Friede und Recht

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Autor: Ludwig Huberti
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Titel: Friede und Recht
Untertitel: Eine rechts- und sprachvergleichende Untersuchung
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 5 (1891), S. 1–20.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br
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Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Gottesfriede, Landfriede
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[1]
Friede und Recht.
Eine rechts- und sprachvergleichende Untersuchung.
Von
Ludwig Huberti.


Die Universalgeschichte und mit ihr die Rechtsgeschichte hat eine ungeahnte Bereicherung erfahren, seitdem im Gefolge der übrigen Hilfswissenschaften die Wissenschaft der vergleichenden Rechtsgeschichte und die vergleichende Sprachwissenschaft in den Kreis der historischen Forschung eingetreten sind, und diese Bereicherung ist in der neuesten Zeit vor allem auch unserer Deutschen Rechtsgeschichte zu gute gekommen.

Der Zweck dieser beiden Wissenschaften besteht kurz darin, auf methodischem Wege die Ausgangspunkte der Entwicklung des Rechts beziehungsweise der Sprache aufzudecken. Ihre Bedeutung für die Deutsche Rechtsgeschichte beruht in ihrer kritischen Verwerthung, um die Lücken in der Ueberlieferung des ältesten Deutschen Rechts auszufüllen. Zeigt sich beispielsweise, dass ein Rechtsinstitut bei den verschiedenen Stämmen, Völkern, Völkergruppen oder allen Völkern bei getrennter Rechtsentwicklung in gleicher Weise vorkommt, so lässt sich unter bestimmten Voraussetzungen annehmen, dass es in der Zeit vor der Trennung gemeinsames Besitzthum war. Oder lässt sich feststellen, dass ein gewisser Rechtsausdruck den Nordischen und Deutschen oder den Gesammtgermanischen oder den Arischen oder allen Sprachen gemeinsam ist, so liefert diese Thatsache einen beachtenswerthen Fingerzeig für das Alter und die Bedeutung der dadurch bezeichneten Rechtseinrichtung.

[2] Die wesentlichsten Dienste leisten aber bei methodischer Verwerthung diese Hilfswissenschaften in ihrer Anwendung auf die Untersuchung des Alters und der Herkunft von Rechtsbegriffen; sie füllen also nicht nur die Lücken in der Ueberlieferung des ältesten Rechtes aus durch Herbeiziehung verwandter Rechtssätze in der oben geschilderten Weise, sie gestatten vielmehr in dieser Beziehung die Rechtsbegriffe in ihre Urgeschichte hinein zu verfolgen und so ihre ursprüngliche Bedeutung aufzuklären. Um nicht etwas gut Gesagtes zu wiederholen, sei hier auf v. Amira’s Schrift: Ueber Zweck und Mittel der Germanischen Rechtsgeschichte, verwiesen.

Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, die ursprüngliche Bedeutung der Worte Recht und Friede, die ja die Grundlage aller späteren sich daran anschliessenden Begriffe sind, durch Herbeiziehung verwandter Wortwurzeln in den übrigen Arischen Sprachen aufzuklären und ihre Bedeutung von ihrem ersten Vorkommen an bis in die jetzt lebenden Sprachen hinein zu verfolgen. Im Anschluss daran soll dann in kurzer Uebersicht gezeigt werden, welche Entwicklungsphasen der Friede thatsächlich bis auf den heutigen Tag durchlaufen hat.


I.

Ob die Worte „Recht“ und „Friede“ sich auf eine Sanskritwurzel rij, die von den Indischen Grammatikern auch mit der Bedeutung fixum esse, valere, aufgeführt wird, bezüglich Sanskritwurzel prî mit der Bedeutung placere, voluptate frui, sich zurückführen lassen, ist nur auf Grund der vergleichenden Sprachwissenschaft festzustellen möglich und muss füglich dieser überlassen werden. Geht man davon aus, dass sich die Wurzel eines Wortes ergibt, wenn man den allen Indogermanischen Sprachen gemeinsamen Theil herausschält, nach Entfernung der einzelnen Endungen, Affixe, Suffixe, so scheint dies richtig zu sein. (Die näheren Ausführungen im Sanskritwörterbuch von Böhtlingk und Roth[1] und im vergleichenden Wörterbuch der Indogermanischen Sprachen [3] von Fick[2] Ebenso kann hier nicht eingegangen werden auf die Frage, die auch im Deutschen Wörterbuch von Grimm aufgeworfen ist, ob nicht die Vorstellung Friede aus der sinnlichen des Zaunes und Geheges abgezogen wurde.

Reichere Ausbeute bietet dagegen eine Untersuchung der Worte in den Arischen Sprachen, die dieselbe Wurzel oder wenigstens dieselbe Bedeutung wie unser heutiges Wort Friede haben.

Im Gothischen wird εἰρήνη (siehe hierüber Curtius[3]) ausgedrückt durch gavairpi, welches dem Althochdeutschen giwurt (oblectatio) gleicht, aus gafripôn (placare) lässt sich aber auch auf ein Nomen schliessen, das wahrscheinlich fripus lautete und dem Althochdeutschen fridu entsprach. Uebrigens findet sich auch im Gothischen das Wort freis, frijei Freiheit, frei-hals; die Wurzel prei-, die hieraus wie auch aus dem Gothischen freidjan schonen, sich enthalten, gafripôn versöhnen zu erschliessen ist, ist identisch mit der aus frijôn lieben, frijapwa Liebe sich ergebenden Wurzel prei-, sorgen für, lieben (das Nähere bei Schulze[4], Diefenbach[5], Meyer[6], Feist[7]).

Im Althochdeutschen findet sich das Wort fridu, woraus dann im Mittelhochdeutschen vride wurde (vergl. Graff[8] und Schade[9]).

Neben diesem Gothischen fripus und Althochdeutschen fridu findet sich im Altsächsischen frithu (Schmeller[10]), im Niederländischen vrede (Dufflaei Etymologicum[11]), im Angelsächsischen [4] schwankend friđu, daneben freođo, freod, im Englischen erloschen und durch peace vertreten (Ettmüller[12], Bosworth[13], Toller und Bosworth[14], Wright[15]), im Altnordischen friđr (Möbius[16]), Schwedisch frid, fred (Schlyter[17]), Dänisch fred (Lund[18]).

Diesem Germanischen fripus, fridu steht in urverwandten Sprachen nichts zur Seite. Der Slavische Ausdruck ist „mir“, Lett. meers; ein anderer pokoi, Lit. pakajus, das an pax mahnt, aber für ein Compositum erklärt und zu einem nirgends erscheinenden koi = quies gehalten wird (das Nähere im Lexicon Palaeoslovenico-Graeco-Latinum[19] und im etymologischen Wörterbuch der Slavischen Sprachen von Miklosich[20]).

Die Lateinischen Ausdrücke pax, pacare, pacisci stimmen zum Gothischen fahêds (gaudium), zu faginôn (gaudere), weil Friede auch Freude, Ruhe, Wonne ist (Vanitschek[21]).

In Betreff der Romanischen Sprachen endlich ist zu verweisen auf Diez[22].

Man darf also fripus zum Angelsächsischen friđ, Altnordischen friđr nehmen und auf einen Stamm fraipan, fraip, fripum (fridum) rathen, welchem auch freidjan parcere zufällt, ganz wie sich scônôn schonen (parcere) mit scôni schön (pulcher) berührt. Höherer Zusammenhang mit frei und froh kann nach Grimm nicht wohl geleugnet werden.

Aus dem Althochdeutschen fridu finden wir im Mittelhochdeutschen vride (Müller und Zarncke[23], v. Lexer[24]), im Mittelniederdeutschen vrede (Schiller und Lübben[25]), bedeutend Friede, [5] Waffenstillstand, Ruhe, Sicherheit, Schutz; Busse für Friedensbruch; Einfriedigung, eingehegter Raum, Bezirk. Neben ersterem Worte bei Heinzelein von Konstanz[26] und Martina von Hugo von Langenstein[27] das Wort vrit; als friet in den Chroniken der Deutschen Städte[28]. Hervorzuheben ist es in folgenden Formen: „vride bannen“ im jüngeren Titurel[29] und in der Rabenschlacht[30]; „vride swern“, „vride brechen“ im Schwabenspiegel[31]; „si ranc nâch satzunge êweclîches friden“ im Leben der hl. Elisabeth[32]; „gotes vride muoz mit eu sîn“ bei Apollonius von Tyrland[33]; „vierzec tage, daz was eines keisers vride“ in den Deutschen Predigten des 13. Jahrhunderts[34]; „wan ich ez klegelîche clage, daz dû mich niht mit vride lâst“ im Trojanischen Krieg von Konrad von Würzburg und „des rîche mit gemache stât und einen vrîen vride hât an liuten und an lande“ ebendort[35]; „ez sol chain rihter an dem gerihte sitzen, er habe den frid teusche bî ime geschriben“ in den Monumenta Wittelsbacensia[36], u. A.

In der modernen Sprache findet es sich einmal in der Bedeutung von Gegensatz des Kriegs = Waffenruhe, Aufhören des Kriegs; sodann = Ruhe, Stille, Gnade, Freude; endlich = Schirm, Schutz, Zaun, Gehege (Grimm[37] und Kluge[38]).

[6] In Betreff der Etymologie des Wortes Recht kann ich mich kürzer fassen unter Hinweis auf die erschöpfende Behandlung dieses Gegenstandes in der Deutschen Rechtsgeschichte von Brunner im Abschnitt über das Recht und seine Erkenntnissquellen und unter Verweisung auf die einschlägigen Abhandlungen in den bereits angeführten etymologischen Wörterbüchern, im Besonderen aber auf die vortreffliche Zusammenstellung der massgebenden Ausdrücke bei von Amira in Paul’s Grundriss der Germanischen Philologie[39].

Als Bezeichnungen der Rechtsordnung überliefern uns die Germanischen Sprachen die Ausdrücke lag, êwa, vitoth.

Während das Hochdeutsche den ersteren Ausdruck nur in der Zusammensetzung urlac mit der Bedeutung fatum, decretum überliefert, ist uns die Wurzel lag in der Bedeutung von lex bei den Niederdeutschen und Skandinavischen Stämmen bezeugt. Es ist zu verweisen auf Graff[40]; dann für das Altsächsische lag, lagu, und das Nordische lag und utlegđ auf die oben angegebene Literatur; für das Mittelniederdeutsche auf Schiller und Lübben[41]; für das Altfriesische laga und lag, log und laow, auf v. Richthofen[42] und Doornkaat-Koolman[43]; für das Angelsächsische lagh und utlagare auf Schmid[44], für das Englische law auf Bosworth, Wright; über das nach Jordanes[45] Gothische belagines mit der Bedeutung Gesetze, welches Wort J. Grimm[46] auf ein Gothisches bilaghian zurückführt und ein Gothisches bilagineis, Satzungen, vermuthet, vergleiche Brunner[47] und v. Amira[48]; [7] über das Niederländische gibt Brunner[49] in dem vierten Bande der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte folgende Ausführungen: In den Friedloslegungsformeln der beiden Dingtalen von Dordrecht und von Südholland erscheint die Friedloslegung unter der Bezeichnung „tuntlaghen slants leggen“, welche dem Anglonormannischen utlagare entspricht. Derselbe Ausdruck findet sich auch anderwärts in Holland, z. B. in Heusden, also auf einem Boden, der zweifellos immer Fränkisch war. Im Friesischen kommt das Wort nicht vor, es kann nur Niederfränkisch sein und setzt die aus dem Nordischen, Friesischen und Angelsächsischen bekannte Wurzel lag mit der Bedeutung Recht (lex) voraus, welche hiermit auch für die Fränkische Rechtssprache nachgewiesen ist.

Ueber die den Nordgermanen fremde, aber allen Westgermanen gemeinsame Wurzel unseres Wortes Ehe, Gothisch aivs, dem Lateinischen aevum entsprechend, welche im Sinne von lex Althochdeutsch als êwa, Mittelhochdeutsch ewe, ê, friesisch als â, ê, Angelsächsisch als æw, æ und â, Altsächsisch als êo erscheint, vergleiche Grimm[50] und Grein[51].

Als Ausdruck für Gesetz, Norm begegnet uns endlich im Althochdeutschen wizôd, wizzut; Beispiele hierfür bringt Brunner aus der Capitularienübersetzung, wie: then vuizzut haue; thie theru seluern vuizzidi leuen; vuizzethahtia sala (Boretius, Cap. I. 381); im Gothischen vitoth, vitôp, Altsächsisch witod, Altfränkisch witut (vergl. Heyne, Altniederdt. Denkmäler, Glossar unter uuitut, uuitutdragere [legislator] und Graff I, 1112).

An Stelle dieser Ausdrücke, von denen sich in unserer Zeit nur das Wort Ehe in der sehr verengten Bedeutung von matrimonium und in einigen veralteten Zusammensetzungen bewahrt hat, ist in der Neuhochdeutschen Sprache das Wort Recht, im Lateinischen rectum, Mittellat. directum, drictum, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Altsächsisch, Altfränkisch, rëht, Friesisch riucht, Angelsächsisch riht, Altnordisch réttr, im Gothischen nicht vorhanden, getreten, welches nach Brunner verhältnissmässig jüngeren Ursprungs zu sein scheint und zunächst die durch die [8] Rechtsordnung den einzelnen zugewiesene Stellung, den Rechtsanspruch und die Rechtspflicht, im weiteren Sinne die Rechtsordnung überhaupt bezeichnet. (Das Nähere bei Graff, zweiter Teil, S. 397; v. Richthofen, S. 994; v. Amira, Obligationenrecht, S. 55 ff.; Grimm, VIII. S. 364. Die weiteren Bezeichnungen bei v. Amira, II. 2. 3. 41.)

Das Wesen des alten Rechts charakterisirt v. Amira wie folgt: „Recht“, im Deutschen substantivirtes Verbaladjectiv, ist zunächst das „Gerichtete“, in gehöriger Richtung Befindliche, Gerade, nämlich das geordnete Lebensverhältniss, wovon das sogenannte subjective Recht ein Hauptbeispiel. Andererseits ist Recht die gerade „Richtung“ eines solchen Verhältnisses, weiterhin aber auch der Inbegriff aller so geordneten und „abgegrenzten“ Verhältnisse oder der richtigen „Lagen“ und insofern der Inbegriff aller Regel, die sich in diesem Anschaulichen äussert, oder das Recht im objectiven Sinn, daher endlich „das zu Beobachtende“. Noch in der älteren historischen Zeit erschien das Recht fast nur in der Anwendung und schien es daher dem Volk in soweit als das „Herkömmliche“ so, wie es allererst unter Blutsverwandten ist, wesswegen es auch mit der Sippe den Namen theilte. „Gemachtes“ Recht oder „gesetztes“, beschlossenes, gekorenes, vereinbartes in erheblicher Menge wurde erst durch wirthschaftliche, politische, religiöse Umwälzungen veranlasst. Und noch später blieb das Recht wenigstens zum grösseren Theil Gewohnheitsrecht, „Landlauf“, Brauch, Sitte.

Soweit man durch Kombination des analytisch Festgestellten Schlüsse ziehen kann, ergibt sich als Resultat dieser Untersuchung, einmal dass die Worte Friede und Recht aus getrennten Sprachwurzeln hervorgewachsen sind, sodann dass die Begriffe Friede und Recht sprachlich niemals als gleichbedeutend sich vorfinden. Mit Nothwendigkeit ergibt sich daraus, dass beiden Worten von ihrem ersten Vorkommen an eine verschiedene Bedeutung zu Grunde gelegen haben muss, denn der Sprachgebrauch ist ja, um ein bekanntes Wort zu gebrauchen, immer philosophisch.

Schon Lehmann[52] hat auf Grund der Nordgermanischen Rechtsquellen, die das Wort Friede für Recht schlechthin niemals anwenden, darauf hingewiesen, dass es demnach nicht zutreffend [9] sei, wenn Wilda[53] und v. Amira[54] behaupten, Friede und Recht seien gleichbedeutend. Es gilt dies aber auch allgemein.

Nur scheint mir gegenüber der mehr philosophischen Construction des Begriffs Friede, beziehungsweise Recht durch Lehmann, auf Grund der Sprachgeschichte und Sprachvergleichung noch eine genauere Abgrenzung der Begriffe Friede und Recht möglich.

Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Begriff Friede und dem Begriff Recht von ihrem ersten Vorkommen an, entsprechend ihrer Entstammung von verschiedenen Wurzeln. Erinnert man sich an die oben angeführten Worte von Grimm, dass ein höherer Zusammenhang des Wortes „Friede“ mit frei und froh, in weiterer Ausdehnung Freude, Ruhe, nicht wohl geleugnet werden könne – so auch Wilda – vielleicht auch an die Versuche der Zurückführung des Wortes auf die Sanskritwurzel prî mit der Bedeutung placere, voluptate frui – so bei Graff[55] – so wird man nicht fehl gehen, auf seine ursprüngliche Bedeutung zu schliessen als „Zustand der Ruhe“, beziehungsweise „gegenseitige Schonung“. Gegensatz ist der Unfriede, der Friedensbruch, der Streit, der Krieg, der Kampf Aller gegen Alle. Dieser rein thatsächliche Zustand des Ruhens vom Kriege hat zum Hintergrund die thatsächliche Macht, sei es nun des Einzelnen oder schon von Mehreren. Scheint diese Macht dem sie Fürchtenden oder ihr schon Unterlegenen nicht mehr stark genug, so verlockt sie ihn zum Kampfe.

Daneben schafft der Zusammenschluss der Menschen zu Rechtsgemeinschaften bedingend und bedingt einen rechtlich geschützten Zustand. Die Störung desselben ist Unrecht, Rechtsbruch, Rechtsverletzung, Verbrechen. Als Stützpunkt dieses Zustandes dient der Rechtsgemeinschaft die Rechtsordnung, „die Ordnung“, beziehungsweise „die Befugniss“. Dies mag wohl die ursprüngliche Bedeutung der Worte, die unser heutiges „Recht“ [10] bezeichnen, gewesen sein, wenn man mit der Sprachwissenschaft sie auf die oben angeführte Wurzel mit der Bedeutung fixum esse, valere zurückführt[56].

Das Recht der Rechtsgemeinschaft tritt schützend neben die thatsächliche Macht der Einzelnen oder Mehreren. Es umfasst aber nicht alle Beziehungen der Einzelnen zu den Einzelnen und der Rechtsgemeinschaft zu den Einzelnen oder anderen Gemeinschaften, sondern nur einen kleinen abgegrenzten Kreis. Den Schutz der rechtlich nicht geschützten Einzelbeziehungen im Inneren überlässt es der persönlichen Macht oder der Macht der Sippe; nach Aussen hin steht die Rechtsgemeinschaft bald im Kampfe, bald im thatsächlichen Frieden, verbürgt durch die geschlossene Macht, die hinter ihr steht.

Es herrscht also ein „Rechtszustand“, geschützt durch die Rechtsordnung, und ein „thatsächlicher Zustand“ des Friedens, geschützt durch die Macht, neben einander; Rechtsbruch und Friedensbruch bilden die Kehrseite. Dabei ist ein öfteres Herüber- und Hinübertreten über die Grenze leicht möglich, da ja kein Lebensgebiet eines Volkes mechanisch abgeschnitten ist und die verschiedenen menschlichen Beziehungen einander beeinflussen oder durchdringen.

Dadurch entsteht eine Uebergangsform, die, je nachdem das eine oder andere Element überwiegt, bald hierhin bald dorthin sich neigt, und, bedingend und bedingt dadurch, auch der Unterschied zwischen dem sogenannten öffentlichen und dem sogenannten privaten Strafrecht; hinter ersterem der Schutz der Rechtsordnung, hinter letzterem vor allem die thatsächliche Macht der Verletzten, und nur eventuell und subsidiär die Rechtsordnung.

In fortschreitender Entwicklung sucht dann die Rechtsordnung den durch sie geregelten Kreis von Beziehungen auszudehnen; so sucht das öffentliche Strafrecht das sogenannte private Strafrecht zu absorbiren, oder wenigstens seine Stütze, die eigene thatsächliche Macht, in gewisse Schranken zu bringen. Naturgemäss wird dadurch der bisher in eigenartiger absteigender Entwicklung neben dem Rechtszustand einhergehende Friedenszustand innerhalb der Rechtsgemeinschaft zurückgedrängt [11] und mehr und mehr auf das Verhältniss der Rechtsgemeinschaft nach Aussen hin, gegenüber den Ungenossen, beschränkt.

Diese Ausdehnung gelingt am ersten in Staaten mit stark centralisirender Tendenz, so in der Fränkischen Monarchie Karl’s des Grossen; denn die Karolingische Verfassung bot eine genügende Handhabe, um die Rechtsordnung wirksam werden zu lassen. Dagegen führte das Fehlen einer straff gespannten öffentlichen Gewalt in der Nachkarolingischen Zeit zuerst in Frankreich und theilweise auch in den Nebenländern Italien, Spanien, England, und dann in Deutschland mit vorübergehenden Ausnahmen zu jenem Rückschlag, als dessen charakteristisches Merkmal die sogenannten Friedensbestrebungen des Mittelalters zu bezeichnen sind, die unter den verschiedensten Namen auftreten, ich erinnere nur an die wichtigsten, Gottesfrieden und Landfrieden, denen allen aber gemeinsam ist jene ursprüngliche Bedeutung, welche dem Worte Friede zu Grunde liegt: „die thatsächliche Macht“ vorwiegend vor der „Rechtsordnung“, natürlich unbeschadet der mannigfachsten Schattirungen, die in den damaligen so verschieden gearteten Zeitverhältnissen nur zu erklärlich sind.

Und als dann diese Zeit wenigstens äusserlich ihren Abschluss fand in dem ewigen Landfrieden Kaiser Maximilian’s im Jahr 1495, und als im weiteren Verlaufe das Recht alle Beziehungen innerhalb der Rechtsgemeinschaft regelte, einen allgemeinen rechtlich geschützten Zustand schuf, soweit dies natürlich die jeweilige Lage der Dinge erheischte, verschwindet aus dem Sprachgebrauch der bisherige Gegensatz zwischen Friedenszustand und Rechtszustand für die Beziehungen innerhalb der Rechtsgemeinschaft (ich verweise auf die oben in reichlichem Masse angeführten Belegstellen), und es ist von einem Friedenszustande nur noch die Rede im Verhältnisse der Rechtsgemeinschaft nach Aussen hin: ein thatsächlicher Friedenszustand, wenn verbürgt durch die geschlossene Macht, mit welcher die Rechtsgemeinschaft nach Aussen auftritt, ein Kampfeszustand, wie ehedem zwischen den Einzelnen, wenn dies nicht der Fall.

Eine Schattirung nach der Seite des Rechtes hin, ähnlich wie die in früherer Zeit schon erwähnten Nüancirungen, ist der völkerrechtliche Friede. Doch für Weiteres verweise ich den Philosophen vom Fache auf die bekannte Abhandlung von Kant [12] zum ewigen Frieden, den Juristen auf die völkerrechtliche Literatur.

Es hat diese historische und etymologische Untersuchung der Worte Friede und Recht in Betreff des Begriffes Friede und hier wieder besonders im Sinne der Friedensbestrebungen des Mittelalters genau zu dem Endpunkte hingeführt, wie die rechtshistorische und rechtsvergleichende Untersuchung des Gegenstandes.

Untersucht man in diesem Sinne von dem oben geschilderten Standpunkte aus die Erscheinungen des Mittelalters, so erscheint die Ansicht derer als völlig unrichtig, welche im Fehderitter des Mittelalters schlankweg nach dem Geiste unserer Zeit einen Dieb und Räuber sehen, und die nach den jeweiligen Zeitverhältnissen so verschiedentlich gearteten Friedensordnungen als Rechtsordnungen in unserem Sinne betrachten, gerichtet gegen derlei Rechtsverletzungen. Von ihm aus erscheint vielmehr jene ganze Bewegung als ein „Kampf ums Recht“. Jene zahlreichen und in unendliche Schattirungen sich zersplitternden Friedensordnungen suchten jenes Gebiet, das bislang der persönlichen Macht zum Schutze überlassen war, mit einem Worte, das ganze Gebiet der Selbsthilfe mit all ihrem nicht geringen Anhängsel zu verdrängen und dafür einen allgemeinen rechtlich geschützten Zustand zu schaffen, in dem alle wichtigen menschlichen Beziehungen rechtlich geregelt sind und jede Eigenmacht und Selbsthilfe ausgeschlossen erscheint. Daher ihr eigenthümlicher Charakter, der weniger an unsere modernen Rechtsordnungen und Rechtssatzungen, als vielmehr an eine Art völkerrechtlicher Regelung gemahnt.


II.

„Friede“ und „Recht“ sind also nicht gleichbedeutend. Friede ist ein Zustand und Recht eine Ordnung. Friede ist der rein thatsächliche Zustand des Ruhens vom Kriege. Als dessen Stützpunkt erscheint die thatsächliche Macht. Recht ist selbst Macht. Recht ist das machtvertheilende Gesetz des menschlichen Gemeinlebens. Recht ist die anerkannte und durch die Gemeinschaft geschützte Ordnung der menschlichen Interessen. Das Recht schafft dann seinerseits einen Rechtszustand, in allgemeinerer Bezeichnung, und hierin beruht das beiden Begriffen Gemeinsame, [13] einen „Zustand der Ruhe und Ordnung“. Es berühren sich demnach lediglich Friedenszustand und Rechtszustand, und der Sprachgebrauch hat auch, indem er auf Grund des gleichen Zweckes die beiden Worte Friedenszustand und Rechtszustand sowohl in cumulativen als disjunctiven Bezeichnungen identificirte, neben dem besonderen einen weitern Begriff „Friede“ geschaffen.

In diesem Sinne heisst es schon in einzelnen mittelalterlichen Quellen: der König oder Kaiser habe pacem et iustitiam in seinem Reiche hergestellt. Doch hier spielt unwillkürlich noch der Gedanke herein, dass man als nächsten Zweck, der in dem Worte Friede angedeutet liegt, die Abschaffung der Fehde betrachtet, wenn dieser Begriff hier auch auf andere mehr rechtliche Zwecke weiter auszudehnen sein wird. Hierher gehört, was die prosaische Kaiserchronik[57] von Ludwig dem Frommen erzählt: „Wir lesen von keiser Ludewîge, daz der vride als guot was bî im, als bî sînem vater.“ Ebenso die Stelle im Trojanischen Krieg des Konrad von Würzburg[58]: „des rîche mit gemache stât und einen vrîen vrîde hat an liuten und an lande.“ Ebenso die Stelle im Görlitzer Stadtrechtsbuch[59] von 1434: „Desse nochgeschrebne gebot und statuta sind alhir zu Gorlitz von alders zu haldin, der stat zu fromen und nutze und zu eren, arm und reich zu frede und zu gemache gesazt und vorwillet.“

Der moderne Sprachgebrauch hat dann diese verallgemeinerte Bedeutung allgemein angenommen, nachdem der geschilderte Gang der Rechtsentwicklung den Unterschied zwischen Friedenszustand und Rechtszustand innerhalb der Rechtsgemeinschaft hatte verblassen lassen. Dies war der Fall, als das Recht alle wichtigeren Beziehungen innerhalb der Rechtsgemeinschaft geregelt und einen allgemeinen rechtlich geschützten Zustand geschaffen hatte. Mit dem Wegfallen des Scheidungsgrundes schwand die Scheidung. In diesem allgemeinen Sinne scheint mir auch die Behauptung v. Jhering’s[60] aufzufassen zu sein, dass [14] das Recht zwar vielfach aus dem Kampfe hervorgegangen sei, dass aber als sein Ziel zu bezeichnen sei der „Friede“; eine „friedliche geordnete Gemeinschaft“, wie Hugo Grotius sich ausdrückt. In dem Sinne spricht man gegenwärtig allgemein von einem „Friedens- und Rechtszustand in Deutschland“. Hierher gehören auch in gewissem Sinne die „strafbaren Handlungen gegen den öffentlichen Frieden“, eine Bezeichnung, die sich in den modernen Strafrechtssystemen anknüpfend an frühere Verhältnisse erhalten hat[61].

Im völkerrechtlichen Leben dagegen hat das Wort „Friede“ seine ursprüngliche besondere Bedeutung beibehalten. Während man auf Grund der allgemeinen Bedeutung des Wortes Friede im modernen Sprachgebrauch von einem „Frieden in Deutschland“ sprechen kann, und darunter einen allgemeinen rechtlich geschützten Zustand der Ruhe und Ordnung versteht, muss man hier von einem „Friedenszustand zwischen Deutschland und Frankreich“ sprechen, als dessen letzter Stützpunkt doch immer noch die thatsächliche Macht erscheint.

Dies ist die Entwicklung des Begriffs Friede überhaupt und seine Abgrenzung gegenüber dem Begriff Recht. In dieser Abhandlung haben wir uns nur mit der ursprünglichen und engeren und besonderen Bedeutung des Wortes Friede zu befassen: „Friede ist die Negation der Fehde“. Hierher gehören die technischen Begriffe pax, pacare, pacisci, pacificare, vridebuoch, vridebrief, vridelôs, vride bannen, vride swern, vride brechen, befrieden, Friedenssatzung, Gottesfriede, Landfriede, Friedensgebot, Friedensbruch und andere. Diese Bedeutung liegt zunächst den mittelalterlichen Rechtsquellen zu Grunde, mit denen wir uns zu beschäftigen haben.

Wie bei dieser ursprünglichen Bedeutung des Wortes Friede ein Unterschied zu machen ist zwischen Friedensordnung und Rechtsordnung, vridebuoch und rëhtbuoch, Friedenszustand und Rechtszustand, friedlos und rechtlos, vridelôs und rëhtelôs, so ist auch zu unterscheiden zwischen „Friedensbruch" und „Rechtsbruch“. [15] Auf diese Gegenüberstellung haben bereits v. Wächter[62], Wilda[63], Maurer[64] aufmerksam gemacht. In diesem Sinne kann man sagen: Die Rechtsordnung begreift durch ihre positive Ausdehnung in sich, wie weit der Friede reicht; sie setzt die Grenzen für das Gebiet der Selbsthilfe; aus ihr lässt sich die Unterscheidung gewinnen zwischen der Selbsthilfe, die gestattet ist, beziehungsweise, die nur den Frieden verletzt, und jener, die als widerrechtliche Gewaltthat gilt. Dagegen lässt sich hieraus nicht der Schluss ziehen, als handle es sich dabei nur um eine Färbung der Ausdrücke.

Als „Friedensbrüche“ im eigentlichen Sinn erscheinen diejenigen Verletzungen, die ein Recht der Fehde, eventuell einen Anspruch auf Busse begründen. Es sind Verletzungen, welche den Thäter und die Seinen nur der Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe preisgeben, so dass es diesen gestattet ist, im Wege der Selbsthilfe Rache zu üben, ohne dadurch ihrerseits einen Friedensbruch zu begehen. „Rechtsbrüche“ dagegen sind normwidrige schuldhafte Handlungen, die wegen ihrer Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundlagen des Gemeinlebens durch das bestehende Recht mit öffentlicher Strafe bedroht sind. Der Verbrecher hat sich die Gesammtheit der Volksgenossen zum Feinde gemacht.

Charakteristisches Merkmal der ganzen Friedensbewegung ist nun das Aufgehen der Friedensbrüche in den Rechtsbrüchen. An Stelle der Fehde und Busse tritt allgemein die öffentliche Strafe. Und gerade hier ist es sehr bezeichnend, dass auch das Rechtsbewusstsein des Volkes die allgemeine Einführung der Strafe auf die Gottesfrieden zurückführt. Es ergibt sich dies aus einer Stelle in der Kaiserchronik[65], in der von Ludwig dem Frommen erzählt wird: „Mit râte alsô wêslîchen rihte der kunic dô daz rîche. er gebôt einen gotis vride: nâch dem scâchroube irteilde man die wide, nâch dem morde daz rat (hei welich vride dô wart!), dem roubaere den galgen, dem diebe an die ougen, dem [16] vridebrechel an die hant, den hals umbe den brant. Der vride wuochs dô in dem rîche.“

Es ist dies jedoch nicht so zu verstehen, als ob hier zum ersten Male die öffentlichen Strafen überhaupt zur Anwendung gekommen wären. Die Anfänge des öffentlichen Strafensystems fallen zusammen mit den ersten Anfängen des Staates, des Rechtes. Es handelt sich hier vielmehr um eine allgemeine Anwendung und weitere Ausdehnung des öffentlichen Strafensystems gegenüber dem Fehde- und Bussensystem.

Im einzelnen war sicherlich das Verhältniss weder bei den einzelnen Stämmen, noch zu verschiedener Zeit überall gleich. Im ganzen aber hat je länger desto mehr eine allmähliche Einschränkung stattgefunden, in demselben Mass, in welchem der Staat zu Kräften kam, bis es endlich – nach der gewöhnlichen Annahme und rein äusserlich betrachtet im Jahre 1495 auf dem Reichstage zu Worms, thatsächlich aber und nach der richtigen Ansicht erst bedeutend später – gelang, das Fehderecht ganz auszuschliessen. Bestimmungen gegen das Princip der Selbsthilfe finden sich beispielsweise noch in Artikel 129 der Constitutio criminalis Carolina und in verschiedenen späteren Reichsabschieden, ebenso im westfälischen Frieden (J. P. O.) V § 1 und XVII § 7.

Die alte volksrechtliche Gesetzgebung war nun in erster Reihe dem Bedürfniss entsprungen, durch Aufstellung fester Buss- und Wehrgeldstaxen das Fehdewesen, wenn auch nicht rechtlich, so doch thatsächlich „einzuschränken“[66]. Hand in Hand damit ging die Ausdehnung des öffentlichen Strafensystems. Immerhin hat es die volksrechtliche Gesetzgebung auch in dieser rein thatsächlichen Einschränkung durchaus nicht zu einem abschliessenden Ende gebracht. Die meisten Volksrechte gestatten in gewissen Fällen und unter gewissen Einschränkungen die Geltendmachung der Fehde.

Entschiedener ging das Karolingische Königsrecht gegen die bis dahin noch allgemein zu Recht bestehende Fehde vor. Einmal haben die Karolinger die Neuerung eingeführt, dass der Graf die fehdelustigen Parteien von Amtswegen zum Abschluss eines Sühnevertrags zwingen dürfe. Gegenüber der volksrechtlichen [17] Anerkennung der Fehde wurden die Beamten angewiesen, die Sühne zu vermitteln und denjenigen, der die Zahlung des Wergelds oder die Annahme der Zahlung verweigerte, vor den König zu bringen, der die Bestrafung des Widerstrebenden seinem Ermessen vorbehielt. Dem Ungehorsamen wurde insbesonders Verbannung bis zum Eintritt der Nachgiebigkeit, dem die Zahlung weigernden Todtschläger auch Vermögenseinziehung angedroht. Eine andere Neuerung ist die, dass die nach Volksrecht straffreie Fehde durch das Königsrecht mit der Strafe des Banns bedroht wird. Karl der Grosse droht für die faida als solche die Strafe des Königsbanns von 60 solidi, dann auch die Strafe von 100 solidi, ja durch das capitulare Saxonicum von 797 wurde dem König das Recht, eine noch höhere Strafe bis zu 1000 solidi zu verhängen, vorbehalten. Ueber das Verhältniss dieser Bestimmungen zu der volksrechtlichen Anerkennung des Fehderechts ist zu verweisen auf Sohm[67], Schröder[68], Brunner[69] und die dort angegebene Literatur.

Diesen Bestimmungen über Fehde entsprechen die analogen Bestimmungen über die Selbsthilfe im Privatrecht. Sowohl das Langobardische als das Sächsische Recht haben noch ein aussergerichtliches Pfändungsrecht des Gläubigers gekannt. Das Fränkische Königsrecht verbot die Ausübung desselben bei Strafe des Königsbanns. Karl der Grosse setzte in der capitulatio de partibus Saxoniae für Sachsen, Pippin in einem ungefähr gleichzeitigen Capitular für Italien die Bannstrafe auf die aussergerichtliche Pfändung[70].

Doch hat sich das Königsrecht auf die Dauer nicht durchzusetzen vermocht. So hat sich in Italien die eigenmächtige Pfändung trotz des königsrechtlichen Verbots erhalten[71]. Und in Nachfränkischer Zeit finden wir gerade in den alten Sitzen der Salfranken die Geschlechterfehde in vollster Blüthe[72].

Es konnten eben diese königsrechtlichen Reformen im Rechtsbewusstsein [18] des Volkes noch nicht durchdringen. Die Gewohnheit, sich selbst sein Racherecht zu schaffen, war zu sehr in das Germanische Blut eingelebt, ebenso wie die Selbsthilfe im Privatrecht.

Eine andere Erscheinung tritt uns im Mittelalter entgegen, mit ausgeprägtem Charakter, bestimmte Zeit andauernd, ein festgesetztes Ziel verfolgend: „die mittelalterlichen Friedenssatzungen“. Diese Friedensaufrichtungen bilden einen Theil der Rechts- und Verfassungsgeschichte des Mittelalters, der zu den wichtigsten gehört. Sie haben den Ausgangspunkt für die mittelalterliche Reichs- wie Landesgesetzgebung gebildet. Sie erscheinen das ganze Mittelalter hindurch als der eigentliche Kern der Gesetzgebung, um den sich allmählich immer weitere Materien legen, die in mehr oder weniger losem Zusammenhange mit Friede und Fehde stehen, zum Theil eines solchen Zusammenhanges ganz entbehren. So findet sich schon in einer der frühesten Deutschen Friedensaufrichtungen[73], die uns erhalten sind, dem undatirten Frieden bei Waitz (Urk. 12), nebenbei ein Verbot des Pferdeexports, und neben anderem das Gebot, Streitigkeiten um Eigen und Lehen vor den herzoglichen Beamten zu verhandeln, Bestimmungen, die wir später wiederholt in ähnlichem Zusammenhange finden werden.

Wenn man von den Friedenssatzungen des Mittelalters spricht, so hat man vor allem zu unterscheiden zwischen den sogenannten Gottesfrieden und den sogenannten Landfrieden. Letztere eine mehr Deutsche und mehr von rechtlichen Gesichtspunkten aus zu betrachtende Institution, erstere eine mehr specifisch Französische, mehr unter rein historischen Gesichtspunkten zu betrachtende Erscheinung. Beide Institute hängen in manchen Beziehungen ebenso sehr miteinander zusammen, als sie in vielen Beziehungen scharf von einander zu trennen sind.

Der „Gottesfriede“ war eine kirchliche Einrichtung Französischen Ursprungs, bestimmt zur Bekämpfung des Fehdewesens, die Fehde bekämpfend nicht durch gänzliches Verbot, sondern durch indirecte Beschränkungen, lediglich vertraglicher, nicht gesetzlicher Natur, bestimmte eigenartige Mittel anwendend, das [19] kirchliche Moralgebot der Friedensliebe überführend in das öffentliche Recht, weniger durch rechtliche Strafen als durch kirchliche Disciplinirung wirkend, charakterisirt durch die Befriedung gewisser Personen, Gegenstände und Zeiten.

Der „Landfriede“ war eine weltliche Einrichtung Deutschen Ursprungs, dem Gottesfrieden zeitlich nachfolgend, sowohl gegen die Fehde gerichtet, als besonders in ihrer späteren Entwicklung zum Theil förmliche Strafgesetzbücher, theils die Fehde indirect beschränkend durch Befriedung gewisser Personen und Gegenstände, selten durch Einführung gewisser Friedetage, theils sie gänzlich verbietend, vorwiegend gesetzlicher Natur. Das sind andeutungsweise die Hauptunterschiede.

Diese Friedensordnungen, die man sich nach der gewöhnlichen Anschauung als einander völlig ähnlich oder doch wenigstens gleichartig vorstellt, waren jedoch nicht bloss nach diesen zwei Hauptkategorien, sondern gerade innerhalb derselben durchaus verschieden und in unendliche Schattirungen sich zersplitternd. Pfister[74] hat Recht, wenn er sagt: „faute de les avoir distingués, on est tombé dans la confusion“. Und doch hat das Unterscheiden von jeher weniger Schaden gebracht als das Zusammenwerfen.

Besonders innerhalb der zweiten der oben charakterisirten beiden grossen Gruppen finden sich noch eine Anzahl der verschiedensten Formen, in welche die Friedensbestrebungen sich kleideten, von beschworenen Friedensvereinigungen bis zu vertragsmässigen Bündnissen, von landschaftlichen Friedenseinigungen bis zu förmlichen Reichsfriedensgesetzen. Es herrschten aber nicht nur örtlich die grössten Unterschiede, sondern auch in demselben Gebiete griff man in zeitlicher Aufeinanderfolge zu den verschiedensten Mitteln.

Zum anderen ist man mit der Bezeichnung Gottesfriede und Landfriede bislang ganz willkürlich umgesprungen. Beide Namen finden sich erst von einem ganz bestimmten Zeitpunkt an in den Quellen, und zwar für ganz bestimmte Verhältnisse. Trotzdem hat man sie entgegen dem Sprachgebrauch in den Quellen schon auf die ersten Anfangsstadien angewendet.

Abgesehen hiervon stösst man bei genauerer Untersuchung [20] noch auf eine Masse ungelöster Fragen. So über die Ursachen dessen, dass man gerade diesen eigenthümlichen Weg der Befriedung einschlug, so über die Arten dieser Friedenssatzungen, insbesondere über den Zusammenhang und den Unterschied der Gottesfrieden und Landfrieden, dann über die Art und Weise ihrer Entstehung und ihres Verschwindens, über ihre Ausbreitung in die benachbarten Länder, über ihren Zusammenhang mit früheren Rechtsinstituten und ihre Fortentwicklung in späteren, über ihre Wirksamkeit und ihren Ersatz. Was hat das Mittelalter durch diese Friedenssatzungen zu erreichen gesucht und was hat es wirklich erreicht?

Die Lösung dieser Fragen und die nähere Ausführung und Begründung – Fragen, die, wenn auch in gewisser Richtung ein allgemeines, so doch im besonderen vor allem rechtshistorisches Interesse darbieten –, muss ich mir versparen auf eine besondere rechtsgeschichtliche Abhandlung über die in der Rechtsgeschichte eine so eigenthümliche Stellung, einnehmenden Friedensaufrichtungen des Mittelalters, die man gemeinhin unter dem Namen „Gottesfriede“ und „Landfriede“ zusammenzufassen pflegt.



Anmerkungen

  1. Sanskritwörterbuch, herausgegeben von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, bearbeitet von O. Böhtlingk und R. Roth. Petersburg 1855–1875.
  2. Fick, Vergleichendes Wörterbuch d. Indogerm. Sprachen, besds. Theil VII: Wortschatz der German. Spracheinheit, 3. Aufl. 1874.
  3. Curtius, Grundzüge der Griech. Etymologie. 5. Aufl. 1879.
  4. E. Schulze, Gothisches Glossar, 1847; Gothisches Wörterbuch 1867.
  5. L. Diefenbach, Vergleichendes Wörterbuch der Gothischen Sprache. 1861.
  6. L. Meyer, Die Gothische Sprache, ihre Lautgestaltung insbes. im Verhältniss zum Altindischen, Griechischen und Lateinischen. 1869.
  7. S. Feist, Grundriss der Gothischen Etymologie. Inaug.-Diss. Strassburg 1888.
  8. E. G. Graff, Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdt. Sprache, 1834 ff. III S. 783 unter fri.
  9. O. Schade, Althochdeutsches Wörterbuch, 2. Aufl. 1872–1882 (Steinmeyer und Sievers).
  10. A. Schmeller, Glossarium Saxonicum. 1840 (Heyne).
  11. Kiliani Dufflaei Etymologicum. Ultraj. 1623 (Verwijs en Verdam).
  12. Ettmüller, Lex. Anglosaxonicum. 1851 (Grein, Schmid, Groschopp).
  13. Bosworth, Anglo-Saxon and English Dictionary. 1866.
  14. Toller and Bosworth, An Anglo-Saxon Dictionary based on etc. 1882 ff.
  15. Wright, Anglo-S. and old English vocabularies, 2 ed. by Wülcker. 1884.
  16. Th. Möbius, Altnordisches Glossar. 1866.
  17. Schlyter, Ordbok till Samlingen af Sweriges gamla Lagar. 1877.
  18. Lund, Det aeldste danske Skriftsprogs Ordforraad. 1877.
  19. Miklosich, Lexicon Palaeoslovenico-Graeco-Latinum. 1862–1865.
  20. Miklosich, Etymolog. Wörterbuch der Slavischen Sprachen. 1886.
  21. Vanitschek, Etymolog. Wörterbuch der Griech. und Latein. Sprache.
  22. Diez, Etymolog. Wörterbuch der Roman. Sprachen. 4. Aufl. 1878.
  23. Müller und Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 1854 ff.
  24. v. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 1872–78. III. Bd.
  25. Schiller und Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterb., 1872–81.
  26. Heinzelein von Konstanz, hrsg. von F. Pfeiffer. Leipzig 1852. (116. 5, 5.)
  27. Martina von Hugo von Langenstein, hrsg. von Keller. Stuttgart 1856. (43, 2.)
  28. Chroniken der Dt. Städte vom 14. bis ins 16. Jh. Leipzig 1862 ff. Bd. VIII S. 76, 9.
  29. Der jüngere Titurel, hrsg. von Hahn. Quedlinburg 1842. (910.)
  30. Die Rabenschlacht, hrsg. von Martin. Berlin 1866. (228. 469.)
  31. Der Schwabenspiegel, hrsg. von Wackernagel. I. Zürich 1840. (89, 5. 205.)
  32. Das Leben der heiligen Elisabeth, hrsg. von Rieger. Stuttgart 1868. (9028.)
  33. Apollonius von Tyrland, ged. von Heinrich von Neuenstadt. Gothaer Handschrift (14 968).
  34. Deutsche Predigten des 13. Jahrhunderts, hrsg. von Grieshaber. Stuttgart 1844–46. (2, 84.)
  35. Trojanischer Krieg von Konrad von Würzburg, hrsg. von Keller. Stuttgart 1858. (19 298, 16 903.)
  36. Monumenta Wittelsbacensia, hrsg. v. Wittmann. München 1857–61. (59, 32, a. 1255.)
  37. J. und W. Grimm, Dt. Wörterbuch. 1854 ff. unter Friede.
  38. Kluge, Etym. Wörterbuch der Dt. Sprache. 1884.
  39. H. Paul, Grundriss der Germanischen Philologie etc. II. Bd. 2. Abth. Lfg. 1. Strassburg 1889. S. 41.
  40. Graff, Althochdt. Sprachschatz. II, 96.
  41. Schiller und Lübben, a. a. O. II, 608.
  42. K. v. Richthofen, Altfriesisches Wörterbuch. 1840. S. 883.
  43. J. ten Doornkaat-Koolman, Wörterbuch der Ostfriesischen Sprache. 1879 ff.
  44. R. Schmid, Glossar in dessen Gesetze der Anglosachsen. 1858. S. 621.
  45. Jordanes, c. 11: propriis legibus vivere fecit, quas usque nunc conscriptas belagines nuncupant. Vgl. hierzu vor allem die Erörterungen von Möllenhoff. (Anmerkungen zu Mommsen’s Ausgabe.)
  46. J. Grimm, Geschichte der Deutschen Sprache. I, 453.
  47. Brunner, Dt. Rechts-G. I, 109. Note 2.
  48. v. Amira, a. a. O. S. 50 und S. 72. Note 95.
  49. Brunner, Z. d. Sav.-Stiftg. f. Rechts-G. IV, 237.
  50. Grimm, Dt. Wörterb. III, 39.
  51. Grein, Angelsächs. Sprachschatz. I, 11. 63.
  52. K. Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen. 1886. S. 2. Note 1.
  53. Wilda, Strafrecht der Germanen, S. 225, und im Rechtslexikon von Weiske VI S. 248.
  54. v. Amira, Das Altnorwegische Vollstreckungsverfahren, S. 2, und Nordgermanisches Obligationenrecht, I S. 141. Paul’s Grundriss II, 2, S. 41: Daher auch „Friede“, d. i. die gegenseitige „Schonung“ der Menschen, zu einem Namen des Rechtes wird.
  55. Graff, Althochdt. Sprachschatz III S. 783 vgl. mit S. 794.
  56. Vgl. Graff, a. a. O. II S. 397.
  57. H. F. Massmann, Der Keiser und der Kunige buoch oder die sog. Kaiserchronik. Quedlinburg u. Leipzig 1849. III S. 1048.
  58. Konrad v. Würzburg, Trojanischer Krieg; hrsg. von Keller. Stuttgart 1858. 16 903.
  59. G. Ph. Gengler, Dt. Stadtrechte des Mittelalters. Erlangen 1852. S. 154.
  60. R. v. Jhering, Der Kampf ums Recht. Wien 1889.
  61. Das Nähere über diese Entwicklung findet sich bei Wilda in Weiske’s Rechtslexikon unter „Landfriedensbruch“, eine Bezeichnung, die zwar nicht mehr in der ursprünglichen, sondern in ganz bestimmter eingeschränkter Bedeutung heute noch für § 125 R.-St.-G.-B. in Anwendung ist.
  62. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Dt. Strafrecht. 1881. Beil. 22: Das Germ. Fehderecht und die Compositionen. S. 79.
  63. Wilda, Geschichte des Dt. Strafrechts. I S. 268.
  64. K. Maurer, Ueber Angelsächs. Rechtsverhältnisse: 4. Das Fehde- und Wergeldwesen. Kritische Ueberschau. III S. 30.
  65. Massmann, Der Keiser und der Kunige buoch. II S. 397 f.
  66. R. Schröder, Lehrb. der Dt. Rechts-G. Leipzig 1889. S. 331 u. 614.
  67. R. Sohm, Die Altdeutsche Reichs- und Gerichtsverfassung. Bd. I. Weimar 1871. S. 104 f. und Anm. 6.
  68. Schröder, Dt. Rechts-G. S. 343 f. und Anm. 76.
  69. Brunner, Dt. Rechts-G. I, 156 f.; 280 f.
  70. Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung. S. 105 und Anm. 7.
  71. Wach, Der Italienische Arrestprocess. S. 24 f.
  72. Brunner, Dt. Rechts-G. I, 281.
  73. Waitz, Urkunden zur Dt. Verf.-G. im 10., 11. und 12. Jh. 2. Aufl. 1886. S. 30 (Urk. 12).
  74. Pfister, Études sur le règne de Robert le pieux. S. 165.