Erinnerungen aus alter Zeit
Gar ernst und viel erzählend steht das alte Schloß von Großkochberg dort über dem gleichnamigen, thüringischen Dorfe, das sich darunter südlich im Thale hingebaut hat. Ein breiter, tiefer Wallgraben mit Wasser umzieht den umfänglichen Schloßbau, und hinter ihm nach Norden hebt sich auf dem hohen Ufer des Walles das dunkle Grün mächtiger Fichten, Ulmen, Buchen, der Anfang seines großen Parkes, empor, und läßt das Grau der alten Mauern und Thürme noch klarer hervortreten. Eine Brücke führt zu einem von alterthümlichen Gebäuden umgebenen Vorhofe, von dem dann rechts ein breiter Stufenaufgang zum Hauptportale leitet. Das ganze Aeußere dieses Schlosses ist das Bild eines alten, festen Rittersitzes, rein von allen angeklecksten Neubauten und sogenannten modernen Verschönerungen.
In diesem Schlosse lebte der Freiherr Friedrich v. Stein mit seiner Gattin, zwei Söhnen und einer Tochter. Die Mutter des Freiherrn, die Frau Stallmeister v. Stein, die bekannte Freundin Goethe’s, hielt sich im nahen Weimar auf. In dem alterthümlichen Schlosse von Großkochberg mit seinen gar wohnlich eingerichteten Räumen und seiner einfachen, aber gediegenen Ausstattung bewegte sich ein schönes Familienleben, welches Kunst und Wissenschaft zu treuen Hausgenossinnen erwählt hatte. Der Hausherr, ein liebenswürdiger Mann, der selbst malte und ein sehr eifriger Freund von Anlagen und Bauten war, hatte mit großem Geschmacke ein zum Theile unwirthliches Grundstück, das sich nördlich hinter dem Schlosse an einen fast kahlen Kalkberg lehnte, zu einem weiten Parke umgewandelt. Der ganze Park schien ein Stück selbstgewachsener Kunst zu sein. Alle einzelnen Partien machten einen wohlthuenden Eindruck, und alle waren trotz ihrer Mannigfaltigkeit doch Glieder eines schönen Ganzen.
In dem alten Schlosse selbst kehrten geistreiche Menschen, Künstler und Schriftsteller nicht selten ein. Auch der Herzog Karl August von Weimar war gern hier, namentlich aber Goethe. Der gastlichen Stein’schen Familie war überhaupt willkommen, wer in solchen Kreisen sich wohl fühlte. Namentlich gaben die beiden näheren Städte Weimar und Rudolstadt viele willkommene Gäste. Das kleine Städtchen Rudolstadt hatte gerade damals eine schöne Blüthezeit unter der kunstsinnigen Fürstin-Wittwe Caroline. Noch lebten dort Freunde Schiller’s und unter diesen und mit den Erinnerungen an ihn etwas von seinem Geiste. Neben dem tüchtigen Capellmeister Max Eberwein glänzte der patriotische Liedercomponist Albert Methfessel als Kammersänger. Er war in Großkochberg ein vielgesehener Gast.
Besonders lebhaft ging es auf dem alten Schlosse her, wenn das Dorf im Herbste sein Kirchweihfest hielt. Zwischen dem Dorfe und seinem Gerichtsherrn v. Stein waltete ein gutes patriarchalisches Verhältniß. Zu einer solchen Kirchweihe war ich – damals Schüler auf dem Gymnasium zu Rudolstadt – mit meinen Eltern geladen. Diese wohnten nur ein halbes Stündchen von Großkochberg entfernt, und so lange ich noch im Elternhause lebte, hatte ich viel mit den Söhnen des Herrn v. Stein verkehrt. Der ältere, Fritz, war ein sehr befähigter Knabe und Goethe’s Liebling. Da er, wie ich, ein sehr lebhaftes Temperament hatte, so vereinte uns dieses zu jener eigenthümlichen Knabenfreundschaft, die in der einen Stunde sich warm umarmen möchte, in der andern aber sich gar ernstlich zausen kann. Der jüngere Sohn des Hauses, Karl, war mir zu ruhig, zu überlegend.
An einem jener sonnigen und lebenerfrischenden Herbsttage wanderten meine Eltern mit mir als Kirmeßgäste nach Großkochberg. Hier erfuhren wir, daß außer anderen Gästen auch Goethe und mein musikalischer Mentor Methfessel, dieser mit M. v. Holleben, einem liebenswürdigen und kunstsinnigen Herrn von Rudolstadt, sich eingefunden hatten. Der Name Goethe zuckte wie ein Blitz in meine Seele. Obgleich ich früher vorzugsweise Schiller schwärmerisch verehrte, so hatte mein väterlicher Lehrer Abraham Voß (Sohn des Johann Heinrich Voß), der Uebersetzer Shakespeare’s, mich später doch auch für Goethe begeistert. Ich hatte ihn noch nie gesehen, und konnte nun in seiner Nähe sein, ihn vielleicht sprechen. Bald aber wich meine freudige Aufregung einer niederdrückenden Scheu. Ich erinnerte mich, oft gehört zu haben, daß der Geheimrath v. Goethe in seinem ganzen Wesen etwas unnahbar Hohes habe. Meine Bedenken wurden noch bestärkt durch die erste Begrüßung beim Eintritte in den Saal, in dem die Gäste des Herrn v. Stein saßen oder standen. – Ja, es lag etwas Hohes, ich möchte sagen Fürstliches in dieser aufgerichteten Gestalt mit dem schönen Kopfe, dieser imponirenden Stirn und den großen geistvollen Augen; aber ein Zug um den Mund sprach ein etwas störendes Ich! – Wie sollte ich indeß freudig überrascht werden durch die natürliche Freundlichkeit dieses genialen Mannes!
Der geehrte Leser erlaube mir, ehe ich weiter erzähle, einen ganz kurzen und bescheidenen Excurs, der zwar nicht zur Kirmse, aber zu Goethe gehört. In der riesenhaft angeschwollenen Goetheliteratur finde ich die eine Seite von Goethe theils gar nicht, theils meinem Gefühle nach zu wenig ausgeführt, gerade die Seite, die uns als Menschen zu ihm zieht: daß er, wo er nicht von kleinen Geisterchen zum Theile mit widerlich lächerlichem Weihrauche beräuchert, wo er nicht von eitler geschwätziger Jämmerlichkeit, die sich an ihn anzusaugen suchte, heimgesucht, oder nicht, wie ein Wunderthier, selbst mit frecher Eindringlichkeit, aufgesucht wurde, kurz, wo er sich überhaupt nicht gebunden und belästigt fühlte, daß er da menschlich unmittelbar, ja herzlich sich geben konnte; so daß man gar Manches an ihm entschuldigen und ihn lieb gewinnen mußte. Um diese gute menschliche Seite in dem unmittelbar Beobachteten und treu Wiedergegebenen aus dem Leben Goethe’s zu zeigen, übergebe ich diese Erinnerungen seinen Verehrern.
Kommen wir auf die Erzählung zurück. So stand denn ich armes Schülerlein in der großen Gesellschaft, von Niemandem speciell beachtet, als von den treuen Augen meiner guten Mutter. Fritz v. Stein war abwesend, Karl wurde von einer gnädigen Tante examinirt. Dennoch hielt ich eine genaue Revue über alle guten Regeln des Anstandes, die ich namentlich in der Tanzstunde erhalten hatte, um vor Allem dem einen Gegenstande meiner Verehrung gegenüber mich fein säuberlich zu benehmen. Dies muß mir so leidlich gelungen sein; denn Karl v. Stein behauptete später gegen seinen Bruder: er habe mich heute in der Gesellschaft nicht wieder erkannt; denn ich hätte eine so ceremonielle Haltung angenommen, daß ich, einige unbedeutende Steifheiten abgerechnet, ganz gut am königlich sächsischen Hofe hätte debutiren können.
Goethe hatte sich neben die Hausfrau, eine feingebildete, tactvoll edle Frau, gesetzt und unterhielt sich mit ihr so, daß die schönen Züge der sonst so stillen, bleichen Frau, sich zu immer mehr Leben verklärten. Im ganzen Wesen Goethe’s trat immer mehr ein leichtes, heiteres Sichhingeben hervor. Besonders interessirte mich das feine, gesellige Umgangsspiel zwischen Goethe und einer Frau v. F. Diese schien die entschiedene Absicht zu haben, Goethe für sich zum Cavalier zu gewinnen. Sie wußte sich immer näher und theilnehmender an Goethe zu wenden und schien Alles aufzubieten, den herrlichen Mann heute für sich einzunehmen. Goethe blieb artig, er wurde es in der feinen Form immer mehr. Aber je artiger er gegen Frau v. F. wurde, umsomehr wußte er der anspruchloseren Frau des Hauses anzugehören. Zwischen ihm und der Frau Stallmeister v. Stein war, wie ich auch später bemerkte, ein Verhältniß gegenseitiger Achtung. Frau v. Stein schien ein geistiges Bedürfniß, das sie drängte, zu Goethe zu führen; Goethe dagegen Umgang und Urtheil der feinfühlenden [493] Frau zu suchen, die ebenso gebildet und klar, als einfach war in Erscheinung und Wort.[1]
Indessen kam Fritz v. Stein und erlöste seinen Bruder und besonders mich von unserer Wachtparade in der großen Gesellschaft. Wir eilten auf eine Brücke, welche westlich über den Wallgraben führte, auf einen großen abgerundeten Kiesplatz, an den sich nach Süden der große Pavillon schloß, zu dessen Säulenhalle eine breite Treppe führte. Hier waren wir mitten im fröhlichen Spiele, indem wir mit großen, schweren Kegelkugeln nach einem ziemlich entfernten Pfahle warfen, als Goethe kam und uns zurief: „Was treibt Ihr da?“ – Und wie anders war jetzt dieser so gefeierte Mann! Leicht kam er einher, freundlich schaute er uns an, nahm Fritz v. Stein an der Hand und forderte uns auf: „Jetzt, Burschen, kommt mit mir!“ Er schlug den nächsten Weg in den Park ein, und ich folgte schüchtern; ich gestehe, nicht ohne Neid auf den Spielcameraden, den Goethe an der Hand führte. Goethe wußte herrlich mit uns zu plaudern, er gab uns Räthsel auf und setzte sich in eine Laube, welche neben einem Quell sich erhob. Vor uns lag der blaue Spiegel eines ovalen Teiches, dessen klares Wasser ein grüner Grasrand einfaßte.
Nachdem wir einige Räthsel gelöst hatten, während ich in respectvoller Ferne stehen blieb und nur schüchtern antwortete, fragte mich Goethe, warum ich so scheu und fern bliebe? Auf meine langsame Antwort: „ich weiß, vor wem ich stehe,“ rief Fritz v. Stein:
„Stille Wasser sind tief; der ist ein ebenso wilder Bursch, wie ich.“
Goethe lächelte und fragte mich, ob ich schon einen Beruf gewählt hätte? Ich antwortete, daß ich eigentlich Soldat hätte werden wollen; da meine Eltern aber das nicht wünschten, möchte ich Theologie studiren.
„Hm, hm!“ entgegnete Goethe, „ein leidlicher Sprung! – Theologie? – Aber da hüte Dich vor den theologischen Quacksalbern und vor den Todtengräbern, die das alte Gebein ausgraben, und gelehrt darüber spintisiren und es sortiren und wunderbarlich combiniren. – Ein Theologe? – Hm, ja! – nur aber ein rechter. Und das ist nicht leicht. Hüte Dich vor der gelehrten Species, die mit dunklen Worten andächtig kramt. Meine nicht, was Rechtes zu erhaschen, wenn man schwache Weiblein gefangen nimmt, und verkommene Taugenichtse mit Gnadenworten streichelt. – Ein rechter Dorfpastor, der mitten im Leben steht, der es frisch faßt und warm beleuchtet, ist besser als ein aufgeblasenes Kirchenlicht, das weiß, was Niemand weiß, und beweist, was Keiner versteht. Halte am Leben und seiner frischen Quelle, nicht an flimmerndem Scheine, – an der Natur, nicht an wunderlichem Gelehrtenkrame.“
Während Goethe dies sprach, und nach und nach lebhaft wurde, kam ein Theil der Kirmeßgäste mit dem Hausherrn. Da sich nun Goethe an diese anschloß, wendeten wir drei jungen Bursche uns auf dem nächsten Seitenwege nach einem anderen Theile des Parkes, und während die Brüder Stein in ein lebhaftes Gespräch mit einander geriethen, flüchtete ich mich zu einem einsamen Plätzchen, und suchte mir Goethes Worte über die Theologie treu in meine Brieftafel niederzulegen.
Bald rief uns die Tischglocke zusammen, und nach einem sehr belebten Mittagsmahle in dem schon oben erwähnten offenen Pavillon, welcher einen freien Blick in den Park hinein gewährte, begab sich die ganze Gesellschaft nach dem Dorfplane, wo die Ortsgemeinde ihren Kirmeßtag hielt, ziemlich in der Mitte des Dorfes. Um eine majestätische Linde, welche ihre riesigen Aeste weit um sich breitete, zog sich ein erhöhter, runder Plan. An der einen etwas hoch gelegenen Seite war von Balken, Birken und Tannen eine Laube errichtet.
Schon ging es unter dem alten Baume gar lebhaft her. Zu der Fiedel scharfem Striche, von drei Baßtönen, einer schneidenden Clarinette und zwischendurch von der Trompete und großen Trommel begleitet, drehte sich schleifend das fröhliche Völkchen, jauchzend und tratschend, während ringsum der frische Dorftrunk, das selbsterbraute Bier, in großen Gläsern und Krügen fleißig von Hand zu Hand, von Mund zu Munde ging. Sobald man aber den Dorfherrn, denn das war Herr v. Stein im humansten Sinne des Wortes, mit seinen Gästen kommen sah, schwieg die Musik und löste sich der Tanz. Zwei Männer, die Senatoren der Gemeinde, und zwei frische, junge Burschen, die gewählten Vortänzer der Kirmeß, kamen mit großen Gläsern voll Bier ehrbar dem Herrn und der Frau v. Stein entgegen, hießen sie willkommen und kredenzten ihnen und ihren nächsten Gästen den „frischen Trunk“. Herr v. Stein trank auf das Wohl seiner Großkochberger, und die Abgeordneten geleiteten die Angekommenen zu der Laube, welche man für den Gerichtsherrn und seine Gäste erbaut hatte. Während die erwähnten beiden jungen Burschen ein Paar verschämter junger Tänzerinnen den beiden Söhnen des Herrn v. Stein zuführten und der eine sich bei Fräulein v. Stein die Ehre des Tanzes ausbat, bot die Musik alle Kräfte auf, einen besonders schönen Walzer zu spielen, und die drei Paare tanzten jetzt den sogenannten „Ehrentanz“. Anfangs hatte sich Goethe unter die Leute begeben und mit ihnen gesprochen, dann aber setzte er sich in die Laube. Schweigend saß er da, und das große Auge beobachtete das bewegte, jubelnde Volk in seinem fröhlichen, derben Gebahren. Hier die gemächlichen Alten mit Pfeife und Bierkrug, da die gemessenen, neugierig umschauenden und dabei gar ausdrucksvoll richtenden und schlichtenden Frauen, in der Mitte das sich schwenkende, drehende, trappelnde junge Volk.
Als nach ein paar Stunden die Stein’sche Gesellschaft heimging, engagirte Goethe den lebhaften Methfessel und ging mit ihm in den Schloßpark. – Nach einiger Zeit wurden Beide vermißt, geheimnißvolles Flüstern folgte hier und da, nachdem Diener eingetreten waren und Meldungen an den Hausherrn gemacht hatten. Man rief Fräulein v. Stein ab. Auch ich wurde bald abgerufen und in einen Salon geführt. Hier fand ich Methfessel am Flügel, neben ihm den Sohn des Cantors vom Orte, welcher einen vollen, sonoren Baß sang, und Fräulein v. Stein, welche eine herrliche Discantstimme besaß. Letztere kam mir fröhlich entgegen: „Sie müssen mitsingen, wir führen die Kirmeß auf.“ Goethe stand mit einem Papier im Hintergrunde. Er hatte einen Text niedergeschrieben, den Methfessel in flüchtigen Zügen componirt; Alles war in vielleicht zwei Stunden geschehen. Goethe las uns nun seinen kurzen Text mit dem vollen Ausdrucke des Lebens – Wenige können lesen, wie es Goethe konnte – zweimal vor, machte die nöthigen Bemerkungen und übergab dann Methfessel das Weitere, indem er uns verließ. Nun wurde der Gesang eingeübt, während Methfessel nach einzelnen hingeworfenen Noten und musikalischen Zeichen accompagnirte. Wir waren mitten im Singen – da trat ein Diener ein und bat, wir möchten zum Thee kommen. Er wurde an die vertraute Adresse gewiesen; bald kam ein zweiter, ein dritter, endlich Goethe und rief: „Kinder, ich bewältige den Sturm nicht mehr. Eilt und kommt! Eure Musik ist ja Dorfkirmse; da geht viel in den Kauf. Lieber Methfessel, jetzt gilt’s Selbstverleugnung. Kommt!“
Mit den Worten: „Menschen, ihr mordet mein ungebornes Kind!“ stand Methfessel auf und rief Goethe nach: „Ja, kommt! – Der hat gut reden, sein Ding ist fertig; – aber wir, wir führen eine richtige Dorfkirmse auf, daß die armen Zuhöhrer sich entsetzen werden.“
Er nahm mit Todesverachtung seine Papiere. Wir folgten ihm. Wir glichen einem Trauerzuge. So traten wir in den Salon der Frau des Hauses, wo sich die übrige Gesellschaft, längst auf uns harrend, gesetzt hatte. Vor Frau v. Stein rauschte und rauchte die Theemaschine, und die sorgliche Herrin rief: „Mein Thee, mein armer Thee!“
Methfessel aber antwortete: „Meine Kirmse, meine arme Kirmse!“
„Was will er mit der Kirmse?“ hieß es, und die nicht verstandene Klage des armen Componisten machte der in unser Geheimniß uneingeweihten Gesellschaft gar mancherlei Bedenken.
Indessen hatten die Diener den Flügel hereingebracht. Der unruhige Methfessel trank mit Hast eine Tasse Thee mit Rum und flüsterte Goethe zu, der neben ihm saß: „Ihr tragt die Schuld, wenn wir elendiglich zu Schanden kommen. O ich Esel, daß ich mich durch Euch berücken ließ!“
Obgleich auch Goethe jetzt die Sache bedenklich zu finden schien, stand er doch auf, rief Methfessel leise zu: „Besser frisch [494] los, als erst am Angsttüchlein kauen!“ und trat vor den Flügel, wo er mit fester Stimme rief: „Eine neu etablirte Künstlergesellschaft bittet um geneigtes Gehör; wir produciren das Ende der Verschwörung, genannt ‚Die Dorfkirmse‘.“
Während sich jetzt Alle forschend aufrichteten, sammelten wir Sänger uns um Methfessel, der sich mit den Worten an den Flügel setzte: „Ja, eine sehr neu etablirte Künstlergesellschaft!“ Uns aber flüsterte er zu: „Wenn’s nicht recht mehr gehen will, schreit nur recht confus durcheinander, daß die Geschichte wenigstens noch ein sehr schlechter Witz wird.“
Methfessel begann seine Einleitung anfangs zaghaft, bald aber mit Hingebung und meisterhaft. Goethe’s Gesicht verklärte sich. Uns faßte Methfessel’s Spiel. Wir erlangten Muth, der zur Begeisterung wuchs. Alles gelang wunderbar.
Unsere Dorfkirmse war eigentlich eine für die Musik kurzgeschürzte Idylle mit lebensvollen, frappanten Bildern der Dorfkirmse, vom Erwachen vielgeschäftigen Lebens beim Aufgange der Sonne bis zur derbplastischen Darstellung des Tanzes unter der Dorflinde, des Trinkens und seligen Plauderns auf dem lebendigen Dorfplane. Eine sehr glückliche Conception Methfessel’s hatte die Idylle mit liebenswürdigem Humor in Melodie, Ton und Rhythmus wiedergegeben. Das Ganze schloß mit einem bekannten alten Walzer, der immer langsamer, immer dünner wurde, bis er mit drei einsamen Tönen des Baß in c–a–Octav-C verklang.
Ein wahrer Jubel großer Heiterkeit brach aus, und lebhafter Beifall wurde immer lauter. Methfessel wendete sich mit strahlenden Blicken an uns Sänger und rief: „Ihr habt inspirirt gesungen, wie geübte Meister! Dank, tausend Dank!“
Er aber hatte wunderbar gespielt, und vor ihm standen doch nur einzelne Noten und Zeichen, wie einsame Wegweiser. Louise v. Stein hatte mit ihrer herrlichen Stimme nicht nur richtig, sie hatte mit sinniger Naivetät gesungen und der Bassist namentlich den Schluß gekrönt. Frau v. Stein wendete sich zu Goethe: „Nun, da haben wir nach langer Zeit den Naturforscher[2] auch wieder als lieben Dichter gehört.“
Goethe aber rief: „Heute gebührt unserm Methfessel der Preis!“ und drückte diesem herzlich die Hand. –
Unsere aufgeführte Dorfkirmse hatte in der ganzen Gesellschaft liebenswürdige Geister geweckt. Ein sinnig heiteres Leben und Bewegen ging durch alle Gäste. Selbst ein alter wohlbeleibter Herr, ein einstiger Lehrer in der Familie, der sonst nur ernst, gebeugt die Einsamkeit aufsuchte, schlich aus seiner abgesonderten Ecke in ein Nebenzimmer, trällerte dort stillvergnügt Klänge aus längst verschwundener Zeit und setzte, so zierlich er konnte, die widerstrebenden Füße, als dränge ihn sein Behagen, eine Menuet aus alter Zeit zu versuchen.
Als ich mit den Meinigen in später sternenheller Nacht heimging, blickten wir noch hinauf zu dem alterthümlichen Schlosse, das so ernst und schweigsam vor uns stand, und mein Vater rief: „Das war heute eine Kirchweih der Musen unter edlen Menschen.“
- ↑ Man hat das Verhältniß zwischen Goethe und der Frau Stallmeister v. Stein bisweilen gewiß falsch aufgefaßt. Ich war öfter bei Frau v. Stein in Weimar, und sie selbst führte mich später bei Goethe ein. Wer die geistig bewegte Frau und ihr Leben näher kennen lernte, wer sie mit Goethe zusammen sah, mußte zu obigem Urtheile kommen.
- ↑ Gerade in jener Zeit widmete sich Goethe jahrelang mit großem Eifer den Naturwissenschaften, namentlich der Lehre von den Farben.