Gottfried Keller (Die Gartenlaube 1889/28)

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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Gottfried Keller
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 474–475
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Gottfried Keller.
Nach einer Photographie von J. Ganz in Zürich.

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Gottfried Keller.

Einem schweizer Dichter, der am Ufer des von Klopstock gefeierten Züricher Sees, mit wenigen Unterbrechungen sein Leben zugebracht hat und dort noch jetzt im höheren Alter lebt, wendet an seinem siebzigsten Geburtstage sich die Theilnahme des deutschen Volkes zu; denn seine eigenartige Begabung und seines Wesens kernhafte Tüchtigkeit sind stets hochgeschätzt worden von allen Kundigen. Namhafte Kritiker haben der Ergründung seiner Eigenart und der Würdigung seiner Vorzüge größere Schriften gewidmet, und ein Litterarhistoriker wie Adolf Stern nennt ihn den innerlich reichsten, unmittelbarsten und gestaltungskräftigsten Dichter der Gegenwart. Das Leben Gottfried Kellers ist der beste Kommentar zu seinen Dichtungen. In kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren, hat er keine regelmäßige gelehrte Vorbildung genossen, sondern als Kunstschüler eine Epoche von Sturm und Drang und unsicherem Umhertasten durchgemacht, bis er später durch jahrelange Universitätsstudien Versäumtes nachzuholen und sich eine vielseitige Bildung zu erwerben suchte. Er war am 19. Juli 1819 in einem Dorfe in der Nähe von Zürich geboren, wo sein Vater als schlichter und nicht sehr vermögender Drechslermeister lebte. Dieser starb früh und nun sorgte die Mutter für die Erziehung des Knaben. Er widmete sich der Landschaftsmalerei, ging 1840 nach München, kehrte aber 1842 wieder in seine Heimath zurück, da er in jener Kunststadt nichts Rechtes vor sich brachte. Auf dem Gebiete der Poesie fühlte er sich infolge seiner mangelhaften Vorbildung unsicher, und doch trieb es ihn jetzt an, sich gerade auf diesem Gebiete Lorbeeren zu erwerben. So besuchte er 1848 die Universität zu Heidelberg und begab sich 1850 nach Berlin, wo er bis 1855 blieb. Von da ab schlug er wieder in Zürich seinen Wohnsitz auf und beschäftigte sich bis 1861 mit litterarischen Arbeiten; dann nahm er eine Stellung an als Staatsschreiber und wurde Mitglied des Großen Rathes, ein angesehenes Amt, in welchem er bis zum Jahre 1876 verharrte.

Die erste Veröffentlichung Kellers war eine Sammlung von „Gedichten“, die im Jahre 1846 herauskam; eine zweite folgte 1851; viel später erschienen die „Gesammelten Gedichte“ (1883). Die Lyrik Kellers gehört also ganz seiner jugendlichen Epoche an; denn in der letzten Sammlung sind nur ein im Heinisirenden Stil gehaltenes, an den „Romanzero“ und „Atta Troll“ erinnerndes phantastisch-satirisches Gedicht und einige Gelegenheitsgedichte hinzugefügt worden. An Heine erinnert Gottfried Keller sonst durchaus nicht in seinen Liedern, ebenso wenig an Geibel; er hat weder den einschneidenden Hohn des ersteren, womit dieser selbst seine dichterischen Blüthen zerpflückt, noch den weichen Hauch eines zartinnigen Gefühls, mit welchem der letztere seine Liederblüthen aufblättert; auch nur selten erinnern Klänge mit begeistertem Aufschwung an Herwegh und die politische Lyrik. Freilich hat Keller in der Regel auch nicht den melodischen, sich dem Ohr einprägenden Fluß und Guß dieser Poeten; seine Dichtweise hat etwas Schwerflüssiges, aber Gedankentiefes und ist von einer eigenartigen markigen Bildlichkeit. Der Natur und auch dem Alltagsleben lauscht er die geheimsten Züge ab und beseelt sie mit dichterischem Pulsschlag. Das Naturbild wird zum Seelengemälde durch das, was der Dichter in dasselbe hineinschaut und hineinfühlt, und umgekehrt das Seelengemälde zum Naturbild durch die Wahrheit der aus dem vollen Leben geschöpften Züge.

[475] Welche prächtigen Naturschilderungen in den Stimmungsbildern aus den Jahres- und Tageszeiten! Welch herrliche Farbengebung und kühne Anschauung!

An dem Faden der stimmungsvollen Landschaftsmalerei reihen sich einige der schmucksten dichterischen Perlen auf, wie „Erster Schnee“, „Abendregen“, „Wetternacht“, ein Gedicht, das sich oft zu hymnenartigem Schwung erhebt; das Auge des Landschafters ist in diesen Gedichten nicht zu verkennen, ebenso wenig in andern das Auge des Genremalers, mag uns ein Gemsjäger, ein Taugenichts, ein alter Bettler oder ein Schöngeist vorgeführt werden. Eine Reihe von Genrebildern enthält die „Feueridylle“, eine der besten Dichtungen Kellers, in welcher seine markige Pinselführung am meisten hervortritt. Es wird darin der Brand eines Bauernhauses geschildert: das Bild des habsüchtigen, reichen Bauersmannes, der nicht genug für sich zusammenraffen kann, zeichnet sich dabei in einer Menge einzelner Züge wie ein Vexirbild in den herunterbrennenden Wänden ab. Das Kruzifix, das ein bilderstürmender Ahn geraubt; die von einem Jüngling gerettete Bibel, während der Bauer lieber gewünscht hätte, sein Hauptbuch mit allen darin eingezeichneten Schuldnern gerettet zu sehen; der alte dürre Todtenkranz, der aus den Flammen geflüchtet wird: das sind solche in die Augen fallende Requisiten der sich vor uns entrollenden flammenhellen Schaubühne.

Eine andere Reihe von Gedichten schildert uns die Empfindungen eines lebendig Begrabenen; es ist darin viel Grauenhaftes, unheimlich Anschauliches, ein dumpfes Brüten der Gedanken, deren Gespinnste wie zerreißliche Grabesschleier aus der Tiefe emporflattern, zerreißlich auch allerdings für die kritische Erwägung, daß in solcher Lage kein Mensch Muße haben wird, so ruhig in der „Gedankenfabrik“ zu arbeiten.

Gottfried Keller ist ein echter schweizer Poet; nicht nur beweisen das zahlreiche Gedichte, besonders die „Ode ans Vaterland“:

„O mein Heimathland! O mein Vaterland!
Wie so innig, feurig lieb’ ich dich!“

und zahlreiche Lieder bei Sänger- und Kriegerfesten; das beweist nicht nur das landschaftliche Kolorit seiner Gedichte, in denen die Schweiz mit ihren hohen Alpen und blauen Seen immer den Hintergrund, oft den Mittelpunkt bildet; das beweist vor allem die Physiognomie dieser Gedichte selbst, die mit ihrer oft grandiosen Schlichtheit an die Alpennatur erinnern.

Einige Jahre nach der zweiten Sammlung der „Gedichte“ erschien Gottfried Kellers großes Hauptwerk: „Der grüne Heinrich“ (4 Bde., 1854–1855; zweite Bearbeitung 1879–1880), das einiges Aufsehen erregte und mit dem sich die hervorragende Kritik damals eingehend beschäftigte, das aber das größere Publikum nicht in gleichem Maße anzog. Es ist ein Künstlerroman, der im Inhalt etwas an die Romane der romantischen Schule und den „Wilhelm Meister“, in der Darstellungsweise, den breiten Einschiebungen und Einschachtelungen, den oft selbstgenügsamen reichen Naturschilderungen, der Vorliebe für Ausmalung der Kindheit und Jugendjahre an Jean Paul erinnert.

Der „grüne Heinrich“ ist ein Künstler, der es in seiner Laufbahn zu nichts bringt; was ihn fördern sollte, erweist sich vielfach als hemmend für ihn, und es liegt in seinem träumerischen Naturell eine Schranke für eine tüchtig zugreifende Thätigkeit. Desto reicher ist seine Gemüthswelt, und Keller leuchtet in alle ihre Tiefen hinein; da zeigt sich oft ein Farbenspiel von wunderbarem Glanze und großer Mannigfaltigkeit. Die Handlung des Romans selbst ist dürftig und bei einer kurzen Erzählung derselben würde man es unbegreiflich finden, wie der Dichter damit vier Bände füllen konnte. Ungefähr die Hälfte nehmen die eigenen Aufzeichnungen des „grünen Heinrich“ über seine Kindheit und Jugend ein; hier finden wir viel Frisches, jedenfalls Selbsterlebtes; doch wie wenigen ist solche Rückschau in die Geheimnisse der Kinderseele gegönnt! Das Bild des Vaters, vor allem das der Mutter, eine tüchtige poesievolle Zeichnung, tritt lebendig vor uns hin, ebenso die Gespielen und das ganze Treiben der Kinderwelt. In vorgerückteren Jahren berührt die Liebe in Doppelgestalt das Herz des jungen Helden: die zarte Anna, welche die sanftesten Accorde seines Seelenlebens anschlägt, die üppige Judith, welche ihn mit sinnlichem Zauber berauscht, sind in anmuthenden Kontrast gestellt. Schweizer Volkssitten, besonders die Tellaufführung durch das Volk selbst und mit dem Hintergrunde der freien schweizer Natur heben das Genrebild zu nationaler Bedeutung. Ein unausgegohrener Charakter, eine verfehlte Existenz, ein früher Tod aus innerstem Herzeleid – um diesen gleichsam „immergrünen Heinrich“ interessant zu machen, bedurfte es einer genialen Darstellungskraft.

An künstlerischem Maß, an knapper gedrungener Form sind dem großen Roman Gottfried Kellers weit überlegen seine Erzählungen: „Die Leute von Seldwyla“ später (1856, später 4 Bde. 1874), jedenfalls das Vollendetste, was seine Muse geschaffen hat. Paul Heyse spricht von den „unsterblichen Seldwylern“ und nennt Keller den Shakespeare der Novelle. Vielleicht mag zu diesem Lobe die Perle der Sammlung, die Erzählung „Romeo und Julie auf dem Dorfe“, Anlaß gegeben haben, die Geschichte einer innigen Liebe zwischen den Kindern zweier Bauern, die von erbitterter Feindschaft beseelt und dadurch zuletzt verkommen und zu Grunde gegangen sind. Der letzte Festtag dieser Liebe mit seinem wehmüthigen Glücksschimmer und der Tod der Liebenden, die sich von dem losgeankerten Heuschiff in die Fluthen stürzen, ist mit einem wahrhaft magischen Farbenzauber geschildert. Vergleicht man damit die etwas derb zugreifenden Dorfgeschichten eines Jeremias Gotthelf, so lernt man erst recht die dichterische Weihe des größern schweizer Poeten schätzen. Im übrigen werden uns von den lustigen Leuten von Seldwyla mancherlei anziehende und ergötzliche Exemplare vorgeführt. Zu der vermehrten Sammlung der letzten Auflage verdient am meisten die Novelle „Dietegen“ hervorgehoben zu werden, in welcher die tragischen Schlagschatten am tiefsten und schwersten fallen, lieblich Inniges und grauenhaft Schreckliches miteinander wechselt.

Wenn auch in den „Züricher Novellen“ (2 Bde. 1878) die Darstellungsweise Kellers nicht die gleiche helle, bezaubernde Farbe erreicht wie in den „Leuten von Seldwyla“, wenn das Alltägliche bisweilen auch in trockenerem Ton geschildert ist, so sind doch auch hier die Vorzüge seines markigen Talentes unverkennbar. Diese Novellen wurzeln im Boden der Stadt Zürich und haben zum Theil einen historischen Hintergrund wie die des schweizer Dichters K. F. Meyer. Ein eigenartiges Charaktergemälde ist die neueste Erzählung Kellers „Martin Salander“ (1886). Man hat derselben ihre Alltäglichkeit und überwiegende Spießbürgerlichkeit vorgeworfen. Freilich fehlt dem Hauptcharakter und den Kaufmannskreisen, in denen sich die Handlung bewegt, aller romantische Reiz, doch groß ist in dem Werke die Kunst der Gestaltung, der Beleuchtung, der feinen Detailmalerei und der stimmungsvollen Wirkung durch einfache Mittel. Noch erwähnen wir den Novellenkranz „Das Sinngedicht“ (1882), der viel Originelles und Tiefsinniges enthält, und die „Sieben Legenden“ eine Uebertragung kirchlicher Ueberlieferungen ins Weltliche, nur selten mit leichter spöttischer Beimischung, meistens ohne Gefährdung ihres echt menschlichen Kerns.

Von den Dichtern der deutschen Schweiz ist der mannhafte, tiefempfindende, eigenartige Gottfried Keller derjenige, der vor allen berufen ist, auf unserem modernen Parnaß an der Seite der Begabtesten zu sitzen; darum Ehre dem wackeren Dichter an seinem Gedenktage!

Rudolf v. Gottschall.