Gletscherleichen
[212] Gletscherleichen. – In der Region des ewigen Schnees der Hochgebirge bilden sich bekanntlich aus den Schneemassen, die durch den Druck darüber ausgebreiteter neuer Schneefälle immer fester zusammengepreßt werden, ungeheure Eisströme, die sich langsam talabwärts bewegen. Verschiedentlich sind nun an jenen Stellen, wo der Eisstrom infolge der im Tal herrschenden höheren Temperatur hauptsächlich in den Sommermonaten zerschmilzt und als Gletscherbach seinen Weg fortsetzt, Leichen von Personen zutage getreten, die vor langen Jahren auf dem Gletscher verunglückten, durch Schneefälle oder Lawinen verschüttet und dann, in die entstehende neue Eisschicht eingebettet, nicht eher wieder zum Vorschein kamen, bis der Eisstrom sie an seinem Endpunkte wieder herausgab – meist durch die Kälte ebenso vorzüglich konserviert wie jene in den Schneewüsten Sibiriens entdeckten, Jahrtausende alten Mammutkadaver.
Im Jahre 1783 wurde Island, die Insel der Vulkane, heißen Quellen und größten Gletscher von ganz Europa, von furchtbaren Vulkanausbrüchen heimgesucht, durch deren giftige Gasausströmungen, wie der dänische Geschichtschreiber Sigurdsson berichtet, unzählige Menschen umkamen. Um den verderbenbringenden Gasen zu entgehen, flüchteten viele Bewohner der bedrohten Gebirgstäler bis in die höchsten Bergregionen, fielen dort aber heftigen Schneestürmen zum Opfer. Die Leichen von vierzehn dieser Unglücklichen wurden fast ein ganzes Jahrhundert später durch einen merkwürdigen Zufall in noch recht gut erhaltenem Zustande wieder aufgefunden.
Im Juni 1876 hatte sich der englische Gelehrte Thomas Housding, der sich vornehmlich mit der Erforschung der Gletscher [213] beschäftigte, zu Studienzwecken nach Island begeben. Im südlichen Teile der Gletscherwüste des Vatnajökull entdeckte er einen Eisstrom, der sich über den Rand eines tiefen Abgrundes hinweggewälzt hatte und nun wie eine ungeheure weiße Traube von zwanzig Meter Länge, acht Meter Dicke und fünfzehn Meter Breite herabhing. Da dieser gewaltige, offenbar noch immer in stetiger Vorwärtsbewegung begriffene Gletscher eine den Gelehrten lebhaft interessierende Endmoräne besaß, stieg Housding, um diese zu untersuchen, an einem starken Tau angeseilt und von seinen Begleitern gehalten bis zum untersten Teile der Riesentraube hinab.
Hier bemerkte er einen nur noch von einer dünnen, durchsichtigen Eisschicht bedeckten Leichnam, den er mit Hilfe seiner Eisaxt herauszuhauen versuchte. Trotz angestrengtester mehrstündiger Arbeit wollte dies jedoch nicht gelingen. Der Gelehrte mußte schließlich unverrichteter Sache den Rückweg antreten.
Am nächsten Morgen ließ Housding, nachdem sein Eifer durch die Erzählungen seines Führers über die gelegentliche Auffindung von Jahrhunderte alten Gletscherleichen noch zugenommen hatte, in den Gletscherstrom dicht am Rande des Abgrundes Sprenglöcher bohren und diese mit Schießpulver füllen, um auf diese Weise die gewaltige Eistraube von der übrigen Eismasse abzutrennen und in den Abgrund zu stürzen, wo er dann seine Suche weit gefahrloser fortsetzen konnte. Am 3. Juli 1876 löste sich bereits nach dem fünften Sprengschuß das überhängende Gletscherende los und rutschte mit ohrbetäubendem Getöse die Felswand einige zwanzig Meter weit hinab, dabei in unzählige kleinere Stücke auseinanderberstend.
In diesen Eisstücken fest eingefroren fand man nun außer jenen sehr gut konservierten vierzehn menschlichen Körpern noch mehrere Hundekadaver sowie allerhand Hausgerät und Waffen. Sowohl durch diese als auch durch eine mitaufgefundene dänische Bibel vom Jahre 1772 konnte man feststellen, daß die Leichen fast hundert Jahre in dem Eisstrom gelegen und dessen Wanderung von den höchsten Bergregionen bis zu jenem Abgrund mitgemacht hatten.
Spätere Nachforschungen ergaben dann unzweifelhaft die [214] Zugehörigkeit der im Vatnajökull zutage geförderten Leichen zu der Schar jener Unglücklichen, die im Jahre 1783 vor den Giftgasen der Vulkane in die Schneewüsten geflüchtet und dort zugrunde gegangen waren. Ja, man konnte sogar mit ziemlicher Bestimmtheit die Stelle bezeichnen, wo die vierzehn Personen damals auf dem Gletscherfelde umgekommen waren, denn nach langjährigen Beobachtungen der Vorwärtsbewegung jenes Seitenstromes des Vatnajökull berechnete man die Schnelligkeit jenes Gletscherteiles auf 0,2 Meter am Tage, das heißt die Leichen mußten in den dreiundneunzig Jahren einen Weg von ungefähr 678 Meter zurückgelegt haben.
Housding versuchte eine dieser Gletscherleichen, die gerade ihres hohen Alters wegen für die Wissenschaft von so großer Bedeutung waren, nach England mitzunehmen. Aber auch in dem damals als Konservierungsmittel allein gebräuchlichen Spiritus zerfiel der betreffende Leichnam auffallenderweise bereits nach wenigen Tagen vollständig, so daß man auch diese Überreste noch auf isländischer Erde bestatten mußte. –
Am 14. Juni 1854 wurde der französische Alpinist Baron Vilaneuf bei dem Versuch einer Besteigung des Aletschhorns zusammen mit zwei Führern von einer Lawine verschüttet. Da am Abend furchtbare Schneestürme eintraten, die zwei Tage anhielten und jede Spur der Verunglückten verwehten, kehrten die zur Wiederauffindung der Vermißten ausgeschickten Rettungsexpeditionen sämtlich unverrichteter Sache zurück. Man wußte jedoch ungefähr, an welcher Stelle auf dem Großen Aletschgletscher die drei Männer umgekommen waren, und berechnete daher auch in diesem Falle später ungefähr als die Zeit, wann dieser mächtige Eisstrom die Leichen wieder herausgeben würde, das Jahr 1886. Und wirklich wurde – man hatte sich nur um ein Jahr geirrt – im Jahre 1887 von Einwohnern von Neuboden am Fuße des Großen Aletschgletschers ein Leichnam gefunden, der, trotzdem ihm der Kopf fehlte, als der des Barons Vilaneuf rekognosziert werden konnte. Erst im folgenden Jahre traten dann auch der völlig zermalmte Kopf und die Leiche des einen Bergführers zutage. Die des zweiten hält der Eisstrom noch heute fest.
[215] Auch der Rhonegletscher hat im Jahre 1885 zwei Leichname nach fünfundzwanzig Jahren wieder herausgegeben. Am 22. Juli 1860 war das Ehepaar Fulgotta, aus Mailand gebürtig, im Vertrauen auf seine durch viele Bergtouren erworbene Kenntnis der Gefahren der Alpenwelt ohne Führer vom Grimselhospiz aus zur Besteigung der Gerstenhörner aufgebrochen. Als die beiden Fremden nach Verlauf von vier Tagen noch nicht zurückgekehrt waren, ging eine Rettungsexpedition ab, die eine ganze Woche lang nach den Italienern vergeblich suchte. Man fand nur in der Höhe des Furkahorns auf dem Rhonegletscher einen Bergstock, an den mit Band ein Stück Papier befestigt war, worauf wenige völlig unleserliche italienische Worte standen. Unzweifelhaft war dies eine letzte Nachricht des von einem Unwetter überraschten und vom sicheren Tode bedrohten Ehepaares, dessen Leichen der Eisstrom dann fünfundzwanzig Jahre später wieder freigab.
Am 16. September 1911 verstarb in Chamonix Edward Whymper, der am 14. Juli 1865 als erster das bis dahin für unbezwinglich gehaltene Matterhorn bestieg, sich außerdem aber auch durch mehrere Grönlandreisen und zwei Besteigungen des Chimborasso einen Namen gemacht hat. Dieser Todesfall hat die interessierten Kreise daran erinnert, daß das Gletschereis noch heute die Leichen der bei jener ersten Bewältigung des Matterhorns leider durch Absturz verunglückten vier Gefährten Whympers umschließt, unter denen sich auch der englische Lord Frederick Douglas befand. Nach den angestellten Verrechnungen müssen die Körper der vor mehr als vierzig Jahren umgekommenen Bergsteiger in einem der nächsten Sommer aus dem Gletscher wieder zum Vorschein kommen.
Es ist ein seltsam unheimlicher Gedanke, sich diese in ihrem Eisbett langsam zu Tal gleitenden menschlichen Leichname vorzustellen, über denen mit schwerem, genageltem Schuh der Bergsteiger auf dem Gletscher dahinwandert, ohne zu ahnen, daß vielleicht wenige Meter unter ihm die Opfer eines verhängnisvollen, Jahrzehnte zurückliegenden Unfalls dem Licht des Tages wieder zustreben.
Die Zahl dieser Gletscherleichen, auf deren Wiedererscheinen [216] man wartet, ist dabei gar nicht so sehr klein. Nicht nur in den Alpinistenvereinen, sondern auch von den Regierungen der meisten Kulturländer, in denen Gletscher vorkommen, werden genaue Listen über alle in den Bergen geschehenen Unglücksfälle geführt, worin auch das Jahr vermerkt ist, in dem mit einem Auftauchen der Umgekommenen aus den Eisströmen gerechnet werden kann. So hofft man unter anderen im Jahre 1954 auf das Freiwerden des Körpers des Wiener Rechtsanwalts Weihofen, der 1900 auf dem Pasterzegletscher im Gebiet des Großglockner den Tod fand, 1962 auf das Wiedererscheinen der Leichen zweier Engländer, die 1903 in Norwegen bei dem Versuch einer Besteigung der Lodalskaupe verunglückten.