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Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit

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Autor: Heinrich Heine
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Titel: Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 100, 102–104;
Heft 7, S. 108–109 (Faksimiles);
Heft 7, S. 113–116;
Heft 8, S. 133–134;
Heft 10, S. 165–167;
Heft 11, S. 179–181;
Heft 12, S. 194–196;
Heft 14, S. 230–232;
Heft 15, S. 250–252;
Heft 16, S. 267–269;
Heft 17, S. 285–287, 290
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Erstveröffentlichung der Memoiren Heines – Mitte 1854 bis Anfang 1855 geschrieben, aus dem Nachlass von Eduard Engel herausgegeben und kommentiert.
Zur Erläuterung einer Stelle in „Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit“;
siehe die historisch-kritische Ausgabe der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, Bd. 15, S. 59–100 im Heinrich-Heine-Portal
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[100]
Einleitung.

„Herr Julia läßt für kurze Zeit um Entschuldigung bitten, er kommt bald nach Hause,“ sagte die alte Dienerin, und ich trat meine Wartezeit an.

Es war im Salon des Zwischengeschosses des Hauses Nr. 50 der Rue de Passy, der letzten Wohnung der Wittwe Heinrich Heine’s, in welcher jetzt Herr Julia, der Erbe oder jedenfalls der Besitzer der „Memoiren Heine’s“, wohnt. Die Möbel, die Bilder an den Wänden, die Bibliothek im Nebenzimmer – alles hatte einst Mathilde Heine, vieles davon Heinrich Heine angehört. Ueber dem niedrigen Kaminspiegel hing das Bronze-Original der bekannten, sehr ähnlichen Reliefbüste Heine’s von dem französischen Bildhauer David d’Angers; zu beiden Seiten des Spiegels Stiche Heine’scher Portraits, männlich, schablonenhaft, übrigens längst bekannt. Ein Bild Salomon Heine’s, des launenhaft großmüthigen Onkels, hing unweit, mit der eigenhändigen Widmung an den Neffen in Paris. Mehr als diese Bilder fesselte mich ein lebensgroßes Brustbild Mathilde Heine’s, ein sehr schöner Frauenkopf, die Haare nach der Tracht des Endes der dreißiger Jahre schlicht auf den Wangen anliegend, ein heiteres, durchaus nicht geistloses Lächeln um den etwas sinnlichen Mund, glückliche Augen ohne große Tiefe – ein Antlitz ganz entsprechend den bekannten Versen Heine’s:

„Es kommt mein Weib schön wie der Morgen
und lächelt fort die deutschen Sorgen.“

Auf dem Salontisch lag ein altes Eremplar des „Buches der Lieder“ und ein „Deutscher Musenalmanach“ aus dem Jahre 1837 – kein französisches Buch außerdem. Ich freute mich dieser Pietät, um so mehr als man in Deutschland gewöhnt ist, von Mathilde Heine als von einem herzlosen Geschöpf zu sprechen, das bei Lebzeiten Heine’s nicht gewußt, neben wem es lebte, und nach seinem Tode sein Andenken vernachlässigt. Und dann griff ich nach einem unscheinbaren Buch im richtigen deutschen Stammbuchformat mit der Aufschrift: Album, schlug das erste Blatt auf und las mit tiefster Bewegung die Widmungsverse Heinrich Heine’s an seine geliebte Mathilde;

„Hier, auf gewalkten Lumpen, soll ich
Mit einer Spule von der Gans
Hinkritzeln ernsthaft halb, halb drollig,
Versificirten Firlefanz –
 
Ich, der gewohnt mich auszusprechen
Auf Deinem schönen Rosenmund,
Mit Küssen, die wie Flammen brechen
Hervor aus tiefstem Herzensgrund!

O Modewuth! Ist man ein Dichter,
Quält uns die eigne Frau zuletzt
Bis man, wie andre Sangeslichter,
Ihr einen Reim in’s Album setzt.“

Während ich weiter blätterte, bekannten Namen wie denen Alfred Meißner’s und Ferdinand Hiller˚s begegnend, trat Herr Julia in’s Zimmer, und meine Aufgabe begann, die einfach darin bestand: der „Gartenlaube“ es zu ermöglichen, der deutschen Nation endlich das nachgerade zu einem fabelhaften Schatz gewordene Memoirenwerk Heine’s zugänglich zu machen. Wie die „Gartenlaube“ oft genug die Rolle eines Bevollmächtigten der deutschen Nation in geistigen Fragen mit Erfolg gespielt, so wollte sie in diesem die deutsche Leserwelt seit nunmehr bald dreißig Jahren fast leidenschaftlich bewegenden Streitfall allem Hader dadurch ein Ende setzen, daß sie zunächst das Streitobject selbst dem hellen Sonnenlicht der Oeffenlichkeit preisgab. In diesem Sinne hat die „Gartenlaube“ Heinrich Heine’s Memoiren durch mich erwerben lassen; in diesem Sinne wird in den folgenden Nummern die Veröffentlichung der kostbaren, lange verlorenen Handschrift vor sich gehen, um nachher von Heine’s Verleger Hoffmann und Campe in Hamburg in Buchform ihren Abschluß zu finden.

*               *
*

Heinrich Heine’s Memoiren! – Echte Memoiren? wird vielleicht mancher Leser fragen, der sich erinnert, daß vor mehr als 20 Jahren eine schamlose Ausbeutung des Interesses für Heine[1] durch seinen ehemaligen Freund Friedrich Steinmann versucht wurde, der einen von Anfang bis zu Ende gefälschten Band „Nachträge zu Heinrich Heine’s Werken“, enthaltend Gedichte und Briefe, veröffentlichte. Damals wurde durch Alfred Meißner und Adolf Strodtmann noch rechtzeitig die plumpe Betrügerei nachgewiesen.

Durch solche Vorgänge zur Vorsicht gemahnt, ging ich an die Prüfung der Echtheit des Heine’schen Memoiren-Manuscriptes. Heine’s Handschrift war mir längst aus unzweifelhaft echten Briefen von seiner eigenen Hand bekannt. Im Besitze des Herrn Henri Julia befanden sich außer den Memoiren auch zahlreiche andere Manuscripte, davon schwerlich etwas noch nicht gedruckt, und namentlich eine Menge von Briefbrouillons (längst gedruckte Briefe) in Heine’s wohlbekannter, schöner, leicht lesbarer Handschrift. Sämmtliche Manuscripte stimmten nicht nur auf den ersten Blick, sondern auch nach einer peinlich genauen Vergleichung des Schriftcharakters der einzelnen Buchstaben so vollständig mit der Handschrift des Memoiren-Manuscriptes überein, daß ich, mit Handschriftenkunde nicht ganz unvertraut, jede Gewähr dafür übernehme, daß die Echtheit des zu veröffentlichenden Mannscriptes außer allem Zweifel steht. Uebrigens haben vor mir auch Andere das Manuscript geprüft und sind zu demselben Resultat gekommen. [102] Der Verleger der Heine’schen Werke, Herr Campe in Hamburg, der ganze Stöße Heine’scher Original-Manuscripte besitzt, erkannte auf den ersten Blick die augenfällige Echtheit des Memoiren-Manuscriptes an. – Die „Gartenlaube“ wird zudem eine Blattseite des Manuscriptes demnächst in facsimilirtem Abdruck den Lesern mittheilen, um einen möglichst weiten Richterkreis über die Frage nach der Echtheit mit entscheiden zu lassen.

Ich würde an dieser Stelle nicht so großen Nachdruck auf die Echtheit des Manuscriptes legen, – da für mich wie für jeden Kenner der Handschrift Heine’s selbst nach flüchigstem Blick jeder Zweifel ausgeschlossen war – müßte ich nicht befürchten, daß von derselben Seite, von der schon oft grundlose Erklärungen über Heine-Fragen abgegeben worden, auch in diesem Falle der Einwand der Unechtheit erhoben werden wird. Herr Gustav Heine nämlich, der Bruder Heinrich Heine’s – es geht nicht an, den Namen zu verschweigen – hat zu wiederholten Malen, schon zu Lebzeiten der einzigen Erbin Heine’s, nämlich seiner Gattin, sich als den Generalerbpächter der Angelegenheiten und Hinterlassenschaft seines Bruders aufgethan. Vor einigen Jahren hat er kategorisch erklärt, die Memoiren Heinrich Heine’s befänden sich in seinem Besitz und würden niemals veröffentlicht werden.

Es ist weder ganz unmöglich noch unwahrscheinlich, daß Herr Gustav Heine ein Manuscript mit Memoiren seines Bruders an sich gebracht. Fern von mir, dies zu bestreiten. Ich glaube es, nicht allein weil er es selbst versichert hat – denn einige andere seiner Versicherungen haben sich als vollkommen unrichtig erwiesen, so die bezüglich der Echtheit eines jetzt im Besitz des Herrn Campe in Hamburg befindlichen Originalporträts Heinrich Heine’s.[2] Nachdem ihm dessen Echtheit unwiderleglich bewiesen, griff er die Aehnlichkeit an.

Die Wittwe Heine’s hat an Gustav Heine nicht eine Zeile ausgeliefert – das hat sie auf’s Bestimmteste Strodtmann gegenüber erklärt. Folglich sind Manuscripte, deren Inhalt Memoiren, in Gustav Heine’s Besitz schon vor des Dichters Tode übergegangen. Auf welche Weise, dafür liegen nur Vermuthungen vor. Daß Heine diese Memoiren seinem Bruder nicht als ein rein literarisches, brüderliches Geschenk überwiesen, ist unzweifelhaft; über seine Beziehungen zu Gustav Heine hat der Dichter sich an zahlreichen Stellen seiner Briefe sehr unverhohlen, oft schonungslos ausgesprochen. Eine kleine Probe liefert folgende Stelle eines Briefes Heinrich Heine’s an seinen Freund Merckel (aus München, 1828): „Willst Du Mord und Todtschlag verhindern, so gehe zu Campe und sage ihm, daß er alle Briefe, die für mich bei ihm ankommen mögen, auf keinen Fall an meinen Bruder Gustav gehen soll. Denk’ Dir, dieser hat die Impertinenz gehabt, Briefe, die ihm Campe für mich gegeben hat, zu erbrechen und mir – den Inhalt zu schreiben! Ich berste vor Wuth! Mein Bruder, dem ich nicht die Geheimnisse meiner Katze, viel weniger die meiner Seele anvertraue!“

Geldnoth war es, welche Heinrich Heine veranlaßt hat, an seinen Bruder die Memoiren auszuliefern, und zwar im Anfange des Jahres 1851. Heinrich Heine hat seinem Verleger im Frühlinge 1851 eröffnet, daß er das Manuscript seiner Memoiren an Gustav Heine verpfändet habe. Dies ist der einzige Besitztitel von Heine’s Bruder; ob dieser ausreicht, den Besitzer – falls er noch Besitzer ist – zu der Unterdrückung der Memoiren zu berechtigen, bleibe hier unerörtert; aber es soll einmal öffentlich ausgesprochen werden, daß der Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Memoirenbesitzes Gustav Heine’s so lange zulässig ist, wie der Besitzer keinerlei Beurkundung des Besitzwechsels aufweisen kann. Es wäre sogar eine sehr interessante Rechtslage, wie Herrn Gustav Heine’s Memoirenbesitz bei einer Klage auf Herausgabe an die rechtmäßigen Erben Heinrich Heine’s fahren würde, zu denen Herr Gustav Heine nicht gehört.

Das Gerede, die österreichische Regierung habe Herrn Gustav Heine die Memoiren abgekauft und bewahre sie in ihren bombensichersten Gewölben auf, ist ein einfältiges Märchen und endlich in die Rumpelkammer zu verweisen. Welches Interesse könnte die österreichische Regierung an dem Besitze der Memoiren Heine’s haben?! Oder meint man ernstlich, Heine habe in seinen Memoiren nichts Angelegentlicheres auszuplaudern gehabt, als österreichische Staatsgeheimnisse? Die paar Ausfälle gegen das österreichische Regiment aus den Jahren vor 1848, welche sich sehr wahrscheinlich darin befunden haben, waren doch leicht zu beseitigen oder sie würden, wenn gedruckt, schwerlich staatsgefährlicher gewirkt haben, als zahllose andere Stellen bei Heine und seinen Zeitgenossen gegen Oesterreichs Regierung in der Zeit des Absolutismus.

Sonach steht die Frage nach Heine’s Memoiren zur Zeit so. Mit der Abfassung derselben ist er schon in den 20er Jahren beschäftigt gewesen, wie aus einem Briefe an Ludwig Robert hervorgeht, worin es heißt: „Vielleicht erleben Sie es noch, meine Bekenntnisse zu lesen und zu sehen, wie ich meine Zeit und meine Zeitgenossen betrachtet.“ In den 30er Jahren scheint Heine ernsthaft an den Memoiren gearbeitet zu haben, denn schwerlich hat er in seinem Briefe aus dem September 1840 an Julius Campe ohne sichere Unterlage gesagt: „Selbst wenn ich heute stürbe, so bleiben doch schon vier Bände Lebensbeschreibung oder Memoiren von mir übrig, die mein Sinnen und Wollen vertreten und schon ihres historischen Stoffes wegen, der treuen Darstellung der mysteriösesten Uebergangskrise, auf die Nachwelt kommen.“ – Und so ließen sich noch viele Briefstellen Heine’s anführen, aus denen die Arbeit an seinen Memoiren lange vor seinem Tode mit Sicherheit hervorgeht.

Verwickelt wird nun der an sich einfache Sachverhalt durch folgende Umstände. Im August 1850 hat Alfred Meißner, ein durchaus einwandfreier Zeuge, Heine’s eigene Angabe über die fortschreitende Arbeit an den Memoiren gehört. In einem für eine deutsche Zeitung geschriebenen Artikel über den Dichter hatte Meißner gesagt: „Heine ist beinahe fortwährend mit der Composition von Gedichten beschäftigt, wenn auch seine Hand kaum die Feder zu führen vermag.“ Diese Stelle hatte Heine im Manuscript gelesen, als er Meißner lebhaft unterbrach: „Nein, nichts von Gedichten! Mit der Composition seiner Memoiren beschäftigt! Mit der Composition seiner Memoiren!“ – und änderte dementsprechend selbst die betreffende Stelle in Meißner’s Manuscript ab. Kurz darauf mag Heine seinem Bruder die Memoiren verpfändet haben. Ich bemerke hierbei, – was bis jetzt stets übersehen worden, – daß Heinrich Heine die Ueberlassung seiner Memoiren an Gustav Heine nicht als eine endgültige angesehen hat; in einem Briefe an Campe sagt er über jenes Pfandgeschäft: „Von meinem Bruder habe ich seit seiner Abreise noch keine Nachricht, obgleich er wichtige Dinge für mich zu besorgen hat. Ich denke ihm so bald als möglich bis zum letzten Sou zurück zu bezahlen, was er mir vorgeschossen. Er ist bei aller brüderlichen Liebe seines krakehligen Charakters wegen nicht die geeignete Person, der ich eine Einmischung in meine literarischen Angelegenheiten vertrauen dürfte.“

Nun erzählt aber Alfred Meißner, wohl der regelmäßigste Gast Heine’s aus dessen letzten Lebesjahren: „Heine schrieb die Memoiren mit Bleistift auf großen Foliobogen nieder,[3] da er in seinem Bette kein Tintenzeug brauchen konnte, und zeigte mir mehrmals, wie viel schon davon vorhanden sei; ich schätzte 1854 den Umfang derselben auf 3 Bände.“ Und abermals will Alfred Meißner die Memoiren gesehen haben, nach dem Tode Heine’s, als er mit Herrn Julia, dem Rechtsbeistande der Wittwe Heine’s, dessen Papiere ordnete, und bei dieser Gelegenheit habe er den Umfang der Memoiren auf 600 Bogen geschätzt. Da nun aber zwischen der ersten von Meißner wiedergegebenen Aeußerung Heine’s über die Memoiren aus dem August 1850 und deren späterem angeblichen Anblick aus den Jahren 1854 und 1856 eben jene Verpfändung an Gustav Heine erfolgt ist, so muß Alfred Meißner sich in seinen nachmaligen Schätzungen geirrt haben. Die Glaubwürdigkeit Meißner’s über die Sache selbst ist unzweifelhaft, und da andrerseits aus den Jahren nach der Verpfändung der Memoiren an Gustav Heine mehrfache schriftliche Aeußerungen Heinrich Heine’s über seine Arbeit an den [103] Memoiren vorhanden sind, so wäre aus inneren wie äußeren Gründen folgendes als Endresultat der Memoiren-Streitfrage hiermit festzustellen:

1. Heinrich Heine hat wahrscheinlich seinem Bruder Gustav ein erstes Memoiren-Manuscript in den Jahren 1850 ober 1851 verpfändet, welches, so sagt Herr Gustav Heine, in seinem (rechtlich anfechtbaren) Besitz in Wien sich befindet und nie veröffentlicht werden soll.

2. Heinrich Heine hat bis an seinen im Februar 1856 erfolgten Tod an einem zweiten Memoirenwerk gearbeitet, demjenigen, welches jetzt in der „Gartenlaube“ erscheinen wird. – Zu den irrthümlichen Angaben über den Umfang dieses Manuscriptes ist Alfred Meißner, wie mir Herr Henri Julia versichert, einfach dadurch veranlaßt worden, daß Heinrich Heine das Manuscript in demselben Wandschrank aufbewahrt habe, in welchem alte, längst gedruckte Manuscripte früherer Werke lagen, und daß Meißner das Convolut von gleichfarbigen Papieren, auf welche Heine mit der Bezeichnung: „Meine Memoiren“ gedeutet, für ein und dasselbe Manuscript gehalten. Diese sehr glaubhafte Erklärung scheint mir den Widerspruch zwischen Alfred Meißner’s Angaben und dem mir wirklich vorliegenden Manuscript auf’s einfachste zu lösen.

Eine dritte Möglichkeit läßt der Wortlaut der Einleitungsepistel unserer Memoiren zu. Ohne der Veröffentlichung derselben vorgreifen zu wollen, darf ich schon jetzt, unter treuer Auslegung der Wortfassung Heine’s, sagen, daß er über seine ersten Memoiren meldet, er habe die eine Hälfte aus Familienrücksichten und religiösen Scrupeln vernichtet, die andere Hälfte werde er möglicher Weise auch noch dem Feuer überliefern, und gerade diese neubegonnenen Memoiren sollen die „schöne Nacktheit seiner Seele“ offenbaren.

Und während er sich, gleichfalls in der Einleitungsepistel, gegen jede Veröffentlichung von Papieren gegen seinen Willen sehr energisch ausspricht, sie als eine „Felonie“ brandmarkt, will er diese neuen Memoiren gerade von jenem allgemeinen Noli me tangere ausnehmen. – Da er überdies bezüglich der ersten Memoiren sehr deutlich von „Freunden“ spricht, in deren Hut er sie gegeben, und mit keinem Worte seines Bruders Gustav Erwähnung thut, so ergiebt sich als sehr beachtenswerte Möglichkeit Folgendes:

In keinem Falle hat Herr Gustav Heine „die“ Memoiren, wie er behauptet hat, sondern er hat nur ein größeres Fragment der ersten Memoiren, während das, was jetzt die „Gartenlaube“ veröffentlichen wird, Alles ist, was von den neuen Memoiren überhaupt je existirt hat. Ob Heinrich Heine jenes Autodafé, welches er dem übrig gebliebenen Theile der ersten Memoiren androht, wirklich vollzogen hat, ist eine offene Frage. Wenn ja, so besitzt Herr Gustav Heine vielleicht irgend welche schätzbaren Papiere, aber keine Memoiren. Herrn Gustav Heine’s Glaubwürdigkeit in geziemenden Ehren – aber Heinrich Heine wird sich in der feierlichen Eingangsstelle seiner Memoiren gewißlich keiner Unwahrheit schuldig gemacht haben. –

Hat aber Heinrich Heine jenes Fragment der ersten Memoiren nicht verbrannt, sondern seinem Bruder Gustav aus Geldnot verpfändet, so war Herr Gustav Heine moralisch schon längst verpflichtet, – über die juristische Seite der Frage erlaube ich als Nichtjurist mir kein Urtheil – das Pfandobject gegen Wiedererstattung des Pfanddarlehns an die rechtmäßige Universalerbin Heine’s, das ist Mathilde Heine, herauszugeben. Wollte Heinrich Heine aber nur das Manuscript vor unbefugter Veröffentlichung nach seinem Tode bewahren, so gab es andere Mittel, als es der Obhut seines Bruders Gustav anzuvertrauen, dem er ja, nach seinem eigenen Geständniß, nicht die Geheimnisse seiner Katze anvertraut hätte. Auch hat, wie eben erwähnt, Heinrich Heine nicht seinen Bruder, sondern Freunde mit der Hut seines Memoirenfragments betrauen wollen! Und nun mache man sich selbst klar, welche Wahrscheinlichkeit dafür existirt, daß die Memoiren sich in Herrn Gustav Heines Besitz befinden können!

Wenn sie aber dennoch in seinen Händen sind, – warum wendet er dann nicht das einfachste Mittel an, um alle Einreden mit einem Schlage aus der Welt zu schaffen? Warum zeigt er nicht einigen wenigen einwandfreien Zeugen die Memoiren, die er in Verwahrung hält?! Nicht um sie zu lesen, – ein flüchtiger Blick, die Prüfung während weniger Minuten würde genügen, und all das gehässige Gerede, welches jetzt auf Heine’s Familie wegen der Memoiren fällt und gewiß ihr mehr geschadet hat, als alle Anzüglichkeiten in den Memoiren selbst, die von der Familie Heine so sehr gefürchtet und verheimlicht werden, müßte sofort verstummen.

*               *
*

Das Werk, welches die „Gartenlaube“ veröffentlichen wird, umfaßt sonach nicht die Memoiren Henrich Heine’s, sondern nur: Memoiren Heinrich Heine’s, und zwar dasjenige Manuscript, welches der Dichter in den letzten zwei Jahren seines Lebens abgefaßt hat, nachdem er sich wahrscheinlich hatte überzeugen müssen, daß sein Herr Bruder das ihm lediglich als Unterpfand anvertraute Werk nicht wieder herausgeben wolle. Mit großer Sicherheit ist der Beginn der Abfassung unseres Manuscripts in den Anfang des Jahres 1854 zu setzen. Heine selbst fürchtete, daß kleinlicher Familiendünkel oder andere, nicht viel schönere Motive ihn durch die Vernichtung seiner Memoiren oder durch deren Verheimlichung nach dem Tode mundtodt machen würden. Wie berechtigt diese Furcht gewesen, zeigt Herrn Gustav Heine’s Verhalten. In diesem Sinne lese man die furchtbaren Verse in den „Lazarusgedichten“:

„Wenn ich sterbe wird die Zunge
Ausgeschnitten meiner Leiche,
Denn sie fürchten, redend käm’ ich
Wieder aus dem Schattenreiche!

Stumm verfaulen wird der Todte
In der Gruft, und nie verrathen
Werd’ ich die an mir verübten
Lächerlichen Frevelthaten!“

Diesem Zungenabschneiden nach dem Tode wollte der Lebende vorbeugen: so schrieb er zum zweiten Male seine Memoiren, unter den entsetzlichsten Schmerzen der ihn immer fester in ihre Pranken fassenden Todeskrankheit, aber mit derselben peinlichen Gewissenhaftigkeit des Stils, welche alle seine Prosaschriften auszeichnet. Ein Heroismus war es, – ich gebrauche Heine’s eigenes Wort – ein fast beendetes, seinem Besitz entrissenes Werk zum zweiten Male zu beginnen. Fertig gebracht haben die müde Hand und das halberblindete Auge sie nicht mehr; was in den folgenden Nummern erscheinen wird, ist ein Fragment geblieben.

Daß es sich in den von mir zu veröffentlichenden Memoiren wirklich um eine Neubearbeitung der Heine’schen Denkwürdigkeiten handelt, dafür zum Zeugniß stehe hier ein Stück aus einem Brief an Campe vom 7. März 1854[4]:

„Es ist wahrhaft betrübend, daß diese zerstückelnden Arbeiten mir zu einer Zeit auf den Hals kamen, wo ich mit meiner Memoirenschreibung so hübsch im Zuge war. Herr Trittau wird Ihnen gewiß die Mittheilung gemacht haben, daß ich mich mit Heroismus einer ganz neuen Abfassung meiner ‚Memoiren‘ unterziehe, und ich hoffe, daß dieses die Krone meiner Schriften sein wird. Aber Heroismus war es, statt zu flicken, gleich wieder Neues zu weben, und ich hoffe, wenn ich ohne Störung bleibe, schon in diesem Jahre eine große Portion fertig zu machen und unverzüglich zu publiciren. Da ich jetzt weiß, was ich nicht sagen darf, so schreibe ich mit großer Sicherheit, und Nichts hindert mich mehr, das Geschriebene schon bei Lebzeiten vom Stapel laufen zu lassen.“

Hiermit erledigt sich der Einwand, es möchte die Veröffentlichung dieser Memoiren etwa gegen Heine’s Absichten verstoßen. Die „Gartenlaube“ handelt durchaus in Heine’s Sinne, indem sie endlich den Schleier von dem lange vergrabenen Schatze hebt.

Obige Briefstelle ist in demselben Jahre geschrieben, in welchem Alfred Meißner „drei Bände Memoiren“ gesehen haben will! Bei der außerordentlichen Mühe, welche Heine das eigene Schreiben um jene Zeit machte – und seine Memoiren hat er durchweg eigenhändig geschrieben –, ist nicht anzunehmen, daß das Manuscript, welches die „Gartenlaube“ nunmehr abdrucken wird, jemals umfangreicher gewesen, als es mir jetzt vorliegt, – bis auf eine Lücke, welche am betreffenden Ort erklärt werden soll.

*               *
*

Die Leser, denen die „Gartenlaube“ die folgenden Memoiren zugänglich gemacht hat, habe ich schließlich zu bitten, sich keinen höher gespannten Erwartungen bezüglich des Umfangs wie des Inhalts hinzugeben, als die Ungunst der Umstände: der späte [104] Beginn ihrer Aufzeichnungen durch Heine und seine lähmende, entsetzliche Krankheit, erlauben. Das Manuscript ist auf großen weißen Folioblättern mit Bleistift geschrieben, in einer deutlichen, wenn auch nicht sehr festen Handschrift, der man oft genug das „Gliederzucken“ und die „Knochendarre in dem Rucken“, wie auch die unbequeme Lage des Dichters in seiner Matratzengruft ansieht. 129 Folioblätter zu durchschnittlich je 25 Zeilen zählt unser Manuscript, davon mehrere Seiten doppelt foliirt; die Rückseiten sind unbeschrieben. Kein Blatt, welches nicht zahlreiche Aenderungen inhaltlicher wie stilistischer Natur aufweist, – aber auch die Aenderungen sind ausnahmslos von Heine’s eigener Hand und augenscheinlich gleich während der Abfassung vorgenommen. In Buchform dürften immerhin 10–12 Bogen herauskommen, somit ein ganz ansehnlicher Band und wenn auch vielleicht nicht, wie Heine beabsichtigte, die Krone seiner Schriften, doch jedenfalls eine höchst werthvolle Zugabe zu der Gesammtausgabe seiner Werke und eine Fundgrube für seine Jugend-Biographie.

Daß 129 Folioseiten, zumal bei der sehr behäbigen, holländerisch genauen Schilderung Heine’s, keine sehr große Spanne seines Lebens umfassen können, ist einleuchtend. Die Lebensbeschreibung reicht nur bis zum Beginn von Heine’s Jünglingsalter und enthält vorzugsweise die Darstellung des elterlichen Hauses, seiner Jugenderziehung, der ersten Eindrücke von Schule und Leben. Daß Heine nichts Langweiliges geschrieben, wissen die Leser seiner Werke und wenn auch keine interessanten Staatsgeheimnisse, keine pikanten Aufklärungen über Herzensbeziehungen, und was man sonst vielleicht von Heine’s Memoiren in erster Reihe erhofft hat, sich darin finden – das Factum bleibt bestehen, daß in dem Nachstehenden ein bedeutsames Fragment echter Memoiren Heine’s gegeben wird, und zwar alles, was überhaupt zu erwerben war.

Herr Julia hat eine schriftliche, rechtsverbindliche Erklärung abgegeben, daß dieses von ihm veräußerte Manuscript das einzige sei, welches von dem in seinem Besitze befindlichen handschriftlichen Materiale Heine’s zu den Memoiren gehöre. Herr Julia besitzt noch eine Sammlung von mehreren hundert Briefen an Heine (nicht von Heine), darunter aber kaum ein Dutzend um der Absender und des Inhalts willen von irgendwelchem Werth. Die Antworten Heine’s – und auf diese kommt es an – sind längst in der Gesammtausgabe veröffentlicht, und ein hoher Werth jener Briefe für Heine’s Biographie kann nur von denen behauptet werden, welche entweder die Briefe nicht gesehen oder noch nicht von Strodtmann’s ausgezeichneter Heine-Biographie Kenntniß genommen haben.

Die „Gartenlaube“ glaubt in jedem Falle eine literarische Ehrenpflicht zu erfüllen, wenn sie so viel von den Memoiren veröffentlicht, wie ihr zugänglich war; an Anderen, an den nächsten Angehörigen ist es nunmehr, die heilige Pflicht der Pietät gegen einen großen Todten zu erfüllen durch die Veröffentlichung weiterer Aufschlüsse über sein Leben, welche die jetzt seit achtundzwanzig Jahren erkaltete Hand zu dem ausgesprochenen Zwecke geschrieben, Zeugniß abzulegen für sein Leben. Dr. Eduard Engel (Berlin).     


[113]
I.

Ich habe in der That, theure Dame, die Denkwürdigkeiten meiner Zeit, in so fern meine eigne Person damit als Zuschauer oder als Opfer in Berührung kam, so wahrhaft und getreu als möglich aufzuzeichnen gesucht.

Diese Aufzeichnungen, denen ich selbstgefällig den Titel Memoiren verlieh, habe ich jedoch schier zur Hälfte wieder vernichten müssen, theils aus leidigen Familienrücksichten, theils auch wegen religiöser Skrupeln.

Ich habe mich zwar seitdem bemüht, die entstandenen Lakunen nothdürftig zu füllen, doch ich fürchte, postume Pflichten zwingen mich, meine Memoiren vor meinem Tode einem neuen Autodafé zu überliefern, und was alsdann die Flammen verschonen, wird vielleicht niemals das Tageslicht erblicken.

Ich nehme mich wohl in Acht, die Freunde zu nennen, die ich mit der Hut meines Manuskriptes und der Vollstreckung meines letzten Willens in Bezug auf dasselbe, betraue; ich will sie nicht nach meinem Ableben der Zudringlichkeit eines müßigen Publikums und dadurch einer Untreue an ihrem Mandate bloßstellen.

Eine solche Untreue habe ich nie entschuldigen können; es ist eine unerlaubte und unsittliche Handlung, auch nur eine Zeile von einem Schriftsteller zu veröffentlichen, die er nicht selber für das große Publikum bestimmt hat. Dieses gilt ganz besonders von Briefen, die an Privatpersonen gerichtet sind. Wer sie drucken läßt oder verlegt, macht sich einer Felonie schuldig, die Verachtung verdient.

Nach diesen Bekenntnissen, theure Dame, werden Sie leicht zur Einsicht gelangen, daß ich Ihnen nicht, wie Sie wünschen, die Lektüre meiner Memoiren und Briefschaften gewähren kann.

Jedoch, ein Höfling Ihrer Liebenswürdigkeit, wie ich es immer war, kann ich Ihnen kein Begehr unbedingt verweigern, und um meinen guten Willen zu bekunden, will ich in anderer Weise die holde Neugier stillen, die aus einer liebenden Theilnahme an meinen Schicksalen hervorgeht.

Ich habe die folgenden Blätter in dieser Absicht niedergeschrieben, und die biographischen Notizen, die für Sie ein Interesse haben, finden Sie hier in reichlicher Fülle. Alles Bedeutsame und Charaktristische ist hier treuherzig mitgetheilt, und die Wechselwirkung äußerer Begebenheiten und innerer Seelenereignisse offenbart Ihnen die Signatura meines Seyns und Wesens. Die Hülle fällt ab von der Seele, und du kannst sie betrachten in ihrer schönen Nacktheit. Da sind keine Flecken, nur Wunden. Ach! und nur Wunden, welche die Hand der Freunde, nicht die der Feinde geschlagen hat!

Die Nacht ist stumm. Nur draußen klatscht der Regen auf die Dächer und ächzet wehmüthig der Herbstwind.

Das arme Krankenzimmer ist in diesem Augenblick fast wohllustig heimlich und ich sitze schmerzlos im großen Sessel.

Da tritt Dein holdes Bild herein, ohne daß sich die Thürklinke bewegt, und Du lagerst dich auf das Kissen zu meinen Füßen. Lege Dein schönes Haupt auf meine Kniee und horche ohne aufzublicken.

Ich will dir das Märchen meines Lebens erzählen.

Wenn manchmal dicke Tropfen auf Dein Lockenhaupt fallen, so bleibe dennoch ruhig; es ist nicht der Regen, welcher durch das Dach sickert. Weine nicht und drücke mir nur schweigend die Hand.

*               *
*
Anmerkung des Herausgebers. Die „theure Dame“ dieses Eingangs der Memoiren ist vielleicht nur eines jener Phantasiegebilde, an welche Heine sich so oft in seinen Werken, nicht blos in seinen Gedichten, wendet. Vielleicht aber ist es auch eine der Frauengestalten, welche Heine auf seinem Krankenlager zuweilen durch [114] ihre tröstende Gegenwart erfreuten, und zunächst wäre alsdann an die „Mouche“ zu denken, dieselbe räthselhafte Frau, welche vor einigen Wochen unter dem Namen „Camilla Selden“ (jedenfalls einem Pseudonym)[WS 1] ihre Erinnerungen an Heine’s letzte Lebenstage veröffentlicht hat. Da aber die „Mouche“ erst im October 1855 mit Heine bekannt geworden, so ist wegen des wahrscheinlich früheren Beginns dieser Memoiren mit Sicherheit auch hierüber nichts zu sagen.
Aus den ersten Worten des Manuscriptes ließe sich noch auf eine andere Freundin Heine’s schließen, nämlich auf die Prinzessin Christina Belgiojoso, eine um die jungitalienische Bewegung hochverdiente Frau, in deren Hause in Paris Heine in besseren Tagen als willkommener Gast häufig verkehrt hatte. Das Manuscript nämlich, welches jetzt lautet: „Ich habe in der That, theure Dame“ etc., weist die, wieder ausgestrichenen, Correcturen auf: statt „theure“ – „erlauch …“, und statt „Dame“ – „Seele“. An die „Mouche“ hätte Heine schwerlich die Feder zu einem „erlauchte“ angesetzt.
Die vorstehende Widmung ist foliirt von Seite 1 bis 5. Auf der Rückseite des ersten Blattes steht das Brouillon eines bisher noch nie gedruckten Gedichtanfangs; es ist ein erster Entwurf, der nur die flüchtigen Gedanken festhalten sollte und noch der Durcharbeitung im Einzelnen bedurft hätte. Correcturen finden sich darin, wie in Allem, was Heine geschrieben, außerordentlich viele. Die Strophen lauten:

„Manch kostbar edle Perle birgt
Der Ocean; manch schöne Blume
Küsst nie ein Menschenblick, nur stumme
Waldeinsamkeit schaut ihr Erröthen
Und trostlos in der Wildnißöde
Vergeudet sie die süßen Düfte.[5]

Wenngleich tobsüchtig dort der Wind
Die Fluten peitschet, daß sie heulen,
Und ihnen straks zu Hülfe eilen
Entsetzlich gähnend aus den Tiefen
Die Ungethüme, die dort schliefen – –“

Die weiter unten folgende Fortsetzung des Memoirenmanuscripts, beginnend mit den Worten: „Welch ein erhabenes Gefühl“ etc. fängt an auf S. 32. Es fehlen also in unserem Manuscripte die Blätter 6 bis 31. Was ist aus ihnen geworden? – Die Antwort lautet: Heine’s Bruder Maximilian (vor einigen Jahren gestorben) hat nach dem Tode des Dichters, bei einer Durchsicht des literarischen Nachlasses, gegen den Willen der Wittwe Heine’s den Anfang dieser Memoiren im Kaminfeuer verbrannt!
Verbrannt aus ähnlichen Beweggründen, aus denen Gustav Heine die ihm verpfändeten Memoiren verheimlicht, aus denen andere Verwandte Heine’s, so z. B. seine Nichte, die Prinzessin della Rocca, sich ängstlich bemühen, über Heine’sche Familienfragen die lächerlichsten Entstellungen zu verbreiten. Maximilian Heine und die übrige Verwandtschaft des großen Dichters hat es nämlich als einen Schimpf empfunden, daß er, sammt ihnen allen, aus einer verarmten jüdischen Familie herstammt! Das ist der sehr durchsichtige Grund dieser Geheimnißkrämerei und Unwahrhaftigkeit, welche sich in allen Handlungen und Schriften von Heine’s Verwandten mit Bezug auf ihren weltberühmten Blutgenossen offenbaren. Heinrich Heine hat sicher im Eingang seiner Lebensschilderung offen und ehrlich, wie es sich ziemte, über seine bescheidene Herkunft gesprochen;
er hat wahrscheinlich auch dem alten Märchen von der adeligen Herkunft seiner Mutter ein Ende gemacht. Heine’s Mutter war die Enkelin des reichen Juden Isaak in Düsseldorf, der von seinem früheren Wohnsitz in Holland van Geldern (nicht von Geldern) hieß. Sie selbst wie ihr Vater sind bis an ihr Ende Juden geblieben. Ganz dasselbe gilt von Heine’s väterlichem Großvater und Vater. Maximilian Heine hat in seinen viel mehr Dichtung als Wahrheit enthaltenden „Erinnerungen an Heinrich Heine“ (Berlin 1868) von einem seinem Großvater mütterlicherseits, Isaak van Geldern, verliehenen „Adelsbrief“ gefabelt; kein wahres Wort an der Sache, wie Strodtmann längst nachgewiesen. Dasselbe gilt von Moritz „von“ Embden, wie ihn Maximilian Heine nennt, dem Gatten der Schwester Heinrich Heine’s. Als Maximilian Heine die ersten 26 Blätter der Memoiren seines Bruders verbrannte, handelte er ganz in dem Geiste, von welchem Heine’s Verwandte fast durchweg beseelt sind.
Zur Erklärung des Anfangs des Folgenden noch kurz die Bemerkung, daß Heine auf den unmittelbar vorhergehenden Blättern wahrscheinlich von seiner Erziehung durch katholische Priester erzählt und vielleicht einen feierlichen Gottesdienst geschildert hat, um dann fortzufahren:

Welch ein erhabenes Gefühl muß einen solchen Kirchenfürsten beseelen, wenn er hinabblickt auf den wimmelnden Marktplatz, wo Tausende entblößten Hauptes vor ihm niederknieend seinen Seegen erwarten!

In der italienischen Reisebeschreibung des Hofraths Moritz las ich einst eine Beschreibung jener Scene, wo ein Umstand vorkam, der mir ebenfalls jetzt in den Sinn kommt.

Unter dem Landvolk, erzählt Moritz, das er dort auf den Knieen liegen sah, erregte seine besondere Aufmerksamkeit einer jener Rosenkranzhändler des Gebirges, die aus einer braunen Holzgattung die schönsten Rosenkränze schnitzen und sie in der ganzen Romagna um so theurer verkaufen, da sie denselben vom Pabste selbst die Weihe zu verschaffen wissen.

Mit der größten Andacht lag der Mann auf den Knieen, doch den breitkrämpigen Filzhut, worin seine Waare, die Rosenkränze, befindlich, hielt er in die Höhe, und während der Pabst mit ausgestreckten Händen den Segen sprach, rüttelte jener seinen Hut und rührte darin herum, wie Kastanienverkäufer zu thun pflegen, wenn sie ihre Kastanien auf dem Rost braten; gewissenhaft schien er dafür zu sorgen, daß die Rosenkränze, die unten im Hut lagen, auch etwas von dem päbstlichen Segen abbekämen und alle gleichmäßig geweiht würden.

Ich konnte nicht umhin, diesen rührenden Zug von frommer Naivetät hier einzuflechten, und ergreife wieder den Faden meiner Geständnisse, die alle auf den geistigen Prozeß Bezug haben, den ich später durchmachen mußte.

Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen.

Es ist gewiß bedeutsam, daß mir bereits in meinem dreizehnten Lebensjahr alle Systeme der freien Denker vorgetragen wurden und zwar durch einen ehrwürdigen Geistlichen, der seine sacerdotalen Amtspflichten nicht im Gringsten vernachlässigte, so daß ich hier frühe sah, wie ohne Heuchelei Religion und Zweifel ruhig nebeneinander gingen, woraus nicht bloß in mir der Unglauben sondern auch die toleranteste Gleichgültigkeit entstand.

Ort und Zeit sind auch wichtige Momente: ich bin geboren zu Ende des skeptischen achtzehnten Jahrhunderts und in einer Stadt, wo zur Zeit meiner Kindheit nicht bloß die Franzosen sondern auch der französische Geist herrschte.

Die Franzosen, die ich kennen lernte, machten mich, ich muß es gestehen, mit Büchern bekannt, die sehr unsauber und mir ein Vorurtheil gegen die ganze französische Literatur einflößten.

[115] Ich habe sie auch später nie so sehr geliebt, wie sie es verdient, und am ungerechtesten blieb ich gegen die französische Poesie, die mir von Jugend an fatal war.

Daran ist wohl zunächst der vermaledeite Abbé Daunoi Schuld, der im Lyzeum zu Düsseldorf die französische Sprache docirte und mich durchaus zwingen wollte französische Verse zu machen. Wenig fehlte, und er hätte mir nicht bloß die französische, sondern die Poesie überhaupt verleidet.

Der Abbé Daunoi, ein emigrirter Priester, war ein ältliches Männchen mit den beweglichsten Gesichtsmuskeln und mit einer braunen Perüque, die so oft er in Zorn gerieth eine sehr schiefe Stellung annahm.

Er hatte mehre französische Grammatiken sowie auch Chrestomatien, worin Auszüge deutscher und französischer Klassiker, zum Uebersetzen, für seine verschiedenen Klassen geschrieben; für die oberste veröffentlichte er auch eine Art oratoire und eine Art poëtique, zwey Büchlein, wovon das erstere Beredsamkeitsrezepte aus Quintilian enthielt, angewendet auf Beispiele von Predigten Fléchiers, Massillons, Bourdaloues und Bossuets, welche mich nicht allzu sehr langweilten. –

Aber gar das andre Buch, das die Definizionen von der Poesie, l'art de peindre par les images, den faden Abhub der alten Schule von Batteux, auch die französische Prosodie und überhaupt die ganze Metrik der Franzosen enthielt, welch ein schrecklicher Alp!

Ich kenne auch jetzt nichts abgeschmackteres als das metrische System der französischen Poesie, dieser art de peindre par les images, wie die Franzosen dieselbe definiren, welcher verkehrte Begriff vielleicht dazu beiträgt, daß sie immer in die malerische Paraphrase gerathen.

Ihre Metrik hat gewiß Prokrustes erfunden; sie ist eine wahre Zwangsjacke für Gedanken, die bei ihrer Zahmheit gewiß nicht einer solchen bedürfen. Daß die Schönheit eines Gedichtes in der Ueberwindung der metrischen Schwierigkeiten bestehe, ist ein lächerlicher Grundsatz, derselben närrischen Quelle entsprungen. Der französische Hexameter, dieses gereimte Rülpsen, ist mir wahrhaft ein Abscheu. Die Franzosen haben diese widrige Unnatur, die weit sündhafter als die Greuel von Sodom und Gomorrha, immer selbst gefühlt, und ihre guten Schauspieler sind darauf angewiesen, die Verse so saccadirt[6] zu sprechen, als wären sie Prosa – warum aber alsdann die überflüssige Mühe der Versifikazion?

So denk ich jetzt und so fühlt ich schon als Knabe, und man kann sich leicht vorstellen, daß es zwischen mir und der alten braunen Perüque zu offnen Feindseligkeiten kommen mußte, als ich ihm erklärte, wie es mir rein unmöglich sey französische Verse zu machen. Er sprach mir allen Sinn für Poesie ab, und nannte mich einen Barbaren des teutoburger Waldes.

Ich denke noch mit Entsetzen daran, daß ich aus der Chrestomatie des Professors die Anrede des Kaiphas an den Sanhedrin aus den Hexametern der Klopstockschen Messiade in französische Alexandriner übersetzen sollte! Es war ein Raffinement von Grausamkeit. Gott verzeih, ich verwünschte die Welt und die fremden Unterdrücker, die uns ihre Metrik aufbürden wollten, und ich war nahe dran ein Franzosenfresser zu werden.[WS 2]

Ich hätte für Frankreich sterben können, aber französische Verse machen – nimmermehr!

Durch den Rektor und meine Mutter wurde der Zwist beigelegt. Letztere war überhaupt nicht damit zufrieden, daß ich Verse machen lernte und seyen es auch nur französische. Sie hatte nemlich damals die größte Angst, daß ich ein Dichter werden möchte; das wäre das Schlimmste, sagte sie immer, was mir passiren könne.

Die Begriffe, die man damals mit dem Namen Dichter verknüpfte, waren nemlich nicht sehr ehrenhaft, und ein Poet war ein zerlumpter armer Teufel, der für ein paar Thaler ein Gelegenheitsgedicht verfertigt und am Ende im Hospital stirbt.

In uns selbst liegen die Sterne unseres Glücks.

Meine Mutter aber hatte große hochfliegende Dinge mit mir im Sinn, und alle ihre Erziehungspläne zielten darauf hin. Sie spielte die Hauptrolle in meiner Entwicklungsgeschichte, sie machte die Programme aller meiner Studien, und schon vor meiner Geburt begannen ihre Erziehungspläne. Ich folgte gehorsam ihren ausgesprochenen Wünschen, jedoch gestehe ich, daß sie Schuld war an der Unfruchtbarkeit meiner meisten Versuche und Bestrebungen in bürgerlichen Stellen, da dieselben niemals meinem Naturell entsprachen.

Zuerst war es die Pracht des Kaiserreichs, die meine Mutter blendete, und da die Tochter eines Eisenfabrikanten unserer Gegend, die mit meiner Mutter sehr befreundet war, eine Herzogin geworden[WS 3] und ihr gemeldet hatte, daß ihr Mann sehr viele Schlachten gewonnen und bald auch zum König avanziren würde, – ach da träumte meine Mutter für mich die goldensten Epauletten oder die brodirsten Ehrenchargen am Hofe des Kaisers, dessen Dienst sie mich ganz zu widmen beabsichtigte.

Deshalb mußte ich jetzt vorzugsweise diejenigen Studien treiben, die einer solchen Laufbahn förderlich, und obgleich im Lyceum schon hinlänglich für mathematische Wissenschaften gesorgt war, und ich bei dem liebenswürdigen Professor Brewer vollauf mit Geometrie, Statik, Hydrostatik, Hydraulik und so weiter gefüttert ward und in Logarithmen und Algebra schwamm, so mußte ich doch noch Privatunterricht in dergleichen Disziplinen nehmen, die mich in Stande setzen sollten, ein großer Strategetiker oder nöthigenfalls der Administrator von eroberten Provinzen zu werden.

Mit dem Fall des Kaiserreichs mußte auch meine Mutter der prachtvollen Laufbahn, die sie für mich geträumt, entsagen; die dahin zielenden Studien nahmen ein Ende und sonderbar! sie ließen auch keine Spur in meinem Geiste zurück, so sehr waren sie demselben fremd. Es war nur eine mechanische Errungenschaft, die ich von mir warf als unnützen Plunder.

Meine Mutter begann jetzt in anderer Richtung eine glänzende Zukunft für mich zu träumen.

Das Rothschildsche Haus, mit dessen Chef mein Vater vertraut war, hatte zu jener Zeit seinen fabelhaften Flor bereits begonnen; auch andere Fürsten der Bank und der Industrie hatten in unserer Nähe sich erhoben und meine Mutter behauptete, es habe jetzt die Stunde geschlagen, wo ein bedeutender Kopf im merkantilischen Fache das Ungeheurlichste erreichen und sich zum höchsten Gipfel der Macht emporschwingen könne. Sie beschloß daher jetzt, daß ich eine Geldmacht werden sollte, und jetzt mußte ich fremde Sprachen, besonders Englisch, Geographie, Buchhalten, kurz alle auf den Land- und Seehandel und Gewerbskunde bezügliche Wissenschaften studiren.

Um etwas vom Wechselgeschäft und von Kolonialwaaren kennen zu lernen, mußte ich später das Komptoir eines Banquiers meines Vaters und die Gewölbe eines großen Spezereyhändlers besuchen; erstere Besuche dauerten höchstens drei Wochen, letztere vier Wochen, doch ich lernte bei dieser Gelegenheit, wie man einen Wechsel ausstellt und wie Muskatnüsse aussehen.

Ein berühmter Kaufmann, bei welchem ich ein apprenti millionnaire[7] werden wollte, meinte, ich hätte kein Talent zum [116] Erwerb, und lachend gestand ich ihm, daß er wohl Recht haben möchte.

Da bald darauf eine große Handelskrisis entstand und wie viele unserer Freunde auch mein Vater sein Vermögen verlor, da platzte die merkantilische Seifenblase noch schneller und kläglicher als die imperiale, und meine Mutter mußte wohl eine andre Laufbahn für mich träumen.

Sie meinte jetzt, ich müsse durchaus Jurisprudenz studiren.

Sie hatte nemlich bemerkt, wie längst in England, aber auch in Frankreich und im konstituzionellen Deutschland, der Juristenstand allmächtig sei, und besonders die Advokaten, durch die Gewohnheit des öffentlichen Vortrags die schwatzenden Hauptrollen spielen und dadurch zu den höchsten Staatsämtern gelangen.

Da eben die neue Universität Bonn errichtet worden, wo die juristische Fakultät von den berühmtesten Professoren besetzt war, schickte mich meine Mutter unverzüglich nach Bonn, wo ich bald zu den Füßen Makeldeys und Welkers saß und die Manna ihres Wissens einschlürfte.

Von den sieben Jahren, die ich auf deutschen Universitäten zubrachte, vergeudete ich drei schöne blühende Lebensjahre durch das Studium der römischen Kasuistik.

Welch ein fürchterliches Buch ist das Korpus Juris, die Bibel des Egoismus!

Wie die Römer selbst blieb mir immer verhaßt ihr Rechtskodex. Diese Räuber wollten ihren Raub sicher stellen und was sie mit dem Schwerte erbeutet, suchten sie durch Gesetze zu schützen; deshalb war der Römer zu gleicher Zeit Soldat und Advokat. Wahrhaftig jenen römischen Dieben verdanken wir das gepriesene römische Recht, welches im grellsten Widerspruch mit der Religion, der Moral, dem Menschengefühl und der Vernunft steht.[WS 4]

Ich brachte jene ……[WS 5] Studien zu Ende, aber ich konnte mich nimmer entschließen von solcher Errungenschaft Gebrauch zu machen, und vielleicht auch weil ich fühlte, daß Andere mich in der Advokasserie und Rabulisterey leicht überflügeln würden, hing ich meinen juristischen Doktorhut an den Nagel.

Meine Mutter machte eine noch ernstere Miene als gewöhnlich. Aber ich war ein sehr erwachsener Mensch geworden, der in dem Alter stand, wo er der mütterlichen Obhut entbehren muß.

Die gute Frau war ebenfalls älter geworden und indem sie nach so manchem Fiasko die Oberleitung meines Lebens aufgab, bereut sie, wie wir oben gesehen,[8] daß sie mich nicht dem geistlichen Stande gewidmet.

[133]
II.

Meine Mutter ist jetzt eine Matrone von 87 Jahren[9] und ihr Geist hat durch das Alter nicht gelitten. Ueber meine wirkliche Denkart hat sie sich nie eine Herrschaft angemaßt und war für mich immer die Schonung und Liebe selbst.

Ihr Glauben war ein strenger Deismus, der ihrer vorwaltenden Vernunftrichtung ganz angemessen. Sie war eine Schülerinn Rousseaus, hatte dessen „Emile“ gelesen, säugte selbst ihre Kinder,[10] und Erziehungswesen war ihr Steckenpferd. Sie selbst hatte eine gelehrte Erziehung genossen und war die Studiengefährtin eines Bruders gewesen, der ein ausgezeichneter Arzt ward, aber früh starb. Schon als ganz junges Mädchen mußte sie ihrem Vater die lateinischen Dissertazionen und sonstige gelehrte Schriften vorlesen, wobei sie oft den Alten durch ihre Fragen in Erstaunen setzte.

Ihre Vernunft und ihre Empfindung war die Gesundheit selbst, und nicht von ihr erbte ich den Sinn für das Phantastische und Romantik. Sie hatte, wie ich schon erwähnt, eine Angst vor Poesie, entriß mir jeden Roman, den sie in meinen Händen fand, erlaubte mir keinen Besuch des Schauspiels, versagte mir alle Theilnahme an Volksspielen, überwachte meinen Umgang, schalt die Mägde, welche in meiner Gegenwart Gespenstergeschichten erzählten, kurz, sie that alles Mögliche, um Aberglauben und Poesie von mir zu entfernen.

Sie war sparsam, aber nur in Bezug auf ihre eigne Person; für das Vergnügen Andrer konnte sie verschwenderisch seyn, und da sie das Geld nicht liebte sondern nur schätzte, schenkte sie mit leichter Hand und setzte mich oft durch ihre Wohlthätigkeit und Freigebigkeit in Erstaunen.

Welche Aufopferung bewies sie dem Sohne, dem sie in schwieriger Zeit nicht bloß das Programm seiner Studien, sondern auch die Mittel dazu lieferte! Als ich die Universität bezog, waren die Geschäfte meines Vaters in sehr traurigem Zustand, und meine Mutter verkaufte ihren Schmuck, Halsband und Ohrringe von großem Werthe, um mir das Auskommen für die ersten Universitätsjahre zu sichern.

Ich war übrigens nicht der erste in unserer Familie, der auf der Universität Edelsteine aufgegessen und Perlen verschluckt hatte. Der Vater meiner Mutter, wie diese mir einst erzählte, erprobte dasselbe Kunststück. Die Juwelen, welche das Gebetbuch seiner verstorbenen Mutter verzierten, mußten die Kosten seines Aufenthalts auf der Universität bestreiten, als sein Vater, der alte Lazarus de Geldern[11], durch einen Successionsprozeß mit einer verheiratheten Schwester in große Armuth gerathen war, er, der von seinem Vater ein Vermögen geerbt hatte, von dessen Größe mir eine alte Großmuhme so viel Wunderdinge erzählte.

Das klang dem Knaben immer wie Märchen von Tausend und einer Nacht, wenn die Alte von den großen Palästen und den persischen Tapeten und dem massiven Gold- und Silbergeschirr erzählte, die der gute Mann, der am Hofe des Kurfürsten und der Kurfürstin[12] so viel Ehren genoß, so kläglich einbüßte. Sein Haus in der Stadt war das große Hotel in der Rheinstraße; das jetzige Krankenhaus in der Neustadt gehörte ihm ebenfalls, sowie ein Schloß bei Gravenberg, und am Ende hatte er kaum, wo er sein Haupt hinlegen konnte.

Eine Geschichte, die ein Seitenstück zu der obigen bildet, will ich hier einweben, da sie die verunglimpfte Mutter eines meiner Kollegen in der öffentlichen Meinung rehabilitiren dürfte. Ich las nemlich einmal in der Biographie des armen Dietrich Grabbe, daß das Laster des Trunks, woran derselbe zu Grunde gegangen, ihm durch seine eigne Mutter frühe eingepflanzt worden sei, indem sie dem Knaben, ja dem Kinde Branntewein zu trinken gegeben habe. Diese Anklage, die der Herausgeber der Biographie aus dem Munde feindseliger Verwandter erfahren, scheint grundfalsch, wenn ich mich der Worte erinnere, womit der selige Grabbe mehrmals von seiner Mutter sprach, die ihn oft gegen „dat Suppen“ mit den nachdrücklichsten Worten verwarnte.

Sie war eine rohe Dame, die Frau eines Gefängnißwärters, und wenn sie ihren jungen Wolf-Dietrich karessirte, mag sie ihn wohl manchmal mit den Tatzen einer Wölfinn auch ein bischen gekratzt haben. Aber sie hatte doch ein ächtes Mutterherz und bewährte solches, als ihr Sohn nach Berlin reiste, um dort zu studiren.

Beim Abschied, erzählte mir Grabbe, drückte sie ihm ein Paquet in die Hand, worin, weich umwickelt mit Baumwolle, sich ein halb Dutzend silberne Löffel nebst sechs dito kleinen Kaffelöffeln und ein großer dito Potagelöffel befand, ein stolzer Hausschatz, dessen die Frauen aus dem Volke sich nie ohne Herzbluten entäußern, da sie gleichsam eine silberne Dekorazion sind, wodurch sie sich von dem gewöhnlichen zinnernen Pöbel zu unterscheiden glauben. Als ich Grabbe kennen lernte, hatte er bereits den Potagelöffel, den Goliath, wie er ihn nannte, aufgezehrt. Befragte ich ihn manchmal, wie es ihm gehe, antwortete er lakonisch: ich bin an meinem dritten Löffel, oder, ich bin an meinem vierten Löffel. Die Großen gehen dahin, seufzte er einst, und es wird sehr schmale Bissen geben, wenn die Kleinen, die Kaffelöffelchen an die Reihe kommen, und wenn diese dahin sind, gibts gar keine Bissen mehr.

Leider hatte er Recht und je weniger er zu essen hatte, desto mehr legte er sich aufs Trinken und ward ein Trunkenbold. Anfangs Elend und später häuslicher Gram trieben den Unglücklichen, im Rausche Erheiterung oder Vergessenheit zu suchen, und zuletzt mochte er wohl zur Flasche gegriffen haben, wie andere zur Pistole, um dem Jammerthum ein Ende zu machen. Glauben Sie mir, sagte mir einst ein naiver westphälischer Landsmann Grabbes, der konnte viel vertragen und wäre nicht gestorben weil er trank, sondern er trank weil er sterben wollte; er starb durch Selbsttrunk.

Obige Ehrenrettung einer Mutter ist gewiß nie am unrechten Platz; ich versäumte bis jetzt, sie zur Sprache zu bringen, [134] da ich sie in einer Charaktristik Grabbes aufzeichnen wollte[13]; diese kam nie zu Stande und auch in meinem Buche del'Allemagne konnte ich Grabbes nur flüchtig erwähnen.

Obige Notiz ist mehr an den deutschen als an den französischen Leser gerichtet, und für letzteren will ich hier nur bemerken, daß besagter Dietrich Grabbe einer der größten deutschen Dichter war und von allen unseren dramatischen Autoren wohl als derjenige genannt werden darf, der die meiste Verwandtschaft mit Shakespear hat. Er mag weniger Saiten auf seiner Leyer haben als Andre, die dadurch ihn vielleicht überragen, aber die Saiten, die er besitzt, haben einen Klang, der nur bei dem großen Britten gefunden wird. Er hat dieselben Plötzlichkeiten, dieselben Naturlaute, womit uns Shakespear erschreckt, erschüttert, entzückt.

Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch eine Geschmacklosigkeit, einen Cynismus und eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbietet, das je ein Gehirn zu Tage gefördert. Es ist aber nicht Krankheit, etwa Fieber oder Blödsinn, was dergleichen hervorbrachte, sondern eine geistige Intoxikation[14] des Genies. Wie Plato den Diogenes sehr treffend einen wahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte man unseren Grabbe leider mit doppeltem Rechte einen betrunkenen Shakespear nennen.

In seinen gedruckten Dramen sind jene Monstruositäten sehr gemildert, sie befanden sich aber grauenhaft grell in dem Manuskript seines „Gothland“, eine Tragödie, die er mir einst, als er mir noch ganz unbekannt war, überreichte[15] oder vielmehr vor die Füße schmiß mit den Worten: ich wollte wissen was an mir sey, und da habe ich dieses Manuskript dem Professor Gubitz gebracht, der darüber den Kopf geschüttelt und um meiner los zu werden, mich an Sie verwies, der eben so tolle Grillen im Kopfe trüge wie ich und mich daher weit besser verstünde, – hier ist nun der Bulk!

Nach diesen Worten, ohne Antwort zu erwarten, troddelte der närrische Kauz wieder fort, und da ich eben zu Frau von Varnhagen ging, nahm ich das Manuskript mit, um ihr den Erstling eines Dichters zu verschaffen; denn ich hatte an den wenigen Stellen, die ich las, schon gemerkt, daß hier ein Dichter war.

Wir erkennen das poetische Wild schon am Geruch. Aber der Geruch war diesmal zu stark für weibliche Nerven, und spät, schon gegen Mitternacht, ließ mich Frau von Varnhagen rufen und beschwor mich um Gotteswillen, das entsetzliche Manuskript wieder zurückzunehmen, da sie nicht schlafen könne, solange sich dasselbe noch im Hause befände.

Die Ehrenrettung einer Mutter ist überall an ihrem Platze, und der fühlende Leser wird die oben mitgetheilten Aeußerungen Grabbes über die arme Frau, die ihn zur Welt gebracht, nicht als eine müßige Abschweifung betrachten.

Jetzt aber, nachdem ich mich einer Pflicht der Pietät gegen einen unglücklichen Dichter entledigt habe, will ich wieder zu meiner eigenen Mutter und ihrer Sippschaft zurückkehren, in weiterer Besprechung des Einflusses, der von dieser Seite auf meine geistige Bildung ausgeübt wurde.

[165]
III.

Nach meiner Mutter beschäftigte sich mit meiner Erziehung ganz besonders ihr Bruder, mein Oheim Simon de Geldern. Er ist todt seit 20 Jahren. Er war ein Sonderling von unscheinbarem, ja sogar närrischem Aeußeren. Eine kleine, gehäbige Figur, mit einem bläßlichen, strengen Gesichte, dessen Nase zwar griechisch gradlinigt, aber gewiß über ein Drittel länger war, als die Griechen ihre Nasen zu tragen pflegten.

In seiner Jugend, sagte man, sei diese Nase von gewöhnlicher Größe gewesen und nur durch die üble Gewohnheit, daß er sich beständig daran zupfte, soll sie sich so übergebührlich in die Länge gezogen haben. Fragten wir Kinder den Ohm, ob das wahr sey, so verwies er uns solche respektwidrige Rede mit großem Eifer und zupfte sich dann wieder an der Nase.

Er ging ganz altfränkisch gekleidet, trug kurze Beinkleider, weißseidne Strümpfe, Schnallenschuhe und nach der alten Mode einen ziemlich langen Zopf, der, wenn das kleine Männchen durch die Straßen trippelte, von einer Schulter zur andern flog, allerley Capriolen schnitt und sich über seinen eigenen Herrn hinter seinem Rücken zu mokiren schien. Oft, wenn der gute Onkel in Gedanken vertieft saß oder die Zeitung las, überschlich mich das frivole Gelüste, heimlich sein Zöpfchen zu ergreifen und daran zu ziehen, als wäre es eine Hausklingel, worüber ebenfalls der Ohm sich sehr erboßte, indem er jammernd die Hände rang über die junge Brut, die vor nichts mehr Respekt hat, weder durch menschliche noch göttliche Autorität mehr in Schranken zu halten sei und sich endlich an das Heiligste vergreifen werde.

[166] War aber das Aeußere des Mannes nicht geeignet, Respekt einzuflößen, so war sein Inneres, sein Herz desto respektabler, und es war das bravste und edelmüthigste Herz, das ich hier auf Erden kennen lernte. Es war eine Ehrenhaftigkeit in dem Mann, die an den Rigorismus der Ehre in altspanischen Dramen erinnerte, und auch in der Treue glich er den Helden derselben. Er hatte nie Gelegenheit der „Arzt seiner Ehre“[16] zu werden, doch ein „standhafter Prinz“[17] war er in ebenso ritterlicher Größe, obgleich er nicht in vierfüßigen Trochäen deklamirte, gar nicht nach Todespalmen lechzte und statt des glänzenden Rittermantels ein scheinloses Röckchen mit Bachstelzenschwanz trug.

Er war durchaus kein sinnenfeindlicher Ascete, er liebte Kirmesfeste, die Weinstube des Gastwirths Rasia, wo er besonders gern Krammetsvögel aß mit Wachholderbeeren – aber alle Krammetsvögel dieser Welt und alle ihre Lebensgenüsse opferte er mit stolzer Entschiedenheit, wenn es die Idee galt, die er für wahr und gut erkannt. Und er that dieses mit solcher Anspruchlosigkeit, ja Verschämtheit, daß niemand merkte, wie eigentlich ein heimlicher Märtyrer in dieser spaßhaften Hülle steckte.

Nach weltlichen Begriffen war sein Leben ein verfehltes. Simon de Geldern hatte im Kollegium der Jesuiten seine sogenannten humanistischen Studien, Humaniora, gemacht, doch als der Tod seiner Eltern ihm völlige Wahl zu einer Lebenslaufbahn ließ, wählte er gar keine, verzichtete auf jedes sogenannte Brodstudium der ausländischen Universitäten und blieb lieber daheim zu Düsseldorf in der „Arche Noä“, wie das kleine Haus hieß, welches ihm sein Vater hinterließ und über dessen Thüre das Bild der Arche Noä recht hübsch ausgemeißelt und bunt kolorirt zu schauen war.

Von rastlosem Fleiße, überließ er sich hier allen seinen gelehrten Liebhabereyen und Schnurrpfeifereyen, seiner Bibliomanie und besonders seiner Wuth des Schriftstellerns, die er besonders in politischen Tagesblättern und obscuren Zeitschriften ausließ.

Nebenbei gesagt kostete ihm nicht bloß das Schreiben, sondern auch das Denken die größte Anstrengung.

Entstand diese Schreibwuth vielleicht durch den Drang, gemeinnützig zu wirken? Er nahm Theil an allen Tagesfragen und das Lesen von Zeitungen und Broschüren trieb er bis zur Manie. Die Nachbaren nannten ihn den Doktor, aber nicht eigentlich wegen seiner Gelahrtheit, sondern weil sein Vater und Bruder Doktoren der Medizin gewesen, und die alten Weiber ließen es sich nicht ausreden, daß der Sohn des alten Doktors, der sie so oft kurirt, auch die Heilmittel seines Vaters geerbt haben müsse, und wenn sie erkrankten, kamen sie zu ihm gelaufen mit Weinen und Bitten,[WS 6] daß er ihnen doch sagen möchte, was ihnen fehle. Wenn der arme Oheim solcherweise in seinen Studien gestört wurde, konnte er in Zorn gerathen und die alten Trullen zum Teufel wünschen und davonjagen.

Dieser Oheim war es nun, der auf meine geistige Bildung großen Einfluß geübt und dem ich in solcher Beziehung unendlich viel zu verdanken habe. Wie sehr auch unsere Ansichten verschieden und so kümmerlich auch seine literärischen Bestrebungen waren, so regten sie doch vielleicht in mir die Lust zu schriftlichen Versuchen.

Der Ohm schrieb einen alten steifen Kanzleystyl, wie er in den Jesuitenschulen, wo Latein die Hauptsache, gelehrt wird, und konnte sich nicht leicht befreunden mit meiner Ausdrucksweise, die ihm zu leicht, zu spielend, zu irreverenziös vorkam. Aber sein Eifer, womit er mir die Hülfsmittel des geistigen Fortschritts zuwies, war für mich von größtem Nutzen.

Er beschenkte schon den Knaben mit den schönsten, kostbarsten Werken; er stellte zu meiner Verfügung seine eigene Bibliothek, die an klassischen Büchern und wichtigen Tagesbroschüren so reich war, und er erlaubte mir sogar, auf dem Söller der Arche Noä in den Kisten herumzukramen, worin sich die alten Bücher und Skripturen des seligen Großvaters befanden.

Welche geheimnißvolle Wonne jauchzte im Herzen des Knaben, wenn er auf jenem Söller, der eigentlich eine große Dachstube war, ganze Tage verbringen konnte!

Es war nicht eben ein schöner Aufenthalt, und die einzige Bewohnerin desselben, eine dicke Angorakatze, hielt nicht sonderlich auf Sauberkeit und nur selten fegte sie mit ihrem Schweife ein bischen den Staub und das Spinnweb fort von dem alten Gerümpel, das dort aufgestapelt lag.

Aber mein Herz war so blühend jung, und die Sonne schien so heiter durch die kleine Lukarne, daß mir Alles von einem phantastischen Lichte übergossen schien und die alte Katze selbst mir wie eine verwünschte Prinzessin vorkam, die wohl plötzlich aus ihrer thierischen Gestalt wieder befreyt sich in der vorigen Schöne und Herrlichkeit zeigen dürfte, während die Dachkammer sich in einen prachtvollen Palast verwandeln würde, wie es in allen Zaubergeschichten zu geschehen pflegt.

Die alte gute Märchenzeit ist verschwunden, die Katzen bleiben Katzen, und die Dachstube der Arche Noä blieb eine staubige Rumpelkammer, ein Hospital für inkurablen Hausrath, eine Salpetrière[18] für alte Möbel, die den äußersten Grad der Dekrepitüde erlangt und die man doch nicht vor die Thür schmeißen darf, aus sentimentaler Anhänglichkeit und Berücksichtigung frommer Erinnerungen, die sich damit verknüpfen.

Da stand eine morsche zerbrochene Wiege, worin einst meine Mutter gewiegt worden; jetzt lag darin die Staatsperücke meines Großvaters, die ganz vermodert war und vor Alter kindisch geworden zu sein schien.

Der verrostete Galantriedegen des Großvaters und eine Feuerzange, die nur einen Arm hatte, und anderes invalides Eisengeschirr hing an der Wand. Daneben auf einem wackligen Brette stand der ausgestopfte Papagey der seligen Großmutter, der jetzt ganz entfiedert und nicht mehr grün sondern aschgrau war und mit dem einzigen Glasauge, das ihm geblieben, sehr unheimlich aussah.

Hier stand auch ein großer, grüner Mops von Porzellan, welcher inwendig hohl war; ein Stück des Hintertheils war abgebrochen, und die Katze schien für dieses chinesische oder japanische Kunstbild einen großen Respekt zu hegen; sie machte vor demselben allerley devote Katzenbuckel und hielt es vielleicht für ein göttliches Wesen; die Katzen sind so abergläubisch!

In einem Winkel lag eine alte Flöte, welche einst meiner Mutter gehört; sie spielte darauf, als sie noch ein junges Mädchen war, und eben jene Dachkammer wählte sie zu ihrem Konzertsaale, damit der alte Herr, ihr Vater, nicht von der Musik in seinen Arbeiten gestört oder auch ob dem sentimentalen Zeitverlust, dessen sich seine Tochter schuldig machte, unwirsch würde. Die Katze hatte jetzt diese Flöte zu ihrem liebsten Spielzeug erwählt, indem sie an dem verblichenen Rosaband, das an der Flöte befestigt war, dieselbe hin und her auf dem Boden rollte.

Unter den Antiquitäten der Dachkammer befanden sich auch Weltkugeln, die wunderlichsten Planetenbilder und Kolben und Retorten, erinnernd an astrologische und alchimistische Studien.

In den Kisten, unter den Büchern des Großvaters befanden sich auch viele Schriften, die auf solche Geheimwissenschaften Bezug hatten. Die meisten Bücher waren freylich medizinische Scharteken. [167] An philosophischen war kein Mangel, doch neben dem erzvernünftigen Cartesius befanden sich auch Phantasten wie Paracelsus, van Helmont und gar Agrippa von Nettesheim, dessen „Philosophia occulta“ ich hier zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Schon den Knaben amüsirte die Dedikazionsepistel an den Abt Trithem, dessen Antwortschreiben beygedruckt, wo dieser Compère[19] dem andern Charlatan seine bombastischen Complimente mit Zinsen zurückerstattet.

Der beste und kostbarste Fund jedoch, den ich in den bestäubten Kisten machte, war ein Notizenbuch von der Hand eines Bruders meines Großvaters, den man den Chevalier oder den Morgenländer nannte, und von welchem die alten Muhmen immer so viel zu singen und zu sagen wußten.

Dieser Großoheim, welcher ebenfalls Simon de Geldern hieß, muß ein sonderbarer Heiliger gewesen sein. Den Zunamen „der Morgenländer“ empfing er, weil er große Reisen im Oriente gemacht und sich bey seiner Rückkehr immer in orientalische Tracht kleidete.

Am längsten scheint er in den Küstenstädten Nordafrikas, namentlich in den marokkanischen Staaten verweilt zu haben, wo er von einem Portugiesen das Handwerk eines Waffenschmieds erlernte und dasselbe mit Glück betrieb.

Er wallfahrtete nach Jerusalem, wo er in der Verzückung des Gebetes, auf dem Berge Moria, ein Gesicht hatte. Was sah er? Er offenbarte es nie.

Ein unabhängiger Beduinenstamm, der sich nicht zum Islam, sondern zu einer Art Mosaismus bekannte und in einer der unbekannten Oasen der nordafrikanischen Sandwüste gleichsam sein Absteigequartier hatte, wählte ihn zu seinem Anführer oder Sheik. Dieses kriegerische Völkchen lebte in Fehde mit allen Nachbarstämmen und war der Schrecken der Karawanen. Europäisch zu reden: mein seliger Großoheim, der fromme Visionär vom heiligen Berge Moria, ward Räuberhauptmann.

In dieser schönen Gegend erwarb er auch jene Kenntnisse von Pferdezucht und jene Reiterkünste, womit er nach seiner Heimkehr ins Abendland so viele Bewunderung erregte.

An den verschiedenen Höfen, wo er sich lange aufhielt, glänzte er auch durch seine persönliche Schönheit und Stattlichkeit, sowie[WS 7] durch die Pracht der orientalischen Kleidung, welche besonders auf die Frauen ihren Zauber übte. Er imponirte wohl noch am meisten durch sein vorgebliches Geheimwissen und niemand wagte es, den allmächtigen Nekromanten bey seinen hohen Gönnern herabzusetzen. Der Geist der Intrigue fürchtete die Geister der Kabbala.

Nur sein eigner Uebermuth konnte ihn ins Verderben stürzen, und sonderbar geheimnißvoll schüttelten die alten Muhmen ihre greisen Köpflein, wenn sie etwas von dem galanten Verhältniß munkelten, worin der „Morgenländer“ mit einer sehr erlauchten Dame stand und dessen Entdeckung ihn nöthigte, aufs schleunigste den Hof und das Land zu verlassen. Nur durch die Flucht mit Hinterlassung aller seiner Habseligkeiten konnte er dem sichern Tode entgehen, und eben seiner erprobten Reiterkunst verdankte er seine Rettung.

Nach diesem Abentheuer scheint er in England einen sichern aber kümmerlichen Zufluchtsort gefunden zu haben. Ich schließe solches aus einer zu London gedruckten Broschüre des Großoheims, welche ich einst, als ich in der Düsseldorfer Bibliothek bis zu den höchsten Bücherbrettern kletterte, zufällig entdeckte. Es war ein Oratorium in französischen Versen, betitelt „Moses auf dem Horeb“, hatte vielleicht Bezug auf die erwähnte Vision, die Vorrede war aber in englischer Sprache geschrieben und von London datirt; die Verse, wie alle französischen Verse, gereimtes lauwarmes Wasser, aber in der englischen Prosa der Vorrede verrieth sich der Unmuth eines stolzen Mannes, der sich in einer dürftigen Lage befindet.

Aus dem Notizenbuch des Großoheims konnte ich nicht viel sicheres ermitteln; es war, vielleicht aus Vorsicht, meistens mit arabischen, syrischen und koptischen Buchstaben geschrieben, worin sonderbar genug Citazionen in allen Sprachen vorkamen, unter andern fand ich oft den französischen Vers:

Où l’innocence périt c’est un crime de vivre.[20]

Mich frappirten auch manche Äußerungen, die ebenfalls in französischer Sprache geschrieben; letztere scheint das gewöhnliche Idiom des Schreibers gewesen zu seyn.

Eine räthselhafte Erscheinung, schwer zu begreifen, war dieser Großoheim. Er führte eine jener wunderlichen Existenzen, die nur im Anfang und in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts möglich gewesen; er war halb Schwärmer, der für kosmpolitische, weltbeglückende Utopien Propaganda machte, halb Glücksritter, der im Gefühl seiner individuellen Kraft die morschen Schranken einer morschen Gesellschaft durchbricht oder überspringt.

Jedenfalls war er ganz ein Mensch.

Sein Charlatanismus, den wir nicht in Abrede stellen, war nicht von gemeiner Sorte. Er war kein gewöhnlicher Charlatan, der den Bauern auf den Märkten die Zähne ausreißt, sondern er drang muthig in die Paläste der Großen, denen er den stärksten Backzahn ausriß, wie weiland Ritter Hüon von Bordeaux dem Sultan von Babilon that.

Und welcher bedeutende Mensch ist nicht ein bischen Charlatan? Die Charlatane der Bescheidenheit sind die Schlimmsten mit ihrem demüthig thuenden Dünkel! Wer gar auf die Menge wirken will, bedarf einer charlatanischen Zuthat. …… (Es folgt im Manuscript eine Stelle, welche sich der Wiedergabe entzieht.) Dem Publikum hat ein physikalisches Kunststück von je mehr Bewunderung eingeflößt, als alle Mirakel des ewigen Gedankens. [WS 8]

[179]
IV.

Wie dem auch sey, dieser Großoheim und die Familientraditionen über ihn haben die Einbildungskraft des Knaben außerordentlich beschäftigt. Alles, was man von ihm erzählte, machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mein junges Gemüth, und ich versenkte mich so tief in seine Irrfahrten und Schicksale, meine jugendliche Phantasie beschäftigte sich Tag und Nacht so mit ihm, daß ich mich ganz in ihn hineinlebte und daß mich manchmal am hellen, lichten Tage ein unheimliches Gefühl ergriff und es mir vorkam, als sey ich selbst mein seliger Großoheim und als lebte ich nur eine Fortsetzung des Lebens jenes längst Verstorbenen!

In der Nacht spiegelte sich dasselbe retrospektiv zurück in meine Träume. Mein Leben glich damals einem großen Journal, wo die obere Abtheilung die Gegenwart, den Tag mit seinen Tagesberichten und Tagesdebatten enthielt, während in der unteren Abtheilung die poetische Vergangenheit in fortlaufenden Nachtträumen wie eine Reihenfolge von Romanfeuilletons sich phantastisch kund gab.

In diesen Träumen identifizirte ich mich gänzlich mit meinem Großohm und mit Grauen fühlte ich zugleich, daß ich ein anderer war und einer anderen Zeit angehörte. Da gab es Örtlichkeiten, die ich nie vorher gesehen, da gab es Verhältnisse und Zustände, wovon ich früher keine Ahnung hatte, und doch wandelte ich dort mit sicherm Fuß und sicherm Verhalten.

Da begegneten mir Menschen in brennend bunten, sonderbaren, wildfremden Trachten und mit abentheuerlich wüsten Physiognomien, die mir alte Liebe oder verjährten Haß einflößten, und denen ich dennoch wie alten Bekannten die Hände drückte – ihre fremdklingende, nie gehörte Sprache verstand ich, zu meiner Verwunderung antwortete ich ihnen sogar in derselben Sprache, während ich mit einer Heftigkeit gestikulirte, die mir nie eigen war, und während ich sogar Dinge sagte, wovon ich früher keine Ahnung hatte und die mit meiner gewöhnlichen Denkweise widerwärtig kontrastirten.

Dieser wunderliche Zustand des Traumlebens dauerte wohl ein Jahr, und obgleich ich wieder ganz zur Einheit des Selbstbewußtseyns kam, blieben doch geheime Spuren in meiner Seele. Manche Idiosynkrasie[21], manche fatale Sympathie und Antipathie, die vielleicht im Widerspruch mit meinem eigentlichen Naturell, ja sogar manche Handlungen, die im Widerspruch mit meiner Denkweise sind, erkläre ich mir als Nachwirkungen aus jener Traumzeit, wo ich mein eigener Großoheim war.

Sie hat mein späteres Dichten und Trachten bestimmt. Wenn [180] ich Fehler begehe, deren Entstehung mir unbegreiflich erscheint, schiebe ich sie gern auf Rechnung meines morgenländschen Doppelgängers. Als ich einst meinem Vater eine solche Hypothese mittheilte, um ein kleines Versehen zu beschönigen, bemerkte er schalkhaft: er hoffe, daß mein Großoheim keine Wechsel unterschrieben habe, die mir einst zur Bezahlung präsentirt werden könnten.

Es sind mir keine solche orientalischen Wechsel vorgezeigt worden, und ich habe genug Nöthen mit meinen eignen occidentalischen Wechseln gehabt.

Aber es giebt gewiß noch schlimmere Schulden als Geldschulden, welche uns die Vorfahren zur Tilgung hinterlassen. Jede Generazion ist eine Fortsetzung der andern und ist verantwortlich für ihre Thaten. Die Schrift sagt: die Väter haben Härlinge (unreife Trauben) gegessen und die Enkel haben davon schmerzhaft taube Zähne bekommen.

Es herrscht eine Solidarität der Generazionen, die auf einander folgen, ja die Völker, die hinter einander in die Arena treten, übernehmen eine solche Solidarität und sind nicht bloß die Erben sondern auch die Schuldner. Die ganze Menschheit liquidirt am Ende die große Hinterlassenschaft der Vergangenheit. Im Thale Josaphat wird das große Schuldbuch vernichtet werden oder vielleicht vorher noch durch einen Universalbankrott.

Der Gesetzgeber der Juden hat diese Solidarität tief erkannt und besonders in seinem Erbrecht sankzioniert; für ihn gab es vielleicht keine individuelle Fortdauer nach dem Tode und er glaubte nur an die Unsterblichkeit der Familie; alle Güter waren Familieneigenthum, und niemand konnte sie so vollständig alieniren,[22] daß sie nicht zu einer gewissen Zeit an die Familienmitglieder zurückfielen.

Einen schroffen Gegensatz zu jener menschenfreundlichen Idee des Mosaischen Gesetzes bildet das römische, welches ebenfalls im Erbrechte den Egoismus des römischen Charakters bekundet: die Rechtsbestimmungen in Bezug auf Testamente sanczioniren hier den grinsenden Eigenwillen der Selbstsucht, des starren Personaldünkels, der bis übers Leben hinaus seine Besitzthümer mißbrauchen will und der am Ende unter dem Namen Familia nur seine Haussklaven kennt.

Doch ich will mich nicht in allgemeine Betrachtungen verlieren, ich will hierüber keine Untersuchungen eröffnen und meine persönlichen Bekenntnisse verfolgend will ich vielmehr die Gelegenheit benutzen, die sich mir hier bietet, wieder durch ein Beispiel zu zeigen, wie die harmlosesten Thatsachen zuweilen zu den böswilligsten Insinuazionen von meinen Feinden benutzt worden. Letztere wollen nemlich die Entdeckung gemacht haben, daß ich bey biographischen Mittheilungen sehr viel von meiner mütterlichen Familie, aber gar nichts von meinen väterlichen Sippen und Magen[23] spräche, und sie bezeichneten solches als ein absichtliches Hervorheben und Verschweigen und beschuldigten mich derselben eiteln Hintergedanken, die man auch meinem seligen Kollegen, Wolfgang Göthe vorwarf.

Es ist freylich wahr, daß in dessen Memoiren sehr oft von dem Großvater von väterlicher Seite, welcher als gestrenger Herr Schultheiß auf dem Römer zu Frankfurt präsidirte, mit besonderem Behagen die Rede ist, während der Großvater von mütterlicher Seite, der als ein ehrsames Flickschneiderlein auf der Bockenheimer Gasse auf seinem Werktische hockte und die alten Hosen der freyen Reichsstadt Frankfurt ausbesserte, mit keinem Worte erwähnt wird.

Ich habe Göthen in Betreff dieses Ignorirens nicht zu vertreten. Was mich selbst betrifft, so habe ich zu solchen Insinuazionen immer achselzuckend geschwiegen und dem lieben Gott gedankt, daß man mir nichts schlimmeres nachzusagen wisse.

Jene böswilligen und oft ausgebeuteten Interpretazionen und Insinuazionen möchte ich dahin berichtigen, daß es nicht meine Schuld ist, wenn in meinen Schriften von einem väterlichen Großvater nie gesprochen ward, und wer mich kennt, weiß, wie wenig Geburtsdünkel in meiner Natur liegt.[24]

Die Ursache ist ganz einfach: ich habe nie viel von ihm zu sagen gewußt. Mein seliger Vater war als ganz fremder Mann nach meiner Geburtsstadt Düsseldorf gekommen und besaß hier keine Anverwandten, keine jener alten Muhmen und Basen, welche die weiblichen Barden sind, die der jungen Brut tagtäglich die alten Familienlegenden mit epischer Monotonie vorsingen, während sie die bei den schottischen Barden obligate Dudelsackbegleitung durch das Schnarren ihrer Nasen ersetzen. In die Familienchronik meines Vaters konnten sie mich nicht frühzeitig einweihen; nur über die großen Kämpen des mütterlichen Clans konnte von dieser Seite mein junges Gemüth frühe Eindrücke empfangen, und ich horchte mit Andacht, wenn die alte Bräunle oder Brunhildis erzählte.

Mein Vater selbst war sehr einsilbiger Natur, er sprach nicht gern, und unterhielt mich nie mit alten Geschichten. Nur einmal, als ich noch ein kleines Bübchen, stellte ich ihm eine dahin gerichtete Frage.

Ich erinnere mich, es war an einem jener schönen, sonnigen Sonntage, die ich zu Hause zubringen durfte, während ich die Werkeltage über in der öden Franziskaner-Klosterschule schmachtete – da nahm ich hier eine Gelegenheit wahr, meinen Vater zu befragen, wer mein Großvater gewesen sey? Auf diese Frage antwortete er halb lachend, halb unwirsch: „Dein Großvater war ein kleiner Jude und hatte einen großen Bart.“[25]

Den andern Tag, als ich in den Schulsaal des Klosters trat, wo bereits meine kleinen Kameraden versammelt waren, beeilte ich mich sogleich ihnen die wichtige Neuigkeit zu erzählen, daß mein Großvater ein kleiner Jude war, welcher einen langen Bart hatte.

Kaum hatte ich diese Mittheilung gemacht, als sie von Mund zu Mund flog, in allen Tonarten wiederholt ward mit Begleitung von nachgeäfften Thierstimmen. Die Kleinen sprangen über Tisch und Bänke, rissen von den Wänden die Rechentafeln, welche auf den Boden purzelten nebst den Tintenfässern, die Bänke wurden umgeschmissen und dabey wurde gelacht, gemeckert, gegrunzt, gebellt, gekräht – ein Höllenspektakel dessen Refrain immer der Großvater war, der ein kleiner Jude gewesen und einen großen Bart hatte.

Der Lehrer, welchem die Klasse gehörte, vernahm den Lärm und trat mit zornglühendem Gesichte in den tosenden Saal und [181] fragte gleich nach dem Urheber dieses Unfugs. Wie immer in solchen Fällen geschieht: ein jeder suchte kleinlaut sich zu diskulpiren, und am Ende der Untersuchung ergab es sich, daß ich Aermster überwiesen ward, durch meine Mittheilung über meinen Großvater den ganzen Lärm veranlaßt zu haben, und da ich denselben nicht verleugnete, büßte ich meine Schuld durch eine bedeutende Anzahl Prügel.

Es waren die ersten Prügel, die ich auf dieser Erde empfing und ich machte bei dieser Gelegenheit schon die philosophische Betrachtung, daß der liebe Gott, der die Prügel erschaffen, in seiner gütigen Weisheit auch dafür sorgte, daß derjenige, welcher sie ertheilt, am Ende müde wird, indem sonst am Ende die Prügel unerträglich würden.[26]

Der Stock, womit ich geprügelt ward, war ein Rohr von gelber Farbe, doch die Streifen, welche dasselbe auf meinem Rücken ließ, waren dunkelblau. Ich habe sie nicht vergessen.

Auch den Namen des Lehrers, der mich so unbarmherzig schlug, vergaß ich nicht: es war der Pater Dickerscheid; er wurde bald von der Schule entfernt, aus Gründen, die ich ebenfalls nicht vergessen, aber nicht mittheilen will.[WS 9]

Wie der Name des Mannes, der mir die ersten Prügel ertheilte, blieb mir auch der Anlaß im Gedächtniß, und jedesmal wenn von kleinen Juden mit großen Bärten die Rede war, lief mir eine unheimliche Erinnerung gruselnd über den Rücken. „Gesottene Katze scheut den kochenden Kessel,“ sagt das Sprüchwort und jeder wird leicht begreifen, daß ich seitdem keine große Neigung empfand, nähere Auskunft über jenen bedenklichen Großvater und seinen Stammbaum zu erhalten oder gar dem großen Publikum, wie einst dem kleinen, dahinbezügliche Mittheilungen zu machen.

[194]
V.

Meine Großmutter väterlicherseits,[27] von welcher ich ebenfalls nur wenig zu sagen weiß, will ich jedoch nicht unerwähnt lassen. Sie war eine außerordentlich schöne Frau und einzige Tochter eines Banquiers zu Hamburg, der wegen seines Reichthums weit und breit berühmt war. Diese Umstände lassen mich vermuthen, daß der kleine Jude, der die schöne Person aus dem Hause ihrer hochbegüterten Eltern nach seinem Wohnorte Hannover heimführte, noch außer seinem großen Barte sehr rühmliche Eigenschaften besessen und sehr respektabel gewesen sein muß.

Er starb frühe, eine junge Witwe mit sechs Kindern, sämmtlich Knaben im zartesten Alter zurücklassend; sie kehrte nach Hamburg zurück und starb dort ebenfalls nicht sehr betagt.[28]

Im Schlafzimmer meines Oheims Salomon Heine zu Hamburg sah ich einst das Portrait der Großmutter. Der Maler, welcher in Rembrandtscher Manier nach Licht- und Schatteneffekten haschte, hatte dem Bilde eine schwarze klösterliche Kopfbedeckung, eine fast eben so strenge dunkle Robe und den pechdunkelsten Hintergrund ertheilt, so daß das vollwangigte, mit einem Doppelkinn versehene Gesicht wie ein Vollmond aus nächtlichem Gewölk hervorschimmerte.

Ihre Züge trugen noch die Spuren großer Schönheit, sie waren zugleich milde und ernsthaft und besonders die Morbidezza[29] der Hautfarbe gab dem ganzen Gesicht einen Ausdruck von Vornehmheit eigenthümlicher Art; hätte der Maler der Dame ein großes Kreuz von Diamanten vor die Brust gemalt, so hätte man sicher geglaubt, das Portrait irgend einer gefürsteten Aebtissin eines protestantischen adlichen Stiftes zu sehen.

Von den Kindern meiner Großmutter haben, so viel ich weiß, nur zwey ihre außerordentliche Schönheit geerbt, nemlich mein Vater und mein Oheim Salomon Heine, der verstorbene Chef des hamburgischen Banquierhauses dieses Namens.

Die Schönheit meines Vaters hatte etwas überweiches, charakterloses, fast weibliches. Sein Bruder besaß vielmehr eine männliche Schönheit und er war überhaupt ein Mann, dessen Charakterstärke sich auch in seinen edelgemessenen, regelmäßigen Zügen imposant, ja manchmal sogar verblüffend offenbarte.

Seine Kinder waren alle, ohne Ausnahme, zur entzückendsten Schönheit emporgeblüht, doch der Tod raffte sie dahin in ihrer Blüthe und von diesem schönen Menschenblumenstrauß leben jetzt nur zwei, der jetzige Chef des Banquierhauses und seine Schwester, eine seltene Erscheinung mit – – –[30]

Ich hatte alle diese Kinder so lieb, und ich liebte auch ihre Mutter, die ebenfalls so schön war und früh dahinschied, und alle haben mir viele Thränen gekostet. Ich habe wahrhaftig in diesem Augenblicke nöthig, meine Schellenkappe zu schütteln, um die weinerlichen Gedanken zu überklingeln.

Ich habe eben gesagt, daß die Schönheit meines Vaters etwas Weibliches hatte. Es sollte das keine unziemliche Äußerung sein; im Sinne hatte ich nur die Formen seiner körperlichen Erscheinung, und da wollte ich nur andeuten, daß dieselben nicht straff und drall und seine Gesichtszüge nicht streng gemessen waren, sondern vielmehr weich und zärtlich geründet waren;[WS 10] den Conturen seiner Züge fehlte das Markirte und sie verschwammen ins Unbestimmte. In seinen späteren Jahren ward er wohlbeleibt, aber auch in seiner Jugend scheint er nicht eben mager gewesen zu seyn.

In dieser Vermuthung bestätigt mich ein Portrait, welches aus seiner ersten Jugendzeit datiert und das seitdem in einer Feuersbrunst bei meiner Mutter verloren ging[31]. Mein Vater wird hier dargestellt als ein junger Mensch von etwa achtzehn oder neunzehn Jahren in rother Uniform[32], das Haupt kreideweiß gepudert und versehen mit einem höchst anmuthigen Haarbeutel.

Dieses Portrait war günstigerweise mit Pastellfarbe gemalt. Ich sage: günstigerweise, da diese Farbe weit besser als die Oelfarbe mit dem hinzukommenden Glanzleinenfirniß jenen Blüthenstaub wiedergeben kann, den wir auf den Gesichtern der Leute, welche Puder tragen, bemerken und die Unbestimmtheit der Züge sowie jene fatale rosige Fadheit der Oelbilder vortheilhaft verschleiert. Indem der Maler auf besagtem Portrait mit den kreideweiß gepuderten Haaren und der eben so weißen Halsbinde das rosigte Gesicht enkadrirte[33], verlieh er demselben durch den Kontrast ein stärkeres Kolorit und es tritt kräftiger hervor.

Auch die scharlachrothe Farbe des Rocks, die auf Oelgemälden so schauderhaft uns angrinst, macht hier im Gegentheil einen guten Effekt, indem dadurch die Rosenfarbe des Gesichtes angenehm gemildert wird.

Der Typus von Schönheit, der sich in den Zügen meines Vaters auf jenem Portrait aussprach, erinnerte weder an die streng keusche Idealität der griechischen Kunstwerke, noch an den spiritualistisch schwärmerischen, aber mit heidnischer Gesundheit gesättigten Stil der Renaissance; nein, besagtes Portrtät trug vielmehr ganz den Charakter einer Zeit, die eben keinen Charakter besaß, die minder die Schönheit als das Hübsche, das Niedliche, das kokett-Zierliche liebte; einer Zeit, die es in der Fadheit bis zur Poesie brachte, jener süßen, geschnörkelten Zeit des Rokoko, die man auch die Haarbeutelzeit nannte und die wirklich als Wahrzeichen, nicht an der Stirn, sondern am Hinterkopfe, einen Haarbeutel trug. Wäre das Bild meines Vaters auf besagtem Porträte etwas mehr Miniatur gewesen, so hätte man glauben können, der vortreffliche Watteau habe einen hübschen Schäfer gemalt, um mit phantastischen Arabesken von bunten Edelsteinen und Goldflittern umrahmt auf einem Fächer der Frau von Pompadour zu paradiren.

Bemerkenswerth ist vielleicht der Umstand, daß mein Vater auch in seinen späteren Jahren der altfränkischen Mode des Puderns treu blieb und bis an sein seliges Ende sich alle Tage pudern ließ, obgleich er das schönste Haar, das man sich denken kann, besaß. Es war blond, fast golden, und von einer Weichheit, wie ich sie nur bey chinesischer Flockseide gefunden. Den Haarbeutel hätte er gewiß ebenfalls gern beybehalten, jedoch die Ansprüche des fortschreitenden Zeitgeistes waren unerbittlich. In [195] dieser Bedrängniß fand mein Vater ein beschwichtigendes Auskunftsmittel. Er opferte nur die Form, das schwarze Säckchen, den Beutel; die langen Haarlocken jedoch selbst trug er seitdem wie ein breitgeflochtenes Chignon mit kleinen Kämmchen auf dem Haupte befestigt. Diese Haarflechte war bey der Weichheit der Haare und wegen des Puders fast gar nicht bemerkbar, und so war mein Vater doch im Grunde kein Abtrünniger des alten Haarbeutelthums, und er hatte nur, wie so mancher Krypto-Orthodoxe dem grausamen Zeitgeiste sich äußerlich gefügt.

Die rothe Uniform, worin mein Vater auf dem erwähnten Portrait abkonterfeyt ist, deutet auf hannöversche Dienstverhältnisse. Mein Vater trug sie etwa in seinem achtzehnten Jahr, als er sich im Gefolge des Prinzen Ernst von Cumberland befand zu Anfang der französischen Revolution und den Feldzug in Flandern und Brabant mitmachte, ich glaube in der Eigenschaft eines Proviantmeisters oder Kommissarius, oder wie es die Franzosen nennen: eines officier de bouche; die Preußen nennen es einen „Mehlwurm“.

Das eigentliche Amt des blutjungen Menschen war aber das eines Günstlings des Prinzen, eines Brummels[34] au petit pied und ohne gesteifte Cravatte, und er theilte auch am Ende das Schicksal solcher Spielzeuge der Fürstengunst. Mein Vater blieb zwar zeitlebens fest überzeugt, daß der Prinz, welcher später König von Hanover ward, ihn nie vergessen habe, doch wußte er sich nicht zu erklären, warum der Prinz niemals nach ihm schickte, niemals sich nach ihm erkundigen ließ, da er doch nicht wissen konnte, ob sein ehemaliger Günstling in Verhältnissen lebte, wo er etwa seiner vielleicht bedürftig seyn möchte.

Aus jener Feldzugsperiode stammen manche bedenkliche Liebhabereien meines Vaters, die ihm meine Mutter nur allmählig abgewöhnen konnte. Z. B. er ließ sich gern zu hohem Spiel verleiten, beschützte die dramatische Kunst oder vielmehr ihre Priesterinnen, und gar Pferde und Hunde waren seine Passion. Bey seiner Ankunft in Düsseldorf, wo er sich aus Liebe für meine Mutter als Kaufmann etablirte, hatte er zwölf der schönsten Gäule mitgebracht. Er entäußerte sich aber derselben auf ausdrücklichen Wunsche seiner jungen Gattin, die ihm vorstellte, daß dieses vierfüßige Capital zu viel Hafer fresse und gar nichts eintrage.

Schwerer ward es meiner Mutter, auch den Stallmeister zu entfernen, einen vierschrötigen Flegel, der beständig mit irgend einem aufgegabelten Lump im Stalle lag und Karten spielte. Er ging endlich von selbst in Begleitung einer goldenen Repetiruhr meines Vaters und einiger anderer Kleinodien von Werth.

Nachdem meine Mutter den Taugenichts los war, gab sie auch den Jagdhunden meines Vaters ihre Entlassung, mit Ausnahme eines einzigen, welcher Joly hieß, aber erzhäßlich war. Er fand Gnade in ihren Augen, weil er eben gar nichts von einem Jagdhund an sich hatte und ein bürgerlich treuer und tugendhafter Haushund werden konnte. Er bewohnte im leeren Stalle die alte Kalesche meines Vaters, und wenn dieser hier mit ihm zusammentraf, warfen sie sich wechselseitig bedeutende Blicke zu. Ja, Joly, seufzte dann mein Vater, und Joly wedelte wehmüthig mit dem Schwanze.

Ich glaube der Hund war ein Heuchler, und einst in übler Laune, als sein Liebling über einen Fußtritt allzu jämmerlich wimmerte, gestand mein Vater, daß die Kanaille sich verstellte. Am Ende ward Joly sehr räudig und da er eine wandelnde Kaserne von Flöhen geworden, mußte er ersäuft werden, was mein Vater ohne Einspruch geschehen ließ. – Die Menschen sakrifiziren ihre vierfüßigen Günstlinge mit derselben Indifferenz, wie die Fürsten die zweyfüßigen.

Aus der Feldlagerperiode meines Vaters stammte auch wohl seine grenzenlose Vorliebe für den Soldatenstand oder vielmehr für das Soldatenspiel, die Lust an jenem lustigen, müßigen Leben, wo Goldflitter und Scharlachlappen die innere Leere verhüllen und die berauschte Eitelkeit sich als Muth gebehrden kann.

In seiner junkerlichen Umgebung gab es weder militärischen Ernst noch wahre Ruhmsucht; von Heroismus konnte gar nicht die Rede sein. Als die Hauptsache erschien ihm die Wachtparade, das klirrende Wehrgehenke, die straffanliegende Uniform, so kleidsam für schöne Männer.

Wie glücklich war daher mein Vater als zu Düsseldorf die Bürgergarden errichtet wurden und er als Offizir derselben die schöne dunkelblaue mit himmelblauen Sammetaufschlägen versehene Uniform tragen und an der Spitze seiner Colonnen unserem Hause vorbeydefiliren konnte. Vor meiner Mutter, welche erröthend am Fenster stand, salutirte er dann mit allerliebster Courtoisie; der Federbusch auf seinem dreyeckigen Hute flatterte da so stolz und im Sonnenlicht blitzten freudig die Epauletten.

Noch glücklicher war mein Vater in jener Zeit, wenn die Reihe an ihn kam, als kommandirender Offizier die Hauptwache zu beziehen und für die Sicherheit der Stadt zu sorgen. An solchen Tagen floß auf der Hauptwache eitel Rüdesheimer und Aßmannshäuser von den vortrefflichsten Jahrgängen, alles auf Rechnung des kommandirenden Offiziers, dessen Freygebigkeit seine Bürgergardisten, seine Creti und Pleti, nicht genug zu rühmen wußten.

Auch genoß mein Vater unter ihnen eine Popularität, die gewiß so groß war, wie die Begeisterung, womit die alte Garde den Kaiser Napoleon umjubelte. Dieser freylich verstand seine Leute in anderer Weise zu berauschen. Den Garden meines Vaters fehlte es nicht an einer gewissen Tapferkeit, zumal wo es galt, eine Batterie von Weinflaschen, deren Schlünde vom größten Caliber, zu erstürmen. Aber ihr Heldenmuth war doch von einer anderen Sorte als die, welche wir bey der alten Kaisergarde fanden. Letztere starb und übergab sich nicht, während die Gardisten meines Vaters immer am Leben blieben und sich oft übergaben.

Was die Sicherheit der Stadt Düsseldorf betrifft, so mag es sehr bedenklich damit ausgesehen haben in den Nächten, wo mein Vater auf der Hauptwache kommandirte. Er trug zwar Sorge, Patrouillen auszuschicken, die singend und klirrend in verschiedenen Richtungen die Stadt durchstreiften. Es geschah einst, daß zwey solcher Patrouillen sich begegneten und in der Dunkelheit die Einen die Andern als Trunkenbolde und Ruhestörer arretiren wollten. Zum Glück sind meine Landsleute ein harmlos fröhliches Völkchen, sie sind im Rausche gutmüthig, „ils ont le vin bon“ und es geschah ihnen kein Malheur; sie übergaben sich wechselseitig.

Eine grenzenlose Lebenslust war ein Hauptzug im Charakter meines Vaters, er war genußsüchtig, frohsinnig, rosenlaunig. In seinem Gemüthe war beständig Kirmeß, und wenn auch manchmal die Tanzmusik nicht sehr rauschend, so wurden doch immer die Violinen gestimmt. Immer himmelblaue Heiterkeit und Fanfaren des Leichtsinns. Eine Sorglosigkeit, die des vorigen Tages vergaß und nie an den kommenden Morgen denken wollte.

Dieses Naturell stand im wunderlichsten Widerspruch mit der Gravität, die über sein strengruhiges Antlitz verbreitet war und sich in der Haltung und jeder Bewegung des Körpers kundgab. Wer ihn nicht kannte und zum ersten mahle diese ernsthafte, gepuderte Gestalt und diese wichtige Miene sah, hätte [196] gewiß glauben können, einen von den sieben Weisen Griechenlands zu erblicken. Aber bey näherer Bekanntschaft merkte man wohl, daß er weder ein Thales noch ein Lampsakus[35] war, der über kosmogonische Probleme nachgrüble. Jene Gravität war zwar nicht erborgt, aber sie erinnerte doch an jene antiken Basreliefs, wo ein heiteres Kind sich eine große tragische Maske vor das Antlitz hält.

Er war wirklich ein großes Kind mit einer kindlichen Naivetät, die bey platten Verstandsvirtuosen sehr leicht für Einfalt gelten konnte, aber manchmal durch irgend einen tiefsinnigen Ausspruch das bedeutendste Anschauungsvermögen (Intuition) verrieth.

Er witterte mit seinen geistigen Fühlhörnern, was die Klugen erst langsam durch die Reflekzion begriffen. Er dachte weniger mit dem Kopfe als mit dem Herzen und hatte das liebenswürdigste Herz, das man sich denken kann. Das Lächeln, das manchmal um seine Lippen spielte und mit der oberwähnten Gravität gar drollig anmuthig kontrastirte, war der süße Wiederschein seiner Seelengüte.

Auch seine Stimme, obgleich männlich klangvoll, hatte etwas Kindliches, ich möchte fast sagen etwas, das an Waldtöne, etwa an Rothkehlchenlaute erinnerte; wenn er sprach, so drang seine Stimme so direkt zum Herzen, als habe sie gar nicht nöthig gehabt, den Weg durch die Ohren zu nehmen.

Er redete den Dialekt Hannovers, wo, wie auch in der südlichen Nachbarschaft dieser Stadt, das Deutsche am besten ausgesprochen wird. Das war ein großer Vortheil für mich, daß solchermaßen schon in der Kindheit durch meinen Vater mein Ohr an eine gute Aussprache des Deutschen gewöhnt wurde, während in unserer Stadt selbst jenes fatale Kauderwelsch des Niederrheins gesprochen wird, das zu Düsseldorf noch einigermaßen erträglich, aber in dem nachbarlichen Köln wahrhaft ekelhaft wird. Köln ist das Toskana einer klassisch schlechten Aussprache des Deutschen und Kobes klängelt mit Marizzebill[36] in einer Mundart die wie faule Eyer klingt, fast riecht.

In der Sprache der Düsseldorfer merkt man schon einen Uebergang in das Froschgequäke der holländischen Sümpfe. Ich will der holländischen Sprache bei Leibe nicht ihre eigenthümlichen Schönheiten absprechen, nur gestehe ich, daß ich kein Ohr dafür habe. Es mag sogar wahr seyn, daß unsre eigne deutsche Sprache, wie patriotische Linguisten in den Niederlanden behauptet haben, nur ein verdorbenes Holländisch sey. Es ist möglich.

Dieses[37] erinnert mich an die Behauptung eines kosmopolitischen Zoologen, welcher den Affen für den Ahnherrn des Menschengeschlechts erklärt; die Menschen sind nach seiner Meinung nur ausgebildete, ja überbildete Affen. Wenn die Affen sprechen könnten, sie würden wahrscheinlich behaupten, daß die Menschen nur ausgeartete Affen seyen, daß die Menschheit ein verdorbenes Affenthum, wie nach der Meinung der Holländer die deutsche Sprache ein verdorbenes Holländisch ist.[38]

Ich sage: wenn die Affen sprechen könnten, obgleich ich von solchem Unvermögen des Sprechens nicht überzeugt bin. Die Neger am Senegal versichern steif und fest, die Affen seyen Menschen ganz wie wir, jedoch klüger, indem sie sich des Sprechens enthalten, um nicht als Menschen anerkannt und zum Arbeiten gezwungen zu werden; ihre scurrilen Affenspäße seyen lauter Pfiffigkeit, wodurch sie bei den Machthabern der Erde für untauglich erscheinen möchten, wie wir andre ausgebeutet zu werden.††

Solche Entäußerung aller Eitelkeit würde mir von diesen Menschen, die ein stummes Inkognito beybehalten und sich vielleicht über unsere Einfalt lustig machen, eine sehr hohe Idee einflößen. Sie bleiben frey in ihren Wäldern, dem Naturzustand nie entsagend. Sie könnten wahrlich mit Recht behaupten, daß der Mensch ein ausgearteter Affe sey.

Vielleicht haben unsere Vorfahren im achtzehnten Jahrhundert dergleichen schon geahnt, und indem sie instinktmäßig fühlten, wie unsre glatte Ueberzivilisazion nur eine gefirnißte Fäulniß ist, und wie es nöthig sey, zur Natur zurückzukehren, suchten sie sich unserem Urtypus, dem natürlichen Affenthume, wieder zu nähern, sie thaten das Mögliche, und als ihnen endlich, um ganz Affe zu seyn, nur noch der Schwanz fehlte, ersetzten sie diesen Mangel durch den Zopf. So ist die Zopfmode ein bedeutsames Symptom eines ernsten Bedürfnisses und nicht ein Spiel der Frivolität – – doch ich suche vergebens durch das Schellen meiner Kappe die Wehmuth zu überklingeln, die mich jedesmal ergreift, wenn ich an meinen verstorbenen Vater denke.

Er war von allen Menschen derjenige, den ich am meisten auf dieser Erde geliebt. Er ist jetzt todt seit länger als 25 Jahren.[39] Ich dachte nie daran, daß ich ihn einst verlieren würde, und selbst jetzt kann ich es kaum glauben, daß ich ihn wirklich verloren habe. Es ist so schwer, sich von dem Tod der Menschen zu überzeugen, die wir so innig liebten. Aber sie sind auch nicht todt, sie leben fort in uns und wohnen in unserer Seele.

Es verging seitdem keine Nacht, wo ich nicht an meinen seligen Vater denken mußte, und wenn ich des Morgens erwache, glaube ich oft noch den Klang seiner Stimme zu hören, wie das Echo eines Traumes. Alsdann ist mir zu Sinn, als müßt ich mich geschwind ankleiden und zu meinem Vater hinabeilen in die große Stube, wie ich als Knabe that.

Mein Vater pflegte immer sehr frühe aufzustehen und sich an seine Geschäfte zu begeben, im Winter wie im Sommer, und ich fand ihn gewöhnlich schon am Schreibtisch, wo er ohne aufzublicken mir die Hand hinreichte zum Kusse.

Eine schöne, feingeschnittene, vornehme Hand, die er immer mit Mandelkley wusch. Ich sehe sie noch vor mir, ich sehe noch jedes blaue Aederchen das diese blendend weiße Marmorhand durchrieselte. Mir ist als steige der Mandelduft prickelnd in meine Nase, und das Auge wird feucht.

Zuweilen blieb es nicht beym bloßen Handkuß, und mein Vater nahm mich zwischen seine Knie und küßte mich auf die Stirn.

Eines Morgens umarmte er mich mit ganz ungewöhnlicher Zärtlichkeit und sagte: „Ich habe diese Nacht etwas Schönes von Dir geträumt und bin sehr zufrieden mit Dir, mein lieber Harry.“ Während er diese naiven Worte sprach, zog ein Lächeln um seine Lippen, welches zu sagen schien: mag der Harry sich noch so unartig in der Wirklichkeit aufführen, ich werde dennoch, um ihn ungetrübt zu lieben, immer etwas Schönes von ihm träumen.

[230]
VI.

Harry ist bei den Engländern der familiäre Namen Derjenigen, welche Henri heißen, und er entspricht ganz meinem deutschen Taufnamen „Heinrich“. Die familiären Benennungen des letztern sind in dem Dialekte meiner Heimath äußerst mißklingend, ja fast scurril, z. B. Heinz, Heinzchen, Hinz. Heinzchen werden oft auch die kleinen Hauskobolde genannt und der gestiefelte Kater im Puppenspiel und überhaupt der Kater in der Volksfabel heißt „Hinze“.

Aber nicht um solcher Mißlichkeit abzuhelfen, sondern um einen seiner besten Freunde in England zu ehren, ward von meinem Vater mein Name anglisirt. Mr. Harry war meines Vaters Geschäftsführer (Korrespondent) in Liverpool; er kannte dort die besten Fabriken, wo Velveteen fabrizirt wurde, ein Handelsartikel, der meinem Vater sehr am Herzen lag, mehr aus Ambizion als aus Eigennutz, denn obgleich er behauptete, daß er viel Geld an jenem Artikel verdiene, so blieb solches doch sehr problematisch, und mein Vater hätte vielleicht noch Geld zugesetzt, wenn es darauf ankam, die Velveteens in besserer Qualität und in größerer Quantität abzusetzen als seine Kompetitoren.[40] Wie denn überhaupt mein Vater eigentlich keinen berechnenden Kaufmannsgeist hatte, obgleich er immer rechnete, und der Handel für ihn vielmehr ein Spiel war, wie die Kinder Soldaten oder Kochen spielen.

Seine Thätigkeit war eigentlich nur eine unaufhörliche Geschäftigkeit. Der Velveteen war ganz besonders seine Puppe, und er war glücklich, wenn die großen Frachtkarren abgeladen wurden, und schon beim Abpacken alle Handelsjuden der benachbarten Gegend die Hausflur füllten; denn letztere waren seine besten Kunden und bei ihnen fand sein Velveteen nicht bloß den größten Absatz sondern ehrenhafte Anerkennung.

Da Du, theurer Leser, vielleicht nicht weißt, was „Velveteen“ ist, so erlaube ich mir, Dir zu erklären, daß dieses ein englisches Wort ist, welches sammtartig bedeutet, und man benennt damit eine Art Sammt von Baumwolle, woraus sehr schöne Hosen, Westen und sogar Kamisöle verfertigt werden. Es trägt dieser Kleidungsstoff auch den Namen „Manchester“, nach der gleichnamigen Fabrikstadt, wo derselbe zuerst fabrizirt wurde.

Weil nun der Freund meines Vaters, der sich auf den Einkauf der Velveteens am besten verstand, den Namen Harry führte, erhielt auch ich diesen Namen, und Harry ward ich genannt in der Familie und bey Hausfreunden und Nachbarn.

Ich höre mich noch jetzt sehr gern bei diesem Namen nennen, obgleich ich demselben auch viel Verdruß, vielleicht den empfindlichsten Verdruß meiner Kindheit verdanke. Erst jetzt, wo ich nicht mehr unter den Lebenden lebe und folglich alle gesellschaftliche Eitelkeit in meiner Seele erlischt, kann ich ohne Befangenheit davon sprechen.[41]

Hier in Frankreich ist mir gleich nach meiner Ankunft in Paris mein deutscher Namen „Heinrich“ in „Henri“ übersetzt worden, und ich mußte mich darin schicken und auch endlich hier zu Lande selbst so nennen, da das Wort Heinrich dem französischen Ohr nicht zusagte, und überhaupt die Franzosen sich alle Dinge in der Welt recht bequem machen. Auch den Namen Henri Heine haben sie nie recht aussprechen können und bei den meisten heiße ich Mr. Enri Enn; von vielen wird dieses in ein Enrienne zusammengezogen, und einige nannten mich Mr. Un rien.

Das schadet mir in mancherley literärischer Beziehung, gewährt aber auch wieder einigen Vortheil. Z. B. unter meinen edlen Landsleuten, welche nach Paris kommen, sind manche, die mich gern hier verlästern möchten, aber da sie immer meinen Namen deutsch aussprechen, so kommt es den Franzosen nicht in den Sinn, daß der Bösewicht und Unschuldbrunnenvergifter, über den so schrecklich geschimpft ward, kein andrer als ihr Freund Monsieur Enrienne sey, und jene edlen Seelen haben vergebens ihrem Tugendeifer die Zügel schießen lassen; die Franzosen wissen nicht, daß von diesem die Rede ist, und die transrhenanische Tugend hat vergebens alle Bolzen der Verleumdung abgeschossen.

Es hat aber, wie gesagt, etwas mißliches, wenn man unsern Namen schlecht ausspricht. Es giebt Menschen, die in solchen Fällen eine große Empfindlichkeit an den Tag legen. Ich machte mir mal den Spaß, den alten Cherubini zu befragen, ob es wahr sei, daß der Kaiser Napoleon seinen Namen immer wie Scherubini und nicht wie Kerubini ausgesprochen, obgleich der Kaiser des Italienischen genugsam kundig war, um zu wissen, wo das italienische ch wie ein que oder k ausgesprochen wird. Bei dieser Anfrage expektorirte sich der alte Maestro mit höchst komischer Wuth.

Ich habe dergleichen nie empfunden.

Heinrich, Harry, Henri – alle diese Namen klingen gut, wenn sie von schönen Lippen gleiten. Am besten freylich klingt Signor Enrico. So hieß ich in jenen hellblauen mit großen silbernen Sternen gestickten Sommernächten jenes edlen und unglücklichen [231] Landes, das die Heimath der Schönheit ist und Raphael Sanzio von Urbino, Joachimo Rossini und die Principessa Christina Belgiojoso hervorgebracht hat.

Da mein körperlicher Zustand mir alle Hoffnung raubt, jemals wieder in der Gesellschaft zu leben, und letztere wirklich nicht mehr für mich existirt, so habe ich auch die Fessel jener persönlichen Eitelkeit abgestreift,[42] die jeden behaftet, der unter den Menschen, in der sogenannten Welt sich herumtreiben muß.

Ich kann daher jetzt hier mit unbefangenem Sinn von dem Mißgeschick sprechen, das mit meinem Namen „Harry“ verbunden war und mir die schönsten Frühlingsjahre des Lebens vergällte und vergiftete.

Es hat damit folgende Bewandniß.

In meiner Vaterstadt wohnte ein Mann, welcher „der Dreckmichel“ hieß, weil er jeden Morgen mit einem Karren, woran ein Esel gespannt war, die Straßen der Stadt durchzog und vor jedem Hause still hielt, um den Kehricht, welchen die Mädchen in zierlichen Haufen zusammengekehrt, aufzuladen und aus der Stadt nach dem Mistfelde zu transportiren. Der Mann sah aus wie sein Gewerbe, und der Esel, welcher seinerseits wie sein Herr aussah, hielt still vor den Häusern oder setzte sich in Trab, je nachdem die Modulazion war, womit der Michel ihm das Wort „Haarüh!“ zurief.

War solches sein wirklicher Name oder nur ein Stichwort? Ich weiß nicht, doch so viel ist gewiß, daß ich durch die Aehnlichkeit jenes Wortes mit meinem Namen Harry außerordentlich viel Leid von Schulkameraden und Nachbarskindern auszustehen hatte. Um mich zu nergeln sprachen sie ihn ganz so aus, wie der Dreckmichel seinen Esel rief, und ward ich darob erbost, so nahmen die Schälke manchmal eine ganz unschuldige Miene an und verlangten, um jene Verwechselung zu vermeiden, ich sollte sie lehren, wie mein Name und der des Esels ausgesprochen werden müßten, stellten sich aber dabei sehr ungelehrig, meinten, der Michel pflege die erste Silbe immer sehr lang anzuziehen, während er die zweite Silbe immer schnell abschnappen lasse; zu anderen Zeiten geschähe das Gegentheil, wodurch der Ruf wieder ganz meinem eigenen Namen gleichlaute, und indem die Buben in der unsinnigsten Weise alle Begriffe und mich mit dem Esel und wieder diesen mit mir verwechselten, gab es tolle coq-à l’âne,[43] über die jeder andere lachen, aber ich selbst weinen mußte.

Als ich mich bey meiner Mutter beklagte, meinte sie, ich solle nur suchen, viel zu lernen und gescheut zu werden, und man werde mich dann nie mit einem Esel verwechseln.

Aber meine Homonymität[44] mit dem schäbigen Langohr blieb mein Alp. Die großen Buben gingen vorbei und grüßten: „Haarüh!“ die kleineren riefen mir denselben Gruß zu, aber in einiger Entfernung. In der Schule ward dasselbe Thema mit raffinirter Grausamkeit ausgebeutet; wenn nur irgend von einem Esel die Rede war, schielte man nach mir, der ich immer erröthete, und es ist unglaublich, wie Schulknaben überall Anzüglichkeiten hervorzuheben oder zu erfinden wissen.

Z. B. der Eine frug den Andern: Wie unterscheidet sich das Zebra von dem Esel des Barlaam Sohn Boers?

Die Antwort lautete: der Eine spricht zebräisch und der andre sprach hebräisch.

Dann kam die Frage: Wie unterscheidet sich aber der Esel des Dreckmichels von seinem Namensvetter? und die impertinente Antwort war: den Unterschied wissen wir nicht.

Ich wollte dann zuschlagen, aber man beschwichtigte mich, und mein Freund Dietrich, der außerordentlich schöne Heiligenbildchen zu verfertigen wußte und auch später ein berühmter Maler wurde, suchte mich einst bei einer solchen Gelegenheit zu trösten, indem er mir ein Bild versprach. Er malte für mich einen heiligen Michael – aber der Bösewicht hatte mich schändlich verhöhnt. Der Erzengel hatte die Züge des Dreckmichels, sein Roß sah ganz aus wie dessen Esel, und statt einen Drachen durchstach die Lanze das Aas einer todten Katze.

Sogar der blondlockigte sanfte, mädchenhafte Franz,[45] den ich so sehr liebte, verrieth mich einst: er schloß mich in seine Arme, lehnte seine Wange zärtlich an die meinige, blieb lange sentimental an meiner Brust und – rief mir plötzlich ins Ohr ein lachendes Haarüh! – das schnöde Wort im Davonlaufen beständig modulirend, daß es weithin durch die Kreuzgänge des Klosters wiederhallte.

Noch roher behandelten mich einige Nachbarskinder jener niedrigsten Klasse, welche wir in Düsseldorf „Haluten“ nannten, ein Wort welches Etymologienjäger gewiß von den Heloten der Spartaner ableiten würden.

Ein solcher Halut war der kleine Jupp, welches Joseph heißt, und den ich auch mit seinem Vatersnamen Flader benennen will, damit er bei Leibe nicht mit dem Jupp Rörsch verwechselt werde, welcher ein gar artiges Nachbarskind war und, wie ich zufällig erfahren, jetzt als Postbeamter in Bonn lebt.

Der Jupp Flader trug immer einen langen Fischerstecken, womit er nach mir schlug, wenn er mir begegnete. Er pflegte mir auch gern Roßäpfel an den Kopf zu werfen, die er von der Straße aufraffte. Aber nie unterließ er dann auch das fatale Haarüh! zu rufen und zwar in allen Modulazionen.

Der böse Bub war der Enkel der alten Frau Flader, welche zu den Klientinnen meines Vaters gehörte. So böse der Bub war, so gutmüthig war die arme Großmutter, ein Bild der Armuth und des Elends, aber nicht abstoßend, sondern nur herzzerreißend. Sie war wohl über 80 Jahre alt, eine große Schlottergestalt, ein weißes Ledergesicht mit blassen Kummeraugen, eine weiche, röchelnde, wimmernde Stimme und bettelnd ganz ohne Phrase, was immer furchtbar klingt.

Mein Vater gab ihr immer einen Stuhl, wenn sie kam, ihr Monatsgeld abzuholen an den Tagen, wo er als Armenpfleger seine Sitzungen hielt.

Von diesen Sitzungen meines Vaters als Armenpfleger blieben mir nur diejenigen im Gedächtniß, welche im Winter stattfanden, in der Frühe des Morgens, wenns noch dunkel war. Mein Vater saß dann an einem großen Tische, der mit Geldtüten jeder Größe bedeckt war; statt der silbernen Leuchter mit Wachskerzen, deren sich mein Vater gewöhnlich bediente und womit er, dessen Herz so viel Takt besaß, vor der Armuth nicht prunken wollte, standen jetzt auf dem Tische zwey kupferne Leuchter mit Talglichtern, die mit der rothen Flamme des dicken, schwarzgebrannten Dochtes gar traurig die anwesende Gesellschaft beleuchteten.

[232]

Heinrich Heine.
Nach einem von M. Oppenheim im Jahre 1831 gemalten Portrait.
Original im Besitz von Julius Campe in Hamburg.

Das waren arme Leute jedes Alters, die bis in den Vorsaal Queue machten. Einer nach dem andern kam seine Tüte in Empfang zu nehmen, und mancher erhielt zwey: die große Tüte enthielt das Privatalmosen meines Vaters, die kleinere das Geld der Armenkasse.

Ich saß auf einem hohen Stuhle neben meinem Vater und reichte ihm die Tüten. Mein Vater wollte nemlich, ich sollte lernen, wie man giebt, und in diesem Fache konnte man bey meinem Vater etwas tüchtiges lernen.[46]

Viele Menschen haben das Herz auf dem rechten Fleck, aber sie verstehen nicht zu geben, und es dauert lange, ehe der Wille des Herzens den Weg bis zur Tasche macht; zwischen dem guten Vorsatz und der Vollstreckung vergeht langsam die Zeit wie bey einer Postschnecke. Zwischen dem Herzen meines Vaters und seiner Tasche war gleichsam schon eine Eisenbahn eingerichtet. Daß er durch die Akzionen[47] solcher Eisenbahn nicht reich wurde, versteht sich von selbst. Bei der Nord- oder Lyon-Bahn ist mehr verdient worden.

[250]
VII.

Die meisten Klienten meines Vaters waren Frauen und zwar alte, und auch in späteren Zeiten, selbst damals als seine Umstände sehr unglänzend zu seyn begannen, hatte er eine solche Klientel von bejahrten Weibspersonen, denen er kleine Pensionen verabreichte. Sie standen überall auf der Lauer, wo sein Weg ihn vorüberführen mußte, und er hatte solchermaßen eine geheime Leibwache von alten Weibern, wie einst der selige Robespierre.

Unter dieser altersgrauen Garde war manche Vettel, die durchaus nicht aus Dürftigkeit ihm nachlief, sondern aus wahrem Wohlgefallen an seiner Person, an seiner freundlichen und immer liebreichen Erscheinung.

Er war ja die Artigkeit in Person, nicht bloß den jungen sondern auch den älteren Frauen gegenüber, und die alten Weiber, die so grausam sich zeigen, wenn sie verletzt worden, sind die dankbarste Nazion, wenn man ihnen einige Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit erwiesen, und wer in Schmeicheleyen bezahlt sein will, der findet in ihnen Personen, die nicht knickern, während die jungen schnippischen Dinger uns für alle unsere Zuvorkommenheiten kaum eines Kopfnickens würdigen.

Da nun für schöne Männer, deren Spezialität darin besteht, daß sie schöne Männer sind, die Schmeicheley ein großes Bedürfniß ist und es ihnen dabey gleichgültig ist, ob der Weihrauch aus einem rosigten oder welken Munde kommt, wenn er nur stark und reichlich hervorquillt, so begreift man, wie mein theurer Vater, ohne eben darauf spekulirt zu haben, dennoch in seinem Verkehr mit den alten Damen ein gutes Geschäft machte.

Es ist unbegreiflich, wie groß oft die Dosis Weihrauch war, mit welcher sie ihn eindampften, und wie gut er die stärkste Porzion vertragen konnte. Das war sein glückliches Temperament, durchaus nicht Einfalt. Er wußte sehr wohl, daß man ihm schmeichle, aber er wußte auch, daß Schmeicheley, wie Zucker, immer süß ist, und er war wie das Kind, welches zu der Mutter sagt: schmeichle mir ein bischen, sogar ein bischen zu viel.

Das Verhältniß meines Vaters zu den besagten Frauen hatte aber noch außerdem einen ernsteren Grund. Er war nämlich ihr Rathgeber, und es ist merkwürdig, daß dieser Mann, der sich selber so schlecht zu rathen wußte, dennoch die Lebensklugheit selbst war, wenn es galt, anderen in mißlichen Vorfallenheiten einen guten Rath zu ertheilen. Er durchschaute dann gleich die Position, und wenn die betrübte Klientinn ihm auseinandergesetzt, wie es ihr in ihrem Gewerbe immer schlimmer gehe, so that er am Ende einen Ausspruch, den ich so oft, wenn alles schlecht ging, aus seinem Munde hörte, nemlich: „in diesem Falle muß man ein neues Fäßchen anstechen.“ Er wollte damit anrathen, daß man nicht in einer verlorenen Sache eigensinnig ferner beharren sondern etwas Neues beginnen, eine neue Richtung einschlagen müsse. Man muß dem alten Faß, woraus nur saurer Wein und nur sparsam tröpfelt, lieber gleich den Boden ausschlagen und „ein neues Fäßchen anstechen!“ Aber statt dessen legt man sich faul mit offenem Mund unter das trockene Spundloch und hofft auf süßeres und reichlicheres Rinnen.

Als die alte Hanne meinem Vater klagte, daß ihre Kundschaft abgenommen und sie nichts mehr zu brocken und, was für sie noch empfindlicher, nichts mehr zu schlucken habe, gab er ihr erst einen Thaler und dann sann er nach. Die alte Hanne war früher eine der vornehmsten Hebammen, aber in späteren Jahren ergab sie sich etwas dem Trinken und besonders dem Tabakschnupfen;[WS 12] darum ward die Frau überall abgeschafft.

Nachdem mein Vater nun reiflich nachgedacht, sagte er endlich: Da muß man ein neues Fäßchen anstechen, und diesmal muß es ein Branntweinfäßchen sein; ich rathe Euch, in einer etwas vornehmen, von Matrosen besuchten Straße am Hafen einen kleinen Liquörladen zu eröffnen, ein Schnapslädchen.

Die Ex-Hebamme folgte diesem Rath, sie etablirte sich mit einer Schnapsboutique am Hafen, machte gute Geschäfte und sie hätte gewiß ein Vermögen erworben, wenn nicht unglücklicherweise sie selbst ihr bester Kunde gewesen wäre. Sie verkaufte auch Tabak, und ich sah sie oft vor ihrem Laden stehen mit ihrer roth aufgedunsenen Schnupftabaksnase, eine lebende Reklame, die manchen gefühlvollen Seemann anlockte.

Zu den schönen Eigenschaften meines Vaters gehörte vorzüglich seine große Höflichkeit, die er, als ein wahrhaft vornehmer Mann, ebenso sehr gegen Arme wie gegen Reiche ausübte. Ich bemerkte dieses besonders in den oben erwähnten Sitzungen, wo er, den armen Leuten ihre Geldtüte verabreichend, ihnen immer einige höfliche Worte sagte.

Ich konnte da etwas lernen, und in der That mancher berühmte Wohlthäter, der den armen Leuten immer die Tüte an den Kopf warf, daß man mit jedem Thaler auch ein Loch in den Kopf bekam, hätte hier bei meinem höflichen Vater etwas lernen können. Er befragte die meisten armen Weiber nach ihrem Befinden und er war so gewohnt an die Redeformel: „ich habe die Ehre“, daß er sie auch anwandte, wenn er mancher Vettel, die etwa unzufrieden und patzig, die Thüre zeigte.

Gegen die alte Flader war er am höflichsten und er bot ihr immer einen Stuhl. Sie war auch wirklich so schlecht auf den Beinen und konnte mit ihrer Handkrücke kaum forthumpeln.

Als sie zum letzten mahl zu meinem Vater kam, um ihr Monathsgeld abzuholen, war sie so zusammenfallend, daß ihr Enkel, der Jupp, sie führen mußte. Dieser warf mir einen sonderbaren Blick zu, als er mich an dem Tische neben meinem Vater sitzen sah. Die Alte erhielt außer der kleinen Tüte auch noch eine ganz große Privattüte von meinem Vater und sie ergoß sich in einen Strom von Segenswünschen und Thränen.

Es ist fürchterlich, wenn eine alte Großmutter so stark weint. Ich hätte selbst weinen können, und die alte Frau mochte es mir wohl anmerken. Sie konnte nicht genug rühmen, welch ein hübsches Kind ich sey, und sie sagte, sie wolle die Muttergottes bitten, dafür zu sorgen, daß ich niemals im Leben Hunger leiden und bey den Leuten betteln müsse.[48]

Mein Vater ward über diese Worte etwas verdrießlich, aber die Alte meinte es so ehrlich; es lag in ihrem Blick etwas so geisterhaftes aber zugleich frömmiges und liebreiches, und sie sagte zuletzt zu ihrem Enkel: geh, Jupp, und küsse dem lieben Kinde die Hand. Der Jupp schnitt eine säuerliche Grimasse, aber er gehorchte dem Befehl der Großmutter: ich fühlte auf meiner Hand seine brennenden Lippen, wie den Stich einer Viper. Schwerlich [251] konnte ich sagen, warum, aber ich zog aus der Tasche alle meine Fettmännchen und gab sie dem Jupp, der mit einem roh blöden Gesicht sie Stück vor Stück zählte und endlich ganz gelassen in die Tasche seiner Bux steckte.

Zur Belehrung des Lesers bemerke ich, daß „Fettmännchen“ der Name einer fettigdicken Kupfermünze ist, die ungefähr einen Sou werth ist.

Die alte Flader ist bald darauf gestorben, aber der Jupp ist gewiß noch am Leben, wenn er nicht seitdem gehenkt worden ist. – Der böse Bube blieb unverändert. Schon den andern Tag nach dem erwähnten Begegniß bey meinem Vater traf ich ihn auf der Straße. Er ging mit seiner wohlbekannten langen Fischerruthe. Er schlug mich wieder mit diesem Stecken, warf auch wieder nach mir mit einigen Roßäpfeln und schrie wieder das fatale Haarüh! und zwar so laut und die Stimme des Dreckmichels so treu nachahmend, daß der Esel desselben der sich mit dem Karren zufällig in einer Nebengasse befand, den Ruf seines Herren zu vernehmen glaubte und ein fröhlich wieherndes I-A erschallen ließ.

Wie gesagt, die Großmutter des Jupp ist bald darauf gestorben und zwar in dem Ruf einer Hexe, was sie gewiß nicht war, obgleich unsere Zippel steif und fest das Gegentheil behauptete.

Zippel war der Name einer noch nicht sehr alten Person, welche eigentlich Sibille hieß, meine erste Wärterin war und auch später im Hause blieb. Sie befand sich zufällig im Zimmer am Morgen der erwähnten Scene, wo die alte Flader mir so viele Lobsprüche ertheilte und die Schönheit des Kindes bewunderte. Als die Zippel diese Worte hörte, erwachte in ihr der alte Volkswahn, daß es den Kindern schädlich sei, wenn sie solchermaßen gelobt werden, daß sie dadurch erkranken oder von einem Uebel befallen werden, und um das Uebel abzuwenden, womit sie mich bedroht glaubte, nahm sie Zuflucht zu dem vom Volksglauben als probat empfohlenen Mittel, welches darin besteht, daß man das gelobte Kind dreymal anspucken muß. Sie kam auch gleich auf mich zugesprungen und spuckte mir hastig dreymal auf den Kopf.

Doch dieses war erst ein provisorisches Bespeien, denn die Wissenden behaupten, wenn die bedenkliche Lobspende von einer Hexe gemacht worden, so könne der böse Zauber nur durch eine Person gebrochen werden, die ebenfalls eine Hexe, und so entschloß sich die Zippel noch denselben Tag zu einer Frau zu gehen, die ihr als Hexe bekannt war und ihr auch, wie ich später erfahren, manche Dienste durch ihr Geheimniß und verbotene Kunst geleistet hatte. Diese Hexe bestrich mir mit ihrem Daumen, den sie mit Speichel angefeuchtet, den Scheitel des Hauptes, wo sie einige Haare abgeschnitten; auch andre Stellen bestrich sie solchermaßen, während sie allerley Abrakadabra-Unsinn dabey murmelte, und so ward ich vielleicht schon frühe zum Teufelspriester ordinirt.

Jedenfalls hat diese Frau, deren Bekanntschaft mir seitdem verblieb, mich späterhin, als ich schon erwachsen, in die geheime Kunst inizirt.[49]

Ich bin zwar selbst kein Hexenmeister geworden, aber ich weiß wie gehext wird,[50] und besonders weiß ich, was keine Hexerey ist.

Jene Frau nannte man die Meisterin, oder auch die Göchinn, weil sie aus Goch gebürtig war, wo auch ihr verstorbener Gatte, der das verrufene Gewerbe eines Scharfrichters trieb, sein Domizil hatte und von nah und fern zu Amtsverrichtungen gerufen wurde. Man wußte, daß er seiner Wittwe mancherley Arkana hinterlassen und diese verstand es, diesen Ruf auszubeuten.

Ihre besten Kunden waren Bierwirthe, denen sie die Todtenfinger verkaufte, die sie noch aus der Verlassenschaft ihres Mannes zu besitzen vorgab. Das sind Finger eines gehenkten Diebes und sie dienen dazu, das Bier im Fasse wohlschmeckend zu machen und zu vermehren. Wenn man nemlich den Finger eines Gehenkten, zumal eines unschuldig Gehenkten, an einem Bindfaden befestigt im Fasse hinabhängen läßt, so wird das Bier dadurch nicht bloß wohlschmeckender, sondern man kann aus besagtem Fasse doppelt, ja vierfach so viel zapfen, wie aus einem gewöhnlichen Fasse von gleicher Größe. Aufgeklärte Bierwirthe pflegen ein razionaleres Mittel anzuwenden, um das Bier zu vermehren, aber es verliert dadurch an Stärke.

Auch von jungen Leuten zärtlichen Herzens hatte die Meisterin viel Zuspruch und sie versah sie mit Liebestränken, denen sie in ihrer charlatanischen Latinitätswuth, wo sie das Latein noch lateinischer klingen lassen wollte, den Namen eines Philtrariums ertheilte; den Mann, der den Trank seiner Schönen eingab, nannte sie den Philtrarius, und die Dame hieß die Philtrariata.

Es geschah zuweilen, daß das Philtrarium seine Wirkung verfehlte oder gar eine entgegengesetzte hervorbrachte. So hatte z. B. ein ungeliebter Bursche, der seine spröde Schöne beschwatzt hatte, mit ihm eine Flasche Wein zu trinken, ein Philtrarium in ihr Glas gegossen und er bemerkte auch in dem Benehmen seiner Philtrariata, sobald sie getrunken hatte, eine seltsame Veränderung …

(Es folgt im Manuskript eine derbkomische Stelle, die sich der Wiedergabe hier entzieht.)[WS 13]

Die Meisterinn rettete dann den Ruf ihrer Kunst, indem sie behauptete, den unglücklichen Philtrarius mißverstanden und geglaubt zu haben, er wolle von seiner Liebe geheilt seyn.

Besser als ihre Liebestränke waren die Rathschläge, womit die Meisterinn ihre Philtrarien begleitete; sie rieth nemlich, immer etwas Gold in der Tasche zu tragen, indem Gold sehr gesund und besonders dem Liebenden Glück bringe. Wer erinnert sich nicht hier an des ehrlichen Jagos Worte im „Othello“, wenn er dem verliebten Rodrigo sagt: Take monney in your pocket![51]

Mit dieser großen Meisterin stand nun unsere Zippel in intimer Bekanntschaft, und wenn es jetzt eben nicht mehr Liebestränke waren, die sie hier kaufte, so nahm sie doch die Kunst der Göchinn manchmal in Anspruch, wenn es galt, an einer beglückten Nebenbuhlerin, die ihren eigenen ehemaligen Schatz heurathete, sich zu rächen.[WS 14]

Ich unterhielt die Bekanntschaft mit der Göcherinn, und ich mochte wohl schon in einem Alter von sechzehn Jahren sein, als ich öfter als früher nach ihrer Wohnung ging, hingezogen von einer Hexerey, die stärker war als alle ihre lateinisch bombastischen Philtraria. Sie hatte nemlich eine Nichte, welche ebenfalls kaum 16 Jahr alt war, aber plötzlich aufgeschossen zu einer hohen schlanken Gestalt, viel älter zu sein schien. Das plötzliche Wachsthum war auch Schuld, daß sie äußerst mager war. Sie hatte jene enge Taille, welche wir bei den Quarteronen in Westindien bemerken, und da sie kein Corset und kein Dutzend Unterröcke trug, so glich ihre enganliegende Kleidung dem nassen Gewand einer Statue. Keine marmorne Statue konnte freylich mit ihr an Schönheit wetteifern, da sie das Leben selbst und jede Bewegung die Rhythmen [252] ihres Leibes, ich möchte sagen sogar die Musik ihrer Seele offenbarte. Keine von den Töchtern der Niobe hatte ein edler geschnittenes Gesicht; die Farbe desselben wie ihre Haut überhaupt, war von einer etwas wechselnden Weiße. Ihre großen tiefdunklen Augen sahen aus, als hätten sie ein Räthsel aufgegeben und warteten ruhig auf die Lösung, während der Mund mit den schmalen hochaufgeschürzten Lippen und den kreideweißen, etwas länglichen Zähnen zu sagen schien: du bist zu dumm und wirst vergebens rathen.

Ihr Haar war roth, ganz blutroth und hing in langen Locken bis über ihre Schultern hinab, so daß sie dasselbe unter dem Kinn zusammenbinden konnte. Das gab ihr aber das Aussehen als habe man ihr den Hals abgeschnitten und in rothen Strömen quölle daraus hervor das Blut.

Die Stimme der Josepha, oder des rothen „Sefchen“, wie man die schöne Nichte der Göcherinn nannte, war nicht besonders wohllautend und ihr Sprechorgan war manchmal bis zur Klanglosigkeit verschleyert; doch plötzlich, wenn die Leidenschaft eintrat, brach der metallreichste Ton hervor, der mich ganz besonders durch den Umstand ergriff, daß die Stimme der Josepha mit der meinigen eine so große Aehnlichkeit hatte.

Wenn sie sprach, erschrak ich zuweilen und glaubte, mich selbst sprechen zu hören, und auch ihr Gesang erinnerte mich an Träume, wo ich mich selber in derselben Art und Weise singen hörte.

Sie wußte viele alte Volkslieder und hat vielleicht bei mir den Sinn für diese Gattung geweckt, wie sie gewiß den größten Einfluß auf den erwachenden Poeten übte, so daß meine ersten Gedichte der „Traumbilder“, die ich bald darauf schrieb, ein düstres und grausames Kolorit haben[52] wie das Verhältniß, das damals seine blutrünstigen Schatten in mein junges Leben und Denken warf.

Unter den Liedern, die Josepha sang, war ein Volkslied, das sie von der Zippel gelernt, und welches diese auch mir in meiner Kindheit oft vorgesungen, so daß ich zwey Strophen im Gedächtniß behielt, die ich um so lieber hier mittheilen will, da ich das Gedicht in keiner der vorhandenen Volksliedersammlungen fand. Sie lauten folgendermaßen – zuerst spricht der böse Tragig[53]:

„Otilje lieb, Otilje mein,
Du wirst wohl nicht die letzte seyn –
Sprich, willst du hängen am hohen Baum?
Oder willst du schwimmen im blauen See?
Oder willst du küssen das blanke Schwert,
Was der liebe Gott bescheert?“

Hierauf antwortet Otilje:

„Ich will nicht hängen am hohen Baum,
Ich will nicht schwimmen im blauen See,
Ich will küssen das blanke Schwert,
Was der liebe Gott bescheert!“

Als das rothe Sefchen einst das Lied singend an das Ende dieser Strophe kam und ich ihr die innere Bewegung abmerkte, ward auch ich so erschüttert, daß ich in ein plötzliches Weinen ausbrach und wir fielen uns beide schluchzend in die Arme, sprachen kein Wort, wohl eine Stunde lang, während uns die Thränen aus den Augen rannen und wir uns wie durch einen Thränenschleier ansahen.

Ich bat Sefchen, mir jene Strophen aufzuschreiben, und sie that es, aber sie schrieb sie nicht mit Tinte, sondern mit ihrem Blute; das rothe Autograph kam mir später abhanden, doch die Strophen blieben mir unauslöschlich im Gedächtniß.

[267]
VIII.

Der Mann der Göchinn war der Bruder von Sefchens Vater, welcher ebenfalls Scharfrichter war, doch da derselbe früh starb, nahm die Göchinn das kleine Kind zu sich. Aber als bald darauf ihr Mann starb und sie sich in Düsseldorf ansiedelte, übergab sie das Kind dem Großvater, welcher ebenfalls Scharfrichter war und im Westphälischen wohnte.

Hier, in dem „Freyhaus“, wie man die Scharfrichterey zu nennen pflegt, verharrte Sefchen bis zu ihrem vierzehnten Jahre, wo der Großvater starb und die Göchinn die ganz Verwaiste wieder zu sich nahm.

Durch die Unehrlichkeit ihrer Geburt führte Sefchen von ihrer Kindheit bis ins Jungfrauenalter ein vereinsamtes Leben und gar auf dem Freyhof ihres Großvaters war sie von allem gesellschaftlichen Umgang abgeschieden. Daher ihre Menschenscheu, ihr sensitives Zusammenzucken vor jeder fremden Berührung, ihr geheimnißvolles Hinträumen, verbunden mit dem störrigsten Trutz, mit der patzigsten Halsstarrigkeit und Wildheit.

Sonderbar! sogar in ihren Träumen, wie sie mir einst gestand, lebte sie nicht mit Menschen, sondern sie träumte immer nur von Thieren.

In der Einsamkeit der Scharfrichterey konnte sie sich nur mit den alten Büchern des Großvaters beschäftigen, welcher letztere ihr zwar Lesen und Schreiben selbst lehrte, aber doch äußerst wortkarg war.

Manchmal war er mit seinen Knechten auf mehrere Tage abwesend und das Kind blieb dann allein im Freyhaus, welches nahe am Hochgericht in einer waldigen Gegend sehr einsam gelegen war. Zu Hause blieben nur drey alte Weiber mit greisen Wackelköpfen, die beständig ihre Spinnräder schnurren ließen, hüstelten, sich zankten und viel Brantewein tranken.

Besonders in Winternächten, wo der Wind draußen die alten Eichen schüttelte und der große flackernde Kamin so sonderbar heulte, ward es dem armen Sefchen sehr unheimlich im einsamen Hause; denn alsdann fürchtete man auch den Besuch der Diebe, nicht der lebenden, sondern der todten, der gehenkten, die vom Galgen sich losgerissen und an die niederen Fensterscheiben des Hauses klopften und Einlaß verlangten um sich ein bischen zu wärmen. Sie schneiden so jämmerlich verfrorene Grimassen. Man kann sie nur dadurch verscheuchen, daß man aus der Eisenkammer ein Richtschwert holt und ihnen damit droht; alsdann huschen sie wie ein Wirbelwind von dannen.

Manchmal lockt sie nicht bloß das Feuer des Heerdes, sondern auch die Absicht, die ihnen vom Scharfrichter gestohlenen Finger wieder zu stehlen. Hat man die Thüre nicht hinlänglich verriegelt, so treibt sie auch noch im Tode das alte Diebesgelüste und sie stehlen die Laken aus den Schränken und Betten. Eine von den alten Frauen, die einst einen solchen Diebstahl noch zeitig bemerkte, lief dem todten Diebe nach, der im Winde das Laken flattern ließ, und einen Zipfel erfassend, entriß sie ihm den Raub, als er den Galgen erreicht hatte und sich auf das Gebälke desselben flüchten wollte.

Nur an Tagen, wo der Großvater sich zu einer große Hinrichtung anschickte, kamen aus der Nachbarschaft die Collegen zum Besuche, und dann wurde gesotten, gebraten, geschmaust, getrunken, wenig gesprochen und gar nicht gesungen. Man trank aus silbernen Bechern, statt daß dem unehrlichen Freymeister oder gar seinen Freyknechten in den Wirthshäusern, wo sie einkehrten, nur eine Kanne mit hölzernem Deckel gereicht wurde, während man allen anderen Gästen aus Kannen mit zinnernen Deckeln zu trinken gab. An manchen Orten wird das Glas zerbrochen woraus der Scharfrichter getrunken; niemand spricht mit ihm, jeder vermeidet die geringste Berührung. Diese Schmach ruht auf seiner ganzen Sippschaft, weshalb auch die Scharfrichterfamilien nur unter einander heurathen.

Als Sefchen, wie sie mir erzählte, schon acht Jahr alt war, kamen an einem schönen Herbsttage eine ungewöhnliche Anzahl von Gästen aufs Gehöft des Großvaters, obgleich eben keine Hinrichtung oder sonstige peinliche Amtspflicht zu vollstrecken stand. Es waren ihrer wohl über ein Dutzend, fast alle sehr alte Männlein, mit eisgrauen oder kahlen Köpfchen, die unter ihren langen rothen Mänteln ihr Richtschwert und ihre sonntäglichsten, aber ganz altfränkischen Kleider trugen. Sie kamen, wie sie sagten, um zu „tagen“, und was Küche und Keller am Kostbarsten besaß, ward ihnen beim Mittagsmahl aufgetischt.

Es waren die ältesten Scharfrichter aus den entferntesten Gegenden, hatten einander lange nicht gesehen, schüttelten sich [268] unaufhörlich die Hände, sprachen wenig, und oft in einer geheimnißvollen Zeichensprache und amüsirten sich in ihrer Weise, das heißt „moult tristement[54], wie Froissart von den Engländern sagte, die nach der Schlacht bei Poitiers banquettirten.

Als die Nacht hereinbrach, schickte der Hausherr seine Knechte aus dem Hause, befahl der alten Schaffnerinn, aus dem Keller drey Dutzend Flaschen seines besten Rheinweins zu holen und auf den Steintisch zu stellen, der draußen vor den großen, einen Halbkreis bildenden Eichen stand; auch die Eisenleuchter für die Kienlichter befahl er dort aufzustellen und endlich schickte er die Alte nebst den zwei anderen Vetteln mit einem Vorwande aus dem Hause. Sogar an des Hofhundes kleinem Stall, wo die Planken eine Öffnung ließen, verstopfte er dieselben mit einer Pferdedecke; der Hund ward sorgsam angekettet.

Das rothe Sefchen ließ der Großvater im Hause, er gab ihr den Auftrag, den großen silbernen Pokal, worauf die Meergötter mit ihren Delphinen und Muscheltrompeten abgebildet, rein auszuschwenken und auf den erwähnten Steintisch zu stellen – dann aber, setzte er mit Befangenheit hinzu, solle sie sich unverzüglich in ihrem Schlafkämmerlein zu Bette begeben. Den Neptunspokal hat das rothe Sefchen ganz gehorsamlich ausgeschwenkt und auf den Steintisch zu den Weinflaschen gestellt, aber zu Bette ging sie nicht, und von Neugier getrieben verbarg sie sich hinter einem Gebüsche nahe bei den Eichen, wo sie zwar wenig hören, jedoch alles genau sehen konnte, was vorging.

Heinrich Heine.
Nach einem von Ludwig Gassen im Jahre 1828 gemalten Portrait.
Original im Besitz von Dr. Eduard Engel in Berlin.[WS 15]

Die fremden Männer mit dem Großvater an ihrer Spitze kamen feierlich paarweis herangeschritten und setzten sich auf hohen Holzblöcken im Halbkreis um den Steintisch, wo die Harzlichter angezündet worden und ihre ernsthaften, steinharten Gesichter gar grauenhaft beleuchteten.

Sie saßen lange schweigend, oder vielmehr in sich hineinmurmelnd, vielleicht betend. Dann goß der Großvater den Pokal voll Wein, den jeder nun austrank und mit wieder neu eingeschenktem Wein seinem Nachbar zustellte; nach jedem Trunk schüttelte man sich auch biderbe die Hände.

Endlich hielt der Großvater eine Anrede, wovon das Sefchen wenig hören konnte und gar nichts verstand, die aber sehr traurige Gegenstände zu behandeln schien, da große Thränen aus des alten Mannes Augen herabtropften und auch die anderen alten Männer bitterlich zu weinen anfingen, was ein entsetzlicher Anblick war, da diese Leute sonst so hart und verwittert aussahen wie die grauen Steinfiguren vor einem Kirchenportal – und jetzt schossen Thränen aus den stieren Steinaugen, und sie schluchzten wie die Kinder.

Der Mond sah dabey so melancholisch aus seinen Nebelschleiern am sternlosen Himmel, daß der kleinen Lauscherinn das Herz brechen wollte vor Mitleid. Besonders rührte sie der Kummer eines kleinen alten Mannes, der heftiger als die andern weinte und so laut jammerte, daß sie ganz gut einige seiner Worte vernahm – er rief unaufhörlich: „O Gott! o Gott! das Unglück dauert schon so lange, das kann eine menschliche Seele nicht länger tragen. O Gott, Du bist ungerecht, ja ungerecht.“ – Seine Genossen schienen ihn nur mit großer Mühe beschwichtigen zu können.

Endlich erhob sich wieder die Versammlung von ihren Sitzen, sie warfen ihre rothen Mäntel ab, und jeder sein Richtschwert [269] unterm Arm haltend, je zwey und zwey, begaben sie sich hinter einen Baum, wo schon ein eiserner Spaten bereit stand, und mit diesem Spaten schaufelte einer von ihnen in wenigen Augenblicken eine tiefe Grube. Jetzt trat Sefchens Großvater heran, welcher seinen rothen Mantel nicht wie die andren abgelegt hatte, und langte darunter ein weißes Paquet hervor, welches sehr schmal aber über eine brabanter Elle lang sein mochte und mit einem Bettlaken umwickelt war; er legte dasselbe sorgsam in die offne Grube, die er mit großer Hast wieder mit Erde zudeckte. Das arme Sefchen konnte es in seinem Versteck nicht länger aushalten, bei dem Anblick jenes geheimnißvollen Begräbnisses sträubten sich ihre Haare, das arme Kind trieb die Seelenangst von dannen, sie eilte in ihr Schlafkämmerlein, barg sich unter die Decke und schlief ein.[55]

[285]
IX.

Am anderen Morgen erschien dem Sefchen alles wie ein Traum, aber da sie hinter dem bekannten Baum den aufgefrischten Boden sah, merkte sie wohl, daß alles Wirklichkeit war. Sie grübelte lange darüber nach, was dort wohl vergraben seyn mochte, ein Kind? ein Thier? ein Schatz? – sie sagte aber niemandem ein Sterbenswort von dem nächtlichen Begebniß, und da die Jahre vergingen, trat dasselbe in den Hintergrund ihres Gedächtnisses.

Erst fünf Jahre später, als der Großvater gestorben und die Göcherinn ankam, um das Mädchen nach Düsseldorf abzuholen, wagte dasselbe der Muhme ihr Herz zu öffnen. Diese aber war über die seltsame Geschichte weder erschrocken noch verwundert, sondern höchlich erfreut und sie sagte, daß weder ein Kind noch eine Katze noch ein Schatz in der Grube verborgen läge, wohl aber das alte Richtschwert des Großvaters, womit derselbe hundert armen Sündern den Kopf abgeschlagen habe. Nun sei es aber Brauch und Sitte der Scharfrichter, daß sie ein Schwert, womit hundertmal das hochnothpeinliche Amt verrichtet worden, nicht länger behalten oder gar benutzen; denn ein solches Richtschwert sei nicht wie andere Schwerter, es habe mit der Zeit ein heimliches Bewußtsein bekommen und bedürfe am Ende der Ruhe im Grabe wie ein Mensch.

Auch werden solche Schwerter, meinen Viele, durch das viele Blutvergießen zuletzt grausam und sie lechzen manchmal nach Blut, und oft um Mitternacht könne man deutlich hören, wie sie im Schranke, wo sie aufgehenkt sind, leidenschaftlich rasseln und rumoren[56]; ja, einige werden so tückisch und boshaft ganz wie Unsereins und bethören den Unglücklichen, der sie in Händen hat so sehr, daß er die besten Freunde damit verwundet. So habe mahl in der Göcherinn eignen Familie ein Bruder den andern mit einem solchen Schwerte erstochen.

Nichtsdestoweniger gestand die Göcherinn, daß man mit einem solchen Hundertmordschwert die kostbarsten Zauberstücke verrichten könne, und noch in derselben Nacht hatte sie nichts eiligeres zu thun, als an dem bezeichneten Baum das verscharrte Richtschwert auszugraben, und sie verwahrte es seitdem unter anderem Zaubergeräthe in ihrer Rumpelkammer.

Als sie einst nicht zu Hause war, bat ich Sefchen, mir jene Kuriosität zu zeigen. Sie ließ sich nicht lange bitten, ging in die besagte Kammer und trat gleich darauf hervor mit einem ungeheuren Schwerte, das sie trotz ihrer schmächtigen Arme sehr kräftig schwang, während sie schalkhaft drohend die Worte sang:

„Willst du küssen das blanke Schwert,
Das der liebe Gott bescheert?“

Ich antwortete darauf in derselben Tonart: „Ich will nicht küssen das blanke Schwert – ich will das rothe Sefchen küssen!“ und da sie sich aus Furcht, mich mit dem fatalen Stahl zu verletzen, nicht zur Gegenwehr setzen konnte, mußte sie es geschehen lassen, daß ich mit großer Herzhaftigkeit die feinen Hüften umschlang [286] und die trutzigen Lippen küßte. Ja, trotz dem Richtschwert, womit schon hundert arme Schelme geköpft worden, und trotz der Infamia, womit jede Berührung des unehrlichen Geschlechtes Jeden behaftet, küßte ich die schöne Scharfrichterstochter.

Ich küßte sie nicht bloß aus zärtlicher Neigung, sondern auch aus Hohn gegen die alte Gesellschaft und alle ihre dunklen Vorurtheile, und in diesem Augenblicke loderten in mir auf die ersten Flammen jener zwey Passionen, welchen mein späteres Leben gewidmet blieb: die Liebe für schöne Frauen und die Liebe für die französische Revoluzion, den modernen furor francese[57], wovon auch ich ergriffen ward im Kampf mit den Landsknechten des Mittelalters.

Ich will meine Liebe für Josepha nicht näher beschreiben. So viel aber will ich gestehen, daß sie doch nur ein Präludium war, welches den großen Tragödien meiner reiferen Periode voranging. So schwärmt Romeo erst für Rosalinde, ehe er seine Julia sieht.

In der Liebe giebt es ein provisorisches Fegfeuer, in welchem man sich erst an das Gebratenwerden gewöhnen soll, ehe man in die wirkliche ewige Hölle geräth.

Hölle? Darf man der Liebe mit solcher Unart erwähnen? Nun, wenn ihr wollt, will ich sie auch mit dem Himmel vergleichen. Leider ist in der Liebe nie genau zu ermitteln, wo sie anfängt, mit der Hölle oder mit dem Himmel die größte Aehnlichkeit zu bieten, so wie man auch nicht weiß, ob nicht die Engel, die uns darin begegnen, etwa verkappte Teufel sind, oder ob die Teufel dort nicht manchmal verkappte Engel seyn mögen.

Aufrichtig gesagt: welche schreckliche Krankheit ist die Frauenliebe! Da hilft keine Inokulazion, wie wir gesehen.[58] Sehr gescheute und erfahrene Aerzte rathen zu Ortsveränderung und meinen, mit der Entfernung von der Zauberin zerreiße auch der Zauber. Das Prinzip der Homöopathie, wo das Weib uns heilet von dem Weibe, ist vielleicht das probateste.

So viel wirst du gemerkt haben, theurer Leser, daß die Inokulation der Liebe welche meine Mutter in meiner Kindheit versuchte, keinen günstigen Erfolg hatte. Es stand geschrieben, daß ich von dem großen Uebel, den Pocken des Herzens, stärker als andre Sterbliche heimgesucht werden sollte, und mein Herz trägt die schlechtvernarbten Spuren in so reichlicher Fülle, daß es aussieht wie die Gipsmaske des Mirabeau[59] oder wie die Façade des Palais Mazarin nach den glorreichen Juliustagen oder gar wie die Reputazion der größten tragischen Künstlerinn.[60]

Giebt es aber gar kein Heilmittel gegen das fatale Gebreste? Jüngst meinte ein Psychologe, man könne dasselbe bewältigen, wenn man gleich im Beginn des Ausbruchs einige geeignete Mittel anwende. Diese Vorschrift mahnt jedoch an das alte naive Gebetbuch, welches Gebete für alle Unglücksfälle, womit der Mensch bedroht ist, und unter anderen ein mehrere Seiten langes Gebet enthält, das der Schieferdecker abbeten solle, sobald er sich vom Schwindel ergriffen fühle und in Gefahr sey, vom Dache herabzufallen.

Eben so thörigt ist es, wenn man einem Liebeskranken anräth, den Anblick seiner Schönen zu fliehen und sich in der Einsamkeit an der Brust der Natur Genesung zu suchen. Ach, an dieser grünen Brust wird er nur Langeweile finden![WS 16]

Das wirksamste Gegengift gegen die Weiber sind die Weiber; freylich hieße das, den Satan durch Belzebub bannen, und dann ist in solchem Falle die Medizin oft noch verderblicher als die Krankheit. Aber es ist immer eine Chance, und in trostlosen Liebeszuständen ist der Wechsel der Inamorata gewiß das Rathsamste, und mein Vater dürfte auch hier mit Recht sagen: jetzt muß man ein neues Fäßchen anstechen.[61]

Ja, laßt uns zu meinem lieben Vater zurückkehren, dem irgend eine mildthätige alte Weiberseele meinen öfteren Besuch bei der Göcherinn und meine Neigung für das rothe Sefchen denunzirt hatte. Diese Denunziazionen hatten jedoch keine andere Folge, als meinem Vater Gelegenheit zu geben, seine liebenswürdige Höflichkeit zu bekunden. Denn Sefchen sagte mir bald, ein sehr vornehmer und gepuderter Mann in Begleitung eines Andern sey ihr auf der Promenade begegnet, und als ihm sein Begleiter einige Worte zugeflüstert, habe er sie freundlich angesehen und im Vorbeigehen grüßend seinen Hut vor ihr abgezogen.

Nach der näheren Beschreibung erkannte ich in dem grüßenden Manne meinen lieben gütigen Vater.

Nicht dieselbe Nachsicht zeigte er, als man ihm einige irreligiöse Spöttereyen, die mir entschlüpft, hinterbrachte. Man hatte mich der Gottesleugnung angeklagt und mein Vater hielt mir deswegen ein Standrede, die längste, die er wohl je gehalten, und die folgendermaßen lautete: „Lieber Sohn! Deine Mutter läßt dich beim Rektor Schallmeyer Philosophie studiren. Das ist ihre Sache. Ich, meines Theils, liebe nicht die Philosophie, denn sie ist lauter Aberglauben, und ich bin Kaufmann und habe meinen Kopf nöthig für mein Geschäft. Du kannst Philosoph seyn, soviel du willst, aber ich bitte dich, sage nicht öffentlich, was du denkst, denn du würdest mir im Geschäft schaden, wenn meine Kunden erführen, daß ich einen Sohn habe, der nicht an Gott glaubt; besonders die Juden würden keine Velveteens mehr bei mir kaufen, und sind ehrliche Leute, zahlen prompt und haben auch Recht, an der Religion zu halten. Ich bin dein Vater und also älter als du und dadurch auch erfahrener; du darfst mir also aufs Wort glauben, wenn ich mir erlaube, dir zu sagen, daß der Atheismus eine große Sünde ist.“


*      *      *


Nachwort.

Mit dieser Nummer der „Gartenlaube“ hat die Veröffentlichung von Heinrich Heine’s Memoiren ihren Abschluß gefunden. „Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit“ hatte ich das vielumstrittene Manuscript in der Titelüberschrift genannt, um jedem Einwande gegen Umfang und Inhalt desselben zu begegnen. [287] Das hat leider nicht verhindert, daß Diejenigen, welche ihre Hoffnungen auf pikante Enthüllungen unerfüllt sahen, an den „Memoiren“ allerlei auszusetzen fanden. Ich habe natürlich hier nicht Heine als Schriftsteller in Schutz zu nehmen gegen etwaige Unbefriedigung und Enttäuschung; schon in Nummer 6 der „Gartenlaube“ hatte ich vor jeder zu hochgespannten Erwartung gewarnt.

Heute nun bin ich in der angenehmen Lage, den Lesern der soeben abgeschlossenen Veröffentlichung mit voller Bestimmtheit zu versichern: daß die Blätter, welche sie in den letzten drei Monaten gelesen, alles enthalten haben, was jemals von Heine’s Memoiren zum Vorschein kommen wird.[62]

Niemand besitzt auch nur ein einziges Blatt Heine’scher Memoiren, welches nicht in den letzten Monaten in meinen Händen gewesen, und in dem Augenblick, wo ich als Herausgeber von Heine’s Memoiren mich verabschiede, darf ich die actenmäßig festgestellte Thatsache hier verkünden, die für mich früher noch nicht über allem Zweifel erhaben war:

Herr Gustav Heine in Wien hat zu keiner Zeit ein Blatt der Memoiren Heinrich Heine’s besessen und besitzt auch zur heutigen Stunde kein Blatt derselben!

Die Memoiren, welche die „Gartenlaube“ zum ersten Male abgedruckt hat, sind somit nicht nur die „echten“ Memoiren, – was beiläufig niemals bestritten worden – sondern sie sind auch die einzigen Memoiren, welche existiren, nachdem der Dichter in selbstquälerischem Unmuth alle früheren Memoiren mit eigener Hand vor der Abfassung dieser letzten Memoiren verbrannt hat.

In der „Einleitung“ zu den Memoiren (Nr. 6 der „Gartenlaube“) hatte ich noch die Möglichkeit zugelassen, daß Herr Gustav Heine irgendwelches Memoirenmanuscript seines Bruders besitze. Ich hatte damals nur an die Rechtmäßigkeit dieses möglichen Besitzes einen Zweifel geknüpft. Seitdem sind mir von wohlunterrichteten Seiten neue Thatsachen mitgetheilt worden, welche die Möglichkeit, daß Herr Gustav Heine auch nur ein Blatt der ursprünglichen Memoiren besitze, ein für alle Mal beseitigt haben.

Bisher hatten alle Diejenigen, welche an einen Memoiren-Besitz Gustav Heine’s geglaubt, sich lediglich auf eine Stelle in Strodtmann’s Heine-Biographie gestützt, wo, ohne Anführung von Beweismaterial, von einer Verpfändung der Memoiren an Gustav Heine und von einem Geständniß dieser Verpfändung seitens des Dichters an seinen Verleger Julius Campe gesprochen wird. Wenn ich irgendein ganz bescheidenes Verdienst um die Entwirrung der Memoiren-Frage in Anspruch nehmen darf, so ist es dieses: ich habe zuerst die Quelle des Gerüchtes von einer Verpfändung und einer Mittheilung Heine’s darüber an Campe an der richtigen Stelle untersucht: ich habe den Sohn des alten Verlegers Campe einfach gefragt, ob jemals sein Vater von einer solchen Mittheilung Heine’s über eine Verpfändung der Memoiren gesprochen? Da erhielt ich die überraschende Antwort, daß der einzige Zeuge, auf den das Gerücht von einer erfolgten Verpfändung zurückgeführt worden, von einer solchen Verpfändung nie ein Wort von Heine gehört, auch selbst nie an eine solche geglaubt, ja daß er, Julius Campe der Aeltere, nie an das Vorhandensein der ursprünglichen Memoiren nach Heine’s Tode geglaubt!

Damit fällt die Erzählung von einer eingestandenen Verpfändung der Memoiren an Gustav Heine in sich zusammen. Herr Gustav Heine selbst hat auch niemals von einer Verpfändung gesprochen, sondern hat nur, ohne jede nähere Angabe, den Besitz der Memoiren Heinrich Heine’s behauptet.

Die Stellen der Briefe, in welchen Heine in der härtesten Weise von seinem Bruder Gustav spricht, würden mehrere Spalten dieses Blattes füllen; ich führe sie nicht an, weil das üble Verhältniß zwischen diesen beiden Brüdern zu bekannt ist, um etwa an eine Schenkung der Memoiren aus brüderlicher Liebe zu glauben. – Aber Heine hatte nichts zu schenken, denn die Memoiren, an denen er seit seinen zwanziger Jahren gearbeitet, waren in der Zeit von 1850 bis 1854 vollständig von ihm vernichtet worden, bis auf etwa zehn Blätter, die ich in dem Manuscript der Memoiren letzter Hand vorfand: zufällige Ueberbleibsel jener ersten Memoiren, die Heine bei dem Autodafé übersehen.

Die Verbrennung der ersten Memoiren, welche Heine in der Einleitung zu den zweiten Memoiren in Aussicht stellt, ist erfolgt. Ich führe zur besseren Uebersicht noch einmal die betreffenden Worte jener Einleitung hier an, welche von dem Schicksal der ersten Memoiren handeln, eben derselben Memoiren, welche Herr Gustav Heine zu besitzen vorgab:

„Diese Aufzeichnungen, denen ich selbstgefällig den Titel Memoiren verlieh, habe ich jedoch schier zur größeren Hälfte wieder vernichten müssen, theils aus leidigen Familienrücksichten, theils auch wegen religiöser Skrupeln.
Ich habe mich seitdem bemüht, die entstandenen Lakunen nothdürftig zu füllen, doch ich fürchte, posthume Pflichten oder ein selbstquälerischer Ueberdruß zwingen mich, meine Memoiren vor meinem Tode einem neuen Autodafé zu überliefern.“

Die Frage ist also einfach diese: hat Heine auch die Hälfte der ersten Memoiren, welche früher nicht vernichtet worden, während der Abfassung der zweiten Memoiren verbrannt oder nicht? Und die Antwort hat zu lauten: Ja, er hat alles verbrannt!

Zwei Zeugnisse haben wir hierfür: einen Testamentsentwurf Heine’s, und die Aussage des Mannes, in dessen Händen bis zum Januar 1884 sich die Memoiren befunden haben. Der Testamentsentwurf rührt her aus dem Jahre 1854; er weicht von dem schon durch den Druck bekannt gewordenen französischen Testament Heine’s aus dem Jahre 1851 (bei Strodtmann, Band II, S. 427 bis 432) an einer wichtigen Stelle ab, nämlich da, wo er von den Memoiren spricht. Im Testament von 1851, dem noch heute gültigen, findet sich gar keine Erwähnung der Memoiren; in dem Entwurfe zu einem unbeendeten Testamente letzter Hand findet sich bezüglich der Memoiren folgende Stelle:

„Die Manuskripte, welche ich noch besaß (1847), waren leider von der Art, daß eine Umwandlung in meinen religiösen Ansichten, und Rücksichten auf Personen, die ich nicht durch Mißverstand verletzen durfte, mich nöthigten, sie zum größten Theil zu vernichten[63], – vielleicht muß ich sie am Ende gänzlich der Vernichtung preisgeben –, so daß bei meinem Ableben auch diese Ressource für meine Wittwe verloren geht. Mit der Erbschaft meiner Wittwe sieht es also nicht glänzend aus, und ich werde glücklich genug sein, wenn ich ihr nicht Schulden hinterlasse.“

Mit Rücksicht hierauf empfiehlt dann Heine im weiteren Verlauf des Testamentes seine Wittwe der Gnade seines Vetters Karl Heine.

Das zweite Zeugniß rührt her von Herrn Henri Julia, aus dessen Händen die „Gartenlaube“ das Manuscript der Memoiren erworben. Die Glaubwürdigkeit dieses Herrn lasse ich im Uebrigen auf sich beruhen, – für die folgende Mittheilung, welche er unaufgefordert zur Information der Leser nach erfolgtem Ankauf gemacht, also zu einer Zeit, wo er gar kein pecuniäres Interesse an der Sache mehr hatte, ist seine Glaubwürdigkeit unbestreitbar, um so mehr, als seine Aussage mit Allem übereinstimmt, was sich aus Heine’s Briefen, aus dem angeführten Testamentsentwurf und aus der Einleitung zu den Memoiren selbst ergiebt.

Herr Henri Julia war um die Zeit, da er mit Heine bekannt wurde (1854 oder 1855) – durch eine Schrift über Voltaire’s Correspondenz – ein junger angehender Advocat; als Heine in Verlegenheit war, wen er seiner Wittwe als Rechtsbeistand bezeichnen wollte, fiel sein Auge auf diesen jungen Mann, und sein Vertrauen zu ihm ging so weit, daß er seiner Obhut das seit 1854 fertig gewordene Stück der letzten Memoiren übergab. Herr Julia erzählt darüber in einem an die „Gartenlaube“ gerichteten Schreiben, welches für die Veröffentlichung bestimmt war:

„Heinrich Heine hatte eines Tages vor meinen Augen aus einer kleinen Tischschublade, in der sehr viele Papiere aufgehäuft lagen, ein Bündel großer, mit Bleistift beschriebener Blätter herausgenommen und zu mir, sie mir zeigend, gesagt: ,Ich habe meine Memoiren geschrieben und wieder umgeschrieben. Alles ist verbrannt worden. So oft ich daran schrieb, konnte ich dem Drange nicht widerstehen, empfangene Beleidigungen, erlittene Schmerzen zu rächen: auch riß ich viele Masken ab. Aber bei näherer Ueberlegung sagte ich mir, der Löwe müßte sich großmüthig zeigen, und so zog ich meine Krallen ein. Dies hier,‘ fügte er hinzu, ‚ist mein letzter Versuch. Ich weiß nicht, ob ich ihn werde fortsetzen und beendigen können. Wie dem auch sei: geben Sie dieses Manuscript nicht aus Händen ohne Zustimmung meiner Frau. Ich verlasse mich in der Beziehung auf sie und auf Sie, die Ihr nicht nur meine Person, sondern auch meinen Ruhm liebt. Sie werden in dieser Beziehung nach bestem Wissen handeln.‘
Frau Heine und ich haben oft die Frage erörtert, ob wir die Blätter veröffentlichen sollten oder nicht. Wir hatten volle Freiheit, es zu thun, und mehr als einmal waren wir der Versuchung nahe. Was aber Frau [290] Heine zurückhielt, war die Furcht, die Familie ihres Gatten möchte ihr die Pension entziehen, von der sie lebte. Der damalige Chef des Hamburger Hauses hatte sich über den Punkt kategorisch genug ausgesprochen. Er hatte in die Fortzahlung der Pension gewilligt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß nichts über die persönlichen Beziehungen des Dichters zu seiner Familie veröffentlicht würde.“

Somit dürfte feststehen, daß keine anderen Memoiren existiren, als die von der „Gartenlaube“ veröffentlichten, und daß Herr Gustav Heine jedenfalls keine Memoiren besitzt.

Schließlich noch ein Wort darüber, wie es möglich war, daß dieser Herr, obwohl nicht im Besitz von Memoiren, dennoch einen solchen Besitz behauptete. Gustav Heine besitzt eine Anzahl von interessanten Papieren Heinrich Heine’s[64]: mehrere hundert Briefe desselben an ihn, ferner Briefe Heine’s an französische Schriftsteller (Guizot, Thiers, Michelet etc.), politische Gedichte und wahrscheinlich einige andere Papiere Heine’s, welche vielleicht auf Familienangelegenheiten Bezug haben. Gestützt auf diesen allerdings kostbaren Besitz, namentlich auf die zahlreichen Briefe Heine’s aus allen Phasen seines Lebens, glaubt Herr Gustav Heine und will uns glauben machen, er besitze die Memoiren Heine’s! Nachdem jüngst eine Notiz durch die Zeitungen ging, daß noch ungefähr tausend Briefe an Heine vorlägen, welche die „wirklichen“ Memoiren Heinrich Heine’s seien, kann man schließlich seinem Bruder es nicht allzu sehr verübeln, wenn er sich einbildet, die Hunderte von Briefen Heinrich Heine’s stellen dessen Memoiren dar.




In einem folgenden Aufsatze[WS 17] gedenke ich noch einige Mittheilungen über Heine’s Beziehungen zu zwei merkwürdigen Frauen zu machen, von denen die Eine, die sogenannte „Mouche“, durch das Räthselhafte ihrer Persönlichkeit das Interesse der Heine-Forscher früher erregt hat. Sie hat inzwischen das Dunkel, mit welchem sie sich so lange umgeben, selbst gelüftet in der vor sechs Monaten erschienenen Schrift „Les derniers jours de Henri Heine“. Diese Schrift enthält Alles, was uns an ihr überhaupt interessiren kann: nämlich ihre Bekanntschaft mit Heine. Neues haben selbst diese Erinnerungen sehr wenig enthalten; Alfred Meißner hatte fast Alles schon vor Jahren erzählt, und selbst von den Briefen Heine’s an die „Mouche“ waren die schönsten längst gedruckt zu lesen in der Gesammtausgabe von Heine’s Werken, ebenso wie die an sie gerichteten Gedichte Heine’s längst gedruckt wurden. Es versteht sich ganz von selbst, daß Madame Camilla Selden (so heißt die „Mouche“) nicht das Mindeste zu thun hat mit Heinrich Heine’s Memoiren.

Eduard Engel (Berlin).     
  1. Vergl. hierüber Band 1 S. 16 und ff. der Gesammtausgabe von Heine’s Werken (1876).
  2. Eine von dem Künstler, Oppenheim, selbst angefertigte Copie dieses sehr ähnlichen Heine-Bildes befindet sich im Besitz der Wittwe des berühmten Sprachforschers Theodor Benfey in Göttingen. – Herr Gustav Heine hatte frischweg behauptet, – er, der seinen Bruder in dessen letztem Jahrzehnt nur sehr flüchtig gesehen – es gebe gar kein Oelporträt Heinrich Heine’s. Die „Gartenlaube“ wird durch eine Veröffentlichung des Oppenheim’schen, sowie eines bisher ganz unbekannten, zweifellos echten, in meinem Besitz befindlichen Originalportraits Heine’s (von Gassen aus dem Jahre 1828) Herrn Gustav Heine eines andern belehren. E. E.     
  3. Dies stimmt durchaus mit dem Charakter des von der „Gartenlaube“ zu veröffentlichenden Manuskripts überein.
  4. „Sämmtliche Werke.“ Band 22, S. 351.
  5. Dies variirt eine andere Strophe:
    „Wohl manche edle Perle birgt
    Der Ocean in dunkler Thruhe,
    Wohl manche Blume in der Wildniß
    Erröthet ungesehn, die süßen Düfte
    Vergeudend an die stumme Oede.“
  6. zerhackt; abgerissen.
  7. Millionärlehrling.
  8. Die betreffende Stelle muß in den von Maximilian Heine vernichteten Blättern sich befunden haben.
  9. Dies muß unter allen Umständen auf einem Schreibfehler oder auf einem Irrthum über das wirkliche Alter seiner Mutter beruhen, denn Heine’s Mutter, Betty Heine, ist geboren am 27. November 1771; sie war also erst im Jahre 1858 87 Jahre alt, während Heine schon 1856 gestorben. Die lange Trennung vom mütterlichen Hause – er war zuletzt im Jahre 1844 in Hamburg gewesen – erklärt seine Unkenntniß des richtigen Alters seiner Mutter. Gestorben ist diese 1859, nach dem Tode ihres großen Sohnes.
  10. Rousseau hatte in seinem „Emile“ (oder „Ueber die Erziehung“) das Säugen der Kinder durch die Mütter auf’s Dringendste empfohlen, und seinem Einflusse ist es zuzuschreiben, daß diese Erfüllung einer selbstverständlichen Mutterpflicht auch in den höheren Ständen zur Gewohnheit wurde.
  11. In diesen Aufzeichnungen giebt Heine insofern der Wahrheit die Ehre, als er seinen mütterlichen Ahnen kein „von“, sondern nur ein deutbares und dehnbares „de“ verleiht; dagegen hat er in der Ueberschrift eines schönen Gedichtes an seine Mutter diese „geborene von Geldern“ genannt.
  12. Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz, der Begründer der Malerakademie in Düsseldorf.
  13. Nach einer brieflichen Mittheilung an August Lewald hatte Heine sie 1837 begonnen.
  14. Vergiftung, Trunkenheit.
  15. Im Jahre 1822.
  16. Titel eines Dramas von Calderon.
  17. Titel eines Dramas von Calderon.
  18. Name eines Krankenhauses in Paris.
  19. Gevatter, College.
  20. „Wo die Unschuld untergeht, ist es ein Verbrechen zu leben.“
  21. Sinnes- oder Empfindungseigenheit.
  22. Entäußern.
  23. Ein Lieblingswort Heine’s in Bezug auf seine Verwandtschaft. Es findet sich an mehreren Stellen dieser Memoiren, doch hat er es mehrfach wieder durchgestrichen. Meist hat er es in wegwerfendem Sinne angewandt, so in dem Sonett („Nachlaßgedichte“ Band 18):

    „Sie küssten mich mit ihren falschen Lippen,
    Sie haben mir credenzt den Saft der Reben,
    Und haben mich dabei mit Gift vergeben –
    Das thaten mir die Magen und die Sippen.

    Es schmilzt das Fleisch von meinen armen Rippen,
    Ich kann mich nicht vom Siechbett mehr erheben,
    Arglistig stahlen sie mein junges Leben –
    Das thaten mir die Magen und die Sippen.“ u. s. w.

  24. In einem Briefe an den französischen Gelehrten St. René-Taillandier vom 3. November 1851 sagt Heine: „Meine Vorfahren gehörten der jüdischen Religion an; ich war niemals eitel auf diese Abkunft, – fühlte ich mich doch schon hinlänglich gedemüthigt, wenn man mich für ein schlichtweg menschliches Geschöpf nahm, während Hegel mich glauben gemacht hatte, daß ich ein Gott sei.“
  25. Dieser Großvater hieß Heymann Heine und ist in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gestorben.
  26. Hyazinth in den „Reisebildern“ macht eine ähnliche tiefsinnige Bemerkung (Werke, Band II, S. 251).
  27. Mathe Eva Popert, nachmalige Heine, gestorben 1799.
  28. Sie hatte in zweiter Ehe einen gewissen Schiff geheirathet.
  29. Kränkliche Blässe, sonst speciell zur Bezeichnung der Gesichtsfarbe der Venezianerinen gebraucht.
  30. Es folgten im ursprüglichen Manuscript hier noch drei Zeilen unten auf dem Blatt und auf dem nächsten Blatt oben, welche mit einer Scheere abgeschnitten sind. Schwerlich von Heinrich Heine, sehr wahrscheinlich von Maximilian Heine oder einem andern zärtlichen Verwandten, der Anstoß genommen an Aeußerungen über die Kinder Salomon Heine’s.
  31. Bei dem großen Hamburger Brande von 1842.
  32. Diese „Uniform“ hat zu allerlei Aufschneidereien seitens der Familie Heine geführt. Maximilian Heine hat daran die Erfindung geknüpft, daß sein Vater Samson Heine Militär gewesen und als solcher im van Geldern’schen Hause „in Quartier gelegen“; Heine’s Nichte, die Prinzessin della Rocca, geht gar so weit, daß sie Samson Heine frischweg einen ufficiale (Officier) nennt; wir werden weiterhin aus Heinrich Heine’s ehrlichen Geständnissen sehen, was an dieser Rederei ist.
  33. einrahmte.
  34. Brummel ist der Name eines Modelöwen zur Zeit des Prinzregenten von England, des nachmaligen Königs Georg IV.
  35. Offenbar eine Verwechselung mit dem weisen Pittakus; ob eine absichtliche oder eine unabsichtliche, bleibe unentschieden.
  36. Figuren des Kölner Carnevals. – Heine nennt „Kobes“ auch spöttisch seinen Widersacher Jacob Venedey.
  37. Von hier ab bis †† [„ausgebeutet zu werden.“] vergl. das Facsimileblatt in Nr. 7 der „Gartenlaube“.
  38. Die Memoiren enthalten vielfach die Verarbeitung von gelegentlichen Aussprüchen oder Notizblättchen Heine’s. So findet sich unter den im dreizehnten Bande seiner gesammelten Werke als „Gedanken und Einfälle“ bezeichneten Zetteln auch einer, der den Inhalt obiger Stelle kurz andeutet: „Die Affen sehen auf die Menschen herab,[WS 11] wie auf eine Entartung ihrer Rasse, sowie die Holländer das Deutsche für verdorbenes Holländisch erklären.“ – Die Zahl solcher Parallelstellen ließe sich in’s Unendliche vermehren, doch ist hierzu in diesen Blättern nicht der Ort.
  39. Da Heine’s Vater am 2. December 1828 gestorben, so ergiebt sich auch aus der obigen Zeitbestimmung das Jahr 1854 ungefähr als das des Beginns der Memoirenabfassung.
  40. „Concurrenten“, um ein bekannteres Fremdwort zu gebrauchen.
  41. Diese Stelle wird später in breiterer Ausführung wiederholt, wie denn unser Manuscript an manchen Stellen zeigt, daß der Verfasser es keiner ordnenden, abgleichenden Durchsicht unterzogen. Sonst hätte er ja auch die wohl auf einem Schreibfehler beruhende Verwechselung der Großväter Goethe’s von väterlicher und mütterlicher Seite (vergl. Nr. 11, S. 180) bemerken müssen. Goethe’s Mutter war bekanntlich die Tochter des Frankfurter Stadtschultheißen J. W. Textor, sein Vater Dr. jur. J. K. Goethe der Sohn des als Schneidergeselle in Frankfurt eingewanderten, späteren Gastwirths F. G. Goethe.
  42. Um ein Beispiel zu geben von der Sorgsamkeit, mit welcher Heine nach dem passendsten Ausdruck suchte, folge hier der Wortlaut des Manuskripts ohne Rücksicht auf Durchstreichungen: „– – so bin ich von aller Eitelkeit befreyt“ … „die persönliche Eitelkeit“ … „seit Jahren nicht mehr von jener Eitelkeit behaftet“ … „alle jene Eitelkeit abgestreift, die“ … „genas ich seit längst von jener Eitelkeit“ … „so giebt es für mich auch nicht mehr jene Rücksichten der Eitelkeit, womit“.
    All diese Ansätze hat Heine wieder durchgestrichen und statt derselben den im Text gedruckten gewählt.
    Er gehörte zu der geringen Zahl jener Schriftsteller, die nach Voltaire’s Ausspruch sich das Schreiben unendlich schwer machen, um dem Publicum das Lesen unendlich leicht zu machen.
  43. Wortspielender Unsinn.
  44. Gleichnamigkeit.
  45. Franz von Zuccalmaglio, an welchen das erste Gedicht Heine’s gerichtet ist: „Es zieht mich nach Nordland ein gold’ner Stern“ (vergl. Heine’s Gesammelte Werke, Band XV, S. 286).
  46. Alfred Meißner erzählt in seinen „Erinnerungen an Heinrich Heine“ (Hamburg, Campe, 1856) aus genauer Kenntniß: „Zahllose Flüchtlinge haben seine wohlthätige Hand empfunden, ohne daß er gefragt hätte, welcher Partei sie angehörten, wenn sie sogar aus einem Lager kamen, dessen Fahne er verspottete und in dessen Reihen ihm feindliche Kämpfer nisteten. Zu jeder Geldsammlung für irgend ein edles oder unverschuldetes Unglück steuerte er mit, beinahe mehr als seine Mittel es gestatteten, und sagte dabei lächelnd und wie zur Entschuldigung: ‚Ich liebe von Zeit zu Zeit meine Visitenkarte bei dem lieben Herrgott abzugeben.‘“ (S. 213.)
  47. Gallicismus anstatt „Aktien“ – wie denn überhaupt in diesen Memoiren, gleichwie in Heine’s sämmtlichen späteren Prosaschriften, der Einfluß der täglich und stündlich gehörten fremden Landessprache sich fühlbar macht. In seiner Schrift über Börne sagt Heine von dieser sprachlichen Verbannung: „Glücklich sind die, welche in den Kerkern der Heimath ruhig hinmodern, denn diese Kerker sind eine Heimath mit eisernen Stangen, und deutsche Luft weht hindurch, und der Schlüsselmeister, wenn er nicht ganz stumm ist, spricht er die deutsche Sprache! – Es sind heute über sechs Monde, daß kein deutscher Laut an mein Ohr klang, und Alles, was ich dichte und trachte, kleidet sich mühsam in ausländische Redensarten. – Ihr habt vielleicht einen Begriff vom leiblichen Exil, jedoch vom geistigen Exil kann nur ein deutscher Dichter sich eine Vorstellung machen, der sich gezwungen sähe, den ganzen Tag französisch zu sprechen, zu schreiben. Auch meine Gedanken sind exiliert, exiliert in eine fremde Sprache.“ (Werke XII, S. 227.)
    Auch in dem erwähnten Buche Meißner’s wird eine Aeußerung Heine’s über dasselbe Elend wiedergegeben: „Ich deutscher Waldvogel, gewohnt sein Nest aus dem buntesten und einfachsten Material zusammenzubauen – ich niste da in der Allongeperüque Voltaire’s.“
  48. „Ich ward bedrängt von schwarzen Sorgen,
    Ich mußte lügen, ich mußte borgen
    Bei reichen Buben und alten Vetteln –
    Ich glaube sogar, ich mußte betteln“

    klagt Heine in einem seiner „Lazarus“-Gedichte (Band XVIII, S. 147).

  49. Gallicismus anstatt „eingeweiht“.
  50. Natürlich nur scherzhaft gemeint; aber Heine hatte allerdings die merkwürdigsten Studien über Hexenwesen gemacht, sein Buch „Elementargeistesr“ (Werke, Band VII) ist ein wahres Handbuch des Volksaberglaubens.
  51. „Thu’ Geld in deinen Beutel!“ Abgesehen von dem kleinen orthographischen Fehler in monney ist das Citat auch sonst nicht genau; Jago sagt: „Put money in your purse!“ – Heine citirte aus dem Gedächtniß; einen englischen Shakespeare habe ich in seiner Bibliothek, wie sie heute noch beisammen, nicht entdeckt.
  52. In der Vorrede zu der französischen Ausgabe seiner Gedichte (vom Juni 1855) bemerkt Heine: „Meine ersten lyrischen Produktionen finden sich in den ‚Nachtstücken‘ – (den ‚Traumbildern‘ der deutschen Ausgabe) – und datiren von 1816. Es sind die vier ersten Gedichte und sie gehörten einem Cyklus toller Traumbilder an. Zu derselben Zeit schrieb ich ‚Die beiden Grenadiere‘.“
  53. Deutlich so im Manuscript; vielleicht weiß einer der Leser Auskunft über den Namen zu geben?
  54. Sehr traurig. – In Froissart’s (1337–1401) „Chroniques“.
  55. Maximilian Heine hat diese ergreifende Scene in seinen „Erinnerungen an Heinrich Heine“ (Berlin 1868) in einem herzlich platten Bericht wiedergegeben. Da er um die Zeit, wo sein Bruder Heinrich das Verhältniß mit der Scharfrichterstochter hatte, kaum neun Jahre alt war, und da er das Ereigniß an einigen Stellen annähernd wörtlich den Memoiren ähnlich darstellt, so liegt die Annahme nahe, daß er die ganze Geschichte nach der Lectüre der Memoiren aus dem Gedächtniß niedergeschrieben, wie denn überhaupt manche der Anekdoten seines dürftigen Buches den Memoiren entnommen sein mögen, die er nachher verstümmelt hat. An derselben Stelle (Seite 227) weiß Maximilian – natürlich nur vom Hörensagen – zu erzählen, sein Bruder habe schon in seiner frühesten Jugend eine kleine Novelle geschrieben, in welcher „Sefchen“ und „die Hexe von Goch“ den Hauptinhalt bildeten. Das betreffende Manuscript sei mit vielen anderen Manuscripten des Dichters beim Brande Hamburgs verloren gegangen.
  56. Aehnliches findet sich in Brentano’s Erzählung: „Die Geschichte vom braven Casperl und dem schönen Annerl“.
  57. „Französischer Ungestüm“, eine mittelalterliche italienische Bezeichnung der Angriffsweise des französischen Heeres, – übrigens gewöhnlicher „furia francese“ genannt.
  58. Die betreffende Stelle gehört zu den vernichteten Blättern des Memoiren-Manuscripts 6 bis 31.
  59. Der entsetzlich pockennarbig war.
  60. Rachel.
  61. Man vergleiche mit dem Inhalte dieses Absatzes Heine’s ziemlich aus derselben Zeit stammendes Gedicht:

     Wandern!
    Wenn dich ein Weib verrathen hat,
    So liebe flink eine Andre;
    Noch besser wär’ es, du ließest die Stadt –
    Schnüre den Ranzen und wandre!

    Du findest bald einen blauen See,
    Umringt von Trauerweiden;
    Hier weinst du aus dein kleines Weh
    und deine engen Leiden.

    Wenn du den steilen Berg ersteigst,
    Wirst du beträchtlich ächzen;
    Doch wenn du den felsigen Gipfel erreichst,
    Hörst du die Adler krächzen.

    Dort wirst du selbst ein Adler fast,
    Du bist wie neugeboren;
    Du fühlst dich frei, du fühlst: du hast
    Dort unten nicht Viel verloren!

  62. Die vereinzelten, geringfügigen Auslassungen, welche an den betreffenden Stellen als solche bezeichnet worden, hat die „Gartenlaube“ lediglich mit Rücksicht auf ihren Leserkreis vornehmen zu müssen gemeint; die Stellen enthielten unnöthige Derbheiten, von denen sehr zweifelhaft ist, ob Heine sie bei einer letzten Durchsicht – die bekanntlich nie erfolgt ist, selbst hätte stehen lassen.
  63. Ursprünglich stand im Manuscript: „verbrennen“.
  64. Davon die meisten durch Vermittelung eines gewissen Ferdinand Friedland (Lassalle’s Schwager), der sie der Wittwe Heine’s abgeschwatzt hat.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Es handelt sich um Elise Krinitz (1825–1896), eine deutsche Schriftstellerin und Pianistin. Der erste Besuch bei Heine fand am 19. Juni 1855 statt, der letzte fünf Tage vor seinem Tod 1856.
  2. [Die beiden Sätze im Manuskript:] Es war ein Raffinement von Grausamkeit, die alle Passionsqualen des Messias selbst übersteigt und die selbst dieser nicht ruhig erduldet hätte. Gott verzeih ich verwünschte Gott und die Welt und die fremden Unterdrücker, die uns ihre Metrik aufbürden wollten und ich war nahe dran ein Franzosenfresser zu werden.
  3. [Siehe dazu Die Gartenlaube (1884), S. 156:] Zur Erläuterung einer Stelle in „Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit“ (Nr. 7, Seite 115) wird uns aus Magdeburg geschrieben: „Es wird gewiß die Leser der ‚Gartenlaube‘ interessiren, wenn ich die Bemerkung mache, daß ‚die Tochter eines Eisenfabrikanten unserer Gegend, die eine Herzogin geworden war‘, von der Heine in seinen von Ihnen jetzt veröffentlichten Memoiren spricht, die Gemahlin des Marschalls Soult, Herzogs von Dalmatien, eine geborene Berg aus Solingen (bei Düsseldorf) war.“
  4. [Im Original:] Wahrhaftig jenen Dieben verdanken wir die Theorie des Eigenthums, das vorher nur als Thatsache bestand, und die Ausbildung dieser Lehre in ihren schnödesten Consequenzen ist jenes gepriesene römische Recht, das allen unseren heutigen Legislazionen, ja allen modernen Staatsinstituten zu Grunde liegt, obgleich es im grellsten Widerspruch mit der Religion, der Moral, dem Menschengefühl und der Vernunft.
    Ich brachte jene gottverfluchten Studien zu Ende
  5. [im Manuskript:] gottverfluchten
  6. [im Original:] kamen sie zu ihm gelaufen mit ihren Urinflaschen, mit Weinen und Bitten
  7. Vorlage: sowie sowie
  8. [Dieser Absatz lautet im Manuskript:] Der Zweck heiligt die Mittel. Hat doch der liebe Gott selbst als er auf dem Berg Sinai sein Gesetz promulgirte nicht verschmäht bei dieser Gelegenheit tüchtig zu blitzen und zu donnern, obgleich das Gesetz so vortrefflich, so göttlich gut war, daß es füglich aller Zuthat von leuchtendem Kolophonium und donnernden Paukenschlägen entbehren konnte. Aber der Herr kannte sein Publikum, das mit seinen Ochsen und Schaafen und aufgesperrten Mäulern unten am Berge stand und welchem ein physikalisches Kunststück mehr Bewundrung einflößen konnte als alle Mirakel des ewigen Gedankens.
  9. [Ausgelassen ist die Passage:] Der Liberalismus hat den Priesterstand genug verunglimpft und man könnte ihm wohl jetzt einige Schonung angedeihen lassen wenn ein unwürdiges Mitglied Verbrechen begeht die am Ende doch nur der menschlichen Natur oder vielmehr Unnatur beizumessen sind.
  10. [Dieser Satz lautet im Manuskript:] Ich will hiermit keineswegs einen Mangel an Männlichkeit andeuten; letztere hat er zumal in seiner Jugend oft erprobt und ich selbst bin am Ende ein lebendes Zeugniß derselben. Im Sinne hatte ich nur die Formen seiner körperlichen Erscheinung, die nicht straff und drall, sondern vielmehr weich und zärtlich geründet waren;
  11. Vorlage: herb
  12. [im Manuskript geht es weiter:] da in ihrer rothen Nase immer Thauwetter war und der Tropfenfall die weißen Bettücher der Wöchnerinnen sehr verbräunte, so ward die Frau überall abgeschafft.
  13. [Sie lautet:] eine seltsame Veränderung, eine gewisse Benautigkeit, die er für den Durchbruch einer Liebesbrunst hielt, und sich dem großen Momente nahe glaubte – aber ach! als er die Erröthende jetzt gewaltsam in seine Arme schloß, drang ihm ein Duft in die Nase, der nicht zu den Parfümerien Amors gehörte, er merkte daß das Philtrarium vielmehr als ein Laxarium agirte und seine Leidenschaft ward dadurch gar widerwärtig abgekühlt.
  14. [folgende Passage des Manuskriptes ist ausgelassen:] sich zu rächen, indem sie ihr Unfruchtbarkeit oder dem Ungetreuen die schnödeste Entmannung anhexen ließ. Das Unfruchtbarmachen geschah durch Nestelknüpfen; das ist sehr leicht, man begiebt sich in die Kirche, wo die Trauung der Brautleute statt findet, und in dem Augenblick wo der Priester über dieselben die Trauungsformel ausspricht, läßt man ein eisernes Schloß, welches man unter der Schürze verborgen hielt, schnell zuknappen; so wie jenes Schloß verschließt sich auch jetzt die Gebärmutter der Neuvermählten. Die Ceremonien welche bei der Entmannung beobachtet werden, sind so schmutzig und haarsträubend grauenhaft, daß ich sie unmöglich mittheilen kann. Genug der Patient wird nicht im gewöhnlichen Sinne unfähig gemacht, sondern in der wahren Bedeutung des Wortes seiner Geschlechtlichkeit beraubt, und die Hexe welche im Besitze des Raubes bleibt, bewahrt folgendermaßen dieses corpus delicti dieses Ding ohne Namen, welches sie auch kurzweg das Ding nennt; (die lateinsüchtige Göcherinn nannte es immer einen Numen Pompilius, wahrscheinlich eine Reminiscenz von König Numa dem weisen Gesetzgeber der gewiß nie geahnt wie schändlich sein Namen einst mißbraucht würde.) Die Hexe verfährt wie folgt: Das Ding dessen sie sich bemächtigt, legt sie in ein leeres Vogelnest und befestigt dasselbe ganz hoch zwischen den belaubten Zweigen eines Baumes; auch die Dinger, die sie später ihren Eigenthümern entwenden konnte, legt sie in dasselbe Vogelnest, doch so daß nie mehr als ein halb Dutzend darin zu liegen kommen. Im Anfang sind die Dinger sehr kränklich und miserabel, vielleicht durch Emozion und Heimweh, aber die frische Luft stärkt sie und sie geben Laute von sich wie das Zirpen von Zikaden. Die Vögel die den Baum umflattern werden davon getäuscht und meinen es seien noch unbefiederte Vögel, und aus Barmherzigkeit kommen sie mit Speis in ihren Schnäblein um die mutterlosen Waisen zu füttern, was diese sich wohlgefallen lassen so daß sie dadurch erstarken ganz fett und gesund werden und nicht mehr leise zirpen, sondern laut zwitschern. Drob freut sich nun die Hexe und in kühlen Sommernächten, wenn der Mond recht deutsch sentimental herunterscheint, setzt sich die Hexe unter den Baum, horchend dem Gesang der Dinger, die sie dann ihre süßen Nachtigallen nennt. Sprenger in seinem Hexenhammer, malleus maleficarum, erwähnt auch diese Verruchtheiten der Unholdinnen in Bezug auf obige Zauberey. Die Hexe begeht den Mannheitsdiebstahl aber meistens in der Absicht von den Entmannten durch die Restituzion ein sogenanntes Kostgeld zu erpressen. bei dieser Zurückgabe des entwendeten Gegenstands giebt es zuweilen Verwechselungen und qui pro quos die sehr ergötzlicher Art und ich kenne die Geschichte eines Domherrn, dem ein falscher Numa Pompilius zurückgeliefert ward, der, wie die Haushälterinn des geistlichen Herren, seine Nymphe Egeria behauptete, eher einem Türken als einem Christenmenschen angehört haben mußte.
  15. [Zu diesem Bild siehe Heft 16, S. 276]
  16. [Das Manuscript fährt fort:] und es wäre rathsamer daß er, wenn nicht alle seine Energie erloschen, an ganz andren und sehr weißen Brüsten wo nicht Ruhe, sondern heilsame Unruhe suchte; denn das wirksamste Gegengift gegen die Weiber sind die Weiber
  17. Aus Heinrich Heine’s letzten Tagen, Heft 19, S. 312