, welche ausschliesslich zum Öffnen ihres Cocons dienen, oder das harte Spitzchen auf dem Ende des Schnabels junger Vögel, womit sie beim Ausschlüpfen die Eisschale aufbrechen. Man hat versichert, daß von den besten kurzschnäbeligen Purzeltauben mehr im Ei zu Grunde gehen, als auszuschlüpfen im Stande sind, was Liebhaber mitunter veranlasst, beim Durchbrechen der Schale mitzuhelfen. Wenn nun die Natur den Schnabel einer Taube zu deren eigenem Nutzen im ausgewachsenen Zustande sehr zu verkürzen hätte, so würde dieser Proceß sehr langsam vor sich gehen, und es müßte dabei zugleich die strengste Auswahl derjenigen jungen Vögel im Ei stattfinden, welche den stärksten und härtesten Schnabel besitzen, weil alle mit weichem Schnabel unvermeidlich zu Grunde gehen würden; oder aber es müßte eine Auswahl der zartesten und zerbrechlichsten Eischalen erfolgen, deren Dicke bekanntlich so wie jedes andere Gebilde variirt.

Es dürfte am Platze sein, hier zu bemerken, dass bei allen Wesen gelegentlich eine bedeutende Zerstörung eintritt, welche auf den Verlauf der natürlichen Zuchtwahl keinen oder nur einen geringen Einfluß haben kann. Es wird z. B. jährlich eine ungeheure Zahl von Eiern oder Samen verzehrt, und diese könnten durch natürliche Zuchtwahl nur dann modificirt werden, wenn sie in irgend einer Weise, die sie gegen ihre Feinde schützte, abänderten. Und doch könnten viele dieser Eier oder Samen, wären sie nicht zerstört worden, vielleicht Individuen ergeben haben, welche ihren Lebensbedingungen besser angepaßt waren als irgend eines von denen, welche zufällig leben blieben. Ferner muß eine ungeheure Zahl reifer Thiere und Pflanzen, mögen sie die ihren Bedingungen am besten angepaßten gewesen sein oder nicht, jährlich durch zufällige Ursachen zerstört werden, welche nicht im geringsten Grade durch gewisse Veränderungen des Baues oder der Constitution, die in anderer Weise für die Species wohlthätig sein könnten, in ihrer Wirkung beschränkt werden würden. Mag aber auch [109] die Zerstörung von Erwachsenen noch so reichlich sein, wenn nur die Zahl, welche in irgend einem Bezirke existiren kann, nicht durch solche Ursachen gänzlich herabgedrückt wird, oder ferner, mag die Zerstörung von Eiern oder Samen so groß sein, daß nur der hundertste oder tausendste Theil entwickelt wird, – es werden doch von denen, welche leben bleiben, die am besten angepassten Individuen, unter der Voraussetzung, daß überhaupt Variabilität in einer günstigen Richtung eintritt, ihre Art in größeren Zahlen fortzupflanzen streben als die weniger gut angepaßten. Wird die Anzahl durch die oben angedeuteten Ursachen gänzlich niedergehalten, wie es oft der Fall gewesen sein wird, so wird die natürliche Zuchtwahl in gewissen wohlthätigen Richtungen wirkungslos sein. Dies ist aber kein triftiger Einwand gegen ihre Wirksamkeit zu andern Zeiten und in andern Weisen; denn wir sind weit davon entfernt, für die Annahme irgend einen Grund zu haben, daß jemals viele Species zu derselben Zeit in demselben Bezirke eine Modification und Verbesserung erfahren.


Sexuelle Zuchtwahl.

Wie im Zustande der Domestication Eigenthümlichkeiten oft an einem Geschlechte zum Vorschein kommen und sich erblich an dieses Geschlecht heften, so wird es wohl ohne Zweifel auch im Naturzustande geschehen. Hierdurch wird es möglich, dass die natürliche Zuchtwahl beide Geschlechter in Beziehung zu verschiedenen Gewohnheiten des Lebens, wie es zuweilen der Fall ist, oder das eine Geschlecht in Beziehung auf das andere Geschlecht modificirt, wie es gewöhnlich vorkommt. Dies veranlaßt mich einige Worte über das zu sagen, was ich sexuelle Zuchtwahl genannt habe. Diese Form der Zuchtwahl hängt nicht von einem Kampfe um’s Dasein in Beziehung auf andere organische Wesen oder auf äußere Bedingungen ab, sondern von einem Kampfe zwischen den Individuen des einen Geschlechts, meistens den Männchen um den Besitz des andern Geschlechts. Das Resultat desselben besteht nicht im Tode, sondern in einer spärlicheren oder ganz ausfallenden Nachkommenschaft des erfolglosen Concurrenten. Diese geschlechtliche Auswahl ist daher minder rigorös als die natürliche. Im Allgemeinen werden die kräftigsten, die ihre Stelle in der Natur am besten ausfüllenden Männchen die meiste Nachkommenschaft hinterlassen. In manchen Fällen jedoch wird der Sieg nicht sowohl von der Stärke [110] im Allgemeinen, sondern von besonderen nur dem Männchen verliehenen Waffen abhängen. Ein geweihloser Hirsch und spornloser Hahn haben wenig Aussicht zahlreiche Erben zu hinterlassen. Eine sexuelle Zuchtwahl, welche stets dem Sieger die Fortpflanzung ermöglicht, müßte ihm unzähmbaren Muth, lange Spornen und starke Flügel verleihen, um den gespornten Lauf einschlagen zu können, in derselben Weise wie es der brutale Kampfhuhnzüchter durch sorgfältige Auswahl seiner besten Hähne thut. Wie weit hinab in der Stufenleiter der Natur dergleichen Kämpfe noch vorkommen, weiss ich nicht. Man hat männliche Alligatoren beschrieben, wie sie um den Besitz eines Weibchens kämpfen, brüllen und sich wie Indianer in einem kriegerischen Tanze im Kreise drehen; männliche Salmen hat man den ganzen Tag lang miteinander streiten sehen; männliche Hirschkäfer haben zuweilen Wunden von den mächtigen Kiefern anderer Männchen; und die Männchen gewisser Hymenopteren sah der als Beobachter unerreichbare Fabre um ein besonderes Weibchen kämpfen, das wie ein scheinbar unbetheiligter Zuschauer des Kampfes daneben saß und sich dann mit dem Sieger zurückzog. Übrigens ist der Kampf vielleicht am heftigsten zwischen den Männchen polygamer Thiere, und diese scheinen auch am gewöhnlichsten mit besonderen Waffen dazu versehen zu sein. Die Männchen der Raubsäugethiere sind schon an sich wohl bewehrt; doch pflegen ihnen und andern durch sexuelle Zuchtwahl noch besondere Vertheidigungsmittel verliehen zu werden, wie dem Löwen seine Mähnen, dem männlichen Salmen die hakenförmige Verlängerung seiner Unterkinnlade; denn der Schild mag für den Sieg eben so wichtig sein, als das Schwert oder der Speer.

Unter den Vögeln hat der Bewerbungskampf oft einen friedlicheren Character. Alle, welche diesen Gegenstand behandelt haben, glauben, die eifrigste Rivalität finde unter denjenigen zahlreichen männlichen Vögeln statt, welche die Weibchen durch Gesang anzuziehen suchen. Die Steindrossel in Guinea, die Paradiesvögel u. e. a. schaaren sich zusammen, und ein Männchen um das andere entfaltet mit der ausgesuchtesten Sorgfalt sein prächtiges Gefieder; sie paradiren auch in theatralischen Stellungen vor den Weibchen, welche als Zuschauer dastehen und sich zuletzt den anziehendsten Bewerber erkiesen. Sorgfältige Beobachter der in Gefangenschaft gehaltenen Vögel wissen sehr wohl, dass oft individuelle Bevorzugungen und Abneigungen stattfinden; so hat Sir R. Heron beschrieben, wie ein scheckiger Pfauhahn außerordentlich [111] anziehend für alle seine Hennen gewesen ist. Ich kann hier nicht in die nothwendigen Einzelnheiten eingehen; wenn jedoch der Mensch im Stande ist, seinen Bantam-Hühnern in kurzer Zeit eine elegante Haltung und Schönheit je nach seinen Begriffen von Schönheit, zu geben, so kann ich keinen genügenden Grund zum Zweifel finden, daß weibliche Vögel, indem sie tausende von Generationen hindurch den melodiereichsten oder schönsten Männchen, je nach ihren Begriffen von Schönheit, bei der Wahl den Vorzug geben, nicht ebenfalls einen merklichen Effect bewirken können. Einige wohlbekannte Gesetze in Betreff des Gefieders männlicher und weiblicher Vögel im Vergleich zu dem der jungen lassen sich zum Theil daraus erklären, daß die geschlechtliche Zuchtwahl auf Abänderungen wirkt, welche in verschiedenen Altersstufen auftreten und auf die Männchen allein oder auf beide Geschlechter in entsprechendem Alter vererbt werden. Ich habe aber hier keinen Raum, weiter auf diesen Gegenstand einzugehen.

Wenn daher Männchen und Weibchen einer Thierart die nämliche allgemeine Lebensweise haben, aber in Bau, Farbe oder Schmuck von einander abweichen, so sind nach meiner Meinung diese Verschiedenheiten hauptsächlich durch die geschlechtliche Zuchtwahl verursacht worden; d. h. individuelle Männchen haben in aufeinanderfolgenden Generationen einige kleine Vortheile über andere Männchen gehabt in ihren Waffen, Vertheidigungsmitteln oder Reizen und haben diese Vortheile allein auf ihre männlichen Nachkommen übertragen. Doch möchte ich nicht alle solche Geschlechtsverschiedenheiten aus dieser Quelle ableiten; denn wir sehen bei unsern domesticirten Thieren Eigenthümlichkeiten entstehen und auf das männliche Geschlecht beschränkt werden, welche augenscheinlich nicht durch die Zuchtwahl des Menschen verstärkt worden sind. Der Haarbüschel auf der Brust des Puterhahns kann ihm von keinem Nutzen sein und es ist zweifelhaft ob er für die Augen des Weibchens für ornamental gilt; – und wirklich, hätte sich dieser Büschel erst im Zustande der Zähmung gebildet, er würde eine Monstrosität genannt worden sein.


Erläuterung der Wirkungsweise der natürlichen Zuchtwahl oder des Überlebens des Passendsten.

Um klar zu machen, wie nach meiner Meinung die natürliche Zuchtwahl wirke, muß ich um die Erlaubnis bitten, ein oder zwei erdachte Beispiele zur Erläuterung zu geben. Denken wir uns zunächst einen [112] Wolf, der von verschiedenen Thieren lebt, die er sich theils durch List, theils durch Stärke und theils durch Schnelligkeit verschafft, und nehmen wir an, seine schnellste Beute, eine Hirschart z. B., hätte sich in Folge irgend einer Veränderung in einer Gegend sehr vervielfältigt, oder andere zu seiner Nahrung dienende Thiere hätten sich in der Jahreszeit, wo sich der Wolf seine Beute am schwersten verschaffen kann, sehr vermindert. Unter solchen Umständen hätten die schnellsten und schlanksten Wölfe am meisten Aussicht auf Fortkommen und somit auf Erhaltung und Verwendung zur Nachzucht, immerhin vorausgesetzt, daß sie dabei Stärke genug behielten, um sich ihrer Beute in dieser oder irgend einer anderen Jahreszeit zu bemeistern, wo sie veranlasst sein könnten, auf die Jagd anderer Thiere auszugehen. Ich finde ebenso wenig Ursache daran zu zweifeln, daß dies das Resultat sein würde, als daran, dass der Mensch auch die Schnelligkeit seines Windhundes durch sorgfältige und planmässige Auswahl oder durch jene unbewußte Zuchtwahl zu erhöhen im Stande ist, welche schon stattfindet, wenn nur Jedermann die besten Hunde zu halten strebt, ohne einen Gedanken an Veredelung der Rasse. Ich kann hinzufügen, daß, Herrn Pierce zufolge, zwei Varietäten des Wolfes die Catskill-Berge in den Vereinigten Staaten bewohnen, die eine von leichter windhundartiger Form, welche Hirsche jagt, die andere plumper mit kürzeren Füßen, welche häufiger Schafheerden angreift.

Man muß beachten, daß ich in dem obigen Beispiel von den schlanksten individuellen Wölfen und nicht von einer einzelnen scharf markirten Abänderung sage, daß sie erhalten worden seien. In den früheren Ausgaben dieses Buches sprach ich zuweilen so, als sei diese letzte Alternative häufig eingetreten. Ich bemerkte die große Bedeutung individueller Verschiedenheiten und dies führte mich dazu, ausführlich die Wirkungen einer von Menschen ausgeführten unbewußten Zuchtwahl zu erörtern, welche auf der Erhaltung der mehr oder weniger werthvollen Individuen und der Zerstörung der schlechtesten beruht. Ich bemerkte gleichfalls, daß die Erhaltung irgend einer gelegentlichen Structurabweichung, wie einer Monstrosität, im Naturzustande ein seltenes Ereigniß sein würde, und daß, würde sie anfangs erhalten, sie durch spätere Kreuzung mit gewöhnlichen Individuen allgemein verloren gehen würde. Ehe ich aber einen schönen und werthvollen Artikel in der North British Review (1867) gelesen hatte, versäumte ich doch dem Umstande Gewicht beizulegen, wie selten einzelne [113] Abänderungen, mögen sie unbedeutende oder scharf markirte sein, sich erhalten können. Der Verfasser nimmt den Fall eines Thierpaares an, welches während seiner Lebenszeit zweihundert Nachkommen erzeugt, von denen aber aus verschiedenen zerstörenden Ursachen im Mittel nur zwei überleben und ihre Art fortpflanzen. Für die meisten höheren Thiere ist dies eine extreme Schätzung, aber durchaus nicht so für viele der niedern Organismen. Er zeigt dann, daß, wenn ein einzelnes in irgend einer Weise variirendes Individuum geboren würde und es doppelt so viel Aussicht hätte fortzuleben als die andern Individuen, die Wahrscheinlichkeit doch sehr gegen sein Fortleben sein würde. Angenommen es bliebe leben und pflanzte sich fort und die Hälfte seiner Jungen erbte die günstige Abänderung, so würde das Junge doch, wie der Verfasser weiter zeigt, nur unbedeutend mehr Aussicht haben leben zu bleiben und zu zeugen; und diese Aussicht würde in den folgenden Generationen immer weiter abnehmen. Ich glaube, man kann die Richtigkeit dieser Bemerkungen nicht bestreiten. Wenn z. B. ein Vogel irgend welcher Art sich seine Nahrung leichter durch den Besitz eines gekrümmten Schnabels verschaffen könnte und wenn einer mit einem stark gekrümmten Schnabel geboren würde und demzufolge gut gediehe, so würde doch die Wahrscheinlichkeit sehr gering sein, daß dies eine Individuum seine Form bis zum Verdrängen der gewöhnlichen fortpflanzte. Aber nach dem, was wir im Zustande der Domestication vorgehen sehen, zu urtheilen, kann darüber kaum ein Zweifel sein, daß dies Resultat eintreten würde, wenn viele Generationen hindurch eine große Zahl von Individuen mit mehr oder weniger gebogenen Schnäbeln erhalten und eine noch größere Zahl mit den gerädesten Schnäbeln zerstört würde.

Man darf indessen nicht übersehen, daß gewisse im Ganzen stark ausgeprägte Abänderungen, welche Niemand für bloße individuelle Verschiedenheiten erklären würde, häufig in Folge des Umstandes wiederkehren, daß eine ähnliche Organisation ähnliche Einflüsse erfährt. Von dieser Thatsache könnten aus unsern domesticirten Formen zahlreiche Beispiele angeführt werden. Wenn in solchen Fällen ein variirendes Individuum wirklich seinen Nachkommen nicht seinen neu erlangten Character überlieferte, so würde es, so lange die bestehenden Bedingungen dieselben blieben, ohne Zweifel eine noch stärkere Neigung überliefern, in derselben Weise zu variiren. Es läßt sich auch kaum daran zweifeln, daß die Neigung in einer und derselben Art [114] und Weise zu variiren, häufig so stark gewesen ist, daß alle Individuen derselben Species ohne Hülfe irgend einer Form von Zuchtwahl ähnlich modificirt worden sind. Es könnte aber auch nur der dritte, vierte oder zehnte Theil der Individuen in dieser Weise afficirt worden sein, und solcher Fälle können mehrere angeführt werden. So bildet einer Schätzung Graba’s zufolge ungefähr ein Fünftel der Lumme (Uria) auf den Faröern eine so scharf markirte Varietät, daß sie früher als eine distincte Species bezeichnet wurde unter dem Namen Uria lacrymans. Wenn nun in derartigen Fällen die Abänderung von einer vortheilhaften Natur wäre, so würde die ursprüngliche Form bald in Folge des Überlebens des Passendsten durch die modificirte verdrängt werden.

Auf die Wirkungen der Kreuzung auf das Ausmerzen von Abänderungen aller Art werde ich zurückzukommen haben; es mag indessen hier bemerkt werden, daß die meisten Thiere und Pflanzen an ihrer eigenen Heimath hängen und nicht ohne Noth umher wandern. Wir sehen dies selbst bei Zugvögeln, welche beinahe immer auf denselben Ort zurückkehren. Es würde folglich allgemein jede neu gebildete Varietät zuerst local sein, wie es auch bei Varietäten im Naturzustande die allgemeine Regel zu sein scheint; so daß ähnlich modificirte Individuen bald in einer kleinen Menge zusammen existiren und auch oft zusammen sich fortpflanzen würden. Wäre die neue Varietät in ihrem Kampfe um’s Leben erfolgreich, so würde sie sich langsam von einem centralen Punkte aus verbreiten, an den Rändern des sich stets vergrößernden Kreises mit den unveränderten Individuen concurrirend und dieselben besiegend.

Es dürfte der Mühe werth sein, ein anderes und complicirteres Beispiel für die Wirkung natürlicher Zuchtwahl zu geben. Gewisse Pflanzen scheiden eine süße Flüssigkeit aus, wie es scheint, um irgend etwas Nachtheiliges aus ihrem Safte zu entfernen. Dies wird z. B. bei manchen Leguminosen durch Drüsen am Grunde der Stipulae und beim gemeinen Lorbeer auf dem Rücken seiner Blätter bewirkt. Diese Flüssigkeit, wenn auch nur in geringer Menge vorhanden, wird von Insecten begierig aufgesucht; aber ihre Besuche sind in keiner Weise für die Pflanzen von Vortheil. Nehmen wir nun an, es werde ein wenig solchen süßen Saftes oder Nectars von der inneren Seite der Blüthen einer gewissen Anzahl von Pflanzen irgend einer Species ausgesondert. In diesem Falle werden die Insecten, welche den Nectar aufsuchen, mit [115] Pollen bestäubt werden und denselben oft von einer Blume auf die andere übertragen. Die Blumen zweier verschiedener Individuen einer und derselben Art würden dadurch gekreuzt werden; und die Kreuzung liefert, wie sich vollständig beweisen läßt, kräftige Sämlinge, welche mithin die beste Aussicht haben zu gedeihen und auszudauern. Die Pflanzen mit Blüthen, welche die stärksten Drüsen oder Nectarien besitzen und den meisten Nectar liefern, werden am öftesten von Insecten besucht und am öftesten mit andern gekreuzt werden und so mit der Länge der Zeit allmählich die Oberhand gewinnen und eine locale Varietät bilden. Ebenso werden diejenigen Blüthen, deren Staubfäden und Staubwege so gestellt sind, daß sie je nach Größe und sonstigen Eigenthümlichkeiten der sie besuchenden Insecten in irgend einem Grade die Übertragung ihres Samenstaubs erleichtern, gleicherweise begünstigt. Wir könnten auch den Fall annehmen, die zu den Blumen kommenden Insecten wollten Pollen statt Nectar einsammeln; es wäre nun zwar die Entführung des Pollens, der allein zur Befruchtung der Pflanze erzeugt wird, dem Anscheine nach einfach ein Verlust für dieselbe; wenn jedoch anfangs gelegentlich und nachher gewöhnlich ein wenig Pollen von den ihn verzehrenden Insecten entführt und von Blume zu Blume getragen und hiedurch eine Kreuzung bewirkt würde, möchten auch neun Zehntel der ganzen Pollenmasse zerstört werden, so könnte dies doch für die so beraubten Pflanzen ein großer Vortheil sein, und diejenigen Individuen, welche mehr und mehr Pollen erzeugen und immer größere Antheren bekommen, würden zur Nachzucht gewählt werden.

Wenn nun unsere Pflanze durch lange Fortdauer dieses Processes für die Insecten sehr anziehend geworden ist, so werden diese, ihrerseits ganz unabsichtlich, regelmäßig Pollen von Blüthe zu Blüthe bringen; und daß sie dies sehr wirksam thun, könnte ich durch viele auffallende Beispiele belegen. Ich will nur einen Fall anführen, welcher zugleich als Beispiel eines ersten Schrittes zur Trennung der Geschlechter bei Pflanzen dient. Einige Stechpalmenstämme bringen nur männliche Blüthen hervor, welche vier nur wenig Pollen erzeugende Staubgefässe und ein verkümmertes Pistill enthalten; andere Stämme liefern nur weibliche Blüthen, die ein vollständig entwickeltes Pistill und vier Staubfäden mit verschrumpften Antheren einschließen, in welchen nicht ein Pollenkörnchen zu entdecken ist. Nachdem ich einen weiblichen Stamm genau 60 Yards von einem männlichen entfernt [116] gefunden hatte, nahm ich die Stigmata aus zwanzig Blüthen von verschiedenen Zweigen unter das Mikroscop und entdeckte an allen ohne Ausnahme einige Pollenkörner und an einigen sogar eine ungeheure Menge derselben. Da der Wind schon einige Tage lang vom weiblichen gegen den männlichen Stamm hin geweht hatte, so konnte er nicht den Pollen dahin geführt haben. Das Wetter war schon einige Tage lang kalt und stürmisch und daher nicht günstig für die Bienen gewesen, und demungeachtet war jede von mir untersuchte weibliche Blüthe durch die Bienen befruchtet worden, welche beim Aufsuchen von Nectar von Baum zu Baum geflogen waren. Doch kehren wir nun zu unserem ersonnenen Falle zurück. Sobald jene Pflanze in solchem Grade anziehend für die Insecten gemacht worden ist, daß sie den Pollen regelmäßig von einer Blüthe zur andern tragen, wird ein anderer Proceß beginnen. Kein Naturforscher zweifelt an dem Vortheil der sogenannten „physiologischen Theilung der Arbeit“; daher darf man glauben, es sei nützlich für eine Pflanzenart, in einer Blüthe oder an einem ganzen Stocke nur Staubgefäße und in der andern Blüthe oder auf dem andern Stocke nur Pistille hervorzubringen. Bei cultivirten oder in neue Existenzbedingungen versetzten Pflanzen schlagen manchmal die männlichen und zuweilen die weiblichen Organe mehr oder weniger fehl. Nehmen wir nun an, dies geschehe in einem wenn auch noch so geringen Grade im Naturzustande derselben, so würden, da der Pollen schon regelmäßig von einer Blüthe zur andern geführt wird und eine noch vollständigere Trennung der Geschlechter unserer Pflanze ihr nach dem Principe der Arbeitstheilung vortheilhaft ist, Individuen mit einer mehr und mehr entwickelten Tendenz dazu fortwährend begünstigt und zur Nachzucht ausgewählt werden, bis endlich die Trennung der Geschlechter vollständig wäre. Es würde zu viel Raum erfordern, die verschiedenen Wege, durch Dimorphismus und andere Mittel, nachzuweisen, auf welchen die Trennung der Geschlechter bei Pflanzen verschiedener Arten offenbar jetzt fortschreitet. Indeß will ich noch anführen, daß sich nach Asa Gray einige Arten von Stechpalmen in Nord-America in einem genau intermediären Zustande befinden, deren Blüthen, wie der genannte Botaniker sich ausdrückt, mehr oder weniger diöcisch-polygam sind.

Kehren wir nun zu den von Nectar lebenden Insecten zurück; wir können annehmen, die Pflanze, deren Nectarbildung wir durch fortdauernde Zuchtwahl langsam vergrößert haben, sei eine gemeine Art [117] und gewisse Insecten seien hauptsächlich auf deren Nectar als ihre Nahrung angewiesen. Ich könnte durch viele Beispiele nachweisen, wie sehr die Bienen bestrebt sind, Zeit zu ersparen. Ich will mich nur auf ihre Gewohnheit berufen, in den Grund gewisser Blumen Öffnungen zu schneiden, um durch diese den Nectar zu saugen, in welche sie mit ein wenig mehr Mühe durch die Mündung hinein gelangen könnten. Dieser Thatsachen eingedenk, darf man annehmen, daß unter gewissen Umständen individuelle Verschiedenheiten in der Länge und Krümmung ihres Rüssels u. s. w., wenn auch viel zu unbedeutend für unsere Wahrnehmung, von solchem Nutzen für eine Biene oder ein anderes Insect sein können, daß gewisse Individuen im Stande sind, ihr Futter schneller zu erlangen; die Stöcke, zu denen sie gehören, würden daher gedeihen und viele, dieselben Eigenthümlichkeiten erbende Schwärme ausgehen lassen. Die Röhren der Blumenkronen des rothen und des Incarnatklees (Trifolium pratense und Tr. incarnatum) scheinen bei flüchtiger Betrachtung nicht sehr an Länge von einander abzuweichen; demungeachtet kann die Honig- oder Korbbiene (Apis mellifica) den Nectar leicht aus dem Incarnatklee, aber nicht aus dem rothen saugen, welcher daher nur von Hummeln besucht wird; ganze Felder rothen Klee’s bieten daher der Korbbiene vergebens einen Überfluß von köstlichem Nectar dar. Daß die Korbbiene diesen Nectar außerordentlich liebt, ist gewiß; denn ich habe wiederholt, obschon bloß im Herbst, viele dieser Bienen den Nectar durch Löcher an der Basis der Blüthenröhre aussaugen sehen, welche die Hummeln in die Basis der Corolle gebissen hatten. Die Verschiedenheit in der Länge der Corolle bei beiden Kleearten, von welchen der Besuch der Honigbiene abhängt, muß sehr unbedeutend sein; denn mir ist versichert worden, daß, wenn rother Klee gemäht worden ist, die Blüthen des zweiten Triebs etwas kleiner sind und außerordentlich zahlreich von Bienen besucht werden. Ich weiß nicht, ob diese Angabe richtig, ebenso ob die andere Mittheilung zuverlässig ist, daß nämlich die ligurische (italienische) Biene, welche allgemein nur als Varietät angesehen wird und sich reichlich mit der gemeinen Honigbiene kreuzt, im Stande ist, den Nectar des gewöhnlichen rothen Klees zu erreichen und zu saugen. In einer Gegend, wo diese Kleeart reichlich vorkommt, kann es daher für die Honigbiene von großem Vortheil sein, einen ein wenig längeren oder verschieden gebauten Rüssel zu besitzen. Da auf der andern Seite die Fruchtbarkeit dieses Klees absolut davon abhängt, [118] daß Bienen die Blüthen besuchen, so würde, wenn die Hummeln in einer Gegend selten werden sollten, eine kürzere oder tiefer getheilte Blumenkrone von größtem Nutzen für den rothen Klee werden, damit die Honigbienen in den Stand gesetzt würden, an ihren Blüthen zu saugen. Auf diese Weise begreife ich, wie eine Blüthe und eine Biene nach und nach, sei es gleichzeitig oder eins nach dem andern, abgeändert und auf die vollkommenste Weise einander angepaßt werden können, und zwar durch fortwährende Erhaltung von Individuen mit beiderseits nur ein wenig einander günstigeren Abweichungen der Structur.

Ich weiß wohl, daß die durch die vorangehenden ersonnenen Beispiele erläuterte Lehre von der natürlichen Zuchtwahl denselben Einwendungen ausgesetzt ist, welche man anfangs gegen Ch. Lyell’s großartige Ansichten in „the Modern Changes of the Earth, as illustrative of Geology“ vorgebracht hat; indessen hört man jetzt die Wirkung der jetzt noch thätigen Momente in ihrer Anwendung auf die Aushöhlung riesiger Thäler oder auf die Bildung der längsten binnenländischen Klippenlinien selten mehr als eine unwichtige und unbedeutende Ursache bezeichnen. Die natürliche Zuchtwahl wirkt nur durch Erhaltung und Häufung kleiner vererbter Modificationen, deren jede dem erhaltenen Wesen von Vortheil ist; und wie die neuere Geologie solche Ansichten, wie die Aushöhlung großer Thäler durch eine einzige Diluvialwoge, fast ganz verbannt hat, so wird auch die natürliche Zuchtwahl den Glauben an eine fortgesetzte Schöpfung neuer organischer Wesen oder an große und plötzliche Modificationen ihrer Structur verbannen.


Über die Kreuzung der Individuen.

Ich muß hier eine kleine Digression einschalten. Es liegt natürlich auf der Hand, daß bei Pflanzen und Thieren getrennten Geschlechtes jedesmal (mit Ausnahme der merkwürdigen und noch nicht aufgeklärten Fälle von Parthenogenesis) zwei Individuen sich zur Zeugung vereinigen müssen. Bei Hermaphroditen aber ist dies keineswegs einleuchtend. Demungeachtet haben wir Grund zu glauben, daß bei allen Hermaphroditen zwei Individuen gewöhnlich oder nur gelegentlich zur Fortpflanzung ihrer Art zusammenwirken. Diese Ansicht wurde vor langer Zeit in zweifelhafter Weise von Sprengel, Knight und Kölreuter hingestellt. Wir werden sogleich ihre Wichtigkeit erkennen. [119] Zwar kann ich diese Frage nur in äußerster Kürze abhandeln; jedoch habe ich die Materialien für eine ausführlichere Erörterung vorbereitet. Alle Wirbelthiere, alle Insecten und noch einige andere große Thiergruppen paaren sich für jede Geburt. Neuere Untersuchungen haben die Anzahl früher angenommener Hermaphroditen sehr vermindert, und von den wirklichen Hermaphroditen paaren sich viele, d. h. zwei Individuen vereinigen sich regelmäßig zur Reproduction; dies ist alles, was uns hier angeht. Doch gibt es auch viele andere hermaphrodite Thiere, welche sich gewiß gewöhnlich nicht paaren, und die ungeheure Majorität der Pflanzen sind Hermaphroditen. Man kann nun fragen, was ist in diesen Fällen für ein Grund zur Annahme vorhanden, daß jedesmal zwei Individuen zur Reproduction zusammenwirken? Da es hier nicht möglich ist, in Einzelnheiten einzugehen, so muß ich mich auf einige allgemeine Betrachtungen beschränken.

Für’s Erste habe ich eine so große Masse von Thatsachen gesammelt und so viele Versuche angestellt, – welche übereinstimmend mit der fast allgemeinen Überzeugung der Züchter beweisen, daß bei Thieren wie bei Pflanzen eine Kreuzung zwischen verschiedenen Varietäten, oder zwischen Individuen einer und derselben Varietät, aber von verschiedenen Linien, der Nachkommenschaft Stärke und Fruchtbarkeit verleiht, und andererseits, daß enge Inzucht Kraft und Fruchtbarkeit vermindert, – daß diese Thatsachen allein mich glauben machen, es sei ein allgemeines Naturgesetz, daß kein organisches Wesen sich selbst für eine Ewigkeit von Generationen befruchten könne, daß vielmehr eine Kreuzung mit einem andern Individuum von Zeit zu Zeit, vielleicht nach langen Zwischenräumen, unentbehrlich sei.

Von dem Glauben ausgehend, daß dies ein Naturgesetz sei, werden wir, meine ich, verschiedene große Classen von Thatsachen, wie z. B. die folgenden, verstehen, welche nach jeder andern Ansicht unerklärlich sind. Jeder Blendlingszüchter weiß, wie nachtheilig für die Befruchtung einer Blüthe es ist, wenn sie der Feuchtigkeit ausgesetzt wird. Und doch, was für eine Menge von Blüthen haben Staubbeutel und Narben vollständig dem Wetter ausgesetzt! Ist aber eine Kreuzung von Zeit zu Zeit unerläßlich, so erklärt sich dieses Ausgesetztsein aus der Nothwendigkeit, daß die Blumen für den Eintritt fremden Pollens völlig offen seien, und zwar um so mehr, als die eigenen Staubgefässe und Pistille der Blüthe gewöhnlich so nahe beisammen stehen, daß Selbstbefruchtung unvermeidlich scheint. Andererseits [120] aber haben viele Blumen ihre Befruchtungswerkzeuge sehr enge eingeschlossen, wie die Papilionaceen z. B.; aber diese Blumen bieten beinahe ausnahmslos sehr schöne und merkwürdige Anpassungen in Beziehung zum Besuche der Insecten dar. Zur Befruchtung der Schmetterlingsblüthen ist der Besuch der Bienen so nothwendig, daß ihre Fruchtbarkeit sehr abnimmt, wenn dieser Besuch verhindert wird. Nun ist es aber kaum möglich, daß Insecten von Blüthe zu Blüthe fliegen, ohne zum großen Vortheil der Pflanze den Pollen der einen zur andern zu bringen. Die Insecten wirken dabei wie ein Kameelhaarpinsel, und es ist ja vollkommen zur Befruchtung genügend, wenn man mit einem und demselben Pinselchen zuerst das Staubgefäß der einen Blume und dann die Narbe der andern berührt. Man darf aber nicht vermuthen, daß die Bienen hierdurch viele Bastarde zwischen verschiedenen Arten erzeugen; denn, wenn man den eigenen Pollen einer Pflanze und den einer andern Art auf dieselbe Narbe streicht, so hat der erste eine so überwiegende Wirkung, daß er, wie schon Gärtner gezeigt hat, jeden Einfluß des andern ausnahmslos und vollständig zerstört.

Wenn die Staubgefäße einer Blüthe sich plötzlich gegen das Pistill schnellen oder sich eines nach dem andern langsam gegen dasselbe neigt, so scheint diese Einrichtung nur auf Sicherung der Selbstbefruchtung berechnet, und ohne Zweifel ist sie auch für diesen Zweck von Nutzen. Aber die Thätigkeit der Insecten ist oft nothwendig, um die Staubfäden vorschnellen zu machen, wie Kölreuter beim Sauerdorn gezeigt hat; und gerade bei dieser Gattung (Berberis), welche so vorzüglich zur Selbstbefruchtung eingerichtet zu sein scheint, hat man die bekannte Thatsache beobachtet, daß, wenn man nahe verwandte Formen oder Varietäten dicht neben einander pflanzt, es in Folge der reichlichen von selbst eintretenden Kreuzung kaum möglich ist, noch reine Sämlinge zu erhalten. In vielen andern Fällen aber findet man statt der Einrichtungen zur Begünstigung der Selbstbefruchtung weit mehr speciell solche, welche sehr wirksam verhindern, daß das Stigma den Samenstaub der nämlichen Blüthe erhalte, wie ich aus C. Sprengel’s und Andrer Werke, ebenso wie nach meinen eignen Beobachtungen nachweisen könnte. So ist z. B. bei Lobelia fulgens eine wirklich schöne und sehr künstliche Einrichtung vorhanden, wodurch jedes der unendlich zahlreichen Pollenkörnchen aus den verwachsenen Antheren einer jeden Blüthe fortgeführt wird, ehe das Stigma [121] derselben individuellen Blüthe bereit ist, dieselben aufzunehmen. Da nun, wenigstens in meinem Garten, diese Blüthen niemals von Insecten besucht werden, so haben sie auch niemals Samen angesetzt, trotzdem ich dadurch, daß ich auf künstlichem Wege den Pollen einer Blüthe auf die Narbe der andern übertrug, mich in den Besitz zahlreicher Sämlinge zu setzen vermochte. Eine andere Lobelia-Art, die von Bienen besucht wird, bildet dagegen reichlich Samen. In sehr vielen anderen Fällen, wo zwar keine besondere mechanische Einrichtung vorhanden ist, um das Stigma einer Blume an der Aufnahme des eigenen Samenstaubs zu hindern, platzen aber doch entweder, wie sowohl Sprengel als neuerdings Hildebrand und Andere gefunden, die Staubbeutel schon, bevor die Narbe zur Befruchtung reif ist, oder das Stigma ist vor dem Pollen derselben Blüthe reif, so daß diese sogenannten dichogamen Pflanzen in der That getrennte Geschlechter haben und sich fortwährend kreuzen müssen. So verhält es sich mit den früher erwähnten wechselseitig dimorphen und trimorphen Pflanzen. Wie wundersam erscheinen diese Thatsachen! Wie wundersam, daß der Pollen und die Oberfläche des Stigmas einer und derselben Blüthe, die doch so nahe zusammengerückt sind, als sollte dadurch die Selbstbefruchtung unvermeidlich werden, in so vielen Fällen völlig unnütz für einander sind! Wie einfach sind dagegen diese Thatsachen aus der Annahme zu erklären, daß von Zeit zu Zeit eine Kreuzung mit einem anderen Individuum vortheilhaft oder sogar unentbehrlich ist!

Wenn man verschiedene Varietäten von Kohl, Rettig, Lauch u. e. a. Pflanzen sich dicht neben einander besamen läßt, so erweist sich die Mehrzahl der Sämlinge, wie ich gefunden habe, als Blendlinge. So erzog ich z. B. 233 Kohlsämlinge aus einigen Stöcken von verschiedenen Varietäten, die nahe bei einander wuchsen, und von diesen entsprachen nur 78 der Varietät des Stocks, von dem die Samen eingesammelt worden waren, und selbst diese waren nicht alle echt. Nun ist aber das Pistill einer jeden Kohlblüthe nicht allein von deren eignen sechs Staubgefäßen, sondern auch von denen aller übrigen Blüthen derselben Pflanze nahe umgeben und der Pollen jeder Blüthe gelangt ohne Insectenhülfe leicht auf deren eigenes Stigma; denn ich habe gefunden, daß eine sorgfältig gegen Insecten geschützte Pflanze die volle Zahl von Schoten entwickelte. Wie kommt es nun aber, daß sich eine so große Anzahl von Sämlingen als Blendlinge erwies? Ich vermuthe, daß es davon herrühren muß, daß der Pollen einer verschiedenen [122] Varietät eine überwiegende Wirkung über den eigenen Pollen äußerst und zwar eben in Folge des allgemeinen Naturgesetzes, daß die Kreuzung zwischen verschiedenen Individuen derselben Species für diese nützlich ist. Werden dagegen verschiedene Arten mit einander gekreuzt, so ist der Erfolg gerade umgekehrt, indem der eigene Pollen einer Art einen über den der andern überwiegenden Einfluß hat. Doch auf diesen Gegenstand werde ich in einem späteren Capitel zurückkommen.

Handelt es sich um mächtige mit zahllosen Blüthen bedeckte Bäume, so kann man einwenden, daß deren Pollen nur selten von einem Baume auf den andern übertragen werden und höchstens nur von einer Blüthe auf eine andere Blüthe desselben Baumes gelangen kann, daß aber die einzelnen Blüthen eines Baumes nur in einem beschränkten Sinne als verschiedene Individuen angesehen werden können. Ich halte diese Einrede für triftig; doch hat die Natur in dieser Hinsicht vorgesorgt, indem sie den Bäumen eine starke Neigung zur Bildung von Blüthen getrennten Geschlechtes gegeben hat. Sind die Geschlechter getrennt, wenn gleich männliche und weibliche Blüthen auf einem Stamme vereinigt sein können, so muß regelmäßig Pollen von einer Blüthe zur andern geführt werden; und dies vergrößert die Wahrscheinlichkeit, daß gelegentlich auch Pollen von einem Baume zum andern gebracht wird. Ich finde, daß in unseren Gegenden Bäume, welche zu allen möglichen Ordnungen gehören, öfter als andere Pflanzen getrennte Geschlechter haben, und tabellarische Zusammenstellung der neuseeländischen Bäume, welche Dr. Hooker, und der Vereinigten Staaten, welche Asa Gray mir auf meine Bitte gegeben, haben zu demselben vorausbestimmten Ergebnisse geführt. Doch hat mir andererseits Dr. Hooker neuerlich mitgetheilt, daß diese Regel nicht für Australien gelte; wenn aber die meisten australischen Bäume dichogam sind, so ist das Resultat dasselbe, als wenn sie Blüthen mit getrennten Geschlechtern bringen. Ich habe diese wenigen Bemerkungen über die Geschlechtsverhältnisse der Bäume nur machen wollen, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

Um nun auch kurz der Thiere zu gedenken, so gibt es unter den Landbewohnern mehrere Zwitterformen, wie Schnecken und Regenwürmer; aber diese paaren sich alle. Ich habe noch kein Beispiel kennen gelernt, wo ein Landthier sich selbst befruchten könne. Man kann diese merkwürdige Thatsache, welche einen so schroffen Gegensatz zu [123] den Landpflanzen bildet, nach der Ansicht, daß eine Kreuzung von Zeit zu Zeit unumgänglich nöthig sei, erklären; denn wegen der Beschaffenheit des befruchtenden Elementes gibt es kein Mittel, durch welches, wie durch Insecten und Wind bei den Pflanzen, eine gelegentliche Kreuzung zwischen Landthieren anders bewirkt werden könnte, als durch die unmittelbare Zusammenwirkung der beiderlei Individuen. Bei den Wasserthieren dagegen gibt es viele sich selbst befruchtende Hermaphroditen; hier liefern aber die Strömungen des Wassers ein handgreifliches Mittel für gelegentliche Kreuzungen. Und wie bei den Pflanzen, so habe ich auch bei den Thieren, sogar nach Besprechung mit einer der ersten Autoritäten, mit Professor Huxley, vergebens gesucht, auch nur eine hermaphroditische Thierart zu finden, deren Geschlechtsorgane so vollständig im Körper eingeschlossen wären, daß ihre Erreichung von außen her und dadurch der gelegentliche Einfluß eines andern Individuum physisch unmöglich gemacht würde. Die Cirripeden schienen mir zwar langezeit einen in dieser Beziehung sehr schwierigen Fall darzubieten; ich bin aber durch einen glücklichen Umstand in die Lage gesetzt gewesen, schon anderwärts zeigen zu können, daß zwei Individuen, wenn sie auch beide in der Regel sich selbst befruchtende Zwitter sind, sich doch zuweilen kreuzen.

Es muß den meisten Naturforschern als eine sonderbare Ausnahme schon aufgefallen sein, daß sowohl bei Pflanzen als Thieren mehrere Arten in einer Familie und oft sogar in einer Gattung beisammen stehen, welche, obwohl im größeren Theile ihrer übrigen Organisation unter sich nahe übereinstimmend, doch nicht selten die einen von ihnen Zwitter und die anderen eingeschlechtig sind. Wenn aber auch alle Hermaphroditen sich von Zeit zu Zeit mit andern Individuen kreuzen, so wird in der That der Unterschied zwischen hermaphroditischen und eingeschlechtigen Arten, was ihre Geschlechtsfunctionen betrifft, ein sehr kleiner.

Nach diesen mancherlei Betrachtungen und den vielen einzelnen Fällen, die ich gesammelt habe, jedoch hier nicht mittheilen kann, scheint im Pflanzen- wie im Thierreiche eine von Zeit zu Zeit erfolgende Kreuzung zwischen verschiedenen Individuen ein sehr allgemein wenn nicht universell gültiges Naturgesetz zu sein.

[124]
Umstände, welche der Bildung neuer Formen durch natürliche Zuchtwahl günstig sind.

Dies ist ein äußerst verwickelter Gegenstand. Eine große Summe von Veränderlichkeit, unter welchem Ausdruck individuelle Verschiedenheiten stets mit einverstanden werden, wird offenbar der Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl günstig sein. Eine große Anzahl von Individuen gleicht dadurch, daß sie mehr Aussicht auf das Hervortreten nutzbarer Abänderungen in einem gegebenen Zeitraum darbietet, einen geringeren Betrag von Veränderlichkeit in jedem einzelnen Individuum aus und ist, wie ich glaube, eine äußerst wichtige Bedingung des Erfolges. Obwohl die Natur lange Zeiträume für die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl gewährt, so gestattet sie doch keine von unendlicher Länge; denn da alle organischen Wesen eine Stelle im Haushalte der Natur einzunehmen streben, so muß eine Art, welche nicht gleichen Schrittes mit ihren Concurrenten verändert und verbessert wird, bald erlöschen. Wenn vortheilhafte Abänderungen sich nicht wenigstens auf einige Nachkommen vererben, so vermag die natürliche Zuchtwahl nichts auszurichten. Die Neigung zum Rückschlag mag die Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl oft gehemmt oder aufgehoben haben: da jedoch diese Neigung den Menschen nicht an der Bildung so vieler erblichen Rassen im Thier- wie im Pflanzenreiche gehindert hat, wie sollte sie die Vorgänge der natürlichen Zuchtwahl verhindert haben?

Bei planmäßiger Zuchtwahl wählt der Züchter nach einem bestimmten Zwecke, und ließe er die Individuen sich frei kreuzen, so würde sein Werk gänzlich fehlschlagen. Haben aber viele Menschen, ohne die Absicht ihre Rasse zu veredeln, ungefähr gleiche Ansichten von Vollkommenheit, und sind alle bestrebt, nur die besten und vollkommensten Thiere zu erhalten und zur Nachzucht zu verwenden, so wird, wenn auch langsam, doch sicher aus diesem unbewußten Processe der Zuchtwahl eine Verbesserung hervorgehen, trotzdem daß keine Trennung der zur Zucht ausgewählten Thiere stattfindet. So wird es auch in der Natur sein. Findet sich ein beschränktes Gebiet mit einer nicht so vollkommen ausgefüllten Stelle wie es wohl sein könnte in ihrer geselligen Zusammensetzung, so wird die natürliche Zuchtwahl bestrebt sein, alle Individuen zu erhalten, die, wenn auch in verschiedenem Grade, doch in der angemessenen Richtung so variiren, daß sie die [125] Stelle allmählich besser auszufüllen im Stande sind. Ist jenes Gebiet aber sehr groß, so werden seine verschiedenen Bezirke fast sicher ungleiche Lebensbedingungen darbieten; und wenn dann durch den Einfluß der natürlichen Zuchtwahl eine Species in den verschiedenen Bezirken abgeändert wird, so wird an den Grenzen dieser Bezirke eine Kreuzung der neu gebildeten Varietäten eintreten. Wir werden aber im sechsten Capitel sehen, daß intermediäre Varietäten, welche intermediäre Bezirke bewohnen, in der Länge der Zeit allgemein von einer der Varietäten auf beiden Seiten verdrängt werden. Die Kreuzung wird hauptsächlich diejenigen Thiere berühren, welche sich zu jeder Fortpflanzung paaren, viel wandern und sich nicht rasch vervielfältigen. Daher bei Thieren dieser Art, Vögeln z. B., Varietäten gewöhnlich auf getrennte Gegenden beschränkt sein werden, wie es auch, wie ich finde, der Fall ist. Bei Zwitterorganismen, welche sich nur von Zeit zu Zeit mit andern kreuzen, sowie bei solchen Thieren, die zu jeder Verjüngung ihrer Art sich paaren, aber wenig wandern und sich sehr rasch vervielfältigen können, dürfte sich eine neue und verbesserte Varietät an irgend einer Stelle rasch bilden und sich dort in Masse zusammenhalten und später ausbreiten, so daß sich die Individuen der neuen Varietät hauptsächlich mit einander kreuzen würden. Nach diesem Principe ziehen Pflanzschulenbesitzer es immer vor, Samen von einer großen Pflanzenmasse gleicher Varietät zu ziehen, weil hierdurch die Möglichkeit einer Kreuzung mit anderen Varietäten gemindert wird.

Selbst bei Thieren mit langsamer Vermehrung, die sich zu jeder Fortpflanzung paaren, dürfen wir nicht annehmen, daß die Wirkungen der natürlichen Zuchtwahl stets durch freie Kreuzung beseitigt werden; denn ich kann eine lange Liste von Thatsachen beibringen, woraus sich ergibt, daß innerhalb eines und desselben Gebietes Varietäten der nämlichen Thierart lange unterschieden bleiben können, weil sie verschiedene Stationen innehaben, in etwas verschiedener Jahreszeit sich fortpflanzen, oder nur Individuen von einerlei Varietät sich einander zu paaren vorziehen.

Kreuzung spielt in der Natur insofern eine große Rolle, als sie die Individuen einer Art oder einer Varietät rein und einförmig in ihrem Character erhält. Sie wird dies offenbar weit wirksamer zu thun vermögen bei solchen Thieren, die sich für jede Fortpflanzung paaren; aber wie ich schon vorher angegeben habe, haben wir zu [126] vermuthen Ursache, daß bei allen Pflanzen und bei allen Thieren von Zeit zu Zeit Kreuzungen erfolgen; – und wenn dies auch nur nach langen Zwischenräumen wieder einmal erfolgt, so werden die hierbei erzielten Abkömmlinge die durch lange Selbstbefruchtung erzielte Nachkommenschaft an Stärke und Fruchtbarkeit so sehr übertreffen, daß sie mehr Aussicht haben dieselben zu überleben und sich fortzupflanzen; und so wird auf die Länge der Einfluß der wenn auch nur seltenen Kreuzungen doch groß sein. In Bezug auf organische Wesen, welche äußerst niedrig auf der Stufenleiter stehen, welche sich nicht geschlechtlich fortpflanzen und nicht conjugiren, welche sich also unmöglich kreuzen können, ist zu bemerken, daß bei ihnen eine Gleichförmigkeit des Characters, so lange ihre äußeren Lebensbedingungen die nämlichen bleiben, nur in Folge der Vererbung und in Folge der natürlichen Zuchtwahl, welche jede zufällige Abweichung von dem eigenen Typus immer wieder zerstört, erhalten werden kann. Wenn aber die Lebensbedingungen sich ändern und jene Wesen Abänderungen erleiden, so kann ihre hiernach abgeänderte Nachkommenschaft nur dadurch Einförmigkeit des Characters behaupten, daß natürliche Zuchtwahl ähnliche vortheilhafte Abänderungen erhält.

Auch die Isolirung ist ein wichtiges Element bei der durch natürliche Zuchtwahl bewirkten Veränderung der Arten. In einem umgrenzten oder isolirten Gebiete werden, wenn es nicht sehr groß ist, die organischen wie die unorganischen Lebensbedingungen gewöhnlich beinahe einförmig sein; so daß die natürliche Zuchtwahl streben wird, alle veränderlichen Individuen einer und derselben Art in gleicher Weise zu modificiren. Auch Kreuzungen mit solchen Individuen derselben Art, welche die den Bezirk umgrenzenden Gegenden bewohnen, werden hier verhindert. Moritz Wagner hat vor kurzem einen interessanten Aufsatz über diesen Gegenstand veröffentlicht und gezeigt, daß der in Bezug auf das Verhindern von Kreuzungen zwischen neu gebildeten Varietäten durch Isolirung geleistete Dienst wahrscheinlich selbst noch größer ist, als ich angenommen hatte. Aber aus bereits angeführten Gründen kann ich darin mit diesem Naturforscher durchaus nicht übereinstimmen, daß Wanderungen und Isolirung zur Bildung neuer Arten nothwendige Momente seien. Die Bedeutung der Isolirung ist aber ferner insofern groß, als sie nach irgend einem physikalischen Wechsel im Clima, in der Höhe des Landes u. s. w. die Einwanderung besser passender Organismen hindert; es bleiben daher die neuen Stellen [127] im Naturhaushalte der Gegend offen für die Bewerbung und Anpassung der alten Bewohner. Isolirung wird endlich Zeit geben, daß eine neue Varietät langsam verbessert wird; und dies kann mitunter von großer Bedeutung sein. Wenn dagegen ein isolirtes Gebiet sehr klein ist, entweder der dasselbe umgebenden Schranken halber oder in Folge seiner ganz eigenthümlichen physikalischen Verhältnisse, so wird nothwendig auch die Gesammtzahl seiner Bewohner sehr klein sein; und geringe Individuenzahl verzögert sehr die Bildung neuer Arten durch natürliche Zuchtwahl, weil sie die Wahrscheinlichkeit des Auftretens günstiger individueller Verschiedenheiten vermindert.

Der bloße Verlauf der Zeit an und für sich thut nichts für und nichts gegen die natürliche Zuchtwahl. Ich bemerke dies ausdrücklich, weil man irrig behauptet hat, daß ich dem Zeitelement einen allmächtigen Antheil bei der Modification der Arten zugestehe, als ob alle Lebensformen mit der Zeit nothwendig durch die Wirksamkeit eines in ihnen liegenden Gesetzes eine allmähliche Veränderung erfahren müßten. Zeit ist aber nur insofern von Bedeutung, und hier zwar von großer Bedeutung, als sie überhaupt mehr Aussicht darbietet, daß wohlthätige Abänderungen auftreten, und daß sie zur Zucht gewählt, gehäuft und fixirt werden. Auch strebt sie die directe Wirkung der physikalischen Lebensbedingungen in Beziehung zur Constitution eines jeden Organismus zu vergrößern.

Wenden wir uns zur Prüfung der Wahrheit dieser Bemerkungen an die Natur und betrachten wir irgend ein kleines abgeschlossenes Gebiet, eine oceanische Insel z. B., so werden wir finden, daß, obwohl die Gesammtzahl der dieselbe bewohnenden Arten nur klein ist, wie sich in dem Capitel über geographische Verbreitung ergeben wird, doch eine verhältnißmäßig sehr große Zahl dieser Arten endemisch ist, d. h. hier an Ort und Stelle und nirgend anderwärts erzeugt worden ist. Auf den ersten Anblick scheint es demnach, als müsse eine oceanische Insel außerordentlich günstig zur Hervorbringung neuer Arten gewesen sein. Wir dürften uns aber hierin sehr täuschen; denn um thatsächlich zu ermitteln, ob ein kleines abgeschlossenes Gebiet oder eine weite offene Fläche wie ein Continent für die Erzeugung neuer organischer Formen mehr geeignet gewesen sei, müßten wir auch die Vergleichung innerhalb gleich-langer Zeiträume anstellen können, und dies sind wir nicht im Stande zu thun.

Obwohl nun Isolirung bei Erzeugung neuer Arten ein sehr wichtiger [128] Umstand ist, so möchte ich doch im Ganzen genommen glauben, daß große Ausdehnung des Gebietes noch wichtiger insbesondere für die Hervorbringung solcher Arten ist, die sich einer langen Dauer und weiten Verbreitung fähig zeigen sollen. Über einen großen und offenen Bezirk hin wird nicht nur die Aussicht für das Auftreten vortheilhafter Abänderungen wegen der größeren Anzahl sich dort erhaltender Individuen einer Art günstiger, es werden auch die Lebensbedingungen wegen der großen Anzahl schon vorhandener Arten viel zusammengesetzter sein; und wenn einige von diesen zahlreichen Arten verändert oder verbessert werden, so müssen auch andere in entsprechendem Grade verbessert werden oder sie gehen unter. Eben so wird jede neue Form, sobald sie sich bedeutend verbessert hat, fähig sein, sich über das offene und zusammenhängende Gebiet auszubreiten, und wird hierdurch in Concurrenz mit vielen anderen treten. Außerdem aber mögen große Flächen, wenn sie auch jetzt zusammenhängend sind, in Folge der Schwankungen ihrer Oberfläche, oft noch unlängst von unterbrochener Beschaffenheit gewesen sein, so daß hier die guten Wirkungen der Isolirung allgemein bis zu einem gewissen Grade mit concurrirt haben werden. Ich komme demnach zum Schlusse, daß, wenn kleine abgeschlossene Gebiete auch in manchen Beziehungen wahrscheinlich in hohem Grade für die Erzeugung neuer Arten günstig gewesen sind, doch auf großen Flächen die Abänderungen im Allgemeinen rascher erfolgt sein werden; und, was noch wichtiger ist, die auf den großen Flächen entstandenen neuen Formen, welche bereits den Sieg über viele Mitbewerber davongetragen haben, werden solche sein, die sich am weitesten verbreiten und die zahlreichsten neuen Varietäten und Arten liefern. Sie spielen mithin eine bedeutungsvollere Rolle in der wechselnden Geschichte der organischen Welt.

Wir können von diesen Gesichtspunkten aus vielleicht einige Thatsachen verstehen, welche in unserem Capitel über die geographische Verbreitung nochmals werden erwähnt werden, z. B. die Thatsache, daß die Erzeugnisse des kleineren australischen Continentes jetzt vor denen des größeren europäisch-asiatischen Bezirkes im Weichen begriffen sind. Daher kommt es ferner, daß festländische Erzeugnisse allenthalben so reichlich auf Inseln naturalisirt worden sind. Auf einer kleinen Insel wird der Wettkampf um’s Dasein viel weniger heftig, Modificationen werden weniger und Aussterben geringer gewesen sein. Wir können hiernach einsehen, woher es kommt, daß die Flora von [129] Madeira nach Oswald Heer in einem gewissen Grade der erloschenen Tertiärflora Europas gleicht. Alle Süßwasserbecken zusammengenommen nehmen dem Meere wie dem trockenen Lande gegenüber nur eine kleine Fläche ein, und demgemäß wird die Concurrenz zwischen den Süßwasser-Erzeugnissen minder heftig gewesen sein als anderwärts; neue Formen werden langsamer entstanden und alte langsamer erloschen sein. Und gerade im süßen Wasser finden wir sieben Gattungen ganoider Fische als übriggebliebene Vertreter einer einst vorherrschenden Ordnung dieser Classe; und im süßen Wasser finden wir auch einige der anomalsten Wesen, welche auf der Erde bekannt sind, den Ornithorhynchus und den Lepidosiren, welche gleich fossilen Formen bis zu gewissem Grade solche Ordnungen miteinander verbinden, welche jetzt auf der natürlichen Stufenleiter weit von einander entfernt stehen. Man kann daher diese anomalen Formen immerhin „lebende Fossile“ nennen. Sie haben ausgedauert bis auf den heutigen Tag, weil sie eine beschränkte Fläche bewohnt haben und in Folge dessen einer weniger verschiedenartigen und deßhalb minder heftigen Concurrenz ausgesetzt gewesen sind.

Fassen wir die der natürlichen Zuchtwahl günstigen und ungünstigen Umstände schließlich zusammen, so weit die äußerst verwickelte Beschaffenheit des Gegenstandes solches gestattet. Ich gelange zum Schlusse: daß für Landerzeugnisse ein großer continentaler Bezirk, welcher vielfältige Höhenwechsel erfahren hat, für Hervorbringung vieler neuen zu langer Dauer und weiter Verbreitung geeigneten Lebensformen die günstigsten Bedingungen dargeboten hat. So lange ein solcher Bezirk ein Festland war, werden seine Bewohner zahlreich an Arten und Individuen gewesen und sehr lebhafter Concurrenz ausgesetzt gewesen sein. Ist sodann der Continent durch Senkungen in große Inseln geschieden worden, so werden noch immer viele Individuen derselben Art auf jeder Insel übrig geblieben sein; eine Kreuzung wird an den Grenzen des Verbreitungsbezirks jeder neuen Art verhindert worden sein. Nach irgend welchen physikalischen Veränderungen konnten keine Einwanderungen mehr stattfinden, daher die neu entstehenden Stellen in dem Naturhaushalt jeder Insel durch Abänderungen ihrer alten Bewohner ausgefüllt werden mußten. Um die Varietäten einer jeden gehörig umzugestalten und zu vervollkommnen, wird Zeit gelassen worden sein. Wurden durch eine neue Hebung die Inseln wieder in ein Festlandgebiet verwandelt, so wird wieder eine [130] heftige Concurrenz eingetreten sein. Die am meisten begünstigten oder verbesserten Varietäten werden im Stande gewesen sein, sich auszubreiten, viele minder vollkommene Formen werden erloschen sein und die Verhältniszahlen der verschiedenen Bewohner des wieder vereinigten Continents werden sich wieder bedeutend geändert haben. Es wird daher wiederum der natürlichen Zuchtwahl ein reiches Feld zur ferneren Verbesserung der Bewohner und zur Hervorbringung neuer Arten geboten sein.

Ich gebe vollkommen zu, daß die natürliche Zuchtwahl immer mit äußerster Langsamkeit wirkt. Sie kann nur dann wirken, wenn in dem Naturhaushalte eines Gebietes Stellen vorhanden sind, welche dadurch besser besetzt werden können, daß einige seiner Bewohner irgend welche Abänderung erfahren. Das Vorhandensein solcher Stellen wird oft von gewöhnlich sehr langsam eintretenden physikalischen Veränderungen und davon abhängen, daß die Einwanderung besser anpassender Formen gehindert ist. Da einige wenige der alten Bewohner Abänderungen erleiden, so werden die Wechselbeziehungen anderer Bewohner zu einander häufig gestört werden; und dies schafft neue Stellen, welche geeignet sind, von besser angepaßten Formen ausgefüllt zu werden. Obgleich alle Individuen einer und derselben Art in einem gewissen geringen Grade von einander verschieden sind, so wird es häufig lange dauern, ehe Verschiedenheiten der richtigen Art in den verschiedenen Theilen der Organisation eintreten. Durch häufige Kreuzung wird der Proceß oft sehr verlangsamt werden. Viele werden der Meinung sein, daß diese verschiedenen Ursachen ganz genügend seien, um die Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl vollständig aufzuheben; ich bin jedoch nicht dieser Ansicht. Ich glaube aber, daß natürliche Zuchtwahl im Hervorbringen von Veränderungen meist sehr langsam wirkt, nur in langen Zwischenräumen und gewöhnlich nur bei sehr wenigen Bewohnern einer Gegend zugleich. Ich glaube ferner, daß diese langsamen und aussetzenden Erfolge der natürlichen Zuchtwahl ganz gut dem entsprechen, was uns die Geologie in Bezug auf die Ordnung und Art der Veränderung lehrt, welche die Bewohner der Erde allmählich erfahren haben.

Wie langsam aber auch der Proceß der Zuchtwahl sein mag: wenn der schwache Mensch in kurzer Zeit schon so viel durch seine künstliche Zuchtwahl thun kann, so vermag ich keine Grenze für den Umfang der Veränderungen, für die Schönheit und endlose Verflechtung [131] der Anpassungen aller organischen Wesen an einander und an ihre natürliche Lebensbedingung zu erkennen, welche die natürliche Zuchtwahl oder das Ueberleben des Passendsten im Verlaute langer Zeiträume zu bewirken im Stande gewesen sein mag.


Aussterben durch natürliche Zuchtwahl verursacht.

Dieser Gegenstand wird in unserem Abschnitte über Geologie vollständiger abgehandelt werden; wir müssen ihn aber hier berühren, weil er mit der natürlichen Zuchtwahl eng zusammenhängt. Natürliche Zuchtwahl wirkt nur durch Erhaltung irgendwie vortheilhafter Abänderungen, welche folglich die andern überdauern. In Folge des geometrischen Vervielfältigungsvermögens aller organischen Wesen ist jeder Bezirk schon mit lebenden Bewohnern in voller Zahl versorgt und hieraus folgt, daß, wie die begünstigten Formen an Menge zunehmen, so die minder begünstigten Formen allmählich abnehmen und seltener werden. Seltenwerden ist, wie die Geologie uns lehrt, der Vorläufer des Aussterbens. Man sieht auch, daß eine nur durch wenige Individuen vertretene Form durch bedeutende Schwankungen in der Beschaffenheit der Jahreszeiten oder durch ein zeitweises Zunehmen der Zahl ihrer Feinde große Gefahr gänzlicher Vertilgung läuft. Doch können wir noch weiter gehen; denn so wie neue Formen erzeugt werden, so müssen viele alten unvermeidlich erlöschen, wenn wenn wir nicht annehmen sollen, daß die Zahl der specifischen Formen beständig und fast unendlich anwachsen kann. Die Geologie zeigt uns klar, daß die Zahl der Arten nicht in’s Unbegrenzte gewachsen ist, und wir werden gleich zu zeigen versuchen, woher es komme, daß die Artenzahl auf der Erdoberfläche nicht unermeßlich groß geworden ist.

Wir haben gesehen, daß diejenigen Arten, welche die zahlreichsten an Individuen sind, die meiste Wahrscheinlichkeit für sich haben, innerhalb einer gegebenen Zeit vortheilhafte Abänderungen hervorzubringen. Die im zweiten Capitel mitgetheilten Thatsachen können zum Beweise hierfür dienen, indem sie zeigen, daß gerade die gemeinen und verbreiteten oder herrschenden Arten die größte Anzahl ausgezeichneter Varietäten liefern. Daher werden denn auch die selteneren Arten in einer gegebenen Periode weniger rasch umgeändert oder verbessert werden und demzufolge in dem Kampfe um’s Dasein mit den umgeänderten und verbesserten Abkömmlingen der gemeineren Arten unterliegen.

[132] Aus diesen verschiedenen Betrachtungen scheint mir nun unvermeidlich zu folgen, daß, wie im Laufe der Zeit neue Arten durch natürliche Zuchtwahl entstehen, andere seltener und seltener und endlich erlöschen werden. Diejenigen Formen werden natürlich am meisten leiden, welche in engster Concurrenz mit denen stehen, welche einer Veränderung und Verbesserung unterliegen. Und wir haben in dem Capitel über den Kampf um’s Dasein gesehen, daß es die miteinander am nächsten verwandten Formen – Varietäten der nämlichen Art und Arten der nämlichen oder einander zunächst verwandter Gattungen – sind, welche, weil sie nahezu gleichen Bau, Constitution und Lebensweise haben, meistens auch in die heftigste Concurrenz miteinander gerathen. Jede neue Varietät oder Art wird folglich während des Verlaufes ihrer Bildung im Allgemeinen am stärksten ihre nächst verwandten Formen bedrängen und sie zum Aussterben zu bringen suchen. Wir sehen den natürlichen Proceß der Austilgung unter unseren domesticirten Erzeugnissen vor sich gehen, in Folge der Auswahl veredelter Formen durch den Menschen. Ich könnte mit vielen merkwürdigen Belegen zeigen, wie schnell neue Rassen von Rindern, Schafen und andern Thieren oder neue Varietäten von Blumen die Stelle der früheren und unvollkommeneren einnehmen. In Yorkshire ist es geschichtlich bekannt, daß das alte schwarze Rind durch die Langhornrasse verdrängt und daß diese nach dem Ausdruck eines landwirthschaftlichen Schriftstellers, „wie durch eine mörderische Seuche von den Kurzhörnern weggefegt worden ist.“


Divergenz des Characters.

Das Princip, welches ich mit diesem Ausdruck bezeichne, ist von hoher Wichtigkeit und erklärt nach meiner Meinung verschiedene wichtige Thatsachen. Erstens weichen Varietäten, und selbst sehr ausgeprägte, obwohl sie etwas vom Character der Species an sich haben, wie in vielen Fällen aus den hoffnungslosen Zweifeln über ihren Rang erhellet, doch gewiß viel weniger als gute und verschiedene Arten von einander ab. Demungeachtet sind nach meiner Anschauungsweise Varietäten Arten im Processe der Bildung oder, wie ich sie genannt habe, beginnende Species. Auf welche Weise wächst nun jene kleinere Verschiedenheit zur größeren specifischen Verschiedenheit an? Daß dies allgemein geschehe, müssen wir aus den meisten der unzähligen [133] in der ganzen Natur vorhandenen Arten mit wohl ausgeprägten Verschiedenheiten schließen, während Varietäten, die von uns angenommenen Prototypen und Erzeuger künftiger wohl unterschiedener Arten, nur geringe und schlecht ausgeprägte Unterschiede darbieten. Der bloße Zufall, wie man es nennen könnte, möchte wohl die Abweichung einer Varietät von ihren Eltern in irgend einem Merkmal und dann die Abweichung des Nachkömmlings dieser Varietät von seinen Eltern in denselben Merkmalen und in einem höheren Grade veranlassen können; doch würde dies nicht allein genügen, ein so gewöhnliches und großes Maß von Verschiedenheit zu erklären, als zwischen Varietäten einer Art und zwischen Arten einer Gattung vorhanden ist.

Wie es stets mein Brauch war, so habe ich auch diesen Gegenstand mit Hülfe unserer Culturerzeugnisse zu erläutern gesucht. Wir werden dabei etwas Analoges finden. Man wird zugeben, daß die Bildung so weit auseinander laufender Rassen wie die des Kurzhorn- und des Hereford-Rindes, des Renn- und des Karrenpferdes, der verschiedenen Taubenrassen u. s. w. durch bloß zufällige Häufung der Abänderungen ähnlicher Art während vieler aufeinander folgender Generationen niemals hätte zu Stande kommen können. Wenn nun aber in der Wirklichkeit ein Liebhaber z. B. seine Freude an einer Taube mit merklich kürzerem und ein anderer die seinige an einer Taube mit viel längerem Schnabel hätte, so würden sich beide bestreben (wie es mit den Unterrassen der Purzeltauben wirklich der Fall gewesen), da „Liebhaber Mittelformen nicht bewundern und nicht bewundern werden, sondern Extreme lieben“, zur Nachzucht Vögel mit immer kürzeren und kürzeren oder immer längeren und längeren Schnäbeln zu wählen. Ebenso können wir annehmen, es haben in einer früheren Zeit die Leute der einen Nation flüchtigere und die einer anderen stärkere und schwerere Pferde bedurft. Die ersten Unterschiede werden nur sehr gering gewesen sein; wenn nun aber im Laufe der Zeit einige Züchter fortwährend die flüchtigeren, und andere ebenso die schwereren Pferde zur Nachzucht auswählten, so werden die Verschiedenheiten immer größer werden und Veranlassung geben, zwei Unterrassen zu unterscheiden. Endlich würden nach Verlauf von Jahrhunderten diese Unterrassen sich zu zwei wohlbegründeten und verschiedenen Rassen ausgebildet haben. Wie die Verschiedenheiten langsam zunahmen, so werden die unvollkommeneren Thiere von mittlerem Character, die weder sehr leicht noch sehr schwer waren, nicht zur Zucht benutzt [134] worden sein und damit zum Verschwinden geneigt haben. Daher sehen wir denn in diesen Erzeugnissen des Menschen die Wirkungen des Princips der Divergenz, wie man es nennen könnte, welches anfangs kaum bemerkbare Verschiedenheiten immer zunehmen und die Rassen immer weiter unter sich wie von ihren gemeinsamen Stammeltern abweichen läßt.

Aber wie, kann man fragen, läßt sich ein solches Princip auf die Natur anwenden? Ich glaube, daß es schon durch den einfachen Umstand eine äußerst erfolgreiche Anwendung finden kann und auch findet (obwohl ich selbst dies lange Zeit nicht erkannt habe), daß, je weiter die Abkömmlinge einer Species im Bau, Constitution und Lebensweise auseinander gehen, sie um so besser geeignet sein werden, viele und sehr verschiedene Stellen im Haushalte der Natur einzunehmen und somit befähigt werden, an Zahl zuzunehmen.

Dies zeigt sich deutlich bei Thieren mit einfacher Lebensweise. Nehmen wir ein vierfüßiges Raubthier zum Beispiel, dessen Zahl in einer Gegend schon längst zu dem vollen Betrage angestiegen ist, welchen die Gegend zu ernähren vermag. Hat sein natürliches Vervielfältigungsvermögen freies Spiel gehabt, so kann dieselbe Thierart (vorausgesetzt, daß die Gegend keine Veränderung ihrer natürlichen Verhältnisse erfahre) nur dann noch weiter zunehmen, wenn ihre Nachkommen in der Weise abändern, daß sie allmählich solche Stellen einnehmen können, welche jetzt andere Thiere schon innehaben, wenn z. B. einige derselben geschickt werden, auf neue Arten von lebender oder todter Beute auszugehen, wenn sie neue Standorte bewohnen, Bäume erklimmen, in’s Wasser gehen oder vielleicht auch einen Theil ihrer Raubthiernatur aufgeben. Je mehr nun diese Nachkommen unseres Raubthieres in Organisation und Lebensweise auseinandergehen, desto mehr Stellen werden sie fähig sein, in der Natur einzunehmen. Und was von einem Thiere gilt, das gilt durch alle Zeiten von allen Thieren, vorausgesetzt, daß sie variiren; denn außerdem kann natürliche Zuchtwahl nichts ausrichten. Und dasselbe gilt von den Pflanzen. Es ist durch Versuche dargethan worden, daß, wenn man eine Strecke Landes mit Gräsern verschiedener Gattungen besäet, man eine größere Anzahl von Pflanzen erzielen und ein größeres Gewicht von Heu einbringen kann, als wenn man eine gleiche Strecke nur mit einer Grasart aussäet. Zum nämlichen Ergebnis ist man gelangt, wenn man eine Varietät und wenn man verschiedene gemischte Varietäten von [135] Weizen auf gleich große Grundstücke säete. Wenn daher eine Grasart immer weiter in Varietäten auseinandergeht und immer wieder diejenigen Varietäten, welche unter sich in derselben Weise, wenn auch in sehr geringem Grade wie die Arten und Gattungen der Gräser verschieden sind, zur Nachzucht gewählt werden, so wird eine größere Anzahl einzelner Stöcke dieser Grasart mit Einschluß ihrer Varietäten auf gleicher Fläche wachsen können als zuvor. Bekanntlich streut jede Grasart und Varietät jährlich eine fast zahllose Menge von Samen aus, so daß man fast sagen könnte, ihr hauptsächlichstes Streben sei Vermehrung der Individuenzahl. Daher werden im Verlaufe von vielen tausend Generationen gerade die am weitesten auseinander gehenden Varietäten einer Grasart immer am meisten Aussicht auf Erfolg und auf Vermehrung ihrer Anzahl und dadurch auf Verdrängung der weniger verschiedenen Varietäten für sich haben; und sind diese Varietäten nun weit von einander verschieden, so nehmen sie den Character der Arten an.

Die Wahrheit des Princips, daß die größte Summe von Leben durch die größte Differenzirung der Structur vermittelt werden kann, läßt sich unter vielerlei natürlichen Verhältnissen erkennen. Auf einem äußerst kleinen Bezirke, zumal wenn er der Einwanderung offen ist und mithin das Ringen der Individuen miteinander sehr heftig sein muß, finden wir stets eine große Mannigfaltigkeit von Bewohnern. So fand ich z. B. auf einem 3′ langen und 4′ breiten Stück Rasen, welches viele Jahre lang genau denselben Bedingungen ausgesetzt gewesen war, zwanzig Arten von Pflanzen aus achtzehn Gattungen und acht Ordnungen beisammen, woraus sich ergibt, wie verschieden von einander eben diese Pflanzen sind. So ist es auch mit den Pflanzen und Insecten auf kleinen einförmigen Inseln; und ebenso in kleinen Süßwasserbehältern. Die Landwirthe wissen, daß sie bei einer Fruchtfolge mit Pflanzenarten aus den verschiedensten Ordnungen am meisten Futter erziehen können, und die Natur bietet, was man eine simultane Fruchtfolge nennen könnte. Die meisten Pflanzen und Thiere, welche rings um ein kleines Grundstück wohnen, würden auch auf diesem Grundstücke (wenn es nicht in irgend einer Beziehung von sehr eigenthümlicher Beschaffenheit ist) leben können und streben so zu sagen in hohem Grade darnach, da zu leben; wo sie aber in nächste Concurrenz mit einander kommen, da sehen wir ihre aus der Differenzirung ihrer Organisation und der diese begleitenden Verschiedenartigkeit [136] der Lebensweise und Constitution sich ergebenden wechselseitigen Vortheile es bedingen, daß die am unmittelbarsten mit einander ringenden Bewohner der allgemeinen Regel zufolge Formen sind, welche wir als zu verschiedenen Gattungen und Ordnungen gehörig bezeichnen.

Dasselbe Princip erkennt man, wo der Mensch Pflanzen in fremdem Lande zu naturalisiren strebt. Man hätte erwarten dürfen, daß diejenigen Pflanzen, die mit Erfolg in einem Lande naturalisirt werden können, im Allgemeinen nahe verwandt mit den eingeborenen seien; denn diese betrachtet man gewöhnlich als besonders für ihre Heimath geschaffen und angepaßt. Ebenso hätte man vielleicht erwartet, daß die naturalisirten Pflanzen zu einigen wenigen Gruppen gehörten, welche nur etwa gewissen Stationen ihrer neuen Heimath angepaßt wären. Aber die Sache verhält sich ganz anders, und Alphons de Candolle hat in seinem großen und vortrefflichen Werke ganz wohl gezeigt, daß die Floren durch Naturalisirung, im Verhältnis zu der Anzahl der eingeborenen Gattungen und Arten, weit mehr an neuen Gattungen als an neuen Arten gewinnen. Um nur ein Beispiel zu geben, so sind in der letzten Ausgabe von Dr. Asa Gray’s ‚Manual of the Flora of the northern United States‘ 260 naturalisirte Pflanzenarten aufgezählt, und diese gehören zu 162 Gattungen. Wir sehen daher, daß diese naturalisirten Pflanzen von sehr verschiedener Natur sind und überdies auch von den eingeborenen in großem Maße abweichen; denn von jenen 162 Gattungen sind nicht weniger als hundert ganz fremdländisch; die in den Vereinigten Staaten jetzt lebenden Gattungen haben also hierdurch eine verhältnismäßig bedeutende Vermehrung erfahren.

Berücksichtigt man die Natur der Pflanzen und Thiere, welche erfolgreich mit den eingeborenen einer Gegend gerungen haben und in dessen Folge naturalisirt worden sind, so kann man eine ungefähre Vorstellung davon gewinnen, wie etwa einige der eingeborenen hätten modificirt werden müssen, um einen Vortheil über die andern eingeborenen zu erlangen: wir können wenigstens schließen, daß eine Differenzirung ihrer Structur bis zu einem zur Bildung neuer Gattungen genügenden Betrage für sie ersprießlich gewesen wäre.

Der Vortheil einer Differenzirung der Structur der Bewohner einer und derselben Gegend ist in der That derselbe, wie er für einen individuellen Organismus aus der physiologischen Theilung der Arbeit [137] unter seine Organe entspringt, ein von H. Milne Edwards so trefflich erläuterter Gegenstand. Kein Physiolog zweifelt daran, daß ein Magen, welcher nur zur Verdauung von vegetabilischen oder von animalischen Substanzen geeignet ist, die meiste Nahrung aus diesen Stoffen zieht. So werden auch in dem großen Haushalte eines Landes um so mehr Individuen von Pflanzen und Thiere ihren Unterhalt zu finden im Stande sein, je weiter und vollkommener dieselben für verschiedene Lebensweisen differenzirt sind. Eine Anzahl von Thieren mit nur wenig differenzirter Organisation kann schwerlich mit einer andern von vollständiger differenzirtem Baue concurriren. So wird man z. B. bezweifeln müssen, ob die australischen Beutelthiere, welche nach Waterhouse’s u. A. Bemerkung in nur wenig von einander abweichende Gruppen getheilt sind und unsere Raubthiere, Wiederkäuer und Nager nur unvollkommen vertreten, im Stande sein würden, mit diesen wohl ausgesprochenen Ordnungen zu concurriren. In den australischen Säugethieren erblicken wir den Proceß der Differenzirung auf einer noch frühen und unvollkommenen Entwickelungsstufe.


Die wahrscheinlichen Folgen der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl auf die Abkömmlinge gemeinsamer Eltern durch Divergenz der Charactere und durch Aussterben.

Nach dieser vorangehenden Erörterung, welche sehr zusammengedrängt ist, können wir wohl annehmen, daß die abgeänderten Nachkommen irgend einer Species um so mehr Erfolg haben werden, je mehr sie in ihrer Organisation differenzirt und hierdurch geeignet sein werden, sich auf die bereits von andern Wesen eingenommenen Stellen einzudrängen. Wir wollen nun zusehen, wie dieses Princip von der Herleitung eines Nutzens aus der Divergenz des Characters in Verbindung mit den Principien der natürlichen Zuchtwahl und des Aussterbens zusammenwirke.

Das beigefügte Schema wird uns diese sehr verwickelte Frage leichter verstehen helfen. Gesetzt, es bezeichnen die Buchstaben A bis L die Arten einer in ihrem Vaterlande großen Gattung; diese Arten sollen einander in ungleichen Graden ähnlich sein, wie es eben in der Natur so allgemein der Fall zu sein pflegt und was im Schema durch verschiedene Entfernung jener Buchstaben von einander ausgedrückt werden soll. Wir wählen eine große Gattung, weil wir schon [138] im zweiten Capitel gesehen haben, daß in großen Gattungen verhältnismäßig mehr Arten variiren als in kleinen, und die variirenden Arten großer Gattungen bieten eine größere Anzahl von Varietäten dar. Wir haben ferner gesehen, daß die gemeinsten und am weitesten verbreiteten Arten mehr als die seltenen mit kleinen Wohnbezirken abändern. Es sei nun A eine gemeine weit verbreitete und abändernde Art einer in ihrem Vaterlande großen Gattung; der kleine Fächer divergirender Punktlinien von ungleicher Länge, welche von A ausgehen, möge ihre variirende Nachkommenschaft darstellen. Es wird ferner angenommen, die Abänderungen seien außerordentlich gering aber von der mannichfaltigsten Beschaffenheit, treten nicht gleichzeitig, sondern oft nach langen Zwischenräumen auf, und endlich sollen sie nicht alle gleich lange Zeiten dauern. Nur jene Abänderungen, welche in irgend einer Beziehung nützlich sind, werden erhalten oder zur natürlichen Zuchtwahl verwendet. Und hier tritt die Bedeutung des Princips hervor, daß der Nutzen von der Divergenz des Characters herzuleiten ist; denn dies wird allgemein zu den verschiedensten und am weitesten auseinandergehenden Abänderungen führen (welche durch die äußeren punktirten Linien dargestellt sind), wie sie durch natürliche Zuchtwahl erhalten und gehäuft werden. Wenn nun in unserem Schema eine der punktirten Linien eine der wagerechten Linien erreicht und dort mit einem kleinen numerirten Buchstaben bezeichnet erscheint, so wird angenommen, daß darin eine Summe von Abänderung gehäuft sei, genügend zur Bildung einer ganz wohl bezeichneten Varietät, wie sie der Aufnahme in ein systematisches Werk werth geachtet werden würde.

Die Zwischenräume zwischen je zwei wagerechten Linien des Schemas mögen je 1000 oder noch mehr Generationen entsprechen. Nach 1000 Generationen hätte die Art A zwei ganz wohl ausgeprägte Varietäten a1 und m1 hervorgebracht. Diese zwei Varietäten werden im Allgemeinen beständig denselben Bedingungen ausgesetzt sein, welche ihre Stammeltern zur Abänderung veranlaßten, und das Streben nach Abänderung ist an sich erblich. Sie werden daher nach weiterer Abänderung und gewöhnlich in nahezu derselben Art und Richtung streben wie ihre Stammeltern. Überdies werden diese zwei Varietäten, als nur erst wenig modificirte Formen, diejenigen Vorzüge wieder zu vererben geneigt sein, welche ihren gemeinsamen Eltern A das numerische Übergewicht über die meisten andern Bewohner derselben Gegend [139] verschafft hatten; sie werden gleicherweise an denjenigen allgemeineren Vortheilen theilnehmen, welche die Gattung, wozu ihre Stammeltern gehörten, zu einer großen Gattung ihres Vaterlandes erhoben. Und wir wissen, daß alle diese Umstände zur Hervorbringung neuer Varietäten günstig sind.

Wenn nun diese zwei Varietäten ebenfalls veränderlich sind, so werden die divergentesten ihrer Abänderungen gewöhnlich in den nächsten 1000 Generationen fortbestehen. Nach dieser Zeit, ist in unserem Schema angenommen, habe Varietät a1 die Varietät a2 hervorgebracht, die nach dem Differenzirungsprincipe weiter als a1 von A verschieden ist. Varietät m1 hat zwei andere Varietäten m2 und s2 ergeben, welche unter sich und noch beträchtlicher von ihrer gemeinsamen Stammform A abweichen. So können wir den Vorgang für eine beliebig lange Zeit von Stufe zu Stufe fortführen; einige der Varietäten werden von je 1000 zu 1000 Generationen bald nur eine einzige Abänderung aber in einem weiter und weiter modificirten Zustande, bald auch 2–3 derselben hervorbringen, während andere gar keine neuen Formen darbieten. Auf diese Weise werden gewöhnlich die Varietäten oder abgeänderten Nachkommen einer gemeinsamen Stammform A im Ganzen immer zahlreicher werden und immer weiter im Character auseinanderlaufen. In dem Schema ist der Vorgang bis zur zehntausendsten Generation, – und in einer gedrängteren und vereinfachten Weise bis zur vierzehntausendsten Generation dargestellt.

Doch muß ich hier bemerken, daß ich nicht der Meinung bin, daß der Proceß jemals so regelmäßig und beständig vor sich gehe, wie er im Schema dargestellt ist, obwohl er auch da schon etwas unregelmässig erscheint; es ist viel wahrscheinlicher, daß eine jede Form lange Zeit hindurch unverändert bleibt und dann wieder einer Modificirung unterliegt. Ebenso bin ich nicht der Ansicht, daß die am weitesten differirenden Varietäten unabänderlich erhalten werden. Oft mag eine Mittelform von langer Dauer sein und entweder mehr als eine in ungleichem Grade abgeänderte Varietät hervorbringen oder nicht; denn die natürliche Zuchtwahl wird sich immer nach der Beschaffenheit der noch gar nicht oder nur unvollständig von anderen Wesen eingenommenen Stellen richten; und dies wird von unendlich verwickelten Beziehungen abhängen. Doch werden der allgemeinen Regel zufolge die Abkömmlinge einer Art um so besser geeignet sein, [140] mehr Stellen einzunehmen und ihre abgeänderte Nachkommenschaft zu vermehren, je weiter sie in ihrer Organisation differenzirt sind. In unserem Schema ist die Successionslinie in regelmäßigen Zwischenräumen durch kleine numerirte Buchstaben unterbrochen, zur Bezeichnung der successiven Formen, welche genügend unterschieden sind, um als Varietäten angeführt zu werden. Aber diese Unterbrechungen sind nur imaginär und hätten anderwärts eingeschoben werden können, nach hinlänglich langen Zwischenräumen für die Häufung eines ansehnlichen Betrags divergenter Abänderung.

Da alle die modificirten Abkömmlinge einer gemeinen und weit verbreiteten Art einer großen Gattung an den gemeinsamen Verbesserungen theilzunehmen streben, welche den Erfolg ihrer Stammeltern im Leben bedingt haben, so werden sie im Allgemeinen sowohl an Zahl als an Divergenz des Characters zunehmen und dies ist im Schema durch die verschiedenen von A ausgehenden Verzweigungen ausgedrückt. Die abgeänderten Nachkommen der späteren und am meisten verbesserten Zweige der Successionslinien werden wahrscheinlich oft die Stelle der älteren und minder vervollkommneten einnehmen und sie verdrängen, und dies ist im Schema dadurch ausgedrückt, daß einige der untern Zweige nicht bis zu den obern Horizontallinien hinauf reichen. In einigen Fällen zweifle ich nicht, daß der Proceß der Abänderung auf eine einzelne Linie der Descendenz beschränkt bleiben und die Zahl der modificirten Nachkommen nicht vermehrt werden wird, wenn auch das Maß divergenter Modification in den aufeinanderfolgenden Generationen zugenommen hat. Dieser Fall würde in dem Schema dargestellt werden, wenn alle von A ausgehenden Linien bis auf die von a1 bis a10 beseitigt würden. Auf diese Weise sind allem Anscheine nach z. B. die englischen Rennpferde und englischen Vorstehehunde langsam vom Character ihrer Stammform abgewichen, ohne je neue Abzweigungen oder Nebenrassen abgegeben zu haben.

Es wird der Fall gesetzt, dass die Art A nach 10,000 Generationen drei Formen a10, f10 und m10 hervorgebracht habe, welche in Folge ihrer Characterdivergenz während der aufeinanderfolgenden Generationen weit, aber vielleicht in ungleichem Grade unter sich und von ihren Stammeltern verschieden geworden sind. Nehmen wir nur einen äußerst kleinen Betrag von Veränderung zwischen je zwei Horizontalen unseres Schemas an, so könnten unsere drei Formen noch immer nur wohl ausgeprägte Varietäten sein; wir haben aber nur [141] nöthig, uns die Abstufungen in diesem Processe der Modification etwas größer oder zahlreicher zu denken, um diese drei Formen in zweifelhafte oder endlich gute Arten zu verwandeln; alsdann drückt das Schema die Stufen aus, auf welchen die kleinen nur Varietäten characterisirenden Verschiedenheiten in größere schon Arten unterscheidende Unterschiede übergehen. Denkt man sich denselben Proceß in einer noch größeren Anzahl von Generationen fortgesetzt (wie es oben im Schema in gedrängter Weise geschehen), so erhalten wir acht von A abstammende Arten mit a14 bis m14 bezeichnet. So werden, wie ich glaube, Arten vervielfältigt und Gattungen gebildet.

In einer großen Gattung variirt wahrscheinlich mehr als eine Art. Im Schema habe ich angenommen, daß eine zweite Art I in analogen Abstufungen nach 10,000 Generationen entweder zwei wohlbezeichnete Varietäten w10 und z10, oder zwei Arten hervorgebracht habe, je nachdem man sich den Betrag der Veränderung, welcher zwischen zwei wagerechten Linien liegt, kleiner oder größer denkt. Nach 14,000 Generationen werden nach unserer Annahme sechs neue durch die Buchstaben n14 bis z14 bezeichnete Arten entstanden sein. In jeder Gattung werden die bereits in ihrem Character sehr auseinander gegangenen Arten die größte Anzahl modificirter Nachkommen hervorzubringen streben, indem diese die beste Aussicht haben, neue und von einander sehr verschiedene Stellen im Naturhaushalte einzunehmen; daher habe ich im Schema die extreme Art A und die fast gleich extreme Art I als solche gewählt, welche bedeutend variirt und zur Bildung neuer Varietäten und Arten Veranlassung gegeben haben. Die anderen neun mit grossen Buchstaben (B–H, K, L) bezeichneten Arten unserer ursprünglichen Gattung mögen sich durch lange aber ungleiche Zeiträume noch ohne Veränderung fortpflanzen, was im Schema durch die punktirten Linien ausgedrückt ist, welche nach aufwärts ungleich verlängert sind.

Inzwischen dürfte während des auf unserem Schema dargestellten Umänderungsprocesses noch ein anderes unserer Principien, das des Aussterbens, eine wichtige Rolle gespielt haben. Da in jeder vollständig bevölkerten Gegend natürliche Zuchtwahl nothwendig dadurch wirkt, daß die gewählte Form in dem Kampfe um’s Dasein irgend einen Vortheil vor den übrigen Formen voraus hat, so wird in den verbesserten Abkömmlingen einer Art ein beständiges Streben vorhanden sein, auf jeder ferneren Generationsstufe ihre Vorgänger und ihren Urstamm zu ersetzen und zu vertilgen. Denn man muß sich erinnern, [142] daß die Concurrenz gewöhnlich am heftigsten zwischen solchen Formen ist, welche einander in Organisation, Constitution und Lebensweise am nächsten stehen. Daher werden alle Zwischenformen zwischen den früheren und späteren, das ist zwischen den weniger und mehr verbesserten Zuständen einer und derselben Art, sowie die ursprüngliche Stammart selbst gewöhnlich zum Erlöschen geneigt sein. Eben so wird es sich wahrscheinlich mit vielen ganzen Seitenlinien verhalten, welche durch spätere und vollkommenere Linien besiegt werden. Wenn dagegen die abgeänderte Nachkommenschaft einer Art in eine besondere Gegend kommt oder sich irgend einem ganz neuen Standorte rasch anpaßt, wo Stammform und Nachkommen nicht in Concurrenz gerathen, dann mögen beide fortbestehen.

Nimmt man daher bei unserem Schema an, daß es ein großes Maß von Abänderung darstelle, so werden die Art A und alle früheren Abänderungen derselben erloschen und durch acht neue Arten a14m14 ersetzt sein, und an der Stelle von I werden sich sechs neue Arten n14z14 befinden.

Wir können aber noch weiter gehen. Wir haben angenommen, daß die ursprünglichen Arten unserer Gattung einander in ungleichem Grade ähnlich seien, wie das in der Natur gewöhnlich der Fall ist; daß die Art A näher mit B, C und D als mit den andern verwandt sei und I mehr Beziehungen zu G, H, K, L als zu den übrigen besitze; daß ferner diese zwei Arten A und I sehr gemein und weit verbreitet seien, so daß sie schon anfangs einige Vorzüge vor den meisten andern Arten derselben Gattung voraus gehabt haben müssen. Ihre modificirten Nachkommen, vierzehn an Zahl nach 14,000 Generationen, werden wahrscheinlich einige derselben Vorzüge geerbt haben; auch sind sie auf jeder weiteren Stufe der Fortpflanzung in einer divergenten Weise abgeändert und verbessert worden, so daß sie sich zur Besetzung vieler passenden Stellen im Naturhaushalte ihres Vaterlandes geeignet haben. Es scheint mir daher äußerst wahrscheinlich, daß sie nicht allein ihre Eltern A und I ersetzt und vertilgt haben, sondern auch einige andere diesen zunächst verwandte ursprünglichen Species. Es werden daher nur sehr wenige der ursprünglichen Arten Nachkommen bis in die vierzehntausendste Generation hinterlassen haben. Wir können annehmen, daß nur eine, F, von den zwei mit den übrigen neuen am wenigsten nahe verwandten Arten, E und F, ihre Nachkommen bis zu dieser späten Generation erstrecke.

[143] Der neuen von den elf ursprünglichen Arten unseres Schema abgeleiteten Species sind nun fünfzehn. Dem divergenten Streben der natürlichen Zuchtwahl gemäß, wird der äußerste Betrag von Character-Verschiedenheit zwischen den Arten a14 und z14 viel größer als zwischen den unter sich verschiedensten der elf ursprünglichen Arten sein. Überdies werden die neuen Arten in sehr ungleichem Grade mit einander verwandt sein. Unter den acht Nachkommen von A werden die drei a14, q14 und p14 nahe verwandt sein, weil sie sich erst spät von a10 abgezweigt haben, wogegen b14 und f14 als alte Abzweigungen von a5 in einem gewissen Grade von jenen drei erstgenannten verschieden sind; und endlich werden o14, e14 und m14 zwar unter sich nahe verwandt sein, aber als Seitenzweige seit dem ersten Beginne des Abänderungs-Processes weit von den anderen fünf Arten abstehen und eine besondere Untergattung oder sogar eine eigene Gattung bilden.

Die sechs Nachkommen von I werden zwei Subgenera oder selbst Genera bilden. Da aber die Stammart I von A sehr verschieden war und weit entfernt, fast am andern Ende der Artenreihe der ursprünglichen Gattung steht, so werden diese sechs Nachkommen von I, allein in Folge der Vererbung, beträchtlich von den acht Nachkommen von A abweichen; überdies wurde angenommen, daß diese zwei Gruppen sich in auseinander gehenden Richtungen verändert haben. Auch sind die mittleren Arten, welche die ursprünglichen Species A und I mit einander verbanden (was zu beachten sehr wichtig ist), mit Ausnahme von F sämmtlich erloschen, ohne Nachkommenschaft zu hinterlassen. Daher werden die sechs neuen von I entsprossenen und die acht von A abgeleiteten Species sich zu zwei sehr verschiedenen Gattungen oder sogar Unterfamilien erhoben haben.

So kommt es, wie ich meine, daß zwei oder mehr Gattungen durch Abänderung der Nachkommen aus zwei oder mehr Arten eines und desselben Genus entspringen können. Und von den zwei oder mehr Stammarten ist angenommen worden, daß sie von einer Art einer früheren Gattung herrühren. In unserem Schema ist dies durch die unterbrochenen Linien unter den großen Buchstaben A–L angedeutet, welche abwärts gegen einen einzigen Punkt convergiren. Dieser Punkt stellt eine einzelne Species, die angenommene Stammart aller unserer neuen Subgenera und Genera vor.

[144] Es ist der Mühe werth, einen Augenblick bei dem Character der neuen Art F14 zu verweilen, von welcher angenommen wird, daß sie ohne große Divergenz des Characters zu erfahren, die Form von F unverändert oder mit nur geringer Abänderung ererbt habe. In diesem Falle werden ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu den andern vierzehn neuen Arten eigenthümlicher und weiter Art sein. Von einer zwischen den zwei jetzt als erloschen und unbekannt angenommenen Stammarten A und I stehenden Species abstammend, wird sie einigermaßen das Mittel zwischen den zwei von diesen Arten abgeleiteten Gruppen halten. Da aber beide Gruppen in ihren Characteren vom Typus ihrer Stammeltern auseinandergelaufen sind, so wird die neue Art F14 das Mittel nicht unmittelbar zwischen ihnen, sondern vielmehr zwischen den Typen beider Gruppen halten; und jeder Naturforscher dürfte im Stande sein, sich ein Beispiel dieser Art in’s Gedächtnis zu rufen.

In dem Schema entspricht nach unserer bisherigen Annahme jeder Abstand zwischen zwei Horizontalen tausend Generationen; er kann aber auch einer Million oder mehreren Millionen von Generationen und zugleich einen entsprechenden Theil der aufeinander folgenden Schichten unserer Erdrinde mit organischen Resten entsprechen. In unserem Capitel über Geologie werden wir wieder auf diesen Gegenstand zurück zu kommen haben und werden dann, denke ich, finden, daß unser Bild geeignet ist, Licht über die Verwandtschaft erloschener Wesen zu verbreiten, die, wenn auch im Allgemeinen zu denselben Ordnungen, Familien oder Gattungen mit den jetzt lebenden gehörig, doch in ihrem Character oft in gewissem Grade das Mittel zwischen jetzt lebenden Gruppen halten; und man wird diese Thatsache begreiflich finden, da die erloschenen Arten in sehr frühen Zeiten gelebt haben, wo die Verzweigungen der Nachkommenschaft noch wenig auseinander gegangen waren.

Ich finde keinen Grund, den Verlauf der Abänderung, wie er bisher auseinander gesetzt worden, bloß auf die Bildung der Gattungen zu beschränken. Nehmen wir in unserem Schema den von jeder successiven Gruppe auseinander-strahlender punktirter Linien dargestellten Betrag von Abänderung sehr groß an, so werden die mit a14 bis p14, mit b14 bis f14 und mit o14 bis m14 bezeichneten Formen drei sehr verschiedene Genera darstellen. Wir werden dann auch zwei von I abgeleitete sehr verschiedene Gattungen haben, welche von den Nachkommen [145] von A sehr abweichen. Diese beiden Gruppen von Gattungen werden daher zwei distincte Familien oder Ordnungen bilden, je nach dem Maße der vom Schema dargestellten divergenten Abänderung. Und diese zwei neuen Familien oder Ordnungen leiten sich von zwei Arten der ursprünglichen Gattung her, die selbst wieder als von einer noch älteren und unbekannten Form abstammend angenommen werden.

Wir haben gesehen, daß es in jedem Lande die Arten der größeren Gattungen sind, welche am öftesten Varietäten oder anfangende Arten bilden. Dies war in der That zu erwarten; denn, wie die natürliche Zuchtwahl durch eine im Kampf um’s Dasein vor den anderen bevorzugte Form wirkt, so wird sie hauptsächlich auf diejenigen wirken, welche bereits einige Vortheile voraus haben; und die Größe einer Gruppe zeigt, daß ihre Arten von einem gemeinsamen Vorfahren einige Vorzüge gemeinschaftlich ererbt haben. Daher wird der Wettkampf in Erzeugung neuer und abgeänderter Sprößlinge hauptsächlich zwischen den größeren Gruppen stattfinden, welche sich alle an Zahl zu vergrößern streben. Eine große Gruppe wird langsam eine andere große Gruppe überwinden, deren Zahl verringern und so deren Aussicht auf künftige Abänderung und Verbesserung vermindern. Innerhalb einer und derselben großen Gruppe werden die späteren und höher vervollkommneten Untergruppen immer bestrebt sein, durch Verzweigung und durch Besetzung von möglichst vielen Stellen im Staate der Natur die früheren und minder vervollkommneten Untergruppen allmählich zu verdrängen. Kleine und unterbrochene Gruppen und Untergruppen werden endlich verschwinden. In Bezug auf die Zukunft kann man vorhersagen, daß diejenigen Gruppen organischer Wesen, welche jetzt groß und siegreich und am wenigsten durchbrochen sind, d. h. bis jetzt am wenigsten durch Erlöschung gelitten haben, noch auf lange Zeit hinaus zunehmen werden. Welche Gruppen aber zuletzt vorwalten werden, kann niemand vorhersagen; denn wir wissen, daß viele Gruppen von ehedem sehr ausgedehnter Entwickelung heutzutage erloschen sind. Blicken wir noch weiter in die Zukunft hinaus, so läßt sich voraussehen, daß in Folge der fortdauernden und steten Zunahme der großen Gruppen eine Menge kleiner gänzlich erlöschen wird ohne abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen, und daß demgemäß von den zu irgend einer Zeit lebenden Arten nur äußerst wenige ihre Nachkommenschaft bis in eine ferne [146] Zukunft erstrecken werden. Ich werde in dem Capitel über Classification auf diesen Gegenstand zurückzukommen haben und will hier nur noch bemerken, daß es uns, da nach dieser Ansicht nur äußerst wenige der ältesten Species Abkömmlinge bis auf den heutigen Tag hinterlassen haben und die Abkömmlinge von einer und derselben Species heutzutage eine Classe bilden, begreiflich werden muß, warum es in jeder Hauptabtheilung des Pflanzen- und Thierreiches nur so wenige Classen gebe. Obwohl indessen nur äußerst wenige der ältesten Arten noch jetzt lebende und abgeänderte Nachkommen hinterlassen haben, so mag doch die Erde in den ältesten geologischen Zeitabschnitten fast eben so bevölkert gewesen sein mit zahlreichen Arten aus mannichfaltigen Gattungen, Familien, Ordnungen und Classen, wie heutigen Tages.


Über die Stufe, bis zu welcher die Organisation sich zu erheben strebt.

Natürliche Zuchtwahl wirkt ausschließlich durch Erhaltung und Häufung solcher Abweichungen, welche dem Geschöpfe, das sie betreffen, unter den organischen und unorganischen Bedingungen des Lebens, welchen es in allen Perioden des Lebens ausgesetzt ist, nützlich sind. Das Endergebnis ist, daß jedes Geschöpf einer immer größeren Verbesserung im Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen entgegenstrebt. Diese Verbesserung führt unvermeidlich zu der stufenweisen Vervollkommnung der Organisation der Mehrzahl der über die ganze Erdoberfläche verbreiteten Wesen. Doch kommen wir hier auf einen sehr schwierigen Gegenstand; denn noch kein Naturforscher hat eine allgemein befriedigende Definition davon gegeben, was unter Vervollkommnung der Organisation zu verstehen sei. Bei den Wirbelthieren kommt deren geistige Befähigung und Annäherung an den Körperbau des Menschen offenbar mit in Betracht. Man könnte glauben, daß die Größe der Veränderungen, welche die verschiedenen Theile und Organe während ihrer Entwickelung vom Embryozustande an bis zum reifen Alter zu durchlaufen haben, als Maßstab der Vergleichung dienen könne; doch kommen Fälle vor, wie bei gewissen parasitischen Krustern, wo mehrere Theile des Körpers unvollkommener werden, so daß man das reife Thier nicht höher organisirt als eine Larve nennen kann. Von Baer’s Maßstab scheint noch der beste und allgemeinst anwendbare [147] zu sein, nämlich das Maß der Differenzirung der verschiedenen Theile eines und desselben Thieres „im reifen Alter“, wie ich hinzufügen möchte, und ihre Specialisation für verschiedene Verrichtungen, oder Vollständigkeit der Theilung der physiologischen Arbeit, wie H. Milne Edwards sagen würde. Was für ein dunkler Gegenstand dies aber ist, sehen wir, wenn wir z. B. die Fische betrachten, unter denen manche Naturforscher diejenigen am höchsten stellen, welche wie die Haie, sich den Reptilien am meisten nähern, während andere die gewöhnlichen Knochenfische oder Teleosteer als die höchsten ansehen, weil sie die ausgebildeste Fischform haben und am meisten von allen anderen Wirbelthierclassen abweichen. Noch deutlicher erkennen wir die Schwierigkeit, wenn wir uns zu den Pflanzen wenden, wo der von der geistigen Befähigung hergenommene Maßstab natürlich ganz wegfällt; und hier stellen einige Botaniker diejenigen Pflanzen am höchsten, welche sämmtliche Organe, wie Kelch- und Kronenblätter, Staubfäden und Staubwege in jeder Blüthe vollständig entwickelt besitzen, während Andere wohl mit mehr Recht jene für die vollkommensten erachten, deren verschiedene Organe stärker metamorphosirt und auf geringere Zahlen zurückgeführt sind.

Nehmen wir den Betrag der Differenzirung und Specialisirung der einzelnen Organe in jedem Wesen im erwachsenen Zustande als den besten Maßstab für die Höhe der Organisation der Formen an (was mithin auch die fortschreitende Entwickelung des Gehirnes für die geistigen Zwecke mit in sich begreift), so muß die natürliche Zuchtwahl offenbar zur Erhöhung oder Vervollkommnung führen; denn alle Physiologen geben zu, daß die Specialisirung seiner Organe, insofern sie in diesem Zustande ihre Aufgaben besser erfüllen, für jeden Organismus von Vortheil ist; und daher liegt Häufung der zur Specialisirung führenden Abänderungen innerhalb des Zieles der natürlichen Zuchtwahl. Auf der andern Seite sehen wir aber auch, daß es unter Berücksichtigung des Umstandes, daß alle organischen Wesen sich in raschem Verhältnis zu vervielfältigen und jeden noch nicht oder nur schlecht besetzten Platz im Haushalte der Natur einzunehmen streben, der natürlichen Zuchtwahl wohl möglich ist, ein organisches Wesen solchen Verhältnissen anzupassen, wo ihm manche Organe nutzlos oder überflüssig sind, und in derartigen Fällen wird Rückschritt auf der Stufenleiter der Organisation stattfinden. Ob die Organisation im Ganzen seit den frühesten geologischen Zeiten bis jetzt wirklich fortgeschritten [148] sei, wird zweckmäßiger in unserem Capitel über die geologische Aufeinanderfolge der Wesen zu erörtern sein.

Man könnte nun aber einwenden, wie es denn komme, daß, wenn hiernach alle organischen Wesen bestrebt sind, höher auf der Stufenleiter emporzusteigen, auf der ganzen Erdoberfläche noch eine Menge der unvollkommensten Wesen vorhanden sind, und warum in jeder großen Classe einige Formen viel höher als die andern entwickelt sind? Warum haben diese höher ausgebildeten Formen nicht schon überall die minder vollkommenen ersetzt und vertilgt? Lamarck, der an eine angeborene und unvermeidliche Neigung zur Vervollkommnung in allen Organismen glaubte, scheint diese Schwierigkeit so stark gefühlt zu haben, daß er sich zur Annahme veranlaßt sah, einfache Formen würden fortwährend durch Generatio spontanea neu erzeugt. Indessen hat die Wissenschaft auf ihrer jetzigen Stufe diese Annahme noch nicht bewiesen, was auch vielleicht die Zukunft noch enthüllen mag. Nach meiner Theorie dagegen bietet die ununterbrochene Existenz niedrig organisirter Thiere keine Schwierigkeit dar; denn die natürliche Zuchtwahl oder das Überleben des Passendsten schließt denn doch nicht nothwendig fortschreitende Entwickelung ein; sie benützt nur solche Abänderungen, welche auftreten und für jedes Wesen in seinen verwickelten Lebensbeziehungen vortheilhaft sind. Und nun kann man fragen, welchen Vortheil (so weit wir urtheilen können) ein Infusorium, ein Eingeweidewurm, oder selbst ein Regenwurm davon haben könne, hoch organisirt zu sein? Wäre dies kein Vortheil, so würden diese Formen auch durch natürliche Zuchtwahl wenig oder gar nicht vervollkommnet werden und mithin für unendliche Zeiten auf ihrer tiefen Organisationsstufe stehen bleiben. In der That lehrt uns die Geologie, daß einige der niedrigsten Formen, wie Infusorien und Rhizopoden, schon seit unermeßlichen Zeiten nahezu auf ihrer jetzigen Stufe stehen geblieben sind. Demungeachtet möchte es voreilig sein anzunehmen, daß die meisten der vielen jetzt vorhandenen niedrigen Formen seit dem ersten Erwachen des Lebens keinerlei Vervollkommnung erfahren hätten; denn jeder Naturforscher, der je solche Organismen zergliedert hat, welche jetzt für sehr niedrig auf der Stufenleiter der Natur gelten, muß oft über deren wunderbare und herrliche Organisation erstaunt gewesen sein.

Nahezu dieselben Bemerkungen lassen sich hinsichtlich der großen Verschiedenheit zwischen den Graden der Organisationshöhe innerhalb [149] einer und derselben großen Gruppe machen; so z. B. hinsichtlich des gleichzeitigen Vorkommens von Säugethieren und Fischen bei den Wirbelthieren oder von Mensch und Ornithorhynchus bei den Säugethieren, von Hai und Amphioxus bei den Fischen, indem dieser letztere Fisch sich in der äußersten Einfachheit seiner Organisation den wirbellosen Thieren nähert. Aber Säugethiere und Fische gerathen kaum in Concurrenz miteinander; das Fortschreiten gewisser Säugethiere oder auch der ganzen Classe auf die oberste Stufe der Organisation wird sie nicht dahin führen, die Stelle der Fische einzunehmen. Die Physiologen glauben, das Gehirn müsse mit warmem Blute versorgt werden, um seine höchste Thätigkeit zu entfalten, und dazu ist Luftrespiration nothwendig, so daß warmblütige Säugethiere, wenn sie das Wasser bewohnen, den Fischen gegenüber sogar in gewissem Nachtheile sind, weil sie des Athmens wegen beständig an die Oberfläche zu kommen haben. Eben so werden in der Classe der Fische Glieder der Familie der Haie wahrscheinlich nicht geneigt sein, den Amphioxus zu ersetzen; denn dieser hat, wie ich von Fritz Müller höre, eine anomale Annelide zum einzigen Genossen und Concurrenten auf dem unfruchtbaren sandigen Ufer von Süd-Brasilien. Die drei untersten Säugethierordnungen, die Beutelthiere, die Zahnlosen und die Nager existiren in Süd-America in einerlei Gegend gleichzeitig mit zahlreichen Affen, und stören wahrscheinlich einander wenig. Obwohl die Organisation im Ganzen auf der ganzen Erde im Fortschreiten begriffen sein kann, so wird die Stufenleiter der Vollkommenheit doch immer noch viele Abstufungen darbieten; denn die hohe Organisationsstufe gewisser ganzer Classen oder einzelner Glieder einer jeden derselben führen in keiner Weise nothwendig zum Erlöschen derjenigen Gruppen, mit welchen sie nicht in nahe Concurrenz treten. In einigen Fällen scheinen tief organisirte Formen, wie wir hernach sehen werden, sich bis auf den heutigen Tag dadurch erhalten zu haben, daß sie eigenthümliche oder abgesonderte Wohnorte haben, wo sie einer weniger heftigen Concurrenz ausgesetzt gewesen sind und wo ihre geringe Anzahl die Aussicht auf das Auftreten begünstigender Abänderungen geschmälert hat.

Endlich glaube ich, daß das Vorkommen zahlreicher niedrig organisirter Formen über die ganze Erdoberfläche von verschiedenen Ursachen herrühre. In einigen Fällen mag es an Abänderungen oder individuellen Verschiedenheiten von vortheilhafter Art gefehlt haben, [150] mit deren Hülfe die natürliche Zuchtwahl zu wirken und welche sie zu häufen vermocht hätte. Wahrscheinlich in keinem Falle ist die Zeit ausreichend gewesen, um den höchsten möglichen Grad der Entwickelung zu erreichen. In einigen wenigen Fällen ist wohl auch das eingetreten, was wir einen Rückschritt der Organisation nennen müssen. Aber die Hauptursache liegt in der Thatsache, daß unter sehr einfachen Lebensbedingungen eine hohe Organisation ohne Nutzen, möglicherweise sogar von wirklichem Nachtheil sein kann, weil sie zarter, empfindlicher und leichter zu stören und zu beschädigen ist.

Wenn man auf das erste Erwachen des Lebens zurückblickt, wo alle organischen Wesen, wie wir uns wohl vorstellen können, noch die einfachste Structur besaßen: wie können da, hat man gefragt, die ersten Fortschritte in der Vervollkommnung oder der Differenzirung der Organe begonnen haben? Herbert Spencer würde wahrscheinlich antworten, daß, sobald die einfachen einzelligen Organismen durch Wachsthum oder Theilung zu mehrzelligen Gebilden geworden oder auf eine sie tragende Fläche geheftet worden wären, sein Gesetz in Wirksamkeit getreten sei, daß nämlich „homologe Einheiten irgend welcher Ordnung in dem Verhältnisse differenzirt werden, als ihre Beziehungen zu den auf sie wirkenden Kräften verschieden werden“. Da uns aber keine Thatsachen leiten können, so ist alle Speculation über diesen Punkt beinahe nutzlos. Es wäre jedoch ein Irrthum, anzunehmen, daß kein Kampf um’s Dasein und mithin keine natürliche Zuchtwahl eher stattgefunden hätte, als bis erst vielerlei Formen hervorgebracht worden wären. Abänderungen einer einzelnen Art auf einem abgesonderten Standorte mögen vortheilhaft gewesen sein und so entweder die ganze Masse von Individuen umgestaltet oder die Entstehung zweier verschiedenen Formen vermittelt haben. Doch ich muß auf dasjenige zurückkommen, was ich schon am Ende der Einleitung ausgesprochen habe, daß sich Niemand wundern darf, wenn jetzt noch Vieles in Bezug auf den Ursprung der Arten unerklärt bleiben muß, wenn wir unsere gänzliche Unwissenheit über die Wechselbeziehungen der Erdenbewohner während der Jetztzeit und noch mehr während der verflossenen Perioden ihrer Geschichte in Rechnung bringen.


Convergenz des Characters.

H. C. Watson glaubt, ich habe die Wichtigkeit des Princips der Divergenz der Charactere (an welches er jedoch offenbar selbst glaubt) [151] überschätzt, und sagt, daß auch die „Convergenz der Charactere“, wie man es nennen könne, mit in Betracht zu ziehen sei. Wenn zwei Species von zwei verschiedenen, aber verwandten Gattungen eine Anzahl neuer divergenter Arten hervorgebracht hätten, so könnte man sich wohl vorstellen, daß diese sich so sehr einander näherten, daß sie sämmtlich in eine und dieselbe Gattung zusammenzustellen wären; hierbei würden also die Nachkommen zweier verschiedener Gattungen in eine convergiren. Es würde aber in den meisten Fällen äußerst voreilig sein, eine große und allgemeine Aehnlichkeit der Bildung bei den modificirten Nachkommen weit von einander verschiedener Formen einer Convergenz zuzuschreiben. Die Form eines Krystalls wird nur durch die molecularen Kräfte bestimmt, und es hat nichts Ueberraschendes, daß unähnliche Substanzen zuweilen eine und dieselbe Form annehmen; bei organischen Wesen aber muß man sich daran erinnern, daß die Form eines jeden von einer unendlichen Menge complicirter Beziehungen abhängt, nämlich von den aufgetretenen Abänderungen, welche von Ursachen herrühren, die viel zu verwickelt sind, um einzeln verfolgt werden zu können, – von der Natur der Abänderungen, welche erhalten oder ausgewählt worden sind, und dies hängt von den umgebenden physikalischen Bedingungen und in einem noch höheren Grade von den umgebenden Organismen ab, mit denen jedes Wesen in Concurrenz gekommen ist, – und endlich von der Vererbung (an sich schon ein fluctuirendes Element) von zahllosen Vorfahren, deren Formen sämmtlich wieder durch gleicherweise complicirte Verhältnisse bestimmt worden sind. Es ist unglaublich, daß die Nachkommen zweier Organismen, welche ursprünglich in einer auffallenden Art und Weise von einander abweichen, später je so nahe convergiren sollten, daß sie sich einer Identität durch ihre gesammte Organisation näherten. Wäre dies eingetreten, so würden wir, unabhängig von einem genetischen Zusammenhang, derselben Form wiederholt in weit von einander entfernt liegenden geologischen Formationen begegnen; und hier widerspricht der Ausschlag des thatsächlichen Beweismaterials jeder derartigen Annahme.

Watson hat auch eingewendet, daß die fortwährende Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl mit Divergenz der Charactere zuletzt zu einer unbegrenzten Anzahl von Artenformen führen müsse. Was die bloß unorganischen äußeren Lebensbedingungen betrifft, so scheint es wohl wahrscheinlich, daß sich bald eine genügende Anzahl von Species [152] allen erheblicheren Verschiedenheiten der Wärme, der Feuchtigkeit u. s. w. angepaßt haben würde; – doch gebe ich vollkommen zu, daß die Wechselbeziehungen zwischen den organischen Wesen erheblicher sind; und in dem Maße als die Zahl der Arten in jedem Lande sich beständig vermehrt, müssen auch die organischen Lebensbedingungen immer verwickelter werden. Demgemäß scheint es denn beim ersten Anblick keine Grenze für den Betrag nutzbarer Structurvervielfältigung und somit auch keine für die hervorzubringende Artenzahl zu geben. Wir wissen nicht, daß selbst das reichlichst bevölkerte Gebiet der Erdoberfläche vollständig mit specifischen Formen versorgt sei; am Cap der guten Hoffnung und in Australien, die eine so erstaunliche Menge von Arten darbieten, sind noch viele europäische Arten naturalisirt worden. Die Geologie jedoch lehrt uns, daß von der früheren Zeit der langen Tertiärperiode an die Zahl der Molluskenarten und von dem mittleren Theile derselben Periode an die Zahl der Säugethiere nicht bedeutend oder gar nicht zugenommen hat. Was ist es nun, daß die unendliche Zunahme der Artenzahl beeinträchtigt? Die Summe des Lebens (ich meine nicht die Zahl der Artenformen) auf einem gegebenen Gebiete muß eine von den physikalischen Verhältnissen bedingte Grenze haben, so daß, wenn dasselbe von sehr vielen Arten bewohnt ist, jede oder nahezu jede Art nur durch wenige Individuen vertreten sein wird; und solche Species befinden sich mithin in Gefahr, schon durch eine zufällige Schwankung in der Natur der Jahreszeiten oder in der Zahl ihrer Feinde zu Grunde zu gehen. Der Vertilgungsproceß wird in diesen Fällen rasch von Statten gehen, während die Neubildung der Arten stets langsam erfolgen muß. Nehmen wir den äußersten Fall an, daß es in England eben so viele Arten als Individuen gäbe, so würde der erste strenge Winter oder trockene Sommer Tausende und Tausende von Arten zu Grunde richten. Seltene Arten (und jede Art wird selten werden, wenn die Artenzahl in einer Gegend in’s Unendliche wächst) werden nach dem oft entwickelten Principe in einem gegebenen Zeitraume nur wenige vortheilhafte Abänderungen darbieten, folglich wird der Proceß der Erzeugung neuer specifischer Formen hierdurch verlangsamt werden. Wird eine Art sehr selten, so muß auch die Paarung unter nahen Verwandten, die nahe Inzucht, zu ihrer Vertilgung mitwirken; es haben einige Schriftsteller diesen Umstand als Grund für das allmähliche Aussterben des Auerochsen in Lithauen, des Hirsches in Schottland, des Bären [153] in Norwegen u. s. w. angeführt. Endlich (und dies scheint mir das Wichtigste zu sein) wird eine herrschende Species, die bereits viele Concurrenten in ihrer eigenen Heimath überwunden hat, sich immer weiter auszubreiten und andere zu verdrängen streben. Alphons DeCandolle hat gezeigt, daß diejenigen Arten, welche sich weit ausbreiten, gewöhnlich nach sehr weiter Ausbreitung streben und daher in die Lage kommen, in verschiedenen Flächengebieten verschiedene Mitbewerber zu verdrängen und zu vertilgen und somit die übermäßige Zunahme specifischer Formen in der ganzen Welt zu hemmen. Dr. Hooker hat kürzlich nachgewiesen, daß auf der Südostspitze Australiens, wo offenbar viele Eindringlinge aus mancherlei Weltgegenden vorkommen, die endemischen australischen Arten sehr an Zahl abgenommen haben. Ich maße mir nicht an zu sagen, welches Gewicht allen diesen Momenten beizulegen sei; doch müssen sie im Vereine miteinander jedenfalls der Neigung zu einer unendlichen Vermehrung der Artenformen in jeder Gegend eine Grenze setzen.


Zusammenfassung des Capitels.

Wenn unter sich ändernden Lebensbedingungen die organischen Wesen in beinahe allen Theilen ihres Baues individuelle Verschiedenheiten darbieten, was, wie ich glaube, nicht bestritten werden kann; wenn ferner wegen des geometrischen Verhältnisses ihrer Vermehrung alle Arten in irgend einem Alter, zu irgend einer Jahreszeit und in irgend einem Jahre einen heftigen Kampf um ihr Dasein zu kämpfen haben, was sicher nicht zu läugnen ist: dann meine ich im Hinblick auf die unendliche Verwickelung der Beziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu ihren Lebensbedingungen, welche eine endlose Verschiedenartigkeit einer ihnen vortheilhaften Organisation, Constitution und Lebensweise verursachen, daß es eine ganz außerordentliche Thatsache sein würde, wenn nicht jeweils auch eine zu eines jeden Wesens eigener Wohlfahrt dienende Abänderung vorgekommen wäre, wie deren so viele vorgekommen, die dem Menschen vortheilhaft waren. Wenn aber solche für ein organisches Wesen nützliche Abänderungen wirklich vorkommen, so werden sicherlich die dadurch ausgezeichneten Individuen die meiste Aussicht haben, in dem Kampfe um’s Dasein erhalten zu werden, und nach dem mächtigen Princip der Vererbung werden diese wieder danach streben, ähnlich ausgezeichnete Nachkommen zu bilden. Dies Princip der Erhaltung oder des Ueberlebens des [154] Passendsten habe ich der Kürze wegen natürliche Zuchtwahl genannt; es führt zur Vervollkommnung eines jeden Geschöpfes seinen organischen und unorganischen Lebensbedingungen gegenüber und mithin auch in den meisten Fällen zu dem, was man als eine Vervollkommnung der Organisation ansehen muß. Demungeachtet werden tiefer stehende und einfache Formen lange andauern, wenn sie ihren einfachen Lebensbedingungen gut angepaßt sind.

Die natürliche Zuchtwahl kann nach dem Princip der Vererbung einer Eigenschaft in entsprechenden Altern eben so leicht das Ei, den Samen oder das Junge wie das Erwachsene modificiren. Bei vielen Thieren wird die geschlechtliche Zuchtwahl noch die gewöhnliche Zuchtwahl unterstützt haben, indem sie den kräftigsten und geeignetsten Männchen die zahlreichste Nachkommenschaft sicherte. Geschlechtliche Auswahl vermag auch solche Charactere zu verleihen, welche den Männchen allein in ihren Kämpfen oder in ihrer Mitbewerbung mit andern Männchen nützlich sind, und diese Charactere werden einem Geschlechte oder beiden überliefert je nach der vorherrschenden Form der Vererbung.

Ob nun aber die natürliche Zuchtwahl zur Anpassung der verschiedenen Lebensformen an die mancherlei äußeren Bedingungen und Stationen wirklich mitgewirkt habe, muß nach dem allgemeinen Sinn und dem Werthe der in den folgenden Capiteln zu liefernden Beweise beurtheilt werden. Doch haben wir bereits gesehen, daß dieselbe auch Austilgung verursacht, und die Geologie zeigt uns klar, in welch’ ausgedehntem Grade die Vertilgung bereits in die Geschichte der organischen Welt eingegriffen hat. Auch führt natürliche Zuchtwahl zur Divergenz der Charactere; denn je mehr die Wesen in Structur, Lebensweise und Constitution abändern, desto mehr kann eine große Zahl derselben auf einer gegebenen Fläche neben einander bestehen, – wofür man die Beweise bei Betrachtung der Bewohner eines kleinen Landflecks oder der naturalisirten Erzeugnisse in fremden Ländern findet. Je mehr daher während der Umänderung der Nachkommen einer jeden Art und während des beständigen Kampfes aller Arten um Vermehrung ihrer Individuenzahl jene Nachkommen differenzirt werden, desto besser wird ihre Aussicht auf Erfolg im Ringen um’s Dasein sein. Auf diese Weise streben die kleinen Verschiedenheiten zwischen den Varietäten einer und derselben Species dahin, stets größer zu werden, bis sie den größeren Verschiedenheiten zwischen den Arten einer Gattung oder selbst zwischen verschiedenen Gattungen gleich kommen.

[155] Wir haben gesehen, daß es die gemeinen, die weit verbreiteten und allerwärts zerstreuten Arten großer Gattungen in jeder Classe sind, die am meisten abändern; und diese streben dahin auf ihre abgeänderten Nachkommen dieselbe Ueberlegenheit zu vererben, welche sie jetzt in ihrem Vaterlande zu herrschenden machen. Natürliche Zuchtwahl führt, wie so eben bemerkt worden, zur Divergenz der Charactere und zu starker Austilgung der minder vollkommenen und der mittleren Lebensformen. Aus diesen Principien lassen sich die Natur der Verwandtschaften und die im Allgemeinen deutliche Verschiedenheit der unzähligen organischen Wesen aus jeder Classe auf der ganzen Erdoberfläche erklären. Es ist eine wirklich wunderbare Thatsache, obwohl wir das Wunder aus Vertrautheit damit zu übersehen pflegen, daß alle Thiere und Pflanzen durch alle Zeiten und allen Raum so miteinander verwandt sind, daß sie Gruppen bilden, die andern subordinirt sind, so daß nämlich, wie wir allerwärts erkennen, Varietäten einer Art einander am nächsten stehen; daß Arten einer Gattung weniger und ungleiche Verwandtschaft zeigen und Untergattungen und Sectionen bilden, daß Arten verschiedener Gattungen einander viel weniger nahe stehen, und daß Gattungen mit verschiedenen Verwandtschaftsgraden zu einander Unterfamilien, Familien, Ordnungen, Unterclassen und Classen zusammensetzen. Die verschiedenen einer Classe untergeordneten Gruppen können nicht in einer Linie aneinander gereihet werden, sondern scheinen vielmehr um gewisse Punkte und diese wieder um andere Mittelpunkte gruppirt zu sein, und so weiter in fast endlosen Kreisen. Aus der Ansicht, daß jede Art unabhängig von der andern geschaffen worden sei, kann ich keine Erklärung dieser Art von Classification entnehmen; sie ist aber erklärlich durch die Erblichkeit und durch die zusammengesetzte Wirkungsweise der natürlichen Zuchtwahl, welche Austilgung der Formen und Divergenz der Charactere verursacht, wie mit Hülfe der schematischen Darstellung gezeigt worden ist.

Die Verwandtschaften aller Wesen einer Classe zu einander sind manchmal in Form eines großen Baumes dargestellt worden. Ich glaube, dieses Bild entspricht sehr der Wahrheit. Die grünen und knospenden Zweige stellen die jetzigen Arten, und die in vorangehenden Jahren entstandenen die lange Aufeinanderfolge erloschener Arten vor. In jeder Wachsthumsperiode haben alle wachsenden Zweige nach allen Seiten hinaus zu treiben und die umgebenden Zweige und Äste [156] zu überwachsen und zu unterdrücken gestrebt, ganz so wie Arten und Artengruppen andere Arten in dem großen Kampfe um’s Dasein überwältigt haben. Die großen in Zweige getheilten und in immer kleinere und kleinere Verzweigungen abgetheilten Äste sind zur Zeit, wo der Stamm noch jung, selbst knospende Zweige gewesen; und diese Verbindung der früheren mit den jetzigen Knospen durch sich verästelnde Zweige mag ganz wohl die Classification aller erloschenen und lebenden Arten in, andern Gruppen subordinirte Gruppen darstellen. Von den vielen Zweigen, welche munter gediehen, als der Baum noch ein bloßer Busch war, leben nur noch zwei oder drei, die jetzt als mächtige Äste alle anderen Verzweigungen abgeben; und so haben von den Arten, welche in längst vergangenen geologischen Zeiten lebten, nur sehr wenige noch lebende und abgeänderte Nachkommen. Von der ersten Entwickelung eines Baumes an ist mancher Ast und mancher Zweig verdorrt und verschwunden, und diese verlorenen Äste von verschiedener Größe mögen jene ganzen Ordnungen, Familien und Gattungen vorstellen, welche, uns nur im fossilen Zustande bekannt, keine lebenden Vertreter mehr haben. Wie wir hier und da einen vereinzelten dünnen Zweig aus einer Gabeltheilung tief unten am Stamme hervorkommen sehen, welcher durch irgend einen Zufall begünstigt an seiner Spitze noch fortlebt, so sehen wir zuweilen ein Thier, wie Ornithorhynchus oder Lepidosiren, welches durch seine Verwandtschaften gewissermaßen zwei große Zweige der belebten Welt, zwischen denen es in der Mitte steht, mit einander verbindet und vor einer verderblichen Concurrenz offenbar dadurch gerettet worden ist, daß es irgend eine geschützte Station bewohnte. Wie Knospen durch Wachsthum neue Knospen hervorbringen und, wie auch diese wieder, wenn sie kräftig sind, sich nach allen Seiten ausbreiten und viele schwächere Zweige überwachsen, so ist es, wie ich glaube, durch Zeugung mit dem großen Baume des Lebens ergangen, der mit seinen todten und abgebrochenen Ästen die Erdrinde erfüllt, und mit seinen herrlichen und sich noch immer weiter theilenden Verzweigungen ihre Oberfläche bekleidet.

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