Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Marien Heimsuchung

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Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am Tage Marien Heimsuchung.
Luc. 1, 39–56.
39. Maria aber stand auf in den Tagen, und gieng auf das Gebirge endelich zu der Stadt Juda. 40. Und kam in das Haus Zacharias, und grüßete Elisabeth. 41. Und es begab sich als Elisabeth den Gruß Marien hörete, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth ward des Heiligen Geistes voll, 42. Und rief laut und sprach: Gebenedeiet bist du unter den Weibern, und gebenedeiet ist die Frucht deines Leibes. 43. Und woher kommt mir das, daß die Mutter meines HErrn zu mir kommt? 44. Siehe, da ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfete mit Freuden das Kind in meinem Leibe. 45. Und o selig bist du, die du geglaubet hast; denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem HErrn. 46. Und Maria sprach: Meine Seele erhebet den HErrn, 47. Und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes. 48. Denn Er hat die Niedrigkeit Seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder, 49. Denn Er hat große Dinge an mir gethan, der da mächtig ist, und deß Name heilig ist. 50. Und Seine Barmherzigkeit währet immer für und für, bei denen, die Ihn fürchten. 51. Er übet Gewalt mit Seinem Arm, und zerstreuet die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. 52. Er stößet die Gewaltigen vom Stuhl, und erhebet die Niedrigen. 53. Die Hungrigen füllet Er mit Gütern, und läßet die Reichen leer. 54. Er denket der Barmherzigkeit, und hilft Seinem Diener Israel auf; 55. Wie Er geredet hat unsern Vätern, Abraham und seinem Samen ewiglich. 56. Und Maria blieb bei ihr drei Monate, darnach kehrete sie wiederum heim.

 ALs der Engel zu Marien kam, um ihr die Geburt des Heilands, ihres Sohnes, zu verkündigen, gab er ihrer gläubigen Seele ein Zeichen der Wahrhaftigkeit seiner Worte. Er wies nemlich auf ihre Gefreundte d. i. Verwandte, die Priestersfrau Elisabeth auf dem Gebirge Juda hin, welche, obwohl alt und wohlbetagt, doch durch Gottes Wort einen Sohn empfangen hatte und im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft gieng. Maria hatte durch des Engels Verkündigung ein Geheimnis, über das sie wohl schwerlich mit irgend jemand in ihrer Umgebung sprechen konnte; auch Joseph konnte es glaubenswürdig nur auf dieselbe Weise erfahren, wie sie selbst es erfahren hatte. Und doch mußte es ihr heiliges Bedürfnis sein, erkannt zu werden, und sich über die überschwängliche Seligkeit aussprechen zu können, mit welcher sie heimgesucht war. Bei diesem heiligen Bedürfnis mußte ihr das von dem Engel gegebene Zeichen wie ein Fingerzeig sein auf die ihr gegenwärtig verwandteste Seele; ja, sie konnte das Zeichen mit Recht als einen verborgenen Befehl ansehen, hinzugehen in die Stadt Juda und sich zu überzeugen, wie Elisabeths Befinden mit des Engels Worten stimmte. So wartete sie denn auch nicht, sondern sie eilte zu Elisabeth. Daß sie nicht wartete, ist offenbar, denn als der Engel zu ihr kam, gieng Elisabeth im sechsten Mond, drei Monate blieb Maria bei ihr und kehrte zurück, ehe Elisabeth’s Stunde kam; daraus kann man deutlich erkennen, daß die heilige Jungfrau nicht säumte. Sie gieng − und machte eine, namentlich für die damaligen Zeiten und die Wege des Morgenlandes weite Reise. Ob sie jemand begleitete, ob niemand, sicher wißen wir’s nicht. Gewis geleiteten sie Gottes Engel. Durch Engel war ihr die Reise angedeutet, unter dem Schutze der Engel führte sie dieselbe aus und vollendete sie, bis sie ins Haus Zachariä kam und Elisabeth grüßte. Es ist rührend, sich die heilige Jungfrau auf der Reise zu denken. Wer ist wie diese Auserwählte, wer kennt sie, wer ahnt, was ihr geschehen, − wie ist ihre Seele bewegt, voll Andacht, voll heiligen, dank- und loberfüllten Sinnens! Die Verborgene, die Arme, die Pilgerin, die oft Wegemüde und Matte: hat man ihr nicht doch die Klarheit des tief im Innern verborgenen Geheimnisses vom Angesichte strahlen sehen? Wer war in Gottes und Seiner heiligen Boten Augen ehrwürdiger, strahlender, liebenswürdiger als sie? Und nun warte, wie schön und herrlich wird es werden, wenn es nun von der Reise zur Begegnung kommt.

|  Daß Elisabeth, daß Maria Werkzeuge in Gottes Hand zu großen und heiligen Zwecken gewesen sind, geben alle zu, welche auf den Christennamen Anspruch machen. Dagegen ist es auch für solche, die von der herrschenden Geringschätzung der heiligen Personen nicht angesteckt sind, überraschend, an Elisabeth und Maria das wahrzunehmen, was unser heutiges Evangelium wahrzunehmen gibt. So wie sich nemlich die beiden Frauen im Hause Zachariä begegnen, kommt über sie der Heilige Geist − und des Geistes voll spricht Elisabeth ihre herrliche Antwort auf Maria’s Gruß − und Maria an ihrem Theil antwortet hinwiederum mit einem Lobgesang, den ihr nur Gottes Geist gelehrt haben kann. − Elisabeth erscheint dabei ganz in der mächtigen, strömenden Begeisterung, welche wir an den Propheten des Alten Testamentes begegnen; etwas von der Art ihres Sohnes, den sie unter dem Herzen trug und der voll Freuden und lebensvoll im Mutterleibe hüpfte, als Maria grüßte, ist an ihr zu spüren, etwas Mächtiges, was bei dem Alter ihres Leibes desto jugendlicher, aber auch desto ungewohnter auffällt. Anderer Art sehen wir die jugendliche Gottesmagd, die heilige Jungfrau. Auch an ihr erscheint nichts weichliches und weibisches; im Gegentheil sind alle ihre Worte lauter Zeugnisse einer in Einfalt starken, hohen, großen Seele; dennoch aber ist alles so weiblichmilde, jungfräulich, ruhig, klar und stille, daß man an die Worte: „Gott man lobt Dich in der Stille zu Zion“ erinnert werden könnte. In ihr steht das Neue Testament dem Alten gegenüber, die Ruhe und Klarheit des seligsten Besitzes gegenüber dem Drange und dem siegenden Verlangen der Heiligen, die nach langem Harren endlich mit vollen Segeln der Erfüllung aller Verheißung entgegenziehen. − Mariens Lobgesang ist ganz von dem Bewußtsein der größten Mutterschaft durchdrungen und getragen; aber was sie sagt, und was sie verschweigt: die heiligste Schönheit und Schicklichkeit ist über ihr Verhalten ausgegoßen − jungfräulich hehr verkündigt sie ihr einziges, hohes Glück. Anders Elisabeth. Auch hier die schönste Schicklichkeit, aber eine Schicklichkeit, wie sie der Gattin, der Greisin geziemt, die auf Wunderwegen und doch natürlicher Weise Mutter geworden. Sie verkündigt jubilierend die Mutterschaft Mariens frank und frei − und eben so die ihre, die sie bei dem wunderbaren, prophetischen Geiste, der ihre Leibesfrucht bewegt, nun grade mächtig faßt und seliglich erfährt.

 Jedoch, meine Lieben, treten wir näher, betrachten wir den Inhalt deßen, was Elisabeth weißagt, was Maria singt.

 Laut ruft Elisabeth, wie St. Lucas Zeugnis gibt, − laut ruft sie und spricht: „Gebenedeit bist du unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes!“. Redet sie nicht, wie wenn sie in Nazareth bei der Verkündigung gewesen wäre, wie wenn sie den Engel gehört hätte? Wie aus seinem Munde genommen klingen die Worte, denn auch er hat ja Marien die Gebenedeite unter den Weibern genannt. Diese Aehnlichkeit, ja Gleichheit der Worte, deutet auf Eine Quelle, aus der beide schöpften, der Engel und die prophetische Seele Elisabeths, nemlich auf die Quelle des Heiligen Geistes, der Engeln und Propheten Licht und Wahrheit gibt. Eine Prophetin ist Elisabeth, die Prophetenmutter, das sehen wir hier, das sehen wir im Verfolg ihrer Rede. Wie schön und voll demüthiger Hingebung aber ist zugleich diese hohe prophetische Rede! Wie erquickt sie nicht allein durch die Erkenntnis der Würde Mariens und ihrer Leibesfrucht, sondern auch durch die fröhliche Unterordnung ihres gesammten, hohen Glückes und Berufes unter Mariens Glück und Beruf! Auch sie, auch Elisabeth könnte eine Gebenedeite genannt werden, auch ihre Leibesfrucht eine gebenedeite Frucht; aber vor Marien verschwindet sie selbst, vor ihrer Leibesfrucht ihr Johannes. Voll seliger Beugung gibt sie Marien die Ehre.

 Ganz dieselbe Gesinnung zeigt sich auch in dem nächsten 43. Verse. „Woher, ruft sie, woher kommt mir das, daß die Mutter meines HErrn zu mir kommt? Siehe, da ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte vor Freuden das Kind in meinem Leibe.“ − Meine theuern Freunde. Niemand wird leugnen, daß Elisabeth durch den Stand und Beruf ihres Mannes, durch ihre Trefflichkeit und ihre Jahre eine sehr achtungswerthe Stellung in Juda einnahm. Eben so wenig wird sich jemand, der ein Christ heißt, weigern, ihr eine ausgezeichnete Stellung im Reiche Gottes zuzuschreiben. Und doch stellt sie Marien so hoch über sich. Die arme Braut des Zimmermanns steht weit über ihr und ihrem Loose. Sie weiß sich’s kaum zu erklären, daß| sie gewürdigt ist, einen solchen Besuch zu empfangen. Und gewis! Das war nicht bloß die Sprache der sich selbst erniedrigenden Bescheidenheit, sondern es ist das Urtheil der Wahrheit, denn Elisabeth sieht in der gebenedeiten Frucht Mariens ihren HErrn, − in Marien die Mutter ihres HErrn, − diesem hohen Besuche hüpft Freuden- und Geistes voll selbst die Frucht ihres Leibes entgegen. Mächtig ergriffen ruft sie ihr: „Woher kommt mir das?“ − Engel grüßen die Gottesmutter mit hohem Freudenton, Prophetinnen erkennen wonnevoll ihre hohe Würde, Propheten im Mutterleib hüpfen, wenn sie kommt und mit ihr Er Selbst: wie nimmt sich’s aus, wenn Manns- und Weibspersonen unserer Tage, voll Sünde und Verkehrtheit, darin insonderheit ihren geistigen und geistlichen Fortschritt zu erweisen suchen, daß sie anders als Engel und Propheten von Marien reden, daß sie über ihre Mängel reden, die klein sind, und ihrer großen Würde schweigen? Laßt uns doch lieber einstimmen mit Engeln und Propheten als mit den Menschen des gegenwärtigen Tages, die im Finstern reden und sich hellen Tages Kinder zu sein rühmen.

 Es ist eine tiefe und wunderbare Erkenntnis, welche Elisabeth empfangen hat. Sie kennt ja ihren HErrn − und nennt Ihn so, nachdem Sein leibliches Leben kaum begonnen hat im Leibe Seiner Mutter. Aber es wird ihr nicht bloß der HErr und Seine Mutter offenbart, sondern der Geist des HErrn läßt sie auch, was sonst keines Menschen Sache ist, Blicke in die Seele Mariens und in die inwendige Herrlichkeit derselben thun. „O selig bist du, ruft sie, die du geglaubt hast.“ Also weiß sie, was Marien verkündigt ist, wie groß und herrlich es ist, − und daß sie in von Gott geschenktem Lichte sich ganz dem HErrn ergeben und glaubend all sein seliges Erbieten zum voraus angenommen und bestätigt hat. Kleines erfordert kleinen Glauben, Großes aber großen. Gibt es Größeres, als was Marien verheißen wurde? Sie glaubte − also hatte sie großen Glauben. Der HErr sieht ihn an − und tröstend, ermuthigend muß Elisabeth, die Prophetin, alles bestätigen, was noch nicht erfüllt ist. „Selig bist du, die du geglaubt hast; denn es wird vollendet werden, was dir gesagt vom HErrn.“ Also ein König Israël, ein ewiger König eines ewigen Reiches, ein Gottessohn, ein JEsus und Heiland wird der sein, der geboren werden wird, der bereits im Dasein ist. Es wird alles, alles vollendet werden, auch was in ferne Zeiten und Ewigkeiten greift.

 Ihr möget nun urtheilen, ob nicht wahr ist, was ich sagte, daß Elisabeth eine Prophetin ist, daß sie eine hohe Erkenntnis hat, daß der HErr Seinen Heiligen jener Tage ein Licht und Leben gab, durch welches ihnen gewisser Maßen ersetzt wurde, was sie hier nicht mehr sehen und erleben sollten, den Kampf und Sieg des Heilands. Wenn ich euch hierauf, meine theuern Brüder, den Lobgesang Mariens − ich will nicht sagen, nach Würden, denn was vermag ich? − sondern nur so weit eingehend aus- oder darlegen sollte, wie die Prophezei Elisabeths, so würde ich weder Zeit, noch Raum finden für ein so großes Werk. Luther schrieb eine Auslegung des Lobgesangs Marien, des sogenannten Magnificat. Er schrieb sie zu einer Zeit, wo er von einer falschen Anrufung Mariens noch nicht frei war, denn er ruft in der Vorrede noch Mariens Hilfe zum Werke der Auslegung an. Dennoch ist diese Auslegung alles Dankes werth. Auf sie verweise ich alle, welche einer eingehenden Auslegung begehren. Sie ist aber ein Buch, ein Buch von Meisterhand, die sich zu faßen, zu ordnen, kurz zu faßen und kurz zu ordnen wußte. Wie groß und weit müßte meine Rede, mein Buch, meine Auslegung werden, wenn ich es wagen wollte, sie zu beginnen? Ich gebe euch zur Feier des Tages nur eine Einleitung, eine kleine schwache Uebersicht über diesen Lobgesang, diesen Psalm der Psalmen, den die alte Kirche jeden Abend im Gotteshause sang und sein nicht müde wurde, den auch wir singend und anbetend beßer faßen werden, als bloß lesend und auslegend.

 Ein Ausbruch des Lobes und der Freuden sind die zwei ersten Verse des Psalms. „Meine Seele erhebet den HErrn und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.“ Lob- und Freudenton feiert „Gott, den Heiland“. Meint die Jungfrau unter Gott, dem Heiland und Erretter, den, der in Verbindung mit der Gottheit, unter ihrem Herzen einem großen Tage entgegenwuchs, − oder ist „Gott, der Heiland“ ohne Beziehung auf Ihn? Wenn Er ihr Heiland und Erretter ist, wovon heilt und errettet Er sie? Doch nicht von Armuth und zeitlichem Elend, das ihr lebenslang blieb und unter dem Kreuze sich so schrecklich mehrte? Die Gottesmutter kennt die Verlorenheit der Seelen, das| Sündenelend; davon weiß sie einen Heiland. Gott ist ihr Heiland worden durch Menschwerdung. Es gibt ja keinen Heiland, als den Menschgewordenen. Diese, keine andere Erkenntnis ziemt der Gottesmutter; wie Elisabeth die Leibesfrucht Marien ihren HErrn nennt, so nennt Maria selbst sie „Gott, ihren Heiland?“

 Die nächsten beiden Verse preisen Mariens besonderes Glück und die Größe, welche ihr der HErr verliehen hat und verleihen wird. „Er hat die Niedrigkeit Seiner Magd angesehen.“ Gott, ihr Heiland, hat ihre Niedrigkeit angesehen; denn sie, eine Tochter David, eine königliche Jungfrau, auf der alle Verheißungen ruhten, war ja klein und gering, arm, vergeßen und geringgeschätzt. Aber nun ist sie angesehen; der HErr hat sie gesehen und ist nicht an ihr vorübergegangen; so hat er nie ein Weib begnadigt. Er wohnt nun in ihr − und aus ihr, wie der Bräutigam aus der Kammer, wie die Sonne aus ihrem Gezelt, wird Er kommen, zu laufen Seinen Weg. Alle Welt wird den Sohn, die Himmelssonne, schauen − und Seine Mutter wird deß gepriesen sein, daß ihr Leib Ihn getragen, ihre Brüste Ihn gesäugt haben. „Siehe, sagt sie, − nun ist alle meine Niedrigkeit am Ende, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskind.“ − Warum denn? Um deinetwillen, Maria? Nein, nein, sie kennt und weiß sich, sie preist pur lautere Gnade. Sie wird um der Großthaten Gottes in ihr und ihrem Leibe selig gepriesen werden. „Sie werden mich selig preisen, denn Er, Er hat große Dinge an mir gethan, der da mächtig ist und deß Name heilig ist.“ Die Menschwerdung ist ihr also eine That der Macht − und heilig, heilig Sein Name, weil Er sie vollbrachte. − Kindeskinder sollen sie selig preisen. Selig werden die Kindeskinder nicht durch diese Seligpreisung, selig werden sie dadurch, daß sie, wie Maria, Gottes Wort hören und bewahren; aber eine Weißagung ist es dennoch, daß Maria soll selig gepriesen werden, wiewohl aus Maria eigenem Munde; denn freudentrunken, Geistes voll darf sie nicht ihre Würdigkeit, aber ihr großes Glück und die Anerkennung desselben rühmen, welche es bei allen Geschlechtern finden wird. − Kindeskinder werden sie selig preisen. Unter ihnen auch wir und unsre Kinder. Elisabeth ist unsre Vorgängerin und wir folgen ihr nach mit Seligpreisung, − und wenn die Kirche dermaleins wieder zur Vesperzeit jedes Tages, wie früher, auch bei uns, den Lutherischen, Mariens Lobgesang singt, dann wollen wir bei dem vollen Chor nicht fehlen, sondern weißagend und zugleich erfüllend singen: „Es werden mich selig preisen alle Kindeskind.“

 Die Verse 50 bis 55 bilden einen zweiten Theil des herrlichen Lobgesangs und weißagen Gottes Barmherzigkeit Seinem Volke für und für. Nachdem ein Heiland gekommen und das Weib, von welchem der Saame kommen soll, gefunden ist und von ihrer Heimsuchung redet, ist Beweis und Anfang einer ewigen Barmherzigkeit gegeben. Damals, als der HErr im Mutterleibe ruhte, waren Hoffärtige, Gewaltige und Reiche im Lande, Herodes und die Seinen, und die Familie des Königs lag im Staube, − und Israël war geknechtet, am meisten die Heiligen, die auf das Reich Gottes warteten. Aber siehe, der König im Mutterleib wird die Hoffärtigen zerstreuen, die Gewaltigen vom Stuhl stoßen, die Reichen zum Darben bringen, alle irdische Hoheit in allen Landen, so hoch sie sich brüste gleich also behandeln; dagegen aber Sein Reich der Barmherzigkeit und Gnade in allen Landen aufrichten, alle Niedrigen, wie Maria, erheben, alle Hungrigen sättigen und alles erfüllen, was Er Abraham und seinem Samen, Seinem Sohne Christus und denen, die an Ihn glauben, ewiglich geredet und geschworen hat. Das alles wird Er thun in wunderbarer, oft der Welt verborgenen Weise, so lange Er unsichtbar König ist und herrschet, aber am Ende der Tage mit Glorie und Herrlichkeit. − Einen solchen Blick hat die Mutter Gottes und weißagt also der gesammten Kirche ihr eigenes Loos, ihren eigenen Gang von der Niedrigkeit zur endlichen, ewigen Erhöhung. An dieser Weißagung hält und baut sich die arme Kirche und sieht, wie in Elisabeth die Vorgängerin in der Seligpreisung der Mutter Gottes, so in dieser selbst die Vorgängerin auf den königlichen Kreuzweg, auf welchem jedoch ihr eigner Sohn unnachahmlich und hehr gegangen ist − unter einem Kreuze, das weder sie getragen hat, noch tragen konnte, − noch auch wir tragen können.


 So sprachen und sangen die zwei Frauen, die eine eine Prophetin des Alten, die andere eine Prophetin des Neuen Bundes. Die eine, Elisabeth, deutet auf nahe, die andere auf ferne Erfüllungen, beide aber sind einig im Glauben und Preise JEsu. − Bei drei| Monaten blieben sie beisammen. Was mögen diese beiden in ihrer hohen Freudenzeit von einander und mit einander unter der Leitung des Heiligen Geistes gelernt, mit einander erfahren und gebetet haben. Die junge, blühende Greisin − und dies Jungfräulein von wenig Jahren, aber voll himmlischer göttlicher Erkenntnis: was mögen die für eine Frauenfreundschaft gepflogen, was für eine Seligkeit genoßen, was für eine Verbindung für ewige Zeiten geschloßen haben! − Nach drei Monden, als Elisabeths Zeit kam, gieng Maria der Heimath zu, wohin ihr Gott die Wege bereitete, wie Er es nach Juda her gethan, wo Er ihr Josephs und der Ihrigen Herz und Ehrerbietung nicht verloren gehen ließ, sondern durch engelische Botschaft aufs Neue und mehr als je in Wonne und Inbrunst zuneigte.

 Es ist, meine theuern Brüder, eine eigene Weisheit der Kirche, daß sie die Feier der Heimsuchung Mariens, d. i. des Besuchs Maria bei Elisabeth, nicht auf die Zeit gleich nach dem Fest der Verkündigung, wohin sie gehört, sondern auf diese hohe, festtagslose Sommerzeit verlegt. Eine süße Feier, die wie Thau und Balsam auf die Seelen träuft! Eine wahre Labung in der Hitze! Ein Blick aufs Gebirg, wo Gottes Lüfte wehen! Ein Blick nach Canaan, der Sehnsucht weckt, und uns ermuntert, dem Einfluß des Elements und der Arbeit nicht zu erliegen, sondern die müden Kniee, die laßen Hände zu stärken! − O HErr, lehr Du uns in dem heißen Sommer fröhlich mit Deiner Mutter singen, Deiner ewig froh und durch Dich selig werden! Amen.




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