Entwicklung der Landwirtschaft und ihrer Wissenschaft (1914)

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Autor: Ferdinand Wohltmann
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Titel: Die landwirtschaftlichen Wissenschaften / Entwicklung der Landwirtschaft und ihrer Wissenschaft
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 300–310
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1444]
Die landwirtschaftlichen Wissenschaften
I. Entwicklung der Landwirtschaft und ihrer Wissenschaft
Von Geheim. Regierungsrat Professor Dr. F. Wohltmann, Direktor des Landwirtschaftlichen Instituts der Universität Halle


Allgemeines.

Aufschwung.

Wie im Leben eines Menschen, so gibt es auch im Leben eines Volkes Zeiten, in denen alle geistige, wirtschaftliche und politische Bewegung ruhig dahinfließt, und andere, die voller Gärung, häufig geradezu ruckweise, die Entwicklung vorwärts schnellen. In einer solchen befindet sich unser Vaterland seit über einem Menschenalter. Einem angeschwollenen Strome vergleichbar stürzt unsere Kultur augenblicklich vorwärts, alles mit sich reißend und alles in Hast und fast nervöse Erregung versetzend. Dies gilt auch für die deutsche Landwirtschaft. Sie hat, trotzdem sie das konservativste Element des Staates ist, wenn auch nicht die alten Bahnen aufgegeben, so doch ein ganz neuzeitliches Gewand angelegt. Die Gründe hierfür und für den großartigen Aufschwung, welchen sie genommen, liegen naturgemäß sowohl in dem Gesamtaufschwung des ganzen Volkes als auch in der rührigen geistigen Tätigkeit der Landwirte selbst und der landwirtschaftlichen Wissenschaft, welche sich beide in der langen Zeit des Friedens frei entfalten konnten. Dazu kamen die Gunst der Witterung und die guten Frucht- und Viehpreise der vier letzten Jahrzehnte.

Witterung und Preise.

Wenngleich auch vereinzelt trockene Jahre, wie besonders 1911, die Ernten Deutschlands in einigen Gegenden sehr herunterdrückten, so daß im Jahre 1911 in der Provinz Sachsen geradezu eine Mißernte der Rüben und Kartoffeln vorlag, so waren doch im allgemeinen die Winterfeuchtigkeit, sowie die Witterungsverhältnisse während der Vegetationszeit in den letzten Dezennien für die Landwirtschaft recht günstig und hatten gute Ernten zur Folge. Sie brachten dem Landwirte das Kapital ein, welches zur Aufbesserung der Wirtschaft unbedingt erforderlich war, zumal auch die Getreidepreise seit dem Jahre 1871–1892 fast durchweg sehr hoch waren. Es folgte dann freilich ein starker Preisrückgang bis zum Jahre 1905; seitdem haben sich jedoch die Kornpreise in guter Lage erhalten. Die niedrigen Preise in der Zeit von 1893–1905 brachten zwar manchem Landwirt große Sorge und viele Not, aber gerade diese sind ja die besten Förderer der Kultur und regten ihn daher wie auch die Wissenschaft zu fleißiger Arbeit und vermehrtem Fortschritt an.

Auch die Viehpreise waren für den Landwirt günstige und in ständigem Steigen begriffen. [1445] Es stieg der Preis für Rindvieh und Schweine in den letzten 30 Jahren gegen früher um zeitweise über 33%, und das hatte einen vorher kaum geahnten Aufschwung der deutschen Viehhaltung zur Folge, insbesondere der Milchvieh- und Schweinehaltung, während die Schafhaltung infolge der wenig rentablen Wollzucht und der Abneigung unseres Volkes gegen Schaffleisch leider außerordentlich zurückging.

So begünstigt, tritt uns der Fortschritt auf fast allen Gebieten des Ackerbaues und der Viehzucht deutlich entgegen, er hat den Zustand und die Lage der deutschen Landwirtschaft gegen früher gänzlich verändert. Aber sie würde niemals ihren heutigen hohen Stand haben erreichen können, wenn ihr nicht die Wissenschaft allzeit treu zur Seite gestanden hätte. Das tritt uns überall lebhaft entgegen!

Verunkrautung.

Während man noch vor 30 Jahren auf einer Reise durch Deutschland weite Flächen verunkrauteter Äcker erblicken konnte und Quecken, Hederich, Disteln usw. die Kulturpflanzen arg bedrängten, gibt es heute viele Landstriche, die eine gartenmäßige Reinheit der Felder aufweisen. Überall ist der Kampf mit dem Unkraut erfolgreich eingeleitet oder bereits durchgeführt. Hierbei helfen dem Landwirt nicht nur die verbesserten und neu erfundenen Maschinen und Ackergeräte und die sorgsamere Bearbeitung des Ackers, sondern auch chemische Bespritzungsmittel, welche sowohl gegen Unkräuter als auch gegen tierische und parasitäre Schädiger mit bestem Erfolge angewandt werden. So können die Kulturpflanzen, befreit von den lästigen Unkräutern, sich jetzt frei, kräftiger und ertragreicher entwickeln! Schon hierdurch hoben sich die Ernten, aber dieser Hebel wurde durch die weit wirksameren einer rationellen Düngung unter Zuhilfenahme auch der Gründüngung und einer besseren und tieferen Ackerkultur noch erheblich überboten.

Düngung.

In der Düngung haben sich die künstlichen Düngemittel, wie von anderer Seite näher dargetan werden wird, allgemein Eingang verschafft und werden in Deutschland besonders auch auf Sand- und Moorboden jetzt in erstaunlichen Mengen und sehr erfolgreich angewandt. Dabei hat sich jedoch auch die Stallmisterzeugung vermehrt, und vor allem ist der Stallmist von heute weit gehaltreicher – sicherlich um 30–50% – als vor 30 Jahren, weil besser gefüttert und weil er während der Lagerung mehr vor Verlusten geschützt wird. Leider geschieht das letztere immer noch viel zu wenig und keineswegs allgemein, daher gehen auch heute noch alljährlich viele Millionen Mark aus Unkenntnis dem Landwirt verloren. Neben der Stallmistdüngung ist dann die Gründüngung gerade in den letzten 25 Jahren neu belebt und hat viele Anhänger gefunden. Wenn sie vielfach den Erwartungen nicht entsprach, so beruht das auf den besonderen klimatischen Verhältnissen, welche sie als Stoppelfrucht beansprucht, das ist: einen warmen und feuchten Spätsommer und Herbst. Wo diese, wie vornehmlich auch in Lupitz, vorhanden sind, hat sie sich zu einem neuen Wirtschaftssystem ausbauen lassen. Erfreulicherweise nimmt neuerdings auch die Anwendung des Kalkes und Mergels in Deutschland wieder zu und behauptet mit Recht ihren alten bewährten Erfolg auch neben der Massenanwendung künstlicher Düngemittel.

[1446]

Tiefkultur.

Mit der reichlicheren Düngung konnte naturgemäß auch eine Vertiefung der Ackerkrume vor sich gehen, und es bürgerte sich daher die Tiefkultur in Deutschland immer mehr ein. Sie bietet dem Wurzelsystem der Pflanzen einen günstigeren Standort als die Flachkultur und gestattet vor allem auch dem Boden, größere Feuchtigkeitsmengen für trockene Zeiten aufzuspeichern; gerade das hat sich in den allerletzten dürren Jahren als sehr bedeutungsvoll erwiesen.

Die Ackerwirtschaft wurde aber dort besonders gehoben und geradezu zu einer Gartenkultur ausgestaltet, wo ein intensiver Hackfruchtbau sich entfaltete, und so ist vornehmlich der Rüben- und Kartoffelbau die hohe Schule des deutschen Landwirts geworden. In ihr lernten wir die Pflüge und Maschinen in einer Weise vervollkommnen, welcher man schon heute seine Bewunderung nicht versagen kann.

Kulturtechnik.

Wo immer aber die Natur die Äcker und Wiesen dem Landwirte in einem Zustand darbot, welcher sie nicht zu den höchsten Leistungen befähigte, aber doch verbesserungsfähig war, setzte die Kulturtechnik ein. Galt es früher, vor allem die Äcker durch Drainagen trockener und wärmer zu gestalten, so wird neuerdings infolge der letzten trockenen Jahre auch das Problem der zweckmäßigsten Feldbewässerung eifrig bearbeitet. Wenngleich diese nun keineswegs für Deutschland eine derartige Bedeutung erhalten wird wie die Wiesenbewässerung oder die Feldentwässerung durch die Dränage, oder gar wie die Ackerbewässerung in subtropischen Gegenden, so ist sie doch vereinzelt angebracht und besonders wird sie im Garten- und Obstbau mit Erfolg sich einbürgern und bewähren.

Bakteriologie.

Für den Boden hat dann speziell die Bakteriologie noch eine große Bedeutung gewonnen. Zwar haben sich bis jetzt jene Hoffnungen noch nicht voll erfüllt, die neben dem Düngerhändler auch einen Bakterienhändler dem Landwirt prophezeiten. Auch steckt die Entwicklung der Bodenbakteriologie immer noch in den Kinderschuhen, was bei dem Umfang der Materie und ihren Schwierigkeiten kaum anders zu erwarten war. Aber wir wissen heute doch bereits sicher, daß es eine große Anzahl Bakterienarten im Ackerboden gibt, die von so ungeheurer Bedeutung für ihn sind, daß es sich im Interesse der Praxis lohnt, sie gründlich zu erforschen, und das läßt sich die Wissenschaft auch angelegen sein. Den letzten 25 Jahren gebührt das Verdienst, das große Problem der Bodenbakteriologie offen aufgedeckt zu haben.

Pflanzenzüchtung.

Aber noch ein anderes in seinen Folgen großartigeres Problem wurde im letzten Vierteljahrhundert bearbeitet, das ist die Pflanzenzüchtung. Reichen auch ihre ersten systematischen Anfänge in Deutschland um über 20 Jahre weiter zurück, so wurde sie doch erst in der Neuzeit voll entwickelt und in alle ihre einzelnen Teile zergliedert ausgebaut. Die nachfolgende Abhandlung wird sie eingehend würdigen.

Der Erfolg aller dieser Neuerungen und Bestrebungen zeigt sich nun deutlich in den [1447] Ernteergebnissen von einst und jetzt. Sie betrugen bei den wichtigsten Feldfrüchten auf den ha in dz:

Im Erntejahr Roggen Weizen Gerste Hafer Kartoffeln Wiesenheu
Mittel von 1885/86–1889/90 11,3 15,1 15,0 14,1 101,8 32,7
Mittel von 1908/09–1911/12 17,7 20,3 19,6 18,9 129,2 40,9

Zunahme in dz: 5,9 5,2 4,6 4,8 27,4 8,2
Zunahme in % 50,0 34,4 30,7 34,0 26,9 25,1

In diesen Zahlen drückt sich am trefflichsten der Aufschwung der deutschen Ackerwirtschaft aus. Er darf als geradezu beispiellos bezeichnet werden und berechtigt zu der Hoffnung einer weiteren Steigerung, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, daß diese mehr Zeit und Aufwand erfordern wird als die erste Etappe.

Viehzüchtung.

Nicht minder hat sich die deutsche Viehzucht gehoben und dabei in ihrer Leistungsfähigkeit wesentlich verbessert. Über ihren Zuwachs an Kopfzahl und Wert geben folgende Zusammenstellungen einen kurzen Überblick:

Es waren vorhanden Stück:

Pferde Rindvieh Schafe Schweine Ziegen
1883 (Zähljahr) 3 522 545 15 786 764 19 189 715 9 206 195 2 640 994
1912 (vorläuf. Zahlen) 4 516 297 20 158 738 5 787 848 21 885 073 3 383 971
Demnach Zuwachs Stückzahl 993 752 4 371 974 −13 401 867 12 678 878 742 977

Zuwachs in % 28,2 27,7 −69,9 137,7 28,1

Während der Jahre 1883–1912 nahm der Verkaufswert aller deutschen Viehgattungen zusammen in folgender Weise zu:

1883 von 5 575 868 000 Mark
1892 auf 6 379 564 000 Mark
1900 auf 7 697 402 000 Mark
1912 auf 10 100 000 000 Mark (Schätzung).

Gesamtzuwachs von 1883–1912 4 524 000 000 Mark
in % 81,1 %.

Besonders erfreulich ist die starke Zunahme an Rindvieh und Milchkühen, deren Milchertrag für das Jahr bereits auf beinahe 3 Milliarden Mark Wert geschätzt werden kann. Man darf heute wohl die mittlere Milchleistung der deutschen Kuh auf fast 2500 Liter für das Jahr annehmen, während sie vor 25 Jahren kaum 1800 Liter ausmachte. Es gibt heute bereits viele Milchviehställe, welche bis 4000 Liter Milchertrag und darüber auf Kopf und Jahr, und zwar mit einem Fettgehalt von 3,5% und mehr aufzuweisen haben. Dabei hat auch das Durchschnittsgewicht der Kühe wesentlich zugenommen. Dasselbe gilt auch für den Pferdebestand. Die Gründe dieses Aufschwunges liegen nicht zum mindesten mit darin, daß der deutsche Viehbestand von schweren langdauernden Seuchen [1448] verschont blieb, wenngleich auch die Maul- und Klauenseuche um 1911 ganz allgemein in Deutschland auftrat und große Verluste verursachte. Daß sich in der Tierzucht der Fortschritt langsamer vollzieht als in der Pflanzenzucht, ist wohl begreiflich, da z.B. bei Pferden und Rindern die Neuzucht einer Generation mehrere Jahre in Anspruch nimmt, während die Pflanzen alljährlich Samen und Nachwuchs bringen. Infolgedessen hat sich der deutsche Pflanzenbau in den beiden letzten Dezennien verhältnismäßig schneller heben können als unsere Tierhaltung; und es tritt daher die in der Tierzucht bis heute geleistete Arbeit, namentlich was die Qualität und die von ihr abhängende Leistung betrifft, erst später voll in die Erscheinung. Sie berechtigt zu den schönsten Hoffnungen!

Ernährung des Volkes.

Was indessen bis heute geleistet ist, läßt erkennen, daß der deutsche Landwirt alle Kraft daran gesetzt hat, um der pflanzlichen und tierischen Ernährung des Volkes bei seiner starken Vermehrung gerecht zu werden. Freilich ist es ihm bis heute noch nicht gelungen, das Volk in seinen landwirtschaftlichen Bedürfnissen – soweit die Früchte des gemäßigten Klimas in Frage kommen – frei vom Auslande zu machen. Während Deutschland noch vor 50 Jahren ein fast reiner Agrarstaat war, der das Volk selbst zu ernähren vermochte, haben sich seitdem Handel und Industrie so entwickelt, daß die heimische Landwirtschaft den Bedarf der Bevölkerung außer in Fleisch nicht mehr zu befriedigen vermag und wir große Mengen Nahrungs-, Bekleidungs- und Genußstoffe einzuführen genötigt sind.

Diese Tatsache führte naturgemäß dazu, die bis dahin als Ödland ungenutzten Flächen des Vaterlandes zum Anbau heranzuziehen und andererseits die deutsche Landwirtschaft auch auf unsere Kolonien auszudehnen. Das sind zwei neue gewaltige Aufgaben, an welche die deutsche Landwirtschaft erst in den letzten 25 Jahren herangetreten ist und herantreten konnte, und sie bilden wegen der Größe ihrer Folgeerscheinungen einen neuen Markstein in der Entwicklung unserer Landwirtschaft.

Neues Ackerland.

Die Gewinnung von neuem Ackerland in der Heimat geschieht in der Hauptsache durch die Kultur von Moorländereien, die über 4% der Fläche Deutschlands einnehmen, aber auch große Flächen Heidelandes sind noch kulturfähig zu gestalten. Vom Jahre 1890 bis Ende 1910 hat sich nun die Erntefläche im Deutschen Reiche von 22 531 000 auf 23 545 000 ha, das ist um 1 014 000 ha vermehrt. In Preußen allein nahm die Ödlandfläche während dieser Zeit um 764 000 ha ab, wovon der hauptsächlichste Teil auf die Provinz Pommern entfiel. Die Gesamtzunahme an anbaufähigem Lande betrug in Deutschland 4,5 und in Preußen 5,4%. Im ganzen Deutschen Reiche verteilt sich das Neuland auf die Hauptfrüchte in folgender Weise: Es wuchs der Kartoffelacker um 13,4%, das Haferland um 10,4%, das Roggenland um 6,5%, das Wiesenland um 1%. Die Zahlen lehren uns, wie sehr die Gesamterträge innerhalb der deutschen Landwirtschaft noch zu vermehren sind, wenn wir die Kultur der Ödländereien energisch betreiben und bis zum letzten Ende durchführen. Dieses Problem konnte jedoch erst in Angriff genommen werden, nachdem die billigen Kalisalze und das Thomasschlackenmehl neben dem Kalk und [1449] Mergel in reichsten Mengen für das neugewonnene Land zur Verfügung standen, nachdem das Wesen einer rationellen Pflanzenkultur richtig erkannt war und schließlich auch gute und sich in gleicher Höhe haltende Frucht- und Viehpreise, wie sie jetzt durch die Einfuhrzölle gewährleistet werden, die Rentabilität der Neuanlagen verbürgten.

Boden der Tropen.

Aber nicht nur haben wir begonnen, alles anbaufähige Land in der Heimat für die Ernährung unseres Volkes auszunutzen, auch den Boden der tropischen Sonne hat der deutsche Landwirt jetzt in Arbeit genommen. Nachdem der Weltverkehr mit spielender Leichtigkeit und Schnelligkeit und auch mit verhältnismäßig geringen Kosten selbst die voluminösen Stoffe bewältigt, haben die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der tropischen Sonne immer mehr Aufnahme bei uns gefunden. Sie werden nicht nur von unserer Industrie in ungeheuren Mengen benötigt (Baumwolle, Sisal, Kautschuk usw.), sondern dienen nicht minder auch der Ernährung des deutschen Volkes und seines Viehstandes, und zwar in einer Weise, daß sie bereits unentbehrlich sind. Die Entwicklung unseres Volkes würde stillstehen, wenn sie fehlten. Zum Glück wurden uns nun seit 1884 eigene Kolonien zuteil, und es erweiterte sich unser kolonialer Besitz in den letzten 25 Jahren derart, daß der Umfang unserer Kolonien heute fast das 6fache der Größe des Mutterlandes ausmacht. Der deutsche Landwirt von heute hat daher nicht nur die Aufgabe, auf heimatlicher Scholle die für das Volk erforderlichen Stoffe zu erzeugen, sondern er ist ebensosehr verpflichtet, nachdem wir einmal eigenen kolonialen Grund und Boden – und obendrein auch sehr guten – erworben haben, auch diesen zu bearbeiten und ihm das abzuringen, dessen unser Volk bedarf. Das fordert die neue Zeit gebieterisch vom deutschen Landwirt, und zum Glück ist er sich dessen heute bewußt! Anfänglich trat er zwar recht zaghaft und obendrein auch aus Furcht vor Konkurrenz mit Mißtrauen erfüllt an das neue Problem, und so vergingen die ersten 15 Jahre in unseren Kolonien, ohne daß ein rationeller landwirtschaftlicher Geist sich dort entfaltete. Dafür ist nun aber auch in den letzten Jahren um so viel eifriger gearbeitet worden. Dank der kräftigen Hilfe des Reichskolonialamtes, sowie des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees und der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft und dank der arbeits- und opferfreudigen Tätigkeit tüchtiger Männer der Wissenschaft hüben und drüben ist jetzt ein gesundes Fundament der deutschen tropischen Landwirtschaft und die Aussicht auf eine glänzende Entwicklung vorhanden.

Wir Deutsche sind geborene Landwirte und haben den Ackerbau und die Viehzucht praktisch und wissenschaftlich auf eine solche Höhe gebracht, daß wir in diesem Berufe voranmarschieren. Wenn wir uns um die Welt weiter verdient machen wollen, so erfordert es unsere Ehre und ist es unsere Pflicht, im Ausbau auch der kolonialen Landwirtschaft nicht hinter anderen Völkern zurückzustehen. Das erfordert aber auch das Lebensinteresse und der wachsende Wohlstand unseres Volkes.

Gesamtverbrach.

Der Gesamtverbrauch unseres Volkes an landwirtschaftlichen Stoffen ist von mir zurzeit auf rund 16 Milliarden Mark berechnet worden; davon liefert ¾ der heimische Boden, für gegen 12 Milliarden Mark, Stoffe, und mit dem Rest von 4 Milliarden Mark = 25%, sind wir vom Auslande abhängig. Von diesem [1450] Viertel entfielen 1911 rund 2½ Milliarden Mark auf sogenannte Kolonialprodukte, das ist knapp 1/6 von Deutschlands Gesamtbedarf landwirtschaftlicher Stoffe, und 1½ Milliarden Mark, das ist rund 1/10 von Deutschlands Gesamtbedarf landwirtschaftlicher Stoffe, auf Erzeugnisse des gemäßigten Klimas, welche der heimische Boden zurzeit noch nicht zu liefern vermag. Diese Zahlen zeigen uns klar und deutlich, wo und wie uns der Schuh drückt, und weisen der deutschen Landwirtschaft den Weg, der uns zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit von anderen Ländern führt. Besonders erkennen wir aber auch, wie sehr unser Volk schon jetzt Bodenerzeugnisse der Tropen und Kolonien benötigt, und welche hohe Aufgabe unseren Landwirten in unseren Kolonien gestellt ist. Bis jetzt konnten diese erst zu einem nur sehr geringen Teile in unseren Kolonien erfüllt werden, denn sie vermögen zurzeit noch nicht mehr als 3–4% unseres Bedarfs an kolonialen Bodenerzeugnissen zu decken; für über 96% zahlen wir noch an fremde Kolonien. Aber es ist möglich, daß, wenn wir noch zwei Menschenalter treu und beharrlich unsere Kolonien beackern und beweiden und die gleichen Fortschritte darin machen wie in den letzten 5 Jahren, wir unser Ziel erreicht haben werden. An geeigneten Böden und an Arbeitskräften fehlt es in unseren Kolonien nicht und Kapital und tüchtige Beamte sind in der Heimat genügend vorhanden, um die Kolonien damit beglücken zu können. Es ist daher wünschenswert, daß gerade der deutsche Landwirt sein Interesse an unseren Kolonien anspornt!

Unsere koloniale Landwirtschaft hat aber auch noch die große Bedeutung für die heimische, daß sie ihr wirtschaftlich vornehmlich in der Ernährung unserer stets wachsenden Viehbestände zu Hilfe kommt und daß sie uns zum Dank für die vielen erprobten Lehren der Heimat zu neuen Gedanken und Problemen anregt. Das wirkt unwillkürlich wie ein segensreiches Ferment!

Ich habe bisher von den neuzeitlichen Erfolgen und Aufgaben unserer Landwirtschaft im allgemeinen geredet, ohne dabei jedesmal hervorzuheben, welchen Anteil daran die Wissenschaft im Einzeln hat. Daher hierüber noch ein kurzes Wort!

Wissenschaftler.

Früher befanden sich Theorie und Praxis der Landwirtschaft im Widerstreit, weil sie sich gegenseitig nicht verstanden. Als aber Albrecht Thaer gezeigt hatte, daß ein gründlicher Theoretiker auch ein tüchtiger Landwirt sein kann, und Julius Kühn umgekehrt, daß ein gründlicher Praktiker auch als ein tüchtiger Vertreter der Wissenschaft Anerkennung und Ehrung finden kann, ist der Widerspruch behoben. Und so erkennt heute jeder denkende Landwirt an, daß die moderne Praxis der Wissenschaft viel zu verdanken hat und ohne sie nicht mehr auskommen kann. Die Arbeiten der Agrikulturchemiker, wie Liebig, Wolff, Maercker, Kellner, König, Fleischer und Soxhlet, die von Kühn, Settegast, Werner, Wollny, Dünkelberg, von der Goltz, Orth und mancher noch wirkenden landwirtschaftlichen Professoren, sind so grundlegend für die Landwirtschaft gewesen, daß man sich ihren Fortschritt ohne sie kaum denken kann. Aber auch die hervorragenden Praktiter mit ihren rühmenswerten Erfolgen seien hier genannt, H. von Nathusius-Hundisburg, Dr. Schultz-Lupitz, Dr. W. Rimpau-Schlanstedt, Dr. Th. H. Engelbrecht-Obendeich, O. Cimbal-Frömsdorf, F. von Lochow-Petkus und anderer mehr, deren Wirken in die letzten 25 Jahre fällt. Schließlich muß hier auch besonders der preußischen Regierung [1451] und in ihr Dr. Hugo Thiels gedacht werden, dessen zielbewußtes Wirken und Schaffen auf allen Gebieten der Wissenschaft und Praxis außerordentlich anregend war.

Dabei darf nicht unbetont bleiben, daß jeder tüchtige Theoretiker seinen Weg durch die Praxis nehmen muß und sich auch nachher mit ihr in engster Fühlung zu halten hat. Wie sehr dieses heute allgemein anerkannt wird, beweisen insbesondere die Sitzungen und Versammlungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, der Gesellschaften zur Förderung der deutschen Tierzucht, sowie der deutschen Pflanzenzucht, in denen Praxis und Theorie Hand in Hand arbeiten.

Lehre und Forschung.

Die moderne Landwirtschaftswissenschaft hat in 2 Fällen bereits Lehre und Forschung getrennt, indem die agrikulturchemischen Versuchsstationen sowie das landwirtschaftliche Kaiser-Wilhelm-Institut zu Bromberg sich ausschließlich der Forschung im Interesse der Praxis widmen, wenngleich einzelne Leiter der ersteren gelegentlich auch dozieren. Aber an den höheren Landwirtschaftlichen Unterrichtsanstalten ist Lehre und Forschung bis heute noch vereint und wird es auch in Zukunft im allgemeinen bleiben müssen. Das liegt im Wesen derselben begründet, schließt jedoch nicht aus, daß einmal ein hervorragender Forscher von der Lehrverpflichtung entbunden wird, um seine ganze Kraft der Forschung widmen zu können.

Nicht minder wie die landwirtschaftliche Forschung hat nun aber auch die Lehre der Landwirtschaftswissenschaft einen hervorragenden Anteil an dem Aufschwung der letzten 25 Jahre. Und es ist gerade das Verdienst dieser Zeit, sie weiter ausgebaut, vervollständigt und in ganz Deutschland in Stadt und Land verbreitet und fundiert zu haben. Damit komme ich auf

das landwirtschaftliche Unterrichtswesen.

Höhere Lehranstalten.

Bekanntlich teilen sich die höheren landwirtschaftlichen Lehranstalten in Institute, welche den Universitäten oder – wie in München – der Technischen Hochschule eingegliedert sind, und in landwirtschaftliche Hochschulen und Akademien: In Preußen sind die letzteren dem Landwirtschaftsministerium unterstellt, während die ersteren dem Ministerium für geistliche und Unterrichtsangelegenheiten unterstehen. Diese Verschiedenheit ist mit darauf zurückzuführen, daß Liebig die isoliert gelegenen landwirtschaftlichen Akademien 1861 sehr schroff bekämpfte und die Verlegung des höheren landwirtschaftlichen Unterrichts an die Universitäten forderte. Als dem in Preußen 1862 durch die Berufung Julius Kühns an die Universität zu Halle und durch die Begründung eines landwirtschaftlichen Universitätsinstituts (1863) entsprochen wurde und Kühn mit beispiellosem Erfolge das landwirtschaftliche Universitätsstudium inaugurierte, folgte man diesem Vorbilde auch an den Universitäten Göttingen (1872), Kiel (1873), Königsberg in Pr. (1876), Breslau (1881) und außerhalb Preußens in Jena, Leipzig und Gießen. Dafür gingen die meisten isolierten landwirtschaftlichen Akademien ein, und es verblieben nur Poppelsdorf im Anschluß an die Universität Bonn, Hohenheim, Weihenstephan, und [1452] ferner wurde das schon seit 1860 in Berlin bestehende landwirtschaftliche Lehrinstitut mit dem 1867 errichteten landwirtschaftlichen Museum 1881 zur Landwirtschaftlichen Hochschule vereinigt. Sie erhielt dabei neben der landwirtschaftlichen Abteilung noch eine landwirtschaftlich-technische, sowie eine geodätisch-kulturtechnische, mit welch letzterer auch die landwirtschaftliche Akademie Bonn-Poppelsdorf ausgerüstet ist. Den landwirtschaftlichen Universitätsinstituten fehlen diese beiden Abteilungen, weil sowohl die landwirtschaftliche Technologie wie auch die Kulturtechnik und besonders die Geodäsie sich nicht gut dem Wesen der Universität einfügen lassen. Es werden jedoch fast an jeder Universität auch Vorlesungen über landwirtschaftliche Technologie und Kulturtechnik regelmäßig geboten, so daß sich jeder Landwirt darin orientieren kann. – Gegenüber jenen landwirtschaftlichen Hochschulen bietet das Universitätsstudium die Gelegenheit einer weiteren und tieferen naturwissenschaftlichen und allgemeinen Belehrung, und das ist namentlich von großer Bedeutung für die Ausbildung der heranwachsenden Vertreter der Wissenschaft. Jedes der Systeme hat seine Vorteile. Infolge dieser Sachlage hat man auch bis jetzt davon Abstand genommen, das höhere landwirtschaftliche Unterrichtswesen einheitlich nach einer Form auszugestalten, und so ist im Laufe der letzten 25 Jahre die Zweiteilung verblieben. Wohl aber hat man im Laufe dieser Zeit innerhalb der einzelnen Systeme den neuen Anforderungen Rechnung getragen und sie erweitert und vertieft.

Landw. Institut zu Halle.

An den Universitäten ist die Landwirtschaftswissenschaft nach und nach spezialisiert und infolgedessen die Zahl der Lehrstühle wesentlich vermehrt. Die Hauptinstitute sind erweitert und mit Nebeninstituten ausgerüstet. Voran schreitet hierin neuerdings Halle, welches 1914 vollständig neuorganisiert sein wird. Es ist zurzeit das am stärksten besuchte landwirtschaftliche Lehrinstitut. Im Wintersemester 1912/13 studierten an der Universität zu Halle 446 Landwirte von Beruf nebst 57 Kameralisten.

Aber auch die landwirtschaftlichen Hochschulen und Akademien erfreuen sich fortgesetzt der Förderung seitens ihrer vorgesetzten Behörden. Eine solche war an allen Orten dringend nötig, denn das Studium der Landwirtschaft hat sich innerhalb der letzten 25 Jahre in Deutschland fest eingebürgert und die Frequenz in dieser Zeit im Mittel mehr denn verdreifacht, was am besten für seine allgemeine Würdigung spricht. Sie würde in kürzester Zeit noch mehr anwachsen und geradezu emporschnellen, wenn seitens der Domänenverwaltungen bei Erpachtungen nicht nur der Nachweis praktischer Befähigung und eines der Pachtung entsprechenden Vermögens verlangt würde, sondern auch der Nachweis eines systematisch betriebenen Studiums und der Ausweis dafür durch eine bestandene Prüfung. Angesichts der großen Opfer, welche der Staat für das höhere landwirtschaftliche Unterrichtswesen bisher brachte und fortgesetzt wird bringen müssen, und angesichts der großen Bedeutung einer Steigerung der Leistungen unserer Landwirtschaft, welche ohne gediegene wissenschaftliche Kenntnisse nicht möglich ist, sollten alle Bedenken der Finanzverwaltung gegen einen wissenschaftlichen Befähigungsnachweis der zukünftigen Generationen der Domänenpächter fallen!

[1453] Noch mehr als das höhere landwirtschaftliche Unterrichtswesen ist das mittlere und untere im Laufe der letzten 25 Jahre entwickelt worden. Außerordentlich wurden namentlich die landwirtschaftlichen Winterschulen und die Fortbildungsschulen auf dem Lande vermehrt.

Zusammenstellung.

Die folgende kleine Zusammenstellung gibt einen kurzen und sehr erfreulichen Überblick über:

die landwirtschaftlichen Unterrichtsverhältnisse im Jahre 1913:
1. Landw. Instit.
an Universitäten
und technischen
Hochschulen
2. Landw. Professuren
an Universitäten
und techn. Hochschulen
(ohne Institute)
3. Landw. Akademien
und Hochschulen
4. Pomolog. Institute
und Gärtner-Lehranstalten
5. Kolonialschulen
bzw. -Institute
in Preußen 5 1 2 3 1
insgesamt in Deutschland 9 3 4 3 2
6. Seminare und
Landwirtschaftsschulen
(Mittelschulen)
7. Ackerbau-,
Landw. Winterschulen
und ähnliche
8. Niedere Fachschulen
(Obst-, Wein-, Baum-
Gartenbauschulen usw.)
zuweilen verbunden
mit anderen Lehranstalten
9. Wiesen-
bauschulen
10. Molkerei-
schulen
in Preußen 20 224 23 5 13
insgesamt in Deutschland 28 369 43 7 15
11. Hufbeschlagschulen
und Lehrschmieden
12. Landw. Haus-
haltungsschulen
und ähnliche
(abgesehen von Kursen)
13. Spezialkurse
(ungenau verzeichnet)
14. Ländliche
Fortbildungsschulen
15. Wanderlehrer (ihre Zahl ist
nicht genau zu ermitteln, da die
meisten diesen Beruf im
Nebenamte und
unregelmäßig ausüben)
in Preußen 49 37 über 200 4588
insgesamt in Deutschland 61 69 über 200 4738

Wir dürfen den Ruhm für uns in Anspruch nehmen, zurzeit unter allen Kulturvölkern die zahlreichsten und besten landwirtschaftlichen Unterrichtsanstalten zu besitzen, und daraus dürfen wir die freudige Hoffnung schöpfen, daß, wenn die junge Generation, welche in den letzten 10–20 Jahren ihre Ausbildung erhielt, zur selbständigen Bewirtschaftung herangewachsen sein wird, die Leistungsfähigkeit unserer Äcker, Wiesen, Weiden und Viehbestände gewaltig und nachhaltig anwachsen wird. Die letzten 25 Jahre unseres landwirtschaftlichen Unterrichtswesens können daher als bahnbrechend für die moderne deutsche Landwirtschaft besonders bei den kleinen Besitzern angesehen werden.

Die deutsche Landwirtschaft, wie sie sich im Laufe der letzten 25 Jahre entwickelte, steht auf festen Füßen. Zwar bedarf sie der Zölle auch noch in der Zukunft zum Schutz der nationalen Arbeit. Aber sie hat nichts Ungesundes in sich. Sie ist nicht künstlich hochgezüchtet, sondern sie hat sich selbst heraufgearbeitet und fortgebildet. Einzeln für sich und verbunden miteinander durch strebsame Genossenschaften, Vereine und Gesellschaften haben die deutschen Landwirte rastlos gewirkt und neues lebendiges Leben in Flur und Hof entfacht. Ihre Ausstellungen und vornehmlich die alljährliche der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft tun stets neue Erfolge der Arbeit öffentlich dar. Diese [1454] erkennt auch Seine Majestät der Kaiser an, indem er persönlich an den Beratungen und Veranstaltungen landwirtschaftlicher Körperschaften regen Anteil nimmt und überall sein lebhaftes Interesse an landwirtschaftlichen Fragen bekundet. Dazu ist er auch als größter Grundbesitzer des Landes mit dem Wohl und Wehe der Landwirtschaft aufs innigste verbunden.