Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 24

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Trinitatis 23 Wilhelm Löhe
Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
Register der Sommerpostille
Trinitatis 25 »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|

Am vierundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.

Coloss. 1, 9–14.
9. Derhalben auch wir, von dem Tage an, da wir’s gehöret haben, hören wir nicht auf für euch zu beten, und zu bitten, daß ihr erfüllet werdet mit Erkenntnis Seines Willens, in allerlei geistlicher Weisheit und Verstand; 10. Daß ihr wandelt würdiglich dem HErrn zu allem Gefallen, und fruchtbar seid in allen guten Werken, 11. Und wachset in der Erkenntnis Gottes, und gestärket werdet mit aller Kraft, nach Seiner herrlichen Macht, in aller Geduld und Langmüthigkeit mit Freuden; 12. Und danksaget dem Vater, der uns tüchtig gemacht hat, zu dem Erbtheil der Heiligen im Licht; 13. Welcher uns errettet hat von der Obrigkeit der Finsternis, und hat uns versetzt in das Reich Seines lieben Sohnes; 14. An welchem wir haben die Erlösung durch Sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden.

 ES ist, meine lieben Brüder, schon einmal erinnert worden, daß nicht immer der Hauptinhalt einer Epistel die Ursache geworden ist, sie einem evangelischen Texte beizuordnen, daß oft ein besonders schöner oder großer Nebengedanke, ein charakteristischer Zug des Ganzen, welcher für die zusammenhängende Betrachtung des Textes zurücktritt, das Bindeglied für beide Texte bot. Es darf uns das um so weniger verwundern, als für einen Text zuweilen etwas als Nebengedanke erscheinen mag, was für den christlichen Leser und seine Heilserkenntnis von größerer Wichtigkeit ist, als vielleicht die Hauptgedanken. So kommt es denn, daß wir beim Lesen der heutigen Epistel geneigt werden, über den Schluß alles zu vergeßen, was vorausgeht. „Der uns erlöset hat von der Obrigkeit der Finsternis und hat uns versetzt in das Königreich des Sohnes Seiner Liebe, in welchem wir haben die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ – so schließt der Text. Welch ein erhabener Schluß, die oberste Sproße auf der Leiter der Gedanken, welche emporzuklimmen uns die übrigen Worte anleiten. Da sieht man das lichte, liebe Königreich des Sohnes eröffnet, ein Reich voll Erlösung und voll gnädiger Vergebung aller Sünden: helle, freundliche, glückselige Lande einer Heimath werden aufgethan, um deren willen man| jede irdische Heimath ohne Leid und Thränen verlaßen kann. Da sucht man aber auch nach der hehren heiligen Gestalt des Sohnes Seiner Liebe selbst, und sie, sie ist keine andere als die, welche im Evangelium des Tages eben so groß, als herzgewinnend vor unsern Augen hingeht. Da sieh, Er geht. Er eilt zum Töchterlein Jairi, daß Er sie von dem Tode auferwecke. Der Glaube des Vaters zieht Ihn hin. Unter Wegs hält Ihn der Glaube des blutflüßigen Weibes. Die Berührung Seines Saumes wird ihr heilsam; Er aber weiß es, Ihm nimmt auch keine heimliche Hand aus Seiner unermeßlichen Fülle eine Gabe, ohne daß Er Sich als Geber fühlte. Er hilft den Verborgenen, die Sein begehren, – und hilft auch dem Vater Jairus, der um das erneute Erdenleben seiner Tochter fleht. Das Reich der Noth, der Krankheit, des Todes, das ganze Reich der Finsternis muß vor dem großen König weichen. Wie das Licht vor der Sonne hergeht und sie rings umgibt; so geht geistlich Licht und allmächtige Gewalt vor unserm König her und umwebt Ihn. Im Evangelium sehen wir Ihn, wie Er bemüht ist Sein Reich aufzurichten; in der Epistel jauchzen wir darüber, daß dies Reich vorhanden ist und wir hineinversetzt sind. Das Evangelium zeigt den König, die Epistel das Reich desselben. Dort erscheinen einzelne Züge Seiner Herrlichkeit, hier ist all Sein Reich und Reichtum angezeigt als da, – und wir erkennen uns als Bürger und ansäßige Kinder des Reiches und großen Königs.

 Dies die Verbindung unsrer Texte, und nun laßt uns betrachtend vorwärts gehen von einem Gedanken der Epistel zum andern, bis wir wieder zum hohen Schluß gelangen, an welchem sich Evangelium und Epistel zusammenschließen.

 Unsre Epistel hat eigentlich zwei Theile, deren erster V. 9. 10 und der zweite einen Theil von V. 10 bis 14 umfaßt. Beide Theile enthalten ein Gebet des Apostels Paulus, welcher im ersten seinem allgemeinen Inhalte nach, im zweiten aber nach der Ausführung ins Besondere vorgelegt wird, welche gerade für die Colosser nöthig war. Da jedoch der Schluß des zweiten Theils vom 12. Verse an in das schon berührte Dank- und Lobgebet Pauli ausläuft, welches der gesammten Christenheit von Anfang her unauslöschlich ins Gedächtnis geschrieben ist, so könnten wir geneigt werden, drei Theile des Textes anzunehmen: die Bitte St. Pauli für die Colosser im allgemeinen, dann insbesondere, und endlich Lob und Preis des HErrn. Colossä war eine Stadt, in welcher die Gemeinde nicht von Paulo selbst gegründet war, – ein Umstand, welcher für diesen ersten Theil unsers Textes nicht unwichtig ist, zumal wenn wir es mit den Worten genau nehmen, welche vor uns liegen. Wir haben mehrere epistolische Texte im Laufe des Kirchenjahres gelesen, welche sich mit Dank und Gebet für andere beschäftigen. Erst am achtzehnten Sonntage nach Trinitatis lasen wir Dank und Gebet des Apostels für die Gemeinde von Corinth; noch kürzere Zeit ist es aber, daß wir Lob und Dank desselben Apostels für die Corinther lasen; es geschah erst vor vierzehn Tagen, am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis. Allein diese beiden Danksagungen und Bitten stiegen zu Gott auf für Gemeinden, welche der Apostel selbst gestiftet hatte, welche im Kindesverhältnis zu ihm standen; ihm deshalb auch begreiflicher Weise wie Kinder dem Vater am Herzen lagen. Fürbitte und Dank ist in solchen Fällen, wenn man so sagen darf, natürlicher, und so groß und hoch uns St. Pauli betendes Beispiel erschien, so sehr wir beim Vergleich mit ihm Ursache fanden, uns zu schämen; so gibt uns doch die heutige Epistel noch mehr Ursache, das Herz voll Liebe und Andacht zu bewundern, welches in der Brust Pauli schlug, und uns voll Scham und Selbstgericht in den Staub der Buße zu legen. Paulus betet ja für Leute, welche er nicht kennt, welche nicht seine Kinder sind und mehr in das brüderliche, als in das kindliche Verhältnis zu ihm gesetzt werden können. Man könnte beim Anblick in den Text sagen, man merke doch, daß das Verhältnis Pauli zu den Colossern ein etwas ferneres gewesen sei, weil er nur bete, nicht auch für die Gemeinde in Colossä danke; aber man darf ja nur die Lection statt beim neunten beim dritten Verse beginnen, so wird man schnell den Irrtum bemerken. Ja wohl dankt der Apostel für die Colosser, wenn euch unser diesmaliger Text erst bei Darlegung des Gebetes beginnt. Obwohl also die Colosser nicht seine Kinder sind, ist doch seine Liebe zu ihnen durch die von Epaphras gegebene Nachricht so groß und überfließend, daß er für sie danken und beten kann, wie| für die eigenen Kinder. „Von dem Tage an, sagt unser Text, da wir von euch hörten, hören wir – also Paulus und sein gleichgesinnter Jünger Timotheus, wie man aus dem ersten Verse der Epistel sieht, – nicht auf für euch zu beten und zu flehen.“ Welch ein Leben voll unaufhörlichen Gebetes und Dankes, voll brünstiger Andacht führte also St. Paulus und (daß wir den Vorwurf für uns vermehren, indem wir dieselbe Liebe auch bei einem andern finden), – auch Timotheus, daß sie für Corinther und Philipper und ebenso für die Kolosser ohne Unterlaß bitten, sowie ihnen nur kund wird, daß dieselben den gleichen Herrn und Heiland gefunden haben und anbeten. Gott sei uns armen Betern gnädig, die wir kaum für uns beten, geschweige für unsere Nächsten, – die wir kaum beten, geschweige danken, – die wir Gottes Angesicht kaum für unsre Gemeinden dankend und betend suchen, geschweige für die Gemeinden in andern Ländern und von andern Zungen.
.
 Was den Inhalt der Bitte St. Pauli für die Colosser betrifft, so kann derjenige, welcher den Inhalt seiner übrigen Gebete für Gemeinden kennt, wohl schwerlich in Abrede stellen, daß er der Hauptsache nach von den andern Gebeten Pauli nicht sehr verschieden ist. Es bedarf ja auch im Allgemeinen nicht jeder Mensch etwas anderes; alle haben gleiche Bedürfnisse; denselben Bedürfnissen kommt der HErr mit denselben Gaben entgegen; und je mehr ein Mensch dies erkennt, desto mehr wird die Summe aller seiner Gebete für alle die gleiche sein. Er kann auch darüber nicht betroffen sein, er muß ja einsehen, daß es gar nicht anders sein kann. So bittet denn St. Paulus für die Colosser, wie für andere, die schon im Glauben stehen, um Mehrung ihrer Erkenntnis und um einen heiligen Wandel. Dieser und seine Vollendung ist durch jene bedingt; jeder Fortschritt im Leben hängt von unserm Fortschritt in der Erkenntnis ab. Könnten wir, so lieb wir die Unsrigen haben, etwas anderes für sie erbitten und erflehen? – Diese allgemeinen Gebete des Apostels nehmen jedoch bei der Anwendung auf einzelne Gemeinden eine besondere Gestaltung an, welche ihnen den allgemeinen Charakter nicht benimmt, aber dennoch einen warnehmbaren Unterschied in dem betenden Erguße seines Herzens hervorbringt. So heißt der allgemeine Theil des Gebetes Pauli in unserem Texte: „Wir hören nicht auf, für euch zu beten und zu flehen, daß ihr voll werdet an Erkenntnis Seines Willens in allerlei Weisheit und geistlichem Verständnis würdig des HErrn zu wandeln zu allem (Seinem) Wohlgefallen.“ Auch hier, wie anderwärts, betet St. Paulus um Erkenntnisdes Willens Gottes“, worunter er nicht den Willen Gottes in der Führung des menschlichen Geschlechtes, nicht Deßen Offenbarung in der heiligen Geschichte versteht, sondern den Willen Gottes, wie er in den Führungen der einzelnen Gemeinden und Seelen erkannt werden soll. Die gewöhnlichen Menschen fragen nicht nach dem Willen Gottes, sondern sie folgen ihrem eigenen natürlichen Willen. Frömmere Menschen wollen dem eigenen Willen nicht folgen, sondern dem Willen Gottes; sie haben aber oft eine jammervolle Angst, wenn ihr Auge in einzelnen Fällen Gottes Willen nicht erkennt. Die Kolosser waren nicht der ersten Art; daß sie aber auch nicht zur zweiten Classe gehören möchten, deshalb betet und fleht der Apostel für sie. Ihr inneres Auge soll hell werden durch göttliche Weisheit, die zum rechten Ziele die einzuschlagenden rechten Wege erkenne, und durch gestärkte geistliche Faßungskraft, durch Schärfe und Feinheit der geistlichen Warnehmung. Es erinnert die Stelle sehr an Philipp. 1, 9. 10., an die herrliche Stelle vom geistlichen Tacte und Warnehmungsvermögen, welche wir vor vierzehn Tagen vornahmen. Der Zusammenklang beider Stellen beweist nun um so mehr, wie nöthig es ist, sein Inneres aus der Schule des heiligen Geistes nicht bald und überhaupt nie zu nehmen. Wir sind bei dem Geiste Gottes in einer Schule der Entrohung und Bildung, die, allem Gemeinen und Gewöhnlichen feind, Herzen und Sinne zur schönsten Vollendung bringen will. Man darf auch gar nicht fürchten, als ob jemals nichts mehr zu lernen, die innere Kraft nicht mehr zu schärfen, die Sehkraft nicht mehr zu verfeinern sein könnte. Es hängt uns von Natur und durch unsre so vielfach grundfalsche Erziehung eine solche Menge und Masse geistlichen Schmutzes an, daß wir mit unsrer Reinigung und Erziehung, so lange wir hier sind, gewis nicht fertig werden, es auch weder fürchten, noch glauben dürfen, jemals fertig zu sein. – Von diesem Fortschritt unserer Erkenntnis, unsers innern Lebens| macht St. Paulus auch den Fortschritt unsers christlichen Wandels abhängig. Dieser soll sein „würdig des HErrn zu allem Wohlgefallen.“ Geh an die Königshöfe oder sonst in die Häuser vornehmer, hochgestellter Menschen, was bemerkst du an den Dienern, den Bedienten und Beamten? Ich denke der Herren verschiedene Art: sie benehmen sich ihrer Herren würdig. Je größer der HErr, desto würdevoller erscheint auch der Diener; je heiliger und edler – oder je schlechter und gemeiner seine Lebensart ist, desto klarer und unverholener werden auch die Diener Gutes oder Böses an sich und ihrem Wandel hervortreten laßen. Da nun zweifelsohne JEsus Christus der Herren HErr, der Gottessohn und unser hochgelobter Gott, der Allmächtige und Heilige, aber auch der Mittler und Erlöser der Welt, der gute Hirte aller Seiner Schafe ist: so wird auch in uns, Seinen Dienern, Seine einzige, eben so große als leutselige Weise sich aussprechen: heilig, würdig – und doch sanftmüthig und demüthig werden wir Ihm nachwandeln, – von Herzen die Seinigen sein, und voll Eifer und Fleiß, in allen Stücken Seinen Willen zu treffen, wird es uns auch glücken, Seiner würdig, zu allem Seinem Wohlgefallen zu wandeln. Ich weiß mir, theure Brüder, kaum einen Ausdruck, der schöner und edler das Christenleben schilderte, als den unsers Textes „würdig des HErrn zu allem Wohlgefallen“; der große, feine Blick und Sinn St. Pauli hat ganz getroffen, was er für die Colosser beten mußte, – als was er auch für uns Arme beten mußte, wenn er uns gewußt und gekannt hätte. Ach, „würdig des HErrn, dem HErrn zu allem Gefallen“, so möchte ich leben, so möchte ich, daß ihr alle lebtet!

 Bis hieher, meine theuern Brüder, geht derjenige Theil des Gebetes Pauli für die Colosser, welchen ich den allgemeinen genannt habe. Es versteht sich dabei von selbst, daß St. Paul nicht daran dachte, gerade so zu schreiben, daß hernach ein Pfarrer den Text wohl abtheilen könnte. Er schrieb dahin nach dem Zuge des Geistes, der in ihm war; und wie in der Natur oft der Fortschritt eingehüllt ist, so ist auch im Worte des Geistes bei aller heiligen, wundervollen und musterhaften Ordnung der Gedanken doch nicht grade alles nach deinem Maße und deiner Meßschnur gemeßen und abgetheilt. Ich erinnere daran, weil auch die ersten Worte der nun folgenden Gedanken Pauli allgemeinerer Art sind und erst allmählich das Besondere hervortritt.

 So schließt sich an die Worte Pauli „würdig des HErrn, zu allem Wohlgefallen“ übergangsmäßig und recht harmonisch der Ausdruck an: „in allem guten Werke fruchtbar und wachsend (zunehmend) in der Erkenntnis Gottes.“ Denk an den ersten Psalm und seine Seligpreisung der Heiligen. „Sie sind wie ein Baum, heißt es, gepflanzt an Waßerbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht.“ Wenn die Seele an den Waßern des göttlichen Wortes wohnt und des Wortes Sinn und Geist sie und alle ihre Kräfte und Vermögen durchdringt, die fromme, heilige, schöne innere und äußere Bildung immer mehr gedeiht, dann mangelt dem herrlichen Zustande auch nicht die Mannigfaltigkeit der äußeren Erweisungen: dem guten Baume mangeln die Früchte nicht, er wird reich, wie ein Apfelbaum im Herbste, wie der Weinstock, wenn er seine gesegnete Jahreszeit erlebt hat, an allerlei Beweis der in ihm lebenden Gnaden und Gnadenkraft. Keine Vollendung ohne äußere Werke! Glaub es nicht, Bruder, daß einer in einem heiligen Zustande lebt, wenn er äußerlich nicht reich ist an guten Werken! Es muß erkannt werden an Früchten der gut gewordene Baum; darum schon ist es gefüget, daß er nicht anders kann als Früchte, reiche Aernte seinen Brüdern bringen. – Ist aber innerlich der rechte Zustand, das volle Gedeihen vorhanden, und äußerlich die Aernte guter Werke da, dann hat man auch die Hoffnung und Erfahrung immer reicherer Erkenntnis Gottes. Gute Werke, von innen heraus gewirket, je länger je mehr mit vollem Bewußtsein wie aus vollem Triebe hervorreifend, sind nicht bloß etwas Aeußerliches, welches wie ein reifer Apfel vom Baum fällt; sie sind Thaten und Ergebnisse einer Lebenserfahrung, die selbst lebensvoll ist und einen Einfluß auf das innere Leben hat. Je mehr Früchte du bringst, je schöner und reifer sie dir gelingen, desto mehr wird deiner Seele Gottes gnadenreiche Hilfe klar, Seine Nähe, Seine Kraft wird erkannt, und du wirst je länger je reifer in der Erkenntnis des Wesens selbst, welches in dir wirkt und webt. Fleiß der Heiligen in guten Werken ist ein Erfahrungsweg göttlicher Nähe und Hilfe, auf welchem die Seele auf Gott, ihren himmlischen Genoßen,| Schlüße machen lernt und Blicke auf Ihn, um nicht zu sagen, in Ihn bekommt, welche zuvor versagt waren. Es hat jede Stufe des geistlichen Lebens ihren besondern Segen und bringt Fortschritt nach allen Seiten des innern Lebens hin, wenn sie recht erlebt und angewendet wird. So hat der Fleiß in guten Werken auch einen wunderbar entsprechenden Fortschritt der Erkenntnis – merke wohl, nicht bloß des Willens, sondern des Wesens Gottes und unseres persönlichen Verhältnisses zu Ihm. Dieser Fortschritt gehört in das große Kapitel von dem Gnadenlohn, darf nicht falsch, nicht als im Gegensatz zum Grunde des Heiles aufgefaßt oder ausgedeutet werden, hat aber für die, welche im Heile, in der Gnade fester geworden sind, seine gewisse Wahrheit und kann zum Segen betrachtet und besprochen werden. Der HErr bewahre Seine Heiligen vor Irrtum, führe sie aber immer tiefer hinein in die klare Flut lebendigen Waßers.

 Reiche Früchte und immer sproßenden Frühling der Erkenntnis neben dem Herbste jener Früchte erbittet St. Paul den Colossern. Noch aber ist er mit diesen Bitten nicht zufrieden und sein Gebet hat noch kein Ende. Er hat hauptsächlich noch zweierlei, was nach seinem sicheren Blicke die Colosser bedürfen und was er ihnen erbittet, erstens Geduld und Langmuth, und zweitens ein allezeit dankbares Herz gegen Gott.

 Du blickst in den Text und prüfest meine Rede, ob es wahr ist, daß der Apostel diese zwei Dinge erbittet, nicht mehr, nicht weniger: du zweifelst ein wenig? Du drängst vielleicht andere Bedenken zurück, betonst aber aus dem 11. Verse: „alle Geduld und Langmuth mit Freuden“ und wirfst die Frage auf, ob nicht der Bitten mindestens noch drei seien: Geduld und Langmuth – Freude – ein dankbar Herz. Allein die unter Leiden ausharrende Geduld und unter lange fortgesetzten Sünden und lange andauernden Gebrechen oder sittlichen Krankheiten bewährte Langmuth wird im Texte mit der Freude, die Freude mit ihr verbunden: warum? weil sie ohne Freude eine Last und schweres Leiden ist, nur durch Freude erträglich und selig werden und sein kann. Freude ist nicht eine neue Bitte des Apostels, sondern eine nähere Bestimmung und Bezeichnung der von ihm erbetenen Geduld und Langmuth, eine Eigenschaft der Geduld und Langmuth, welche gar nicht fehlen darf. Geduld trägt Lasten; sofern sie Sünden und Fehler des Nächsten trägt, heißt sie Langmuth; unter Lasten im Schweiße des Angesichtes, unter immerwährenden Beleidigungen im Sinne der Ergebung dahin gehen, ist gleichfalls etwas Großes; es mag aber auch in diesem Stücke die natürliche Tugend vieles leisten und erreichen, was innerlich und vor Gott dennoch keinen Werth hat. Dagegen aber das ist himmlisch, geistlich, nicht natürlich sondern übernatürlich, des Königs Christi würdig und Sein heiliges Wohlgefallen: geduldig und langmüthig zu sein mit Freuden. O wer da weiß, was das geredet ist, was ich da sage, der kann ja freilich sein Haupt schütteln. Es ist das Bild eines geistlichen Lastträgers und Sündenerdulders, der dabei voll Freuden ist, so etwas wunderschönes, ein solch heiliges Schauspiel der Himmel, daß ich glauben würde, so etwas sei nur an und in Christo JEsu Selbst erschienen, werde andern nicht gegeben, sei drum von andern auch nicht zu fordern, wenn nicht der 11. Vers des Textcapitels mich tröstete und eines andern berichtete. Der Apostel schickt den Worten, in welchen er die hohe Gabe und Tugend für die Colosser erbittet, etwas voraus, das sehet an. Es sind prachtvolle Worte, voll Inhalts. „Zu wandeln würdiglich des HErrn, zu allem Wohlgefallen, in aller Kraft erkräftigt nach Maßgabe der Gewalt Seiner Herrlichkeit zu aller Geduld und Langmuth mit Freuden.“ So heißt es wörtlich. Und da haben wir also Aufschluß, wie St. Paulus eine solche Geduld und Langmuth von den Colossern erwarten, wie dieselbe für sie erbitten kann. Dazu braucht man Kraft und Sehnen, wenn man die Lasten des Christenlebens, die Sünden, Fehler und Gebrechen der Brüder tragen soll. Wenn man einem Säulengange ein mächtiges Gebälke, den Mauern eines Gebäudes ein schweres Dach auflegen soll, muß man Säulen und Mauern stark machen. Stärke, Stärke bedarf der Christ zur Geduld und Langmuth; wahrlich, er muß, mit St. Paulo zu reden, „in aller Kraft gekräftigt“ sein. Wo aber die Kraft hernehmen, die Last zu tragen und sich dabei noch obendrein zu freuen, so wie ein Christ fasten und überdies sein Angesicht salben soll? Da gibt es ein Maß, an das er sich halten kann, an welches sich bittend St. Paulus selbst hält: es ist|die Gewalt der Herrlichkeit des HErrn.“ Wenn du den Allmächtigen bitten darfst, dann darfst du auch des Allmächtigen Würdiges bitten. ER, der allmächtig nach der Gewalt Seiner Herrlichkeit am Kreuze die Last unseres Todes und unserer Sünden trug, und nach derselben Gewalt jetzt noch HErr wird über Sein brausendes Meer des Zornes und der Gerechtigkeit, das sich wider uns erhebt, – der nach der Gewalt Seiner Herrlichkeit ein guter Hirte ist und bleibt und Seiner Kirche aushält bei allen ihren täglichen Sünden und überdies ihr ein freudenvolles, gnädiges Angesicht zeigen kann: ER gibt Seiner würdig, wenn Er den Apostel erhört, den Colossern und uns Armen alle Kraft, Geduld und Langmuth zu beweisen mit Freuden.

 ER vollendet aber Gabe und Erhörung, indem ER uns zur Langmuth und Geduld mit Freuden – verleiht ein dankbar Herz. „Danksaget dem Vater“, mahnt der Apostel – und betet er zugleich. O was für ein Bild einer christlichen Gemeinde entsteht, wenn wir als gute Maler zusammentragen in Ein Angesicht alle die Züge, welche uns diese Epistel liefert. Welch schönes, reines Menschen- und Christenbild! Und umgoßen ist es von dem Danke und der Danksagung als von einem Heiligenscheine, von Strahlen einer gottverlobten Seele. Alle diese Tugenden und Gaben besitzen, welche der Text besagt, das ist alles Dankes werth, Stoff für ewige, unsterbliche Danksagung, ehe man noch fragt, ob man denn auch für noch andere Dinge dem HErrn zu danken habe. Laß zu den Tugenden den Dank kommen, so wird das ganze Bild, das wir im Texte sehen, priesterlich; das geistliche Priestertum des Christen tritt damit vor’s Angesicht in Geist und Wahrheit. Streich den Dank aus, laß ihn weg, setz dafür ein undankbar Herz? Nicht wahr, der hellste Widerspruch. Es geht ja auch nicht anders: Dank, Danksagung, wie wir das so oft in diesen Episteln des Kirchenjahres sahen, ist des Christen heiliges, unabläßiges, priesterliches Geschäft, in dem lebend, er und alle seine Tugend am Leben bleibt, welches unterlaßend er sich selbst und aller seiner Tugend den nahen Tod ansagt.

 Hier stehen wir nun wieder bei dem schon oben gepriesenen hohen Schluß des Textes, welcher Rechenschaft von dem gibt, wofür ein Christenmensch danken soll, wenn ihm die Gabe und Gnade der Danksagung geschenkt wird und diese selbst die Natur des Lobes und Dankes zu Gott in so hohem Grade annimmt. Ich muß es gestehen, daß es mir bei den Worten dieses Schlußes wieder geht, wie in den späteren Tagen meines Lebens mit der Schriftbetrachtung oftmals. Die einzelnen Theile der Texte des göttlichen Wortes, ja oft einzelne Worte und Ausdrücke nehmen einen Glanz für mich an, daß mir, obwohl ich mich vom Lichte beschienen, ja erleuchtet fühle, doch ist, als erkenne ich nichts, als stehe ich lichtgeblendet vor den offenen Pforten des Paradieses. Es ist alles nur ganz gering, unbedeutend und klein, was so ein armer Textausleger unserer Tage sagt und sagen kann, um sich und andern seine Texte näher zu bringen, und man hat an seiner Stelle immer die Bitte um Verzeihung dafür auf den Lippen, daß man es wagt zu reden. Ich helfe mir, wenn mir die Einsicht schwer wird, zuweilen durch Herstellung einer Uebersicht, eingedenk der Erfahrung, daß Uebersicht Einsicht wirkt. Die kleine Hilfe gebrauche ich auch jetzt bei meinem Texte für heute. Ich werde seiner damit nicht mächtig. Wenn er dafür nur meiner mächtig wird; das ist genug.

 Ich bemerke an dem hehren Schluße unsrer heutigen Epistel wie an einer Leiter, die vom Himmel zur Erde reicht, drei Abtheilungen oder Stufen. Die oberste Stufe wird zuerst enthüllt, dann die zweite, endlich die dritte. Die erste glänzt im Lichte der Heiligung, die zweite in dem der Rechtfertigung, die dritte in dem blutigen Scheine Golgathas und unserer Erlösung; so könnten wir wenigstens sagen, wenn wir nach Weise der Lehrer in den Schulen reden wollten.

 Er hat uns tüchtig gemacht zum Antheil am Loose der Heiligen im Lichte,“ – mit diesen apostolischen Worten wird die oberste Sproße der Leiter, unsre Heiligung, enthüllt. „Er hat uns errettet aus der Obrigkeit (oder Botmäßigkeit) der Finsternis und versetzt ins Königreich des Sohnes Seiner Liebe“, das ist die zweite Sproße; so redet der Text von unserer Rechtfertigung. „In diesem haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden“, hiemit steht die Leiter auf der Höhe von Golgatha auf. – Vielleicht könntest du meine Uebersicht tadeln. Vielleicht| meinst du, das „tüchtig machen“ gehe nicht auf die Heiligung, zuletzt deuten die Worte „Vergebung der Sünden“ mehr auf die Rechtfertigung als auf die Erlösung hin. Wenn du so reden würdest, würde ich dir, wie ich in solchen Fällen, in welchen es sich um Deutung deutungsfähiger Sprüche handelt, immer thue, nicht widerstreben, mich in keinen Streit einlaßen. Aber meinen Sinn und Verständnis glaube ich, dir vorlegen zu sollen. Daß ein Gang von oben nach unten, von der Heiligung zur Erlösung abwärts in unserm Texte sich finden läßt, wirst du vielleicht im Allgemeinen nicht leugnen. Da scheint mir denn fürs Erste der Ausdruck „Vergebung der Sünden“ in der Verbindung mit dem Ausdruck Erlösung, wie sich beide Vers 14 finden, nicht von der Vergebung zu reden, wie sie jedem Einzelnen in seiner Rechtfertigung und Absolution zu Theil wird, sondern in einem Sinne gebraucht zu sein, wie er zu der großen That der Erlösung, die auf Golgatha geschehen ist, paßt. Auf Golgatha ist genug gethan für alle unsre Schuld: erworben und gewonnen, wenn auch noch nicht den Einzelnen zugetheilt, ist die Vergebung. Im Allgemeinen kann man sagen: „Auf Golgatha ist Vergebung der Sünden geschenkt,“ wie man sagen kann: „Auf Golgatha sind wir erlöst.“ Weil ich die Worte von der Vergebung hier so glaube faßen zu müßen, nannte ich den 14. Vers die dritte Sproße der Leiter, welche auf der Höhe von Golgatha aufsteht. – Was nun aber das tüchtig machen des 12. Verses anlangt; so hielt ich auch hier den Gedanken fest, daß die Stufenleiter von oben nach unten beschrieben sei. Erlöst sind wir auf Golgatha, – dann sind wir durch Wort und Taufe aus dem Reiche des Satans und seiner Finsternis entnommen und ins Reich des geliebten Sohnes gesetzt; die Kraft der Erlösung wird uns in Taufe und Gottes Wort nahe gebracht und bewältigt sich unser. So steht es nun mit den Colossern, und was es jetzt gilt, das heißt nun tüchtig machen, befähigen, den Antheil am Loose aller Heiligen im Lichte zu faßen und zu behalten. Ich könnte mir ganz wohl denken, daß der Ausdruck „tüchtig machen, befähigen“ von der Rechtfertigung gebraucht wäre; ich würde keinen Anstand nehmen, ihn selbst tausend Mal so zu gebrauchen. Ist jedoch in unsrer Textesstelle ein Fortschritt – und zwar der umgekehrte der Heilsordnung, von oben nach unten, dann scheint mir der „Antheil am Loose der Heiligen im Lichte“ mehr auf das Loos hinzudeuten, welches die einzelnen Glieder des geistlichen Israel in jenem himmlischen Canaan bekommen werden, auf das Land und Erbtheil auf der neuen Erde, wenn so gesagt werden darf, – und das „tüchtig machen“, „fähig machen“ scheint dann nicht im Sinne des Erwerbens oder gar der Würdigkeit, sondern rein im Sinne der Besitzergreifung verstanden werden zu müßen. So wie ohne Heiligung niemand den HErrn sieht, obwohl wir alle und ohne Ausnahme aus Gnaden allein selig werden, und jener Ausdruck biblisch und wahr ist, wie die Lehre von der Seligkeit allein aus Gnaden; so wirst du auch, wenn du schon gerechtfertigt bist, doch nicht Besitz ergreifen von deiner ewigen Heimath, nicht befähigt sein, dein Erbe anzutreten, wenn du dich nicht heiligen läßest.

 So faßte ich den Schluß des Textes, welcher in kurzen Worten die ganze Bibel einfaßt, – in großen, prachtvollen und doch so einfältigen Reden den Grund alles Dankes darlegt, den wir mit allen Heiligen Gott in Zeit und Ewigkeit bringen sollen.

 Beweget nun ihr den Schluß des Textes und den ganzen Text in Euren Herzen. Faßet, was ihr könnet. Genießet, was euch bereitet ist. Der HErr aber verleihe euch Gnade, alles, was St. Paulus den Colossern erbetet hat, selbst zu empfangen – und dem HErrn dafür ewig zu danken! Amen.




« Trinitatis 23 Wilhelm Löhe
Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
Trinitatis 25 »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).